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Was geschähe, wenn Corona-Viren katholisch wären? Oder zurückgeschickt werden könnten? Dahin, woher sie kamen. Wie Pakete von Online-Versendern? Zwei Fragen von vielen, die der Autor beantwortet, wenn er aus seinem Leben erzählt, vom Bedürfnis der Menschen, allem Bösen zu entfliehen, sich selbst mit einer Maske neu zu erfinden und doch Corona mit allen Folgen ausgeliefert zu sein. Ob Glauben hilft? Oder Corona als Witz der Geschichte parodieren? Wie bekannte Comedians zurzeit in allen Fernsehsendern. Umso mehr lohnt es sich, dieses Buch zu lesen. Ganz bei sich sein. Maske, Distanz und den Spaß vor der Flimmerkiste vergessen. Corona sei Dank.
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Seitenzahl: 149
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Otto W. Bringer
Maskerade
2020/21
Copyright: © 2021 Otto W. Bringer
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlaggestaltung Otto W. Bringer einschließlich
aller Foto-Bearbeitungen
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-28674-0 (Paperback)
978-3-347-28675-7 (Hardcover)
978-3-347-28676-4 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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1
Mir kommt vor, als wäre ich in einem zweiten Leben. Das erste vorbei, als alles noch normal war. Vorbei, als Adam und Eva aus dem Paradies geworfen sich erkannten, wie die Bibel es formulierte. Auch Atheisten und Bibelleugner sollen erfahren, was die Bibel mit erkennen meint: Als Adam sah, Eva ist eine Frau und Eva, Adam ein Mann, da war ’s um beide geschehen. Es zog sie zueinander, ineinander. Eng umschlungen, dass kein Feigenblatt dazwischen passte. Adams Zunge suchte Evas Zunge, zu kosten, wie das andere schmeckt. Kein Virus hatte sich eingeschlichen. Sonst hätte es Kain und Abel nicht gegeben und Set, den dritten Sohn. Und die wieder Kinder. Mit wem auch immer gezeugt.
Ungezählte Generationen nach ihnen und wir. Die bis zum Frühjahr 2020 lebten wie die ersten Menschen. Auch wenn es kein Paradies mehr war. Im Rückblick aber doch. Denn heute Maske vor dem Gesicht, Distanz zum anderen. Corona hat uns im Griff. Die Zeit eine andere. Eine, die nicht mehr in Jahrmillionen zählt, sondern in Tagen, Stunden, Minuten auf der Intensivstation.
Hätte Gott die Gesichter von Adam und Eva mit einer Maske versorgt, wären wir nichts anderes gewohnt. Niemand beklagte sich über Gesichtsverlust, Atemnot und Unverstanden. Masken sind wie Schalldämpfer.
Schwerhörige verstehen kaum, was andere ihnen zu sagen haben. Flüstern schon lange nicht mehr, sie schreien. Alles schreit. Schreien nach Hilfe, die vom Virus betroffenen. Nach dem Ende staatlicher Bevormundung, die Masken und Abstand leid sind. Ein paar Schwarzröcke predigen: selber schuld. Der Mensch hat sich von Gott entfernt. Und der Allmächtige hat Corona geschickt, uns zu mahnen. Fünf Minuten vor Zwölf. Gerade noch rechtzeitig. Bevor, wie seit langem angekündigt, die Welt untergehe. Strafgericht gehalten und die Guten in den Himmel, die Bösen in die Hölle geschickt.
Frage mich, kann Hölle schlimmer sein als derzeit die Corona-Pandemie? Spüren wir nicht Hitze aufwallen, wenn Vorhersagen unsere Gedanken jagen? Dahin, wo Tote zuhause sind. Angst sich breit macht, nicht nur im Gehirn. Die Gefühlswelt der ganzen Menschheit durcheinander, gekreuzt und gequert. Wenn bestellte Experten mahnen und drohen, den Teufel an die Wand malen? Ein Ende der Pandemie sei nicht abzusehen. Wir müssten mit ihr leben.
Ist es das Leben, von dem wir zurzeit schon einen Vorgeschmack bekommen? «Tanz auf dem Vulkan» fällt mir ein. Ein Film in den Dreißigern mit Gustav Gründgens in der Hauptrolle. Im Paris der 30ger Jahre des 19. Jahrhunderts Napoleons Nachfahren wieder an der Macht. Adel und Kirche diktierten wie vor der Revolution. Militär und Volk standen auf, zogen protestierend und singend durch die Straßen von Paris:
Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da –
die Nacht ist da, dass was gescheh –
ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da –
es muss hinaus, hinaus auf hohe See –
berauscht euch Freunde, trinkt und liebt und lacht –
und lebt den schönsten Augenblick – die Nacht, die
man im Rausch verbracht – bedeutet Seligkeit und
Glück
Heute erinnert man sich an die 1920er Jahre, «Roaring Twentys» genannt. Selbst erlebt und in Filmen und Büchern begeistert geschildert. Ist Corona besiegt und all seine Mutanten, dann sollen sie wieder beginnen. Genauso rauschhaft wie vor 100 Jahren. Wie jeder weiß, endeten sie mit einer Vollbremsung: Inflation, sieben Millionen Arbeitslose Hungersnot, bis Hitler kam. Sich als Retter aufspielte. Ein Jahrzehnt später das deutsche Volk, Europa und die halbe Welt in den Untergang riss. Droht uns ein ähnliches Schicksal? Nach Corona ein Aufschwung? Danach aber ein noch unbekanntes, schlimmeres Desaster?
Die Zukunft, von der wir träumen, lässt denken an Charlston, Swing und Jazz, die goldenen Jahre. Während endloser Monate der Lockdown herrscht. Zurück gezogen in den eigenen vier Wänden. Nur wenige Kontakte, das ewige, tranige Herumsurfen auf dem Handy. Von Woche zu Woche bedenklich steigende Bildschirmzeit. Die drei üblichen Begrüßungsküsse verhindert die FFP2 Maske. Kunsthistoriker Florian Illies schreibt in der «Neue Zürcher Zeitung»: All das hat die Sehnsucht nach den «Goldenen Zwanzigern» als Vorlage für einen wilden Sommer 2021 zu einer regelrechten Obsession gemacht.
«Alle sind so ernst geworden», bilanzieren Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre in ihrem gleichnamigen Buch. Sehr bald aber wollen alle, frisch geimpft, endlich wieder lustig sein. Das Leben soll nach Restriktionen, Ängsten der Pandemie wieder so rasant und vital wie vorher werden. Wie in der fulminant erfolgreichen Fernsehserie «Babylon». Nur bitte diesmal ohne Mord und Totschlag, aber mit fließendem Wasser. Die optimierte Intensität des Lebens ist das Glaubensbekenntnis einer neuen Elite. Und zwar in allen Lebensbereichen.
Während die anderen an den Folgen der Pandemie leiden. Arbeitslos, weil nicht gewohnt oder versiert genug, auf dem Computer zu arbeiten. Handwerker und freischaffende Künstler, die während des Lockdowns keine Einnahmen haben. Gaststätten und Cafés ebenso. Nicht anders als in den 1920ern, als Millionen keine Arbeit fanden. Unter ihnen zahllose Verwundete des vier Jahre dauernden Weltkrieges. Künstler wie Kirchner und Grosz den Graben zwischen reich und arm zum Thema ihrer Bilder machten.
Niemand weiß, wie viele Menschen auf dem Globus Gedanken an Pandemie in Alkohol ertränken. Wieviel sich mit Marihuana oder LSD von der Wirklichkeit entfernen. Bei Umarmungen und verschlungenen Küssen den Virus vergessen. Obwohl er sich gerade dann einschleichen könnte. Hauptsache, den Augenblick genießen. «Carpe diem» hieß es bei den alten Römern, genieße den Tag. Den kleinsten Moment eines Moments, der alles andere vergessen lässt. Weil Nerven im Gehirn Glückshormone ausgestoßen. Dann, wenn eine Sache gelungen ist, ejakuliert und Orgasmus erlebt. Wie wunderbar war doch das Leben vor Corona. Das Ehemals gepriesen, die Gegenwart vergessen. Die Zukunft ignoriert, als gäbe es kein Morgen.
Die heute so denken und handeln, sind ehemalige 1968er. Mit dem Furor der Jugend jagten sie alles Vergangene zum Teufel. Bürgerliche Sitte und Anstand, die ganze moralinsaure Gesellschaft. Nazis sowieso. Alles Vergangene war schlecht, weil es von gestern war. Neues wollten sie, das sie befreite. Endlich Mensch sein und frei zu entscheiden, was mir gut tut. Vieles hat sich danach geändert. Angepasst an ständig wechselnde Umstände und Erkenntnisse. Den Klimawandel oder aktuell Corona.
2020/21 ist es reziprok, umgekehrt wie damals in den Sechzigern. Vergangenes wird herbei gesehnt, als der Begriff Corona noch nicht in Lexika, auf Wikipedia zu finden war. Die Gegenwart verflucht. Keine Zeitungsseite, keine Mail, keine Social-Media-Nachricht scheint ohne Corona oder Covid 19 auszukommen. Geleugnet nur von ewig Gestrigen und denen, die dem Staat die Schuld gegeben. Der Mensch schwankt, wie eigentlich immer. Zwischen Wollen und Können. Traum und Realität. Glaubt aber, er sei noch Herr des Geschehens. Nicht einmal im stillen Kämmerlein ist er frei, zu entscheiden. Ohne einen Gedanken an Corona und seine Folgen.
Kleine Betriebe und Selbstständige seit über einem Jahr ohne Einkünfte. Vom Staat vergessen, weil nicht systemrelevant. Das kann doch niemanden kalt lassen. Hin nehmen wie eine vorübergehende Erkältung anno dazumal. Man blieb zuhause, trank Kamillen- oder gurgelte mit Salbeitee und freute sich schon auf ’s nächste Treffen mit Freunden im Café.
Heute rennt zum Arzt, wer sich unwohl fühlt. Nase juckt oder der linke Ellenbogen. Es könnte Corona sein. Häuft Toilettenpapier, man weiß ja nicht. Man weiß überhaupt ganz und gar nichts. Ob letztlich eine Maske vor Ansteckung schützt. Distanz von 1,5 m ausreicht, begegnet man einem 80jährigen. Die Abstände werden größer bei denen, sie sich fürchten. Kleiner beide denen, die sagen Corona kann mich mal. Ob diese Egal-Stimmung zur Abwehr von Corona taugt, soll mir Herr Lauterbach bestätigen.
2
Heute ist der 2. Februar 2021 und schon haben die Leute Masken vor dem Gesicht. Rosenmontag ist doch erst nächste Woche. Ja, ich weiß: man freut sich bei uns und überall. Auch in Venedig, der Hochburg des Carnevale. Lässt sich in Geschäften von einer Maske verführen und kauft sie. Obwohl die alte noch nicht verschlissen, Festivitäten verboten sind. Die neue aber schöner, origineller als alle, die man kennt. So anders, dass selbst Freunde nicht wissen, wen sie versteckt. Alles wie immer, trotz Corona. Das Spiel mit der Maske ein Vergnügen für alle. Ein Volksfest ganz eigener Art. Nur Augen zu sehen wie immer. Aber auch Gesichter, wie immer. Gesichter überall. Nicht das eigene, ein anderes muss es sein. Der Rest der Menschheit soll raten, wer oder was sich hinter der Maske verbirgt. Bei uns jetzt schon ein ganzes Jahr. Verordnet und nicht frei gewählt. Egal, könnte man denken. Ein Gesicht ist per se ein Rätsel, mit und ohne Maske. Hinter der Fassade lauert das unbekannte Wesen Mensch. Wer kennt nicht einen Bösewicht, der lächelt, an nichts Böses denken lässt?
Soweit denken Spahn, Kolleginnen und Kollegen der großen Koalition nicht. 28 der 34 Kölner Karnevalsvereine fordern Masken mit Ausdruck von Gesichtern. Auch wenn es Schweinsköpfe sind, oder die von Eseln oder Hexen, wie immer schon. Aber den Virus dürfen sie nicht durchlassen. Ich würde mir sofort eine kaufen, desinfizierte sie sich selber. Im Internet werden solche Mundund Nasenschützer bereits angeboten. Eine Maske im Jahr für 68 Euro. Stellte man Milliarden her, wären sie billiger. Auch Harz4 Empfänger könnten sich leisten, einmal im Monat auf einen Espresso verzichten. Sicherheit für sich und andere. Wie wär ’s Herr Spahn? An echt vergoldeten für Millionäre könnten Sie wieder verdienen.
Heute am 2. Februar ist auch Maria Lichtmess, der Tag, an dem die Weihnachtszeit für Katholiken, endgültig vorbei ist. Katholisch war alles früher. Auch ich. Letzte Nacht aber habe ich seit langem mal wieder acht Stunden durchgeschlafen. Ohne von Gott oder Teufel zu träumen. Tolles Gefühl, ausgeruht und wie befreit zu sein. Die Diskussion gestern im Fernsehen abgehakt. Presseklub, Journalisten-Talk in «ARD», wegen Fußball durch den Internationalen Frühschoppen auf «Phoenix» ersetzt. Es ging um fehlenden Impfstoff gegen Corona oder Covid 19. Heimtückischer Virus, der die ganze Welt überfallen. Deutschlands Politiker versagten bei der Beschaffung ausreichender Mengen. Andere Länder sind weiter.
Mich hat dieser Virus bisher verschont. Ob die blaue Stoff-Maske doch mich selber schützt? Auch wenn Experten es verneinen. Im Ohr die Antwort meiner damals 98 Jahre alten Tante Traute aus Wien: „I bin pumperlgsund“. Überraschend starb sie mit 103 Jahren in den Armen ihres Partners. Auf dem Neujahrsball beim Walzerdrehn. Mittlerweile selber 94 auf dem Buckel. Seit Jahren nicht mehr gehustet oder geschnupft. Pumperlgsund also. Zahnfleisch wie das eines 20jährigen, schwört die Zahnärztin. Nur mein Rücken ist absolut und in der Tat unreparierbar. Schmerzt jedes Mal nach dem Aufstehen und dann geht ’s so la la. Spüre nichts, weder Knoch noch Nerv, schreibe ich an einem Buch. Koche ich mir eine Bouillabaise. Spiele Mozart oder Bach auf dem Klavier. Es ist, als hätte mir Apoll, der Gott der Künste, seinen Körper geliehen. Mich wohlzufühlen wie Mann in den Armen einer Frau.
Jeden Morgen, auch an diesem 2. Februar 2021, stehe ich im Bad vor dem Quadratmeter großen Spiegel über dem Waschbecken. Mich in fast ganzer Länge zu betrachten. Bin ich ein Jüngling noch, als den ich mich fühle? Oder schon ein alter Mann? Ziehe den Bauch ein, spanne die Muskeln und lass es wieder. Es bleibt wie es ist. Bauch fett, Muskeln mager, Schlappschwanz. Außerdem beschäftigt mit Waschen, Rasieren und Zähneputzen. Lasse Platz neben mir frei für Rose, meine Frau. Sie in Gedanken neben mir zu wissen. Ihr Parfüm Boucheron in der Nase, das ich vorher verstäubte.
Die immer Rosen-Duftende wollte einen der beiden großen Spiegel aus unserem früheren Haus ins Seniorenstift mitnehmen. Auch ein Waschbecken. In Form einer Wanne. Groß genug, Haare darin zu waschen. Oder eine kleine Charlotte baden, die sie sich so sehnlichst wünschte. Aber nicht bekommen konnte, weil der Gynäkologe meinte, ihre Gebärmutter müsse entfernt werden. Ein minisüßes Röslein in weißer Keramik erinnert mich an Rose, die große Liebe meines Lebens. Weihnachten 2009 starb sie an den Folgen eines Lungen-Emphysems. Wie Menschen heute an Covid 19. Bin froh, dass sie die Pandemie nicht mehr erleben musste. Mit einer Gesichtsmaske wäre sie nicht nur sofort erstickt. Auch nicht mehr die gewesen, die ich liebte. Erinnere alle Züge ihres Gesichtes. Nofretete, der schönsten Frau der Welt ähnlich, makellos. Bis zuletzt behielt sie Contenance. Täuschte ein heiteres Leben vor und war sterbenskrank. Mit letztem Atem gehaucht: „ich liebe dich.“ Nie werde ich dieses, ihr letztes Bekenntnis vergessen. Nie. Nie. Niemals. Und werde ich alt wie Methusalem.
Betrachte mich im Riesenspiegel. Breitbeinig, beide Arme seitwärts ausgestreckt, als wollte ich ein Universum sein. Wie ihn «Leonardo da Vinci» zeichnete, einer der größten Maler aller Zeiten. Mensch, das Maß aller Dinge. Heute hat ein Virus diese Erkenntnis auf den Kopf gestellt. Ein nur mikroskopisch erfassbares, minikleines Ding setzt Maßstäbe, die der Mensch erst mal begreifen muss. Bevor er das Universum misst. Ein Medikament entwickeln ist wichtiger. Auch ein Emphysem ist mächtig, die lebensnotwendige Versorgung des Blutes mit Sauerstoff zu verhindern. Medikamentös nicht zu behandeln. Sodass die Ärzte meine Rose nach vier Monaten einschlafen ließen. Sie konnte und wollte nicht mehr. 42 Tage und Nächte Atemnot und Angst zu sterben waren genug.
Ach, hätte ich sie doch trösten können. Umarmte sie schweigend immer wieder. Spürte ihr Herz an meinem Herzen schlagen, die Wärme ihres Leibes durch Nachthemd und zerknautschte Bettdecke. Denke ich an Sterbende heute, bin ich erleichtert. Spürte sie mich damals doch an ihrer Seite. Getröstet vielleicht, hoffe ich jedenfalls. Jetzt dürfte ich ihr nur mit Maske näher kommen. 1,50 m Abstand halten. Umarmungen und Küsse verboten. Besuche in Altenheimen ebenso. Todkranke allein, auch ihre Kinder und Anverwandte.
Wissenschaftler beweisen, dass Berühren für physisches und seelisches Wohlbefinden unverzichtbar ist. Ausgelöst durch ein raffiniertes Wechselspiel zwischen Nervenfasern, Rückenmark und Gehirn. Nichts kann physische Nähe ersetzen.
Wird die nun erzwungene Distanz Entfremdung zur Folge haben? Gar Hass?
Der Mensch auf sich zurück geworfen wie noch nie. Im jedem gesprochenen Wort, in jedem Atemzug könnte ein Virus sein, sich und andere anstecken. Wird es weiter hohe Inzidenzen geben, werden sie Polizei und Militär einsetzen wie in Israel. Es zu kontrollieren. Wer in der Öffentlichkeit eine einfache Stoffmaske trägt und keine FFP2, muss heute schon mit bis zu 300 Euro Strafe rechnen. Meide Stadtfahrten, weil das Gummi der Maske schon mal eines meiner Hörgeräte heruntergerissen hat. Zum Glück konnte ich es auffangen, sonst wären 2400 Euro für ein neues fällig geworden.
Bleibe zuhause und nähre dich redlich, der alte Spruch wieder aktuell. Was sage ich? Aktuell hoch zehn. Das Risiko zu groß, auch im Lebensmittelladen infiziert zu werden. Trotz Abstand und Maskenpflicht. Alle Einkaufswagen potentiell lebensgefährlich. Jede Banane, jede Packung, die ein anderer angefasst. Zuhause fühlt man sich sicher. Obwohl Gefühle immer schon trügerisch waren. Aber beruhigend der große Vorrat an Dosen, Gläsern und Schachteln. Irgendwann gedacht, das brauche ich. Haben ist jetzt meine Weltanschauung. Nicht Sein. Erich Fromm hat in seinem Buch «Haben oder Sein?» nicht alles bedacht. Was man ist, ändert sich laufend. Was man hat, bleibt, was es ist. Im Tiefkühlfach oder getrocknet wie Reis, Mehl oder Nudeln. Thunfisch aus Blechbüchsen schmeckt lecker. Oder Spaghetti mit Zwiebeln und Pelati-Tomaten aus der Dose. Pfannkuchen aus Mehl und Wasser ohne Ei wie nach dem Krieg muss nicht sein.
Auch heute, am 2. Februar 2021 frühstücke ich wie immer am quadratischen, dunkelkirschrot lackierten Tisch. Von mir entworfen, mich täglich zu erinnern, du musst dich ändern. Dein bisheriges Leben vergessen. Hier ist eines, das Anpassen verlangt. Die Uhrzeiger stehen auf 09: 30 Uhr. Ein weißes Leinenset und Serviette im silbernen Ring für Rose auf dem Tisch mir gegenüber, jeden Tag. Sehe sie vor mir und begrüße sie: „Buongiorno Rosa oder bonjour Chéri.“ Spitze die Lippen und küsse die ihren, dass man ’s hört.
Habe mich daran gewöhnt, mit Jogurt zu beginnen. Meinen Stoffwechsel mit Vitaminen zu beschleunigen. Obst der Jahreszeit, klein geschnitzelt. Dann eine Scheibe Brot aus Dinkelkorn. Das Hildegard von Bingen schon vor 800 Jahren empfahl. Weil es gesünder als Weizen oder Roggen sei. Salzbutter aus der Bretagne. Salami und Käse aus Italien oder Frankreich. Von der Wand dahinter lächelt mir Rose von Fotos zu. Auf Leinwand mit Keilrahmen kopiert, lebensgroß. Erinnert an unseren ersten gemeinsamen Urlaub in Colonia Sant Jordi, Mallorca. Unserer Isla d’ amor, Insel der Liebe.
Über dem Tisch ein Kronleuchter mit sechs rundeisernen Armen, an deren Enden Glaskelche. In denen an Festtagen Kugelkerzen brennen. Inmitten am Kabel ein Trichter aus Blauglas mit einer Halogen-Lampe. Beleuchtet Tisch und Gesichter der Gäste. Auch meines, das niemand mehr anschaut. Zu wissen, ob ich bereit bin, mich überzeugen zu lassen.
Ab Anfang Dezember hänge ich jedes Jahr einen Adventskranz unter den Leuchter. Schönseite nach unten. Befestige ihn mit breiten, roten Stoffbändern an drei der sechs eisernen Arme des Leuchters. Am dunklen Tannengrün baumeln neun heil gebliebene glasversilberte Schmuckstücke aus dem Erzgebirge. Sonne, Mond und Sterne. Kugeln und farbige Tannenzapfen. Glitzernde Überbleibsel unseres Baumschmuckes im früheren Haus.
Pünktlich Maria Lichtmess, am 3. Februar nehme ich den Kranz wieder herunter. Gefrühstückt, gespült und weggeräumt, befreie ich zuerst die kostbaren Glasgebilde aus ihrer Verhakung im Tannengrün. Achte darauf, dass keines herunterfällt und nur noch klitzekleine Glassplitter mich mahnen: pass auf du Trottel. Noch aufmerksamer geworden als ich ohnehin schon war. Wickele die hauchdünnen Gebilde in Seidenpapier. Lege jedes in das Fach eines Kartons. Vorsichtiger als ein rohes Ei. In einer Schublade des Küchenschrankes wird es warten müssen, bis wieder Weihnachten ist.
Den Kranz runterholen leichter als aufhängen. Bisher hielt die Putzfrau den Kranz, ich band ihn an den Leuchter. Jetzt habe ich es mit Büchern ausprobiert. Ja, lachen Sie nur. Bücher mit Kunst erwiesen sich als ideale Kranzaufhängungshilfe. Jedes von ihnen 5 cm dick. Stapele zwölf übereinander, bis knapp unter den Leuchter. Kranz drauf gelegt und angebunden. 8 Euro für die Putzfrau weniger zahlen müssen.