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WAR´S DAS?, fragt sich der Autor. Sechsundneunzig geworden und bis auf zwei Töchter alle Mitglieder seiner Familie und Freunde überlebt. Aber sexuell immer noch erregbar wie ein Zwanzigjähriger. Ohne vollziehen zu können, zu was es ihn bis vor kurzem noch getrieben. Beim Lesen dieses Romans gewinnt man immer mal wieder den Eindruck, neben künstlerischer Begabung könnte auch dieses ständige Gefühl getrieben zu sein, die Schaffenskraft gefördert haben. Die Frage WARUM trieb ihn um. Warum überwiegt das Böse in der Welt? Warum hat der allmächtige Gott nicht eingriffen, als Marga, seine erste Frau Suizid beging? Mit Rose, der zweiten die Liebe seines Lebens erfahren. Und alle Fragen schienen beantwortet. Bis ins hohe Alter Optimist. Den Tod ignorierend auf seine, ganz eigene Art. Nur eine, die Frage aller Fragen blieb unbeantwortet: Gibt es einen Gott? Glauben müssen statt wissen. Um in den Himmel zu kommen?
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Seitenzahl: 672
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Otto W. Bringer
WAR ’S DAS?
Bilanz eines Sechsundneunzigjährigen
© 2024 Otto W. Bringer, Weierweg 10 /3503 79111 Freiburg
Umschlaggestaltung und Fotos im Innenteil: Otto W. Bringer
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Softcover
978-3-384-31772-8
Hardcover
978-3-384-31773-5
E-Book
978-3-384-31774-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
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WAR ´S DAS?
1.
Dank dem Genom meiner Mama bin ich künstlerisch begabt und unverbesserlicher Optimist. Zuerst nur Erinnertes aufschreiben wollen, was schön, gut für mich und Gottgefällig. Dann doch beschlossen, festzuhalten, was mich für ‘s Leben geprägt. Mit Einundzwanzig die Eltern verlassen, weil sie sich meinen Wünschen widersetzt. Die Gelegenheit günstig, zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Frau Sex zu haben. Marga in einem Bus kennengelernt, als ich neben dem Studium als Schaffner Geld verdienen musste. Und bald danach geheiratet. Damals überzeugt, sie zu lieben. Auch kirchlich getraut und versprochen, ihr bis zum Tod treu zu sein. Aber gewollt, mehr noch getrieben, Sex zu haben bis ultimo. Drei Töchter die Folge, weitere Kinder mit Präservativen oder Antibabypille verhindert. Bald hundert Jahre und möchte manches anders machen.
Kreativ und ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten künstlerischen Schaffens. Antwort auf letzte Fragen. Gibt es einen Gott? Ein Leben nach dem Tod? Warum haben wir Angst vor dem Sterben? Warum bin ich mit sechsundneunzig Jahren sexuell immer noch erregbar wie ein Zwanzigjähriger? Dies und alles andere noch will ich in diesem Buch bekennen. Aufschreiben, an was ich denke, mit Sechsundneunzig noch erinnere. Ob ich mich danach wirklich befreit fühle, keine Ahnung. 2023. Höllentemperaturen in diesem Sommer. Liegt es daran, dass immer mehr CO2 in der Atmosphäre das Klima verändert? Wir uns nicht einigen können, es weltweit zu reduzieren. Oder wird die Sonne, früher als von Wissenschaftlern prognostiziert, den Erdball verschlingen? Das Sommerfest im Seniorenstift, in dem ich bereits vierzehn Jahre als Witwer lebe, soll jetzt im Haus stattfinden. Nicht wie in den Sommern zuvor draußen auf der Terrasse.
Unterwegs im Taxi sehe ich nur noch nackte Haut. Frauen und Mädchen, als gäbe es keine Männer. Nur noch radelnde Oberschenkel, wippende Brüste in knappen BHs. Offenherzig im Sinne des Wortes. Alles erinnert mich daran, was ich mit sechsundneunzig Jahren nicht mehr kann. Bis vor kurzem noch gehorchte mir mein Körper. Was ich gewollt, in Bruchteilen von Sekunden erfüllt. Schnell, beweglich und reagibel. Drei Töchter gezeugt. Fähig, mich zu erregen. Notwendiger Impuls, Samen in ein Ei zu befördern. Seit kurzem nur noch schlapp. Nicht mehr Herr meines Körpers und sturzgefährdet. Brille, um lesen zu können, fernzusehen. Hörgeräte, mich zu verständigen. Im Kopf auch nicht mehr alles, wie es war. Vergesse, was ich gerade noch gewollt. Erinnere dafür umso mehr. Lauter kunterbuntes Zeug. Mein Leben spult rückwärts wie ein Film, damit ich gezwungen, wieder ganz von vorne zu beginnen. Sex als erstes, weil es mich immer noch umtreibt. Soeben einen Artikel über die erogenen Zonen des Mannes gelesen. Streichele die empfindsamste Stelle meines Körpers. Was früher im Nu zeugungsfähig, taugt nur noch zum Wasserlassen.
Hat Gott, der Schöpfer Adams, des ersten Mannes, mich verlassen? Weil ich ihn schon Jahrzehnte links liegen ließ? Mich zu bestrafen mit dem Schlimmsten, was er einem Mann antun kann. Mir das Lustgefühl lässt. Die Sehnsucht nach allem, was sich weiblich rundet und öffnet. Mich lockt, hineinzustoßen, um loszuwerden, was mich von innen treibt. Von dem ich lange geglaubt, als Mann ein Recht darauf zu haben. Jetzt überlässt dieser Gott, der mich mächtig gemacht, der Illusion, es wäre alles noch wie früher.
Sexuell befriedigt mit Marga, meiner ersten Frau. Mit Rose, der zweiten, Höhepunkte ganz anderer Art. Nach ihrem Tod allein mit meiner Sehnsucht. Wie Pan, der statt der Nymphe Syrinx ein Schilfrohr umarmte, in das sie sich verwandelt. Die Heißgeliebte nicht mehr die sie war. Als Wind dem Rohr klagende Töne entlockte, schnitt er es in sieben Teile, steckte sie ineinander zu einer Flöte. Sein Schicksal auf dem nach ihm benannten Instrument zu beklagen.
Mit was aber soll ich mein Schicksal beklagen? Wohin mit meinem Drang zu Frauen? Käufliche Liebe will ich nicht. Ohne Liebe und Vertrautheit, nur Intimität. Die in Wahrheit keine ist. Mit Geld bezahlt und ausgehandelt wie Ware auf dem Markt. Blieb auf mich selber angewiesen. Wenn ’s nicht mehr auszuhalten, masturbiert. Dieses offensichtlich unstillbare Verlangen zu befriedigen.
Als ich noch bei den Eltern wohnte, im ersten Semester an der Kunstakademie zum ersten Mal Frauen nackt gesehen, Modelle für Maler und Bildhauer. Kommentare von Kommilitonen gehört und verstanden, um was es ihnen ging. Wollte ausprobieren, von dem alle sprachen. Kaufte in der Apotheke eine Packung Kondome.
Verstaute sie in der Innentasche des Jacketts. Geschämt, als hätte ich getan, was verboten. Zuhause im Bad erledigt, was man tun muss, um das Gummi überziehen zu können. Keine erotischen Gefühle, nur angespannt wie ein Flitzebogen, bevor der Pfeil losgelassen. Entspannt und erleichtert, wenn er ins Schwarze getroffen. Glück stellte ich mir anders vor. Mein Ejakulat das Kondom gefüllt, fast zum Platzen gebracht. In den Toiletten-Trichter geworfen und Spülung gedrückt. Aber das verdammte Ding weigerte sich, im Orkus zu verschwinden. Schwamm im Wasser, als wäre Gottes Werk unsinkbar. Plötzlich mein Papa im Bad, vergessen, die Tür abzuschließen. Sah das Kondom und schlug mit Fäusten auf mich ein: „Erwisch ich Dich noch einmal, jage ich Dich aus dem Haus.“
Wie kann ein Mann, der vier Kinder gezeugt und offensichtlich Spaß dabeigehabt, so reagieren? Es muss ihn gejuckt haben, wie es mich gejuckt, fast ein Leben lang. Was so essenziell, einen innerlich so aufwühlt, kann Mann doch nicht vergessen. Sein Vater, mein Großvater, sogar fünf Kinder in die Welt gesetzt. Die Mutter meiner Mama vier Töchter. Von denen zwei kinderlos die Welt verlassen, wie meine wahrscheinlich auch. Schon um die Siebzig. Es sei denn, eine würde wie Sara, die Frau Abrahams, schon hochbetagt, noch einen Sohn gebären. Von Timothy, Angélas Weggefährten, Ulrike, von Irgendwem auch immer gezeugt.
Auch mir hat der Schöpfergott keinen männlichen Nachfolger gegönnt. Den Namen Bringer für die Nachwelt zu erhalten und zu vervielfachen. Er wird gute Gründe dafür gehabt haben. Einer wie ich zwar zeugungsfähig, aber aus seiner Kirche ausgetreten. Um Steuern zu sparen. Damals nicht gewusst, dass der Staat seit 1803 damit den Unterhalt kirchlicher Einrichtungen finanziert. Wichtiger für mich, nicht mehr naiv wie ein Kind glauben zu können. Corona fällt mir ein. Auch die Geburtenrate der Menschen scheint ein System zu regeln, wer oder was überlebt. Charles Darwins These: Nur der oder das Stärkere setze sich durch und überlebe. Erinnere, während der Pandemie geisterte der Begriff «Systemrelevant» durch die Presse. In Schwierigkeiten geratene Banken und Airlines wurden mit Steuergeldern unterstützt. Wäre ich Politiker und Mitglied einer Partei, würde ich mich engagieren. Fordern wie die Chinesen, mit einem Gesetz die Geburtenrate zu verändern. Steuerlich zu begünstigen, wenn mindestens ein Sohn dabei. Ließ es aber, als ich neue Erkenntnisse der Genetik gelesen und akzeptieren müssen: Nicht sicher sei, ob ein Sohn oder eine Tochter zur Welt kommt.
Da ich aber politisch ganz und gar nicht interessiert, kann ich diese Idee vergessen. Nicht mehr vergessen lässt sich heutzutage das Thema Gleichberechtigung der Frau. Was im späten 19. Jahrhundert mit Suffragetten begann, haben SIMONE DE BEAUVOIRE in Frankreich und ALICE SCHWARZER in Deutschland zum Thema Nr. Eins gemacht. Inzwischen sind Frauen selbstbewusster geworden. Kämpfen für gleichen Lohn wie Männer bei gleicher Arbeit. Gleiche Karrierechancen. In vielen Branchen bereits Führungsrollen übernommen. Zielstrebig wie männliche Patriarchen. Feinfühliger aber, wenn es darum geht, Chancen abzuwägen. Mitarbeiter zu motivieren. Männer kommen nicht umhin, sie zu akzeptieren.
Mein erster Sex mit einer Frau im Gartenhaus einer Schaffnerkollegin. Musste damals als Student auf einem Linienbus Geld verdienen, nachdem ich die elterliche Wohnung verlassen. Marga, meine Freundin aus evangelischem Elternhaus, meines ultrakatholisch. Sie müssen es recherchiert haben, als ich ihnen erzählte, Marga Schwalfenberg aus Heiligenhaus heiraten zu wollen. Mich vor die Alternative gestellt: „Marga oder Elternhaus!“ Kurz entschlossen Unterwäsche, ein Paar Socken, Malkasten und Zeichenblock in einen zufällig herumliegenden, leeren Karton gepackt. Verschwand auf der Stelle mit dem Gedanken, nie mehr will ich sie wiedersehen. Zog mit Marga ins Gartenhaus. Sie im Bus angesprochen, in dem ich neben dem Studium als Schaffner Geld verdiente. Und Hals über Kopf verliebt. Auch sie nicht abgeneigt, mir zu folgen. Konnte es kaum erwarten, nach Feierabend in der Akademie im siebenten Himmel der Liebe zu sein.
Erinnere, Marga schon früh im Bett, noch nicht zugedeckt. Erwartungsvoll und ängstlich, schien mir, zugleich. Ich nackt, alles Stoffliche weit von mir geworfen. Kniee vor ihr, hoch aufgerichtet, alles. Neben mir mein zweites Ich. Flackernder Schatten, den die Petroleumlampe schräg vor mir an die Wand geworfen. Ich muss ihr wie ein brünstiger Stier vorgekommen sein. Mit riesigem Gemächt, das nie mehr so groß wie bei dieser Premiere. Nur ein Gedanke in meinem Kopf: Hinein, hinein, dort, wo der Himmel sein musste. Sie stöhnte, ich stöhnte, wir beide stöhnten. Lauter jedes Mal. Nüchtern wieder, es könnte einer draußen vor dem Gartenhaus gehört haben und die Polizei gerufen. Nichts dergleichen geschah zum Glück. Aber mich seltsam gefühlt. Glücklich und schuldig zugleich. Gesündigt, im Sinne von Kirche und Stiefmutter. Aber fest entschlossen, diese Frau zu heiraten. Den Sex verlängern bis Ultimo.
Blieben zwei Wochen, lebten von Tütensuppen, Spiegeleiern und Liebe, am Morgen schon bis tief in die Nacht. Mit oder ohne Kondom. Marga tagsüber im Büro, ihre Eltern wissen lassen, sie bliebe des Nachts in Düsseldorf bei Freundin Hannelore. Ich tagsüber in der Kunstakademie, Düsseldorf, Vorlesungen gehört. Entwürfe gezeichnet und nur an Marga gedacht. Abends noch drei Stunden geschaffnert, um die jetzt dringend benötigten Pinnunzen für den Unterhalt zu verdienen. Trotzdem erleichtert und froh, die Eltern los zu sein. Ihr miefiges, christkatholisches Gehabe. Genoss die neue Freiheit.
Mein Papa Post- und Vollzugsbeamter seiner zweiten Frau, meiner Stiefmutter. Er war ihr hörig, um sie nicht auch noch zu verlieren wie Elli, meine Mama. Bestrafte meinen Bruder und mich nach Büroschluss für Sünden, die wir angeblich tagsüber begangen. Bei Tisch in der Nase gebohrt, gelogen. Kirschen im eigenen Garten gepflückt und gegessen, trotz Stiefmutters Verbot. Kirschen gehörten ins Einmachglas. So blieb es, bis Klara, die zweite Schwester, geboren. Ich in der Untersekunda außer Latein und Griechisch noch Französisch büffeln gemusst. In die Hitlerjugend, mit Sechzehn Flakhelfer, danach Soldat. Den Krieg zum Glück überlebt, aus Gefangenschaft entlassen und jetzt im ersten Semester an der Kunstakademie in Düsseldorf Architektur studiert. Kunstgeschichte und freies Zeichnen nach der Natur.
Erinnere mich, als wäre es heute. Das erste Mal als Kunststudent Talent beweisen gemusst. Frühmorgens schon vor einer Platane im nahen Hofgarten. Erstes Sonnenlicht zu nutzen. Flach der Schatten, den es warf, sodass alles uns entgegenzukommen schien. Zuerst gelernt, genau hinzuschauen, die glatte, in Rissen aufgebrochene Rinde mit spitzem Bleistift naturgetreu nachvollzogen. Ein einzelnes Blatt in Ausformung und Struktur. Samen in stacheligen Kugeln, die erst im Frühjahr abfallen, weiterrollen. Anderen Orts sich öffnen, um zu keimen. Die naturgetreuen Skizzen abstrahiert oder mit Pinsel und Farben versucht, das Wesentliche zu zeigen: «Kunst zeigt nicht das Sichtbare,sondern macht sichtbar.» Paul Klees revolutionäres Mantra.
Schon am ersten Tag in der Akademie fühlte ich mich wie befreit. Krieg und Merkurstraße 19 hinter mir. Zu meinem Elternhaus hätte der Kontrast nicht größer sein können. Gefühlt, als Sohn in eine Familie aufgenommen zu sein. Kommilitonen wie Geschwister. Lieb zu mir, trotz unterschiedlichen Charakters. Professor Köngeter ein Vater, wie ich ihn mir gewünscht. Nicht verlangt, dass wir Studenten ihm zu folgen hätten. Als erstes gefragt, warum wir ausgerechnet Architektur studieren wollten. Die meisten lockte es, zu studieren, was alle Welt sehen kann. Vor allem aktiv mitwirken, zerstörte Häuser und Städte wiederaufzubauen. Mich interessierten Bauten der Antike, der Renaissance, seit ich sie im Kunst-Unterricht am Gymnasium kennengelernt. Wusste, dass sie damals bestimmte Funktionen erfüllt. Aber in Konzeption und Gestalt die Zeiten überdauert. Das mündliche Abitur mit Eins bestanden. Detailliert Pläne und Ausführung des Doms «Santa Maria del fiore» in Florenz beschrieben. Ebenso die Motivation des ehrgeizigen Architekten FILIPPO BRUNELESCHI. Dessen Cupola ein technisches Meisterwerk. Bis heute die größte doppelschalig, freitragende Kuppel der Welt. Ihr Innendurchmesser beträgt 45 Meter.
Für Köngeter war Architektur Königs-Disziplin. Malerei, Bildhauerei und Kunstgeschichte in sich vereinigend. Dreidimensionalität, Proportionen und Aussehen der Gebäude der letzten 4000 Jahre ließen es erkennen. Auch Beton, Stahl und Glas hätten eine Beziehung zur Tradition. Klassische Formen und Technik durch moderne ersetzt, dem Zeitgeist entsprochen. Aber den Goldenen Schnitt beibehalten. Seit der Antike Maßstab für Ausgewogenheit des ganzen Gebäudes.
Professor Köngeter wusste, dass ich bei einem Architekten zwei Jahre Praktikum absolviert. Schien irgendwie erleichtert und engagierte mich, seine groben Skizzen nach dem Studium in seinem Büro am Rhein maßstabsgetreu umzusetzen. Zahlte mir 15 Mark pro Stunde. Spendabel im Gegensatz zur Merkurstraße. Bis zum Militär täglich Hausarbeit leisten müssen. Für ein lächerliches Taschengeld von 1 Mark pro Monat. Nun gut, das Gehalt eines Professors dürfte um ein Mehrfaches höher sein als das eines Postsekretärs.
Bei Hanns Schwippert, meinem zweiten Professor gelernt, Zukunft in den Blick zu nehmen. Die im Krieg zerstörten Städte nicht wiederaufzubauen, wie sie waren. Sondern bei der Planung den zu erwartenden Verkehr berücksichtigen. Wie in den USA, die sich kontinuierlich, der zunehmenden Anzahl von Autos anpassen mussten. Straßen breiter, überbrücken oder untertunneln. Gebäude auf den Nutzen konzentrieren. Nie aber die Grundsätze guten Bauens leugnen. Ausgewogen die Proportionen von Gebäuden, das verwendete Material der Umgebung angepasst. Harmonisch in den Augen aller Bürger einer Stadt. Langlebig die Qualität, zum Nutzen von Bauherrn und Mietern, die sie bewohnen.
Bald danach lernte ich Marga kennen. Im Linien-Bus der Deutschen Post von Düsseldorf nach Velbert und zurück. Die Schaffnertasche mit sechs Münzkassetten umgehängt und Fahrkarten verkauft. Aber nicht nur, denn der Bus, ein uralter Büssing, hatte seine Macken. Der Motor hinten, nicht vorn. Stotterte manchmal, als hätte er Durst auf Diesel. Nachdem ich beim Halt die neuen Fahrgäste abgefertigt, gab mir der Fahrer ein Kännchen Dieselöl. Sollte mich in den Motorraum setzen und es während der Fahrt in den Vergaser gießen, wenn er stotterte. Es funktionierte tatsächlich. Fand es lustig, die Klappe hochgelassen, Mädchen während der Fahrt zugewinkt. Hätte gern gewusst, was sie sich wohl dabei gedacht. Sicher noch nie einen Schaffner gesehen, der hinten im Motorraum eines Busses sitzt. Statt drinnen Fahrkarten zu knipsen.
Einmal blieb der Bus auf der stark steigenden Straße in Hofermühle stehen. Der Fahrer zögerte nicht lange, schon vieles gewohnt: „Hier eine Kneifzange, schneide vom Weidenzaun neben der Straße anderthalb Meter ab, ich muss den gerissenen Gaszug ersetzen.“ Auch das hat geklappt, der Fahrplan annähernd eingehalten. Auf geraden Strecken schneller gefahren als erlaubt.
Eine Zeit lang fuhr Privatunternehmer Kohnen diese Strecke statt der Post. Lernte den Inhaber kennen, als er mich fragte, ob ich auf seinen Bussen den Namen KOHNEN-REISEN pinseln könnte. Zugesagt und mit Schablone und Spritzpistole tatsächlich auch geschafft.
Als meine Eltern uns später ihre von den Großeltern geerbten Betten vermacht, schickte Kohnen einen Bus, sie von Düsseldorf zu mir nach Heiligenhaus zu bringen. Busse waren nach solchen Ereignissen für mich Symbole eines vorherbestimmten Schicksals. Auch MARGA, meine erste Frau, in einem Bus kennengelernt.
Schaffnerte täglich nach dem Studium, an Wochenenden und in Semesterferien auch ganze Tage. Miete für ein Zimmer, Material und Studienfahrten finanzieren zu können. Marga fuhr, wie sie mir später erzählte, morgens nach Düsseldorf ins Büro und abends zurück bis Heiligenhaus. Wohnte bei ihren Eltern in einem alten Fachwerkhaus an der Durchgangsstraße nach Velbert.
Sie sehen und sofort verliebt, ihr fülliges, kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar. Rot geschminkte Lippen im nur wenig gepuderten Gesicht. Augen blaugrau funkelnd unter hängenden Lidern, hoch gezogenen Brauen. Die mich anschauten, als wollten sie meine innersten Gelüste erforschen.
Damals durfte man in Bus und Bahn noch rauchen. Das Feuerzeug schon in der Hand, als sie eine «Kyriazi» aus einer flachen Schachtel genommen, orientalisch das Design, Blau, Gelb, weiß und Gold. Zündete sie an, als das Goldmundstück von ihren Lippen erfasst und bereit, den ersten Zug zu tun: „Danke, mein Herr“ mit einer Stimme, die ich nie mehr vergaß. Danke sagte sie immer, wenn ich ihr beim Aufstehen half, beim Abstieg die zwei Stufen aufs Pflaster der Bus-Haltestelle. Die schwere Tasche ihr dann reichte, was mag wohl so gewichtig sein? Abends 17:45 Uhr wollte ich sie fragen, sobald sie in meinem Bus Platz genommen.
Zu meiner Überraschung ohne Tasche. „Die Tasche habe ich im Büro gelassen, mit einem Haufen Manuskripte verschiedener Autoren.“ Neugierig geworden, fragte ich: „Arbeiten Sie mit Schrifttellern zusammen? Schreiben Sie selber Texte oder tippen Sie sie auf der Schreibmaschine? Für Schauspieler oder Schauspielerinnen, die sie in Filmen sprechen?“
„Ich schreibe nicht, tippe sie auch nicht in die Maschine, sondern sortiere sie nach Themen, für die spätere Bearbeitung durch den Lektor.“
Da ritt mich der Teufel: „Was halten Sie davon, wenn ich den Beruf wechsle und Gedichte schreibe, statt als Architekt Häuser zu bauen?“
„Am liebsten wäre es mir, wenn Sie beides miteinander verbinden könnten.“
„Ich werde alles tun, der Beste zu werden, ein Haus für uns beide bauen und Ihre Schönheit in Gedichten beschreiben.“ Bald schon, wie gebeichtet, im Gartenhaus geliebt und nie mehr von ihr lassen wollen.
Marga schien meine Absicht zu ahnen, obwohl ich sie nicht um ihre Hand gebeten. Wollte auch sie meine Frau werden? Stellte mich ihren Eltern vor, Walter und Martha Schwalfenberg. Schwester Lore und Willy, den Sohn Marthas aus erster Ehe. Auf Vermittlung meiner zukünftigen Schwiegermutter konnte ich ein möbliertes Zimmer in der Nähe mieten. Besessen von der Möglichkeit, so oft wie möglich mit Marga allein zu sein, vor allem Sex zu haben. Hoch befriedigt jedes Mal, das nächste schon im Kopf. Sie schien es auch zu mögen. Am liebsten in freier Natur. Unterwegs auf Spaziergängen an langen Wochenenden. Egal, ob andere Leute uns dabei gesehen.
Der zukünftige Schwiegervater ganz das Gegenteil meines leiblichen Erzeugers. Bestellte mich an seinem freien Tag zu sich. Hemdsärmelig bequem im Sessel, eine Zigarette rauchend: „Sie wollen also meine Tochter Marga heiraten: „Wieviel verdienen sie in der Woche?“ Ich wusste, er war Oberkellner und löhnte wöchentlich. Ich brauchte nicht viel und verdiente durch meine Tätigkeit als Schaffner: „Fünfzig Mark die Woche, netto.“
„Das reicht ja für den Anfang. Meinen Segen habt Ihr und nun heiratet mal. Das Hochzeitsessen spendiere ich in meinem Restaurant. In der Kammer unter dem Dach könnt ihr mietfrei wohnen. Platz genug auch für eine Baby-Wiege.“ Grinste er bei den letzten Worten oder irrte ich mich? Dass er zu Scherzen aufgelegt, lernte ich im Laufe der nächsten Wochen. Immer, wenn er gut verdient, Trinkgelder reichlich geflossen. Dank seiner Gabe, Gästen anzubieten, auf was sie am Abend Lust, ohne es gesagt zu haben. Phänomenal sein Gedächtnis, den Menschen zugewandt. Ganz anders als meine Sippschaft, die nur bedacht, eines unsichtbaren Gottes Gebote zu erfüllen.
Walter war freundlich, auf seine Art liebenswürdig zu allen, mit denen er zu tun hatte. Er selber eine schlimme Kindheit hinter sich. Sein Vater ein Frömmler, wie er im Buche steht. Verprügelte ihn, wenn er beim Vaterunser gestottert, nicht oft genug am Tag gebetet. Seine Frau erzählte es mir auf seiner Beerdigung: Sie habe ihn immer wieder gebeten, ihr einziges Kind nicht für solche Lappalien zu schlagen. „Vadder, lot dat Kink sin.“
In seinem Leben als Erwachsener holte er bei seinen Enkelinnen, meinen Kindern nach, was ihm selber gefehlt. Trug sie auf den Schultern Huckepack. Trabte mit ihnen durch alle Zimmer unserer Wohnung. Fiel auf die Knie, damit sie absteigen konnten, wie von einem Pony. Dann im Kopfstand so lange hochgestreckt, dass die Kinder schrien: „Genug Opa. Gleich fällst du um und brichst ein Bein.“ Da sprang der 60jährige hoch, stand aufrecht wie ein Baum. Beide Arme erhoben, um sich erneut auf den Kopf zu stellen. Staunte, das könnte ich nie.
Auch für seine Töchter Marga und Lore ein treusorgender Vater. Sahen ihn zwar selten, spürten aber an allem im Haus, dass er Frau und Kinder liebte. Keine Not gelitten, bezahlte, was sie brauchten. Die erste elektrische Waschmaschine in der Straße, für Martha, seine Frau.
Nach ihrem Tod aber hat ihn die ganze Familie im Stich gelassen. Martha, geliebte Mama und Oma, nicht mehr da, tot. Bisher war sie der Anlass für Besuche. Opa Walter, die Woche über abwesend. Oma ganz anders als die Mutter meines Vaters. Uns immer erst zugehört, bevor sie von sich erzählte. Ihren Enkelinnen nie gesagt, sie müssen dies oder das. Sondern: „Was meint ihr, ist richtig: Spielen oder erst Schularbeiten machen?“ Ihre Antworten abgewartet und korrigiert. Außerdem gekocht und gebacken, anders als alles, was wir kannten. Und so lecker, sodass wir sie, so oft wie irgend möglich, mit dem Bus in Heiligenhaus besuchten. Walter, ihr Mann, im 28 km entfernten Langenberg beschäftigt, auch dort übernachtet. Nach dem Tod seiner Frau den Arbeitsplatz gewechselt. Allein, soviel ich weiß, in einer Heiligenhauser Mietwohnung. Und keiner der Kinder ihn besucht, seit Oma nicht mehr lebte.
Auch Marga, seine Tochter, meine Frau, besuchte ihn nicht mehr. Müsse sich um die eigenen Kinder kümmern. Ihnen beibringen, dass Sterben zum Leben gehört. Zudem alle Hände voll zu tun und den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen. Mir scheint heute, sie muss danach das schlechte Gewissen gequält haben, ihr Innerstes aufgewühlt. Mehr als sie zugab. Hatte gerade das grafische Atelier meines bisherigen Arbeitgebers übernommen. Und für mich noch unbekannte Probleme zu bewältigen. Marga aber schien eine andere geworden.
Könnte doch sein, dass sie in den Jahren nach dem Tod ihrer Mutter unausgesetzt damit beschäftigt, ihren Vater ignoriert zu haben. Sich schuldig gefühlt und Selbstmord begangen. Keine andere Möglichkeit mehr gesehen, diesem Schuldgefühl zu entkommen? Oder suche ich nur einen Grund, der mich entlastet? War ich es auch, der sie enttäuscht? Als ich im letzten Jahr begann, jüngeren Frauen nachzusehen.
Martha, Walters Frau, meine Schwiegermutter, eine herzensgute Frau. Auch wenn ich mich wiederhole, der Typ einer Oma, eine richtige Bilderbuch-Oma. Meine Töchter liebten sie. Weil sie ihnen schenkte, was wir mangels Masse, also Geld, nicht konnten. Oder für nicht angemessen gehalten. Miniröckchen zum Beispiel, die mehr sehen ließen als meine damaligen Vorstellungen von Moral es erlaubten. Martha hatte nach dem Tod des ersten Mannes zum zweiten Mal geheiratet. Willy, Sohn aus erster Ehe jetzt mit Elli verbandelt. Alle wohnten im selben Haus. Marga und meine Wenigkeit. Acht Personen, einschließlich Lore, Margas jüngere Schwester. Bis sie Werner Borgmann kennenlernte, ihm spontan gefolgt und geheiratet.
Erinnere das Standesamt in Velbert, der zuständigen Kreisstadt. Ein schnauzbärtiger Beamte beäugte das ausgefüllte Formular, unsere Personalausweise mit dem Foto. Sah uns kritisch an: „Ihr wollt also heiraten, dann sprecht mir nach.“ Standard-Formel, die wir kannten, nachgesprochen, Ringe angesteckt und uns geküsst. Unterschrift und Stempel bestätigen, wir sind Mann und Frau. Am nächsten Morgen gleich mit Bahn und Bus nach Altenberg, im Dom der katholischen Jugend die für mich wichtigere kirchliche Trauung anzumelden. Was ich nicht gewusst, wir mussten, bevor der Dekan uns traute, bei ihm einen Vorbereitungskurs für angehende Eheleute absolvieren. Fragten uns, ob wir mehr erfahren als wir schon wissen?
Marga fühlte sich nicht gut, musste sich häufig übergeben. Ich schob es auf Omas Bouillon, die eine ganze Nacht auf dem Ofen allem Fleischlichen das Fett entzog. Um als schwimmende Augen in tiefen Tellern darauf aufmerksam zu machen, dass Fett im Essen unentbehrlich. Menschen gesund ein Leben lang, die sie verspeisen. Schwanger sein heißt doch nicht krank sein. Oder?
Dekan HÜTTEN erklärte uns, dass Mann und Frau verpflichtet seien, Gottes Willen zu erfüllen und Kinder auf die Welt zu bringen. Aber nur in kirchlich gesegnetem Ehebündnis. Alles andere sei Sünde und deshalb verboten. Erst Jahrzehnte später von Dominikaner-Pater und Freund OMER BELDERBOS die Absolution bekommen: In der Ehe sei alles erlaubt. Der Dekan aber murmelte zum Schluss: Gott schenke Euch viele Kinder. Als fiel ihm nichts anderes ein. Machte das Kreuzzeichen und verschwand mit wehendem Talar in der Sakristei, sich für den Schulunterricht umzuziehen. Uns Wissende ließ er allein. So etwas wie Trotz keimte in mir, suchte Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks. Vor der Hochzeit im Elternhaus Mamas Geige abgeholt. Sie sollte dabei sein, wenn auch nur in Tönen. Als sie starb, war ich sechs, lernte früh schon, auf ihr zu spielen. Hier im hohen Dom müsste es wundervoll klingen.
17. Februar 1950 ein frostiger Tag. Geschneit die ganze Nacht, zu Eis gefroren Straßen und Wege. Willy, Schwippschwager in spe: „Nix Bahn und Bus, ich fahre Euch in meinem Wagen nach Altenberg.“ Einem buckeligen Ford, ehemaliges Fahrzeug der deutschen Wehrmacht. Nach Kriegsende 1946 billig zu haben. Wir froh, nicht übers Eis schlindern zu müssen, bald aber Schlimmeres erfahren. Willy, Choleriker auch beim Autofahren, jagte mit Höchstgeschwindigkeit das Vehikel durch kurvenreiche Straßen. Bergauf und bergab, sodass uns schwindelig wurde. Marga klammerte sich an mich, meine Linke krampfte die Schlaufe an der Innenseite der Tür.
Unter dem Arm den hölzernen Geigenkasten, als dürfte ich Mamas Liebstes keiner Gefahr aussetzen. Die Saiten schön aufgespannt bleiben, sodass sie klingen, wenn ich gleich auf ihnen Johann Sebastian Bachs Toccata in D-Moll spiele. An Beethovens Bemerkung gedacht: Meer müsste er heißen, als der Wagen mit einem Ruck hielt. Seitwärts schleuderte, sich drehte auf glattem Eis. Und endlich stand, froh, das immer noch schwankende Vehikel verlassen zu können. Oder war ich es, der schwankte, katholisch heiraten ohne den rechten Glauben?
Innen im Dom wie ich es kannte. Gläserner vielleicht als sonst, von frostiger Luft geklärt. Transparenter die Fenster im gotisch hoch gestreckten Chor. Mönche des Zisterzienserordens verzichten auf vieles, was wir lieben. Auch auf Farbe in den Fenstern. Strukturen nur von Blättern der Bäume, die den Dom umgeben, zu Ornamenten geformt. Grisaille, grau heißt es im Fachjargon. Vier Kerzen brannten auf dem Altar. Für uns eine Kniebank vor den letzten drei Stufen bis oben, wo der Priester steht. Keine, uns zu setzen. Marga müsste eine Sitzbank haben, fiel mir ein und sah mich um. Rechts und links nur hohes Chorgestühl für die Mönche. Alle anderen müssen stehen, und wenn es Stunden dauert.
Gerechter wäre es, wenn Mönche heiraten dürften. Als treusorgende Ehemänner für ihre schwangeren Frauen auch in hohen Domen Bänke nicht nur in Mittelund Seitenschiffen zulassen, auch im Chorraum, nahe dem Allerheiligsten. Brauchten doch schwangere Frauen gerade die Nähe ihres Gottes, dessen Willen sie erfüllen. Die Menschheit nicht aussterben lassen.
„Ja, ich will meiner Frau, Marga Bringer, geborene Schwalfenberg, treu sein, bis der Tod uns scheidet.“ Nicht anders der Schwur Margas, ein wenig leiser gesprochen als ich, aber deutlich verstanden. Der Dekan kaum in der Sakristei verschwunden, die Geige aus dem Kasten neben mir genommen. Den Bogen, das Kolophonium und hinter den Altar gegangen. Wollte unsichtbar bleiben, Bach nur zu hören sein, wie himmlische Engels-Musik erklingen. Die gelockerten Haare des Bogens nachgespannt. Übers Kolophonium gestrichen, die Haftung auf den Saiten zu sichern. G-D-A-E gestimmt und schon jubelte es. Jagte meinen Fingern, dem Geigenbogen folgend, Terzen, Quinten überspringend, um sich wieder zu fangen. In schräger Dissonanz einen Moment angehalten, die Spannung zu steigern. Im Grundakkord auf drei Saiten wie erlöst zu enden. Wie das klang, im hohen Gewölbe hinauf sich wiederholend rundete, Hall und Widerhall sich vereinigten zu einem Danke, Danke lieber Gott. Willy schon draußen, der Motor lief, das Auto vorgewärmt. Ein Praktikus der Nächstenliebe.
Wieder bei Oma in Heiligenhaus gab ’s Rinderbrühe mit Eierschwämmchen und Markklößchen. Fettaugen sahen uns warnend an, was soll ’s? Lecker der Rinder-Schmorbraten mit Erbsen und Möhrchen wie jeden Sonntag-Mittag. Marga ging es wieder besser. Schleppte mich, den Rest vom Schokoladenpudding noch im Mund die schmale Stiege hinauf. Als könnte sie es nicht erwarten, mich auf der Matratze in unserer Dachkammer zu küssen. Schmecken zu lassen, was offensichtlich ihr Zweitliebstes war.
Nicht aufgehört mit dem, was frisch Verheiratete am liebsten tun. Bis ich zuerst, dann auch Marga schlapp, alle Gliedmaßen von uns gestreckt. Beide zur Kenntnis genommen, Sex macht glücklich einen Moment. Lange danach noch erschöpft, doch hoch befriedigt wie nach keiner anderen Tätigkeit.
Man muss es uns am folgenden Montag noch angesehen haben, als wir Händehaltend am Kopfende eines langen Tisches in Walters Restaurant den Ehrenplatz bekamen. Hinter unseren Stühlen zur Rückwand hochgezogen grüner Buchsbaum mit eingesteckten roten Rosen. Marga im ehemaligen Brautschleier der Schwiegermutter. Die Augen gesenkt wie die berühmte Madonna von RAFAEL. Meine Wenigkeit in einen zwei Nummern zu kleinen Frack gezwängt, den Walter nach Ende seiner Lehrzeit getragen. Verwandte und Freunde eingeladen, die die Gelegenheit nutzten, mit uns bis zum Abend zu essen, zu trinken, uns Glück zu wünschen und sich selber meinten. Konnten sie doch wählen, was ihnen schmeckte und mussten nichts bezahlen.
2.
Sechs Jahre vergingen, dividiert durch zwei, laut Adam Riese gleich drei - Kinder. Alle zwei Jahre ein Kind, in gut bürgerlichen Familien die Norm. Bei uns waren es Töchter. Ihre Namen zu finden, komplizierter als ich dachte. Noch wohnten wir bei Schwalfenberg in Heiligenhaus, als die erste Tochter geboren wurde. Margas Mutter wollte sie unbedingt Undine nennen. Wie die Seejungfrau in Lortzings Oper. Die Einzige, die sie in ihrem Leben gesehen.
Wir plädierten für Angéla, mit Betonung auf dem é. Sollte nicht, schnoddrig gesprochen, an angeln erinnern. Im Register steht also: Angéla Undine. Maria noch angehängt. Der Name der Gottesmutter könnte von Vorteil sein. Sogar bei Männern angehängt oder zwischengeschoben. Rainer Maria Rilke z. B. Bei Dorothee wollten wir alles richtig machen, nannten sie Dorothee Martha Auguste. Schwieger- und Stiefmutter zu beruhigen. Einzig Ulrike blieb Ulrike, weil die wichtigsten Verwandten bedient und kein Name mehr angehängt werden musste. Fanden ihn im Namensregister des Standesamtes und dachten, warum nicht?
Kürzlich erzählt sie mir, gerne hätte sie auch einen Doppelnamen gehabt und Ulrike-Elisabeth geheißen. Wie ihre Patentante, meine Schwester. Wenn sie als Baby schon logisch denken und sprechen gekonnt, wir hätten ihr den Gefallen getan. Aber Standesämter mit staatlich vereidigten Beamten hätten es damals todsicher nachträglich nicht ändern gedurft. Heute kann jeder sich auch umbenennen. Namen geben, die in keinem deutschen Verzeichnis stehen.
Bald schon fragte ich mich, woran liegt es, dass wir nur Mädchen auf die Welt brachten. Im Handbuch meiner Krankenkasse fand ich, was ich suchte. Liegt es also an mir, meinen Spermien? Es sollen bei jeder Ejakulation Millionen ausgestoßen werden. Aber nur eines genügt, eines von zahllosen Eiern im Frauenleib zu befruchten. Wenn im Embryo das X-Chromosom, wird es ein Mädchen. Ein Junge, wenn es ein Y- Chromosom. In einem medizinischen Fachaufsatz las ich, ein Gen namens SRY entscheide das Geschlecht. Beeinflusse das Chromosom Y, sodass es ein Mädchen wird. Marga oder ich müssen folglich über dieses Gen verfügen. Weil wir nur Töchter haben. Keine Ahnung damals, was Chromosome sind. X oder Y. SRY schon gar nicht. Anderswo gelesen, Männer mit einer überproportional großen Anzahl von Spermien in den Hoden zeugen nur Töchter. Was immer dazu geführt, ich weiß es nicht. Nur, dass ich der Vater von drei Töchtern bin. Ein Mann mit Y-Chromosom oder größerer Anzahl von Spermien als üblich.
Immer schon gespürt, ohne es zu wissen. Das ewig Weibliche, wie Goethe es nennt, zog mich an. Immer schon trieb mich Verlangen, sah ich ein Mädchen, später eine Frau. Erinnere meine leibliche Mama, die es mir Sechsjährigen angemerkt haben muss. Legte dann, wie Mütter in südlichen Ländern, ihre Hand auf mein Genital. Gewusst oder gespürt, sie müsste den sexuellen Trieb schon bei ihrem Erstgeborenen beruhigen. Seit Gastarbeiter aus Italien, der Türkei oder Griechenland bei uns beschäftigt, sah man nicht nur junge Männer in der Öffentlichkeit ungeniert sich auf diese Art beruhigen. Bei uns tut man nicht, was Ärgernis erregen könnte. In ihrer Heimat scheint offenbar niemand Anstoß daran zu nehmen.
3.
Noch einen Blick auf die Jahre meiner Pubertät. Zuhause war alles unter der Gürtellinie tabu. Nicht aufgeklärt wie heute von liberalen Eltern. Manche auch in der letzten Schulklasse. Nur Papa und seine Gustel schienen Ausnahmen von diesem Tabu zu genießen. Ihn nach Feierabend öfter am offenen Fenster des Zimmers zur Straßenseite gesehen, weit vornüber geneigt. Frau Bretz in der Häuserreihe gegenüber angestarrt. Auch sie am offenen Fenster vornüber geneigt, schien jemanden zu erwarten. Papa nannte sie Malkasten, weil sie kräftig geschminkt. Die Lippen rot, sommerdunkle Wangen, die Brauen nachgezogen. Stiefmutter, Schwestern und Tanten dagegen richtige Bleichgesichter. Fragte mich, will sie Männer locken oder ist es Mode heute? Ihr Negligé ließ mehr nackte Haut sehen, als ich bis dahin bei Gustel oder Tanten wahrgenommen. Sah ihr Gesicht einmal von nahem, als ich ihr nach der Schule auf der Kö begegnete. Ihre Augenlider blaugetönt, künstliche lange Wimpern angeklebt. Die blutrot nachgezogenen Lippen nicht vergessen: „Guten Tag, mein Kleiner.“
Damals mir gewünscht, sie wäre Zwölf wie ich. Dann wäre ich nach der Schule mit ihr auf der Kö spaziert und alle Klassen-Kameraden mich beneidet. Für Papa im offenen Fenster jedoch war sie der Anlass, zu furzen. Keine Ahnung, ob er lautstark furzte, weil ’s ihn im Gedärm gejuckt. Oder die Frau ihm gegenüber es hören sollte. Obwohl es Gustel, seiner Frau, bestimmt nicht gefallen, hätte sie ’s gesehen. Meist in der Küche mit Blick in den Garten das Abendessen vorbereitet. Erinnere, eines Abends hing er früher als sonst am offenen Fenster zur Straßenseite. Wartete auf Elisabeth, meine jüngere Schwester, die meist pünktlich das Büro ihres Arbeitgebers verließ. Wehe, sie kam zehn Minuten später als üblich. Da gab ’s ein Donnerwetter. Verbot ihr, nach Feierabend mit einem Freund anzubandeln. Schwesterchen erzählte mir Jahre später, er habe noch jeden Abend am Fenster auf sie gewartet, obwohl sie schon volljährig. Wollte bis zum Schluss die Kontrolle über sie behalten. Von ihrem Freund habe sie damals keinem erzählt, außer ihrer Freundin und mir.
Eines Nachmittags sah ich ihn über den Rahmen des Küchenfensters gebeugt. Schien immer auf der Suche nach etwas, was ihm Spaß machte. Gustel, sah sich, von seinem Hinterteil provoziert, aufgefordert, ihm einen Klaps auf den Podex zu geben. Und schon furzte Papa. Sie animiert, schlug wieder und wieder zu. Und er, wie aufgedreht, furzte nach jedem Schlag. Beiden schien es zu gefallen. Schämte mich für sie, als ich es sah. Ob es sie auch gefreut, wenn ich mich in ihrer Gegenwart so gehen ließ. Denn hin und wieder spürte auch ich den Drang, Luft abzulassen. Hab ‘s mir aber verkniffen. Auch im Klassenzimmer roch es manchmal verdächtig nach Schweinestall. Kannte es von Ferien bei den Großeltern in der Eifel. Ob Frauen auch furzen können? Oder verkneifen sie es sich, zu Höherem geboren?
Mit zehn Jahren abgelenkt von Ungereimtheiten in der Familie. Als Hitlerjunge bereits militärisch gedrillt. Richtig erst als Flakhelfer. Sechzehn Jahre und mich schon erwachsen gefühlt. Gleich im ersten Vorbereitungs-Kurs hatte man uns das Wichtigste eingetrichtert: Stolz könnten wir jetzt sein, als Soldat unseres Führers Adolf Hitler an der Heimatfront zu kämpfen. Dazu beitragen, feindliche Flieger vom Himmel zu holen. Bevor sie ihre Bomben auf Städte, Rüstungs-Betriebe und Bahngleise abwarfen und zerstörten.
Als ich zum ersten Mal das schrille Geheul sich nähernder Bomben hörte, Scheißangst gehabt. Mich auf den Boden geworfen, die Ohren zugehalten, als sie laut krachend nahe unserer Stellung explodierten. Sah mich dennoch gezwungen, Heldenmut zu beweisen. Redete mir ein, ein Flakhelfer steht seinen Mann, und bombt es noch so sehr. Geblieben, wohin man uns auch abkommandiert. Drei Mal an anderer Stelle rund um Düsseldorf. Im Vorort Hamm die Eisenbahnbrücke zu schützen. In Lohausen den nahen Flugplatz.
Von dieser Stellung nicht weit, an manchen Wochenenden Onkel Willy und seine Frau Mathilde besucht. Beide fand ich toll damals. Mathilde trotz ihres Alters das Haar noch blondgewellt. Und immer gutgelaunt. Willys muss es viele in meiner Familie gegeben haben. Bis 1918 geborene Knaben wurden Willy oder Wilhelm wie ihr Kaiser getauft. Meiner verantwortlich für den Gaskessel neben seinem Haus. Musste abends, wenn das Gas verbraucht, der Kessel tief gesunken, den Gashahn öffnen, den Kessel wieder füllen. Hoch oben wieder, sodass ich ihn von weitem schon sehen konnte. Alle Lampen auf Straßen und in Häusern leuchteten. Im Krieg aber Pflicht, gegen Abend alle Lichter auszuschalten, die Fenster zu verdunkeln. Straßen nur hell im Umkreis des Laternenpfahls. Fenster anfangs mit Decken oder Packpapier verhängt. Bald schon Rollos, die wir vor die Fenster montiert. Damit uns der böse Feind aus der Luft nicht finden und ausradieren konnte. Wer dagegen verstieß, musste Strafgeld zahlen. Im wiederholten Fall sogar ins Gefängnis.
Onkel und Tante freuten sich auf meinen Besuch am freien Wochenende. Sie hatte mir zuliebe jedes Mal eine große Kanne Kakau vorbereitet und eine Obsttorte gebacken. Mit Erdbeeren, Kirschen aus ihrem Garten und selbst geschlagener Sahne. Ein seltener Genuss, dem ich mich hingegeben. Sooft genossen, bis ich wusste, dass ich mit ihnen nur entfernt verwandt. Trotzdem sie immer wieder besucht, solange wir in Lohausen stationiert. Die beiden geliebt wie Geschwister meiner verstorbenen Mama. Leider gegen Fünf zurück in die Stellung gemusst. In unserer Kantine nie eine Obsttorte auf dem Teller gesehen. Nur an der Wand Plakate mit Leckereien, die uns den Mund wässerig gemacht. Auch eine Obsttorte mit dem Spruch: Erst siegen - dann genießen. Im östlichen Vorort Gerresheim galt es, das nahe Neandertal zu schützen. In dem sollte vor circa 130.000 Jahren angeblich der erste Mensch, ein Deutscher natürlich, gelebt haben.
Kein Gedanke an Mädchen und Liebe. Jeden Morgen mussten wir nach dem Aufstehen als erstes eine Tablette gegen Versteifung des Gliedes schlucken. Der jeweils wachhabende Unteroffizier passte auf, dass alle sie auch wirklich geschluckt und nicht nur so getan als ob. «Hängolin» nannte Karl Oswald diese Pille. Er muss gewusst haben, was sie bewirkt.
An einem dienstfreien Wochenende lernte ich die ein, zwei Jahre ältere Luftwaffenhelferin MARGOTT SCHUWERACK kennen. Tätig am Radargerät, feindliche Flugzeuge früh schon erkennen und verfolgen. Bis sie im Fadenkreuz von Scheinwerfern, in Reichweite der Flak abgeschossen werden können. Dunkelblond gelocktes Haar. An dienstfreien Wochenenden geschminkt, die Brauen nachgezogen, die Lippen Lila gefärbt, wohl der neuesten Mode folgend. So sah ich sie im selben Bus, in dem ich saß, das Wochenende bei meiner Familie zu verbringen. Und schon an Frau Bretz gedacht, die ich damals verehrte. Irgendwas juckte mich, ich wusste nicht wo und was dagegen tun. Bis wir am noch nicht zerbombten Apollo-Filmtheater vorbeifuhren.
„Darf ich Sie heute Nachmittag ins Kino einladen? Wie ich sehe, läuft hier im Apollo ein Film: «Quax - der Bruchpilot» mit dem bei allen beliebten Schauspieler Heinz Rühmann.“
Da sah sie mich überrascht an: „Kennen wir uns? Mir scheint, ich habe Sie schon mal gesehen. Ja, Sie sind Schüler am Hohenzollern-Gymnasium und jetzt Luftwaffenhelfer in der Flakbatterie. Die Eisenbahn-Brücke über den Rhein vor Angriffen aus der Luft zu schützen. Auch Sie müssten mich in der Kantine schon mal gesehen haben.“
In bequemen Sesseln nebeneinander zuerst die Wochenschau über uns ergehen lassen müssen. Siegesmeldungen an allen Fronten, immer wieder von Fanfaren lautstark unterbrochen. Auf der Leinwand lachende Gesichter unter Helmen aus Stahl, getarnt mit Eichenlaub. Man muss es ihnen befohlen haben, als Presseleute mit gezückter Kamera die Truppe zu filmen begannen. An einer Front wie in Russland gab ’s bestimmt nichts zu lachen. Nach Stalingrad zum Rückzug gezwungen. Genaues aber wusste niemand. Endlich der Film, ein typischer Rühmann. Flog rücklings und purzelte aus dem offenen Flugzeug. Hing an Rettungsgurten und zog sich wieder hoch auf den Sitz. Das Ganze ein paarmal hintereinander, steil rauf und runter und nicht abgestürzt. Ob ihm dabei schwindelig geworden? In meinem Kopf nichts anderes als Margot. Legte meinen Arm um sie, glücklich, als sie es zuließ. Jetzt küssen, dachte ich, da ging das Licht an und alle erhoben sich, zu gehen.
„Wollen Sie noch ein Glas Wein bei mir trinken? Wir sollten feiern, dass wir uns getroffen und jetzt auch näher kennenlernen können. Was haben Sie heute noch vor? In die Stellung zurück oder?“ Bevor ich antwortete: „Sie können, wenn Sie mögen, gerne bei mir die Nacht verbringen. Vorher gibt ’s Apfel-Pfannkuchen mit grünem Salat. Ein frischer Riesling noch in der Kühlkiste. Die Nachbarin hat sie während meiner Abwesenheit bestimmt mit frischen Eisbrocken aufgefüllt.“
Erinnerte mich: „Als Ältester von vier Geschwistern musste ich einmal in der Woche in der nahen Eisfabrik das Viertel einer Stange eiskaltes Eis kaufen. Auf der rechten oder linken Schulter nachhause schleppen. Ein Handtuch dreimal gefaltet und wollene Fäustlinge, Schulter und Hände vor dem Erfrieren bewahren. Das Eis im Bad mit einem Beil zerkleinert und in die Kühlkiste gefüllt, das Bad trockengewischt. Eiskalt beide Hände noch lange danach.“
„Das kann ich verstehen, auch meine Nachbarin klagt gelegentlich über kalte Hände und Schmerzen in Arm und Schulter. Bis sie die Idee hatte, das Eis im ausrangierten Puppenwagen ihres schon erwachsenen Töchterchens zu transportieren.“
Als ob ich unbewusst Eiseskälte gespürt, schob ich meinen rechten unter ihren linken Arm. Wärme durch den Mantel zu spüren. Ahnte, dass ich bald mehr sehen würde, wenn sie im Nachthemd vor mir steht. Mir gute Nacht gewünscht, sich über mich beugt, mich küsst. Gegessen, getrunken, an nichts anderes gedacht als an diese Frau. Zum ersten Mal allein mit einer. Kein Vater, keine Stiefmutter passt auf, keine Geschwister, denen ich noch etwas vorlesen muss, bevor sie die Äuglein schließen. Kein Unteroffizier, der kontrolliert, ob ich die Pille gegen Versteifung des Gliedes schlucke. Heute keine bekommen. Werde es spüren, wenn das Schicksal es so mit mir vorgesehen.
Erzählten aus unserem Leben, Schule und Elternhaus. Der Apfelpfannkuchen lecker. Brachte mich, vom Wein schon ein bisschen besäuselt, in ein kleines Zimmer für Besucher. Während sie sich im Bad für die Nacht vorbereitete, zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus, legte mich aufs Laken, das sie über ein Sofa gezogen. Den Kopf auf ein Kissen und starrte offenen Auges gegen die Decke. Als käme sie wie ein Engel von oben, mich zu umarmen und zu küssen. Ihr Busen über mir, Glocken läuten, Bauch, der sich drängt an meinen.
Plötzlich stand sie an meinem Sofa, in wollweißen Bademantel total eingehüllt. Zugeknöpft von den Knöcheln über rosa Filzpantoffeln bis ans Kinn. Kniete sich, nahm meine beiden Hände, legte sie zusammen und sagte: Jetzt sind wir brav und beten gemeinsam: „Jesuskindchen klein, mach mein Herzchen rein, soll niemand drin wohnen als Du, Jesus allein. Amen.“
Betete es mit, als wäre ich Sechs und sie meine Mama. Beugte sich über mich, küsste meine Stirn und zog die Decke über meinen Körper. „Schlaf gut und träume süß, bis morgen früh.“
Was sollte ich machen? Zwingen konnte ich sie nicht. Wollte ich auch nicht, es hätte mich nicht glücklich gemacht. Fasste dahin, wo schon größer und dicker geworden, was vorher noch klein. Kurz vor dem Ausbruch wie ein Vulkan, spürte ich. Es trieb mich zu reiben, solange ich es aushalten konnte. Erleichtert erst, als alles, was mich gereizt und von innen gedrängt, freundlicherweise von meiner Unterhose aufgefangen, statt von Margots Bettlaken. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn sie es entdeckt? Am Frühstückstich kein Wort mit mir gesprochen. So aber verlief alles normal, als wäre nichts geschehen.
Mich aber beschäftigte nur ein Gedanke: Habe mich selbst befriedigt. Wäre es nicht möglich gewesen, wenn ich vorher Hängolin eingenommen? Erinnerte Gespräche unter Kameraden, offensichtlich schon Erfahrung mit Frauen. Ein aus der Zeitung geschnittenes Foto von JOSEPHINE BAKER aus Afrika oder einer anderen Nackttänzerin in ihrem Spind. Ließen es unter der Wäsche verschwinden, näherte sich der wachhabende Unteroffizier. Die Spinde, die Betten zu kontrollieren. Bevor er die Lampen ausschaltete, die Außentür abgeschlossen. Keiner sollte auf die Idee kommen, abzuhauen.
Nur noch geträumt von Margot, sie nie mehr wiedergesehen. Die schwarze Josephin Baker Afrika, nur einmal auf Zeitungspapier im offenen Spind eines Kameraden. Und erfahren, dass sie weltweit in Kabaretts auftritt. In Deutschland keinem Schwarzen begegnet. Für die Nazis war der germanische Typ das Ideal. Allen anderen überlegen. Weiß die Haut und blond das Haar. Blau die Augen. Der überwiegende Rest der Deutschen, dass weiß ich heute, Nachfolger verschiedener Rassen, die im Laufe der Jahrhunderte eingewandert und deutsche Staatsbürger geworden. Von den Nazis toleriert und genutzt als fleißige Arbeiter in allen Berufen und Kanonenfutter im Krieg. Konnte mir, erwachsen geworden auch gut vorstellen, dass Josefine Baker auf Zeitungspapier, von Halbwüchsigen in Spinde geschmuggelt, um sich erwachsen zu fühlen. An nackten Brüsten einer Frau sich aufgegeilt. Ob mich damals ein gedruckter Busen derart stimuliert hätte, weiß ich nicht. Vielleicht.
Manches Wochenende in der Stellung geblieben und musiziert statt zuhause bei den Eltern zu verbringen. Langweilig die Wochenenden, gewohntes Einerlei. In der Stellung konnten wir machen, was uns Spaß gemacht. Klaus Berger seine Trompete mitgebracht, ich die Geige meiner Mama, Kurt Vorspel seine Ziehharmonika. Zwillingsbruder Heiner die Gitarre. Jazzen durften wir nicht, bei Strafe verboten. Die Schmonzette Lili Marlen wollten wir nicht, machten einfach Radau. Musik wie bei Foxtrott oder Wiener Walzer. An Wochenenden im Radio gehört, die Rhythmen im Kopf. Das Publikum nur junge Männer, Klassenkameraden und die aus der Parallel-Klasse. Tanzten Schulter an Schulter mit ihresgleichen, als wären sie Mann und Frau, ein Paar. Der ein oder andere schmatzte einen Kuss auf seines Partners Wange. Oder tat so als ob, und alle hatten ihren Spaß. Bis einer die Idee, Theater zu spielen. Einen Sketch, weiß nicht mehr, wer es vorgeschlagen und von wem geschrieben. Von GOETHE oder SCHILLER sicher nicht. Dann hätte ich ’s gewusst.
Der Titel des Stücks: «Die schwebende Jungfrau.» Ich wollte die Jungfrau sein. In Papas langem Nachthemd, das ich vom letzten Besuch bei den Eltern mitgebracht. Den Busen mit zusammengerollten Socken aufgeplustert. Jürgen Goslar, der spätere Schauspieler und Film-Regisseur, meine Mutter, im Kleid seiner Schwester. Ihre Brüste nur etwas dicker als bei mir. Ständig bemüht, mich glücklich zu verheiraten. Ein Zauberer im Dorf schien ihr geeignet, weil er junge Frauen schweben lassen konnte. In weitem Umhang, einen weißen Schal um den Kopf zum Turban gedreht, sah er wie ein Derwisch aus. In KARL MAYS Buch «Durch die Wüste» gesehen. Und so einen sollte ich heiraten? Alles sträubte sich in mir, aber als gehorsame Tochter musste ich parieren. Er befahl mir mit fistelnder Stimme, mich auf ein schmales Brett zu legen. Man sah es nicht, weil ringsum bis zum Boden hängende Bettlaken gehängt. Das Publikum sollte nicht sehen, dass dahinter versteckt, zwei kräftige Kumpel mich auf dem Brett in die Höhe hoben, sozusagen in den Schwebezustand versetzten.
Zum ersten Mal im Leben meinen Rücken gespürt. Eine Minute lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkam. Mit letzter Kraft mich vom Brett herunter gehangelt. Verbeugt, als alle applaudierten, tiefer als meine Mutter und der Zauberer. Rasch die linke verrutschte Socke hochgeschoben. Wie sich wohl Brüste einer richtigen Frau anfühlen? Anschließend den Erfolg in der Kantine mit Bier und Rollmöpsen gefeiert.
GOSLAR, meine Mutter rief ich Jahrzehnte später einmal an. Noch oft danach, von Erinnerungen geplagt. Sogar ein bisschen stolz, mit einem so berühmten Schauspieler die Schulbank gedrückt zu haben. Auch Jürgen in einem Seniorenheim bei Salzburg. Redeten, erinnerten, auch in Briefen das ein und andere. Mehr aber über unsere derzeitigen Befindlichkeiten. Beim letzten Telefon-Gespräch erinnerte er sich kaum noch. Auf einen Rollstuhl angewiesen. Doch glücklich, wie er mir sagte, wenn die Sonne scheint, an blühenden, Düfte verströmenden Wiesen entlangfährt. Sein Leben abspult wie einen Film: «Tempora mutantur et nos mutamus in illis.» Ja, ja, Lateiner wissen es: die Zeiten ändern sich - und wir uns in ihnen.
Jürgen Goslar starb am 5. Oktober 2021. Laut Todesanzeige geliebter Vater, Schwiegervater, Großvater, Urgroßvater und Freund. Die Hinterbliebenen gebeten, eine Kerze anzuzünden und seiner zu gedenken. Hab diesen Wunsch erfüllt um meinetwegen. Ihn muss es wie mich getrieben haben, Frauen begehrt auf Teufelkommheraus. Und so viel Ehr ob einer Lust, die auch mich noch immer plagt. Ohne wie er die Zukunft meines Geschlechts zu sichern. Warum, mein Gott, hast Du mich so werden lassen, wie ich bin? Drei Töchter gezeugt, zwei mit ihrem Beruf verheiratet. Die dritte leider zu früh gestorben. Mir ist kein Beruf bekannt, der einen Sohn auf die Welt bringt. Es sei denn ein Neutrum aus Blech, Kunststoff und einem Akku. Roboter heißt man sie. Japaner kurz davor, sie mit Frauen schlafen und Kinder wie gewollt zeugen zu lassen. Blumen bringen sie ihnen schon jetzt.
Im letzten Vierteljahr 1944 nicht an Frauen gedacht, getan, was getan werden musste. Solchen gefolgt, die in der Hitlerjugend nach dem Führungs-Prinzip in neun, jeweils höheren Rangstufen, das Sagen hatten. Von Ober-Haupt- Stamm- Bann- Gebiets- bis zum Reichs-Jugendführer. Dem Einberufungs-Befehl zum Reichs-Arbeitsdienst gehorcht, aber null Ahnung, was mir bevorstand. Sagte mir, lass kommen, was kommen muss. Gott der Herr wird es gewollt haben. So wie er gewollt, dass auch ich geboren und jetzt im Arbeitsdienst meine Pflicht zu erfüllen habe.
Moore in Niedersachsen trockengelegt, Bauernland zu vergrößern. Den Nahrungsbedarf im Krieg zu sichern. Im Südwesten weitere Bunker gebaut, Lücken zu schließen. Unterirdisch mit vorhandenen verbunden. Mit neuesten versenkbaren Geschützen ausgerüstet. Deutschlands Westgrenze besser gegen die anstürmenden Alliierten zu schützen. Bereits nach erfolgreicher Landung in der Normandie im Vormarsch auf Städte am Rhein. Koblenz, Köln und Kleve an der Grenze zu den Niederlanden. Russen im Anmarsch auf Berlin. Immer mehr deutsche Soldaten gefallen. In den Zeitungen Todes-Anzeigen noch und noch.
Hunderttausende in Gefangenschaft bei Engländern, Amerikanern, Franzosen und Russen.
Gerade Siebzehn, erwachsen fast und noch geträumt. In einer blauen Uniform zur See zu fahren. Ein Notabitur zu bestehen, deshalb in der Flakstellung zweimal wöchentlich einen ganzen Tag Unterricht gehabt. Mit Studienräten unseres Gymnasiums. Eines Morgens kam Mathelehrer Sieber in Käp’tens-Uniform und schwärmte von der Seefahrt. Zeigte uns ein Schiffsmodell in einer Glasflasche und erläuterte, wie er es hineinpraktiziert. Begeistert wie noch nie in Sachen Militär, beschloss ich, mich sofort freiwillig bei der Kriegsmarine zu melden. In Marineblau statt Luftwaffengrau mit goldenen Tressen an Ärmel und Schulter beeindrucken. Vor allem Mädchen. Das Schönste heiraten, nicht beten wie mit Margot. Endlich mit einer Frau schlafen und Kinder zeugen. Schlafen sagte man statt lieben, als sei Lieben eine Sünde. ZAHRA LEANDER im Ohr. Damals geahnt nur, was sie in Wirklichkeit meinte:
„Kann denn Liebe Sünde sein? Darf niemand wissen, wenn man sich küsst, wenn man einmal alles vergisst. “
Zwei Monate auf der Kadettenschule in Mürwik theoretisch und an Bord eines Mini-Uboots auf den Krieg vorbereitet. Fotos und Filme gesehen und gedacht, so lustig ist die Seefahrt nicht. Danach in den Dünen der Nordseeinsel Sylt als Landser geübt, zu schießen und zu treffen. Ein superschweres Maschinengewehr in erhobenen Händen, kein Sandkorn durfte in Rohr und Mechanik gelangen. Auf Ellbogen und Knien durch ständig unter meinen Stiefeln abwärts rieselnden Sand aufwärts robben gemusst. Mich kaum abstützen gekonnt, höher zu kommen. Auf halber Stecke verließen mich Unsportlichen die Kräfte. Die Waffe fallen gelassen und mich lang in den Sand gelegt. K. O. wie ein Boxer im Ring. Der Leutnant sah es und befahl einem Kameraden, die Schießmaschine ins Waffenlager zu bringen und zu säubern. Zu mir: „Steh auf und melde Dich beim Maat, sag, ich hätte dich zum Fensterputzen geschickt.“
Glück gehabt, dachte ich erleichtert. Den Befehl zu verweigern hätte mich vor ein Kriegsgericht bringen können. Und an die Front im Osten gemusst, von der nur wenige bisher lebend zurückgekommen. Sicher hat ihm mein Portrait gefallen. Mit Rötelkreide auf Büttenpapier gezeichnet. Er bezahlte mich nicht mit Zigaretten wie andere, sondern mit einem Kamm und der Bemerkung: „Aus Büffelhorn, die besten.“
Bald danach an Bord eines der neuen U-Boote. Kleiner, schneller und wendiger als die großen, feindliche Sperren in der Nordsee zu umfahren oder durchzuschlüpfen. Im Atlantik den Nachschub auf amerikanischen Schiffen mit Truppen, Waffen und Munition zu versenken. Warteten, bereits an Bord, auf den Befehl zum Start. Stattdessen die Boote starten, den Zeitzünder eines Sprengsatzes aktivieren. Selber rasch von Bord und an Land schwimmen, bevor das Boot explodierte. Das Boot mit neuester Technik durfte auf keinen Fall in die Hand des Feindes fallen. Vor allem nicht der Code ENIGMA, mit dem Nachrichten zuversichtlich verschlüsselt, von keinem Feind bisher dechiffriert werden konnten.
Heilfroh alle, dem Tod in dieser engen Blechbüchse entkommen zu sein. Mussten aber die verpönte graue Landser-Uniform anziehen und Hamburg gegen die bereits bis zu den Vororten gelangten Engländer verteidigen.
Als Jahre nach dem Krieg Freunde mich einluden, in Bremerhaven eines dieser U-Boote zu besichtigen, lehnte ich es ab. Gleich wieder dieses mulmige Gefühl, die Angst in den Knochen, unter Wasser in einer engen Blechbüchse eingeschlossen zu sein. Unentrinnbar einem Schicksal ausgeliefert, das ich freiwillig gewählt. Ohne zu wissen, dass es so hätte enden können.
Damals an Land vor Hamburg getan, was bisher Fahnenflüchtige mit dem Tod durch Erschießen bestraft. Drückten uns so gut wir konnten. Keiner wollte mehr den Heldentod sterben. Als es hieß, Hitler sei tot, war für uns der Krieg zu Ende: Hoben beide Hände, näherten sich englische Panzer. Ließen die Waffen zu Boden fallen und uns liebend gern gefangen nehmen. Sechs Wochen in selbst ausgehobenen Erdlöchern kampiert. Bei Weeze, nahe an der niederländischen Grenze. Eine Plane über Kopf, wenn es regnete. Und es regnete unaufhörlich.
Morgens zu dünnem Kaffee ein oder zwei Scheiben Kommissbrot aus Altbeständen der Deutschen Wehrmacht. Mittags an die Gulaschkanone, im behaltenen Kochgeschirr meist Suppe zu empfangen, Scheiben Toastbrots. Abends zu Graubrot eine Büchse Corned-Beef und eine Dose Brown-Beer. Gelegentlich schenkte uns einer der British Soldier eine Stange Pall Mal. 120 Zigaretten nie gesehen. Immer nur einzelne, selber gedrehte. Manchmal auch einen Riegel Schokolade. Suchten Kontakt zu uns: