Mann Gottes - Otto W. Bringer - E-Book

Mann Gottes E-Book

Otto W. Bringer

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Beschreibung

Christian ist katholischer Theologe und überzeugt, die Wahrheit gepachtet zu haben, gefeit zu sein gegen Versuchungen aller Art. Der Dekan der Universität und seine Studenten schätzen seine Logik, seine rhetorischen Fähigkeiten. Einmal die Messe gelesen und sonst nichts. Als dann eine simple Beerdigung ihn bis auf die Knochen blamiert, ändert sich alles: sein Denken in Alternativen, das bisher unreflektierte Verhältnis zu Frauen … Parallel ändert sich auch die Lebensweise von zwei Russlanddeutschen, Jekatharina und Grigoriew im traditionell katholischen Paderborn. Sie passen sich an, glücklich den Gulag in Sibirien überlebt und froh wieder ein Zuhause zu haben. Sie wollen heiraten. Bis Jekatharina auf der Beerdigung Christian kennenlernt, fasziniert von neuer Liebe träumt. Sie treffen sich per Zufall und lassen ihrer Lust freien Lauf. Der Leser erfährt viel über Krieg und Nachkriegszeit, gesellschaftliche und politische Zustände in Deutschland und Russland, den Konflikt in Kopf und Herz der Beteiligten. Wie es ausgehen muss, letzten Endes.

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Otto W. Bringer

Mann Gottes und die Frau aus demGulag

Copyright: © 2017 Otto W. Bringer

Satz: Erik Kinting

Titelgestaltung vom Autor

Erschienen bei tredition GmbH, Hamburg

978-3-7345-9007-8 (Paperback)

978-3-7345-9008-5 (Hardcover)

978-3-7345-9009-2 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt:

Die Grabrede

Paderborner

Die letzten am Grab

Dmitrij

Versuchungen

Gregoriew und Jekatharina

Der Spionage verdächtigt

Anastasja

Die Hochzeit

Endlich

Die Entscheidung

Alte Wunden

Im Kloster

Am Ziel?

Seitenwechsel

10 Din A 4 Seiten: die Rettung

Zurück in die Hölle

Die Grabrede

Christian im Bad vor dem wandhohen Spiegel. Nackt, bevor er ins Bett geht. Das raue Betttuch zu fühlen. Gottes Nähe auf seiner Haut. Reckt sich, gähnt. Froh, es nicht wie im Hörsaal unterdrücken zu müssen nach durchdiskutierter Nacht. Lehrt Theologie an der katholischen Universität Paderborn. Ihr Rektor wusste von seiner Begabung, logisch zu denken und zu überzeugen. Als die Stelle frei wurde, berief er ihn. Kurz nachdem er zum Priester geweiht, eine einzige Messe gelesen hatte. Die einzige bisher. Von praktischer Seelsorge hat er bis heute keine Ahnung.

Mehr als zwanzig Jahre nur gedacht, geredet, diskutiert statt Bibel zu predigen. Konzentriert, das zu tun, was er am besten kann. Messe und Beichte nur nebenbei zu erledigen nicht seine Sache. Eines richtig machen, sagte er sich. Entschied sich zu tun, was ihm wichtiger war: Behauptungen in die Welt setzen. Begründen und andere ad absurdum führen immer schon seine Leidenschaft. Die katholische Lehre gerade recht.

Christian ist überzeugt von dem, was er doziert. Fest sein Glaube. Das katholische Glaubensbekenntnis beherrscht. Seit er sechs war. Denkt es auch. Fühlt, gibt ihm, wenn er es bekannt hat, die richtigen Gedanken. Die richtigen Sätze, sie zu begründen. Zum Thema: Gott und Teufel. Ehe und Familie. Glaube und Vernunft. Beruf oder Berufung. Er fühlt sich berufen. Das Gespräch mit den beiden Studenten heute Abend dauerte bis tief in die Nacht. „Muss man sich selbst lieben?“

Ein Thema voller Widersprüche.

Das kleine Ührlein meldet sich aus dem Studierzimmer nebenan. Klingendes, helles Messing. Bing, bing, bing. Bingt Mitternacht. Er liebt diese hellen Töne, die wie drei Glöckchen klingen. Obwohl es keine Glöckchen sind. Ein Pendel schlägt drei unterschiedlich dicke Messingstangen an. Gleichzeitig. Sodass es klingt wie ein Dreiklang. Christian überzeugt, alles in der Welt funktioniert nur miteinander. Abgestimmt wie bei einer Uhr.

Auf Kommando einer Feder, die ein Zahnrad treibt, sich zu drehen. Andere zwingt, sich mit ihm zu drehen. Zum Schluss eine Welle, die die Zeiger bewegt. Im Takt exakt abgezählter Zähne. Jede Sekunde die Zeit anzuzeigen. Als Kind stand er täglich davor. Dachte, das Christkind hockt in diesem schönen Mahagonigehäuse. Und schlägt das Glöckchen. Sodass es klingt wie Heiligabend. Jeden Tag war Heiligabend. Manchmal einmal. Manchmal zwölfmal hintereinander. Bing, bing, bing, bing, bing, bing, bing. bing, bing, bing, bing, bing.

Eines Tages konnte er seine Neugier nicht mehr bremsen. Entdeckte, dass die Rückseite nur provisorisch angeklammert ist. Öffnete die Tür zum Paradies. Gespannt auf das Christkind. Nichts. Nur Zahnräder, die sich drehen. Miteinander auf geheimnisvolle Weise verbunden. Wie Menschen auf der Erde mit Verstorbenen im Himmel. So erzählte es ihm seine Mama, als ihr Vater, sein Opa gestorben war. Stellte sich gleich vor, sie fassen sich an den Händen. Tanzen im Kreis herum, herum, herum. Mit Verwandten, Freunden, Engeln und Heiligen.

Freuen sich, dass sie im Himmel sind. Und nicht in der Hölle. Erste theologische Gedanken eines Siebenjährigen.

Jetzt wieder die Uhr vor Augen. Im Wohnzimmer seiner Großeltern, die ihm das Schmuckstück vermachten. Den Schubladenschrank. Sieht im großen Ohrensessel seinen Großvater. Den ganzen Tag Zeitung lesend Pfeife rauchen. Ja, das Rauchen. Auch er qualmte wie ein Schlot. Kopfweh und Appetitlosigkeit die Folge. Ließ das Rauchen und fühlte sich gleich besser. Beglückwünscht sich jetzt nochmal zu dieser Konsequenz. Reckt sich wieder. In ganzer Länge. Reißt den Mund auf. Gähnt, einmal, zweimal. Froh, Müdigkeit genießen zu können. Genüsslich wie einer, der einen guten Tag hinter sich hat. Eine Angelegenheit erledigt ist.

Freut sich, von Morpheus, dem griechischen Gott des Schlafes in den Arm genommen zu werden. Und denkt es ist sein Gott. Zu träumen von Himmel und Hölle. Männern und Frauen. Gegensätze seine liebsten Themen. Meist in der Soutane sieht er sich zum ersten Mal bewusst nackt. Vor dem Spiegel im Bad. Vorgänger seiner Wohnung hatten einen anbringen lassen, der hoch bis an die Decke reicht. Wollten sie sich als Adam und Eva sehen? „Bin ich Adam?“ Fragt er sich.

Bisher erledigte er das tägliche An- und Ausziehen wie ein Automat. Der funktioniert nach früh geübten Regeln. Bei ihm zuhause erledigte es jeder im Bad. Hinter geschlossener Tür. Erst wieder sichtbar für alle in Schlafanzug die Männer. Im knöchellangem Nachthemd die Frauen. Mama, seine beiden Schwestern. Und Tante Eugenie, wenn sie drei Tage zu Besuch war. Er wusste nicht, wie Frauen aussehen. Weiß es bis heute nicht genau. Kein Thema für Theologie, wie er sie versteht.

Erinnert, Frau ist nur anders als Mann. Ein bisschen mehr oben. Mehr unten herum, wenn sie sitzen. Lange Haare zum Krönchen geflochten, wenn sie verheiratet sind. Keine Bärte.

Nicht die entfernteste Ahnung, wie Frau sich anfühlt. Wenn man sie berührt. Mama hatte er nie gestreichelt. Weil sie ihn nicht streichelte. Nie nackt gesehen. Nicht mal im Badeanzug. Bewahrte stets Abstand, wenn sie ihn umarmte. Als fürchte sie, Autorität zu verlieren durch zu große Nähe. Später beim Studium lernte er Bilder kennen von nackten Frauen. Eva und die klassische Venus von Sandro Botticelli. Bloß nicht daran denken, befielt er sich. Wischt die Fata Morgana beiseite. Als wäre sie Realität, die sich anschickt zu bleiben. Das Telefon klingelt. Lauter als sonst Alarm. Schrillt, kommt ihm vor. „Wer ruft mich noch an? Tief in der Nacht. Hebt ab, es könnte ein Notfall sein.

Heiner ist´s, Freund und ehemaliger Klassenkamerad auf dem Gymnasium. „Du musst eine Grabrede halten. Der Tote war mein Chef. Niemand sonst könnte es besser als du“.

„Nicht nötig, dass du mich für besser hältst“. Verzeih Herr, schon wieder gesündigt gegen den Geist.

Sagt: „Aber warum mitten in der Nacht? Hat es nicht Zeit bis morgen?“ „Morgen muss ich geschäftlich nach London. Ein wichtiger Kunde drohte uns den Auftrag zu entziehen. Aber zu Dir, wir müssen sprechen, damit Du weißt, wer Fritz Rapp war. Über den Du am Grab reden sollst. Übermorgen früh ist der Termin. 11:00 Uhr auf dem Südfriedhof. Kann ich nicht sofort kommen? „Na. dann komm!“

Zieht das Hemd an. Schlüpft in die Hose, die Pantoffel. Zieht den Gürtel stramm. „Bin ich jetzt ein Priester, der am Grab stehen wird. Den Trost der Kirche predigt? Ob ich das schaffe? Habe keine praktische Erfahrung. Keine Ahnung, wie man Leute beerdigt. Zwar zugesehen, als Großeltern, die Eltern begraben wurden. Sicher gibt es Regeln, es zu lernen. Aber wo finde ich die?“ Es schellt an der Tür. Hält einer den Finger auf den Klingelknopf, als brenne es. „Hallo Chris“. „Grüß Gott Heiner. Warum so eilig? Erzähl´ mal“.

Heiner steht. Setzt sich nicht auf den Stuhl, den Christian ihm anbietet. Zu aufgeregt. Nestelt am Hosenbund, als wäre er ihm zu eng. Er ist gut genährt, denkt Christian. Ein bisschen zu gut, findet er. Eine kleine Fastenzeit würde ihm nicht schaden. Konzentriert sich wieder und ist ganz Ohr. Gießt beiden das Glas voll mit Wasser. Wasser ist jetzt besser als Wein. Obwohl man Gästen Wein anbietet. Confratres müssen Wein trinken. Wenn sie die Messe lesen. Heute vielleicht sonntags nur. Früher täglich. Hektoliter Wein getrunken am Ende ihres Priesterlebens. Jeden Tag das gleiche Ritual. Beten, Hände mit Hostie heben. „Dies ist der Leib Christi“. Auf die Zunge legen, schlucken. Kelch heben. „Dies sein Blut“. Blut, das Wein ist, trinken. Zum Schluss Wasser in den Kelch. Die letzten Spuren von Wein mit Wasser verdünnen, damit es kein Blut Christi mehr ist. Schwenken, schlürfen die Mixtur. Bis nichts mehr übrig ist. Vom kostbaren Blut Jesu Christi. Um Missbrauch zu auszuschließen. Es soll Alkoholiker geben, die hinter jedem Tropfen her sind. Überzeugt: Alkohol ist das sicherste Mittel, in den Himmel zu kommen.

Für Protestanten ist das Abendmahl Symbol. Realität für Katholiken. Die letzte Mahlzeit Jesu mit seinen Jüngern. Vorbild und Auftrag, es gleich zu tun. Als Dogma fixiert. In jeder Messe zu feiern wie vor 2000 Jahren. Brot ist Leib Christi, Wein sein Blut. Immer, wenn Messe gefeiert wird. Zu erinnern, zu glauben. Glauben muss man können können.

Heiner legt los: „Fritz Rapp, so heißt der, den Du ans Grab begleitest. Über den Du sprechen sollst. Dritte Generation einer Familie, die die Firma aufgebaut und bis heute geleitet hat. Ich bin dort Prokurist. Wir stellen Bänder her. Für alles Mögliche. Gardinen, Teppiche, Decken. Schmale und breite. Farbig gemusterte und bedruckte Bänder. Die Stirn von ohnehin schönen Frauen zu schmücken. Geschenke noch liebenswerter zu machen. „Seid umschlungen Millionen“. Das Motto der Firma.“ Nimmt einen langen Schluck aus dem Wasserglas. Denkt, wäre es doch Wein.

„Das darf doch nicht alles sein, Heiner. Wie war Rapp als Mensch? „Sorry“, sagt Heiner, sich auf London einzustimmen. Er war freundlich zu allen. Anständig angezogen. Spendabel, wenn´s um Mission in Afrika oder Indien ging. Darum, den zu kleinen Kindergarten zu vergrößern. Einmal im Jahr spendete er tausend Euro dem Männerchor. Jüngeren Nachwuchs zu werben.“ Denkt: Was machen sie jetzt ohne Fritz Rapp?

Christian verärgert: „Sonst nichts? Wie hielt er´s mit der Religion? Besuchte er jeden Sonntag die Messe? Oder nur Ostern, Pfingsten und Weihnachten. Ging er zur Heiligen Kommunion? Mit der Fronleichnamsprozession? Übrigens:

War er verheiratet? Hatte er Kinder? Christians Fragen prasseln wie ein Gewitter, Blitz und Donner. Heiner wird kleiner. Als wäre er noch ein Schüler. Den Lehrer vor sich mit erhobener Hand. Stottert: „Verheiratet ja, einen Sohn. Weiß nicht viel von seiner Frau. Aber vielleicht ist das noch wichtig: Rapp war ein intimer Freund des Pfarrers, der leider vor zwei Jahren verschwand. In Pension ging, wie es hieß. Seitdem sind wir ohne geistlichen Beistand. Hätten gerne einen wie der gegangen ist. Alle liebten sein offenes Wesen. Fragen nicht nur anzuhören. Auch zu beantworten. Verehrten ihn, als wäre er der Stellvertreter Gottes. Sahen ihn des Öfteren mit Rapp im vertraulichen Gespräch. Als hätten sie etwas miteinander. Auf Deine Frage: in der Sonntagsmesse sah ich ihn ab da nicht mehr. Der Weggang des Pfarrers muss ihn sehr getroffen haben. Der Freund schien ihm wichtiger zu sein als seine Familie. Sprach nie darüber. Kam nicht mehr zum Stammtisch. Starb vor einer Woche. Nach einem Herzinfarkt. Verzweifelt vielleicht. Ich muss gehen. Bald ist die Nacht rum. Mach´s gut.“

Was soll ich damit anfangen. Fragt sich Christian. Weiß nichts über Rapps moralische Grundsätze. Nichts über seine Familie. Von Ehefrau und Kindern. Verzichtet aber darauf, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Er wäre überfordert, mit einer Witwe zu sprechen. Hat keine Erfahrung mit Problemen in Ehe und Familie. Wird ihr aus Anstand am Grab die Hand reichen müssen. Beileid murmeln. Vielleicht Passendes sagen: „Sicher ist er im Himmel. Unser Gott ist gnädig. Er wird auch mit Ihnen sein.“ Oder so ähnlich.

Christian bastelt an einer Grabrede. Nicht zu lang soll sie sein. Überzeugt, mit wenigen Worten muss ich alles sagen. Was an Gräbern zu sagen ist. Von Rapp weiß ich praktisch nichts. Werde also über den Menschen und Gott sprechen. Wir alle sind Sünder. Gott möge uns verzeihen. Hoffe, er wird mir einflüstern, was ich vergessen habe. Theologie pur verkünden. Die halbe Stunde werde ich überstehen. Wie immer bisher. Selbst wenn das Thema kein theologisches war. Notiert Stichworte auf einen Zettel. Steckt ihn in die Seitentasche seiner schwarzen Soutane.

Fährt in seinem VW-Polo bis vor die Friedhofskapelle. In der Sakristei das weiße Rochett übergeworfen, die Stola. Den Zettel in der Hand betritt er den Raum mit ernstem Gesicht. Stellt sich vor einen Berg aus Kränzen, Blumengebinden, Gestecken, Schleifen mit „Ruhe sanft“. Darunter der Sarg. Betet ein Vaterunser. Lateinisch, wie gelernt. Dreht sich um. Drei Bänke vor ihm besetzt. Zählt die dahinter. Vier, fünf, sechs, sieben: Leer. Enttäuscht. So wenige hier, meine Worte zu hören. Ihren Wohltäter ans Grab zu begleiten.

Konzentriert sich auf die dreizehn Menschen vor ihm. In schwarzen taillierten Mänteln, Persianerjacken. Die zeigen, dass es Trauernde sind, die es sich leisten können. Hört Schluchzen. Ob sie wirklich um den Toten trauern? Oder sind sie froh, noch am Leben zu sein? Sagen es nicht. Zeigen Gefühle auf ihre Art. Frauen nehmen ein weißes Spitzentüchlein aus dem Ärmel. Wischen die Träne weg, seufzen. Männer schweigen. Wer könnte Rapps Frau sein? Sieht keinen jungen Mann. Hat er nicht einen erwachsenen Sohn?

Christian weiß nicht, dass Zerwürfnisse davon abhalten können, hinzugehen. Keine Beerdigung abläuft ohne Trauer zu demonstrieren. Mit Taschentüchern in gepflegten Händen. An denen kostbare Ringe aufblitzen. Von allen registriert. Quälenden Husten alle als Störung empfinden. Das Ave Maria ertönt. Auf einem schlecht gestimmten Harmonium. Keine Beerdigung ohne die unvermeidlichen Lobeshymnen auf den, der im Sarg liegt. Christian ein Anfänger vor der Premiere.

Weiß nur, den verstorbenen Rapp muss er am Grab als guten Christen schildern. Seine guten Seiten. Die weniger guten weglassen. Auf dem Zettel Stichworte, ergänzt mit theologischen Aspekten. Will loslegen, als das Harmonium seufzend seinen letzten Ton verliert. Der Spieler ihm ein Zeichen gibt. Der nächste Sarg mit sechs Trägern wartet schon vor dem Haupteingang. In die Grube gefahren zu werden. Eilig haben es alle.

Ergreift den Sprengel, den der Messdiener ihm reicht. Fühlt kühlsilbern das Metall. Sieht das silberne Fass an der Kette. Denkt, das Wasser gesegnet von irgendwem. Logisch, jetzt den Sprengel einzutauchen. Wasser zu tanken. Den Sarg zu segnen. In Form eines Kreuzes, wie er es erinnert. Erneut tanken. Sich umdrehen. Die trauernde Gemeinde segnen. Mit Wasser aus dem Sprengel. Bis es nicht mehr tropft.

So, das habe ich hinter mir. Tritt zur Seite, um dem Sarg Platz zu machen. Schreitet bewusst langsam hinter ihm und denen, die ihn fahren zum Ausgang an der Rückseite der Kapelle. Überdenkt sein Redekonzept.

Ist es richtig so, wie ich es plante? Abschiednehmen am offenen Grab zu erleichtern mit theologischen Gedanken?

Aber was sonst könnte helfen als Theologie? Trauer zu wandeln in Hoffnung. Akzeptieren, was ist wie es ist. Geht es nicht allen so? Die einen gehen, die anderen bleiben. Bis auch sie gehen müssen. Aber die Chance haben, kennenzulernen, den sie sich bisher nicht vorstellen konnten. In feierlichen Hochämtern ahnen. Gott bleibt abstrakt. Theologie verspricht:

Weiterleben im Jenseits ist real. Kein Hirngespinst. Wir können uns freuen auf ein Wiedersehen im Himmel. Mit allen, die wir kannten, liebten. Erkennen zum ersten Mal, Gott ist konkret. Zum Anfassen. Umarmen, Küssen. Denkt, hoffentlich verstehen sie´s. Wie aber geht es hier jetzt weiter?

Erinnert das zum Hügel aufgeworfene Erdreich neben Gräbern. Nimmt sich vor: Ich mache es so wie ich es kenne. Steige auf den Erdhügel am Grab wie auf die Stufen meines Katheders. Recke mich, bis ich mich hoch fühle. Bemüht, keinen hochmütigen Eindruck zu machen. Werde frei von Pathos die Wahrheit verkünden: Jedes Leben endet. Genau auf der Grenze von Leben und Tod. Erde und Himmel. Und ich als Theologe berufener Mittler zwischen Gott und denen, die da herumstehen. Wie man an offenen Gräbern herumsteht, seit man Tote in die Erde versenkt. Um Erde zu werden.

Christian besteigt den Hügel neben dem Grab. Vor ihm das längliche, dunkle Loch mit dem Sarg. Neben ihm Schaufel mit Stiel im Eimer mit Sand. Chrisanthemen in einem anderen mit Wasser. Blickt nach oben. Als wollte er sich versichern, dass der Himmel noch da ist. Sieht nichts anderes als schwarze Wolken, aus denen der Himmel tropft und tropft. Als könnte er nicht anders als tropfen. Um erst dann aufzuhören, wenn kein Himmel mehr ist.

Der Theologe sieht es gleichnishaft. Denkt, warum tröpfelt es nur? „Lieber Gott lass es in Strömen regnen. Dass sie spüren, es gießt. Wie Worte meiner Predigt sich wie ein Strom über die Zuhörer ergießen werden. Sie einhüllen. Spüren lassen, alles Gute kommt von oben. Eindringt ins Innerste. Wo Glaube schon seit der Taufe wartet. Bereit, aufzusaugen was Du sagen willst durch mich, Deinen Diener. Zum endlichen Leben eines Menschen. Zu Tod und Deiner Verheißung, im Jenseits ewig weiter zu leben. Für alle, die es glauben. Und die anderen?“ Denkt es nicht zu Ende. Wind weht plötzlich, wird heftiger. Schüttet aus scheinbar Überflüssiges.

Als fürchteten sie, es könnte stärker regnen, haben die Trauernden blitzschnell ihre Schirme aufgespannt. Gelbe, geblümte, ein roter und viele schwarze. Eindrucksvoller kann der Kontrast nicht sein, denkt der auch psychogisch geschulte Theologe. Mensch zwischen Erwartung und Furcht, zwischen Leben und Tod. Teufel und Gott. Bunt ist nur der Teufel. Zweifeln und verwirrt sein ein Leben lang.

Plötzlich wie ein Blitz die Zuversicht: Gott wird mir die richtigen Worte eingeben. Und die Kraft, theologischen Klartext zu sprechen. Keine frommen Sprüche zu klopfen wie rhetorisch Unbegabte. Die das gelernte Einmaleins des Priesterlebens wörtlich nehmen. Gehorchen statt denken. Keine Spielräume mehr haben im Kopf. Da fällt ihm Francis Picabias Bonmot ein: „Der Kopf ist rund, damit man in alle Richtungen denken kann.“ Philosophisch betrachtet aufschlussreich und anregend. Theologisch tauglich, wenn man´s in die richtige Richtung lenkt.

Hilfe braucht er nicht. Auch nicht von oben: „Ich mache es so wie in der Uni. Spreche alles an. Was mir in dieser Situation passend erscheint. Auf jede Frage eine Antwort parat. In den fast zwanzig Jahren nach meiner Weihe nicht aus der Übung gekommen. Meine Methode gefestigt für alle Zeit“. Denkt es und kann sich nicht vorstellen, dass es auf eine Frage keine Antwort gibt. Die Messe im Kopf.

Alles ist vorherbestimmt. Für die Ewigkeit. Versichert er sich nochmal. Gibt es einen besseren Halt als das, was ist und bleibt. Im Kanon der Römisch-Katholischen Kirche? Die Reihenfolge unverrückbar wie der Petersdom in Rom. Dekliniert den Ablauf der Ansprache rasch für sich durch:

Logisch muss sie sein wie die Messe. Von erstens bis siebtens. 1. Kyrie eleison. 2. Gloria in excelsis Deo. 3. Credo in unum Deum. 4. Hoc est enim corpus meum. 5. Agnus Dei. 6. Benedicat vos omnipotenz Deus. 7. Ite missa est. Nicht ohne Grund ist Sieben eine heilige Zahl.

Nach dem zweiten Vatikanischen Konzil müssen diese Texte nicht mehr lateinisch gebetet oder gesungen werden.

In der jeweiligen Landessprache versteht sie jeder. Gute Voraussetzung für Christen, ihr Leben auf Gott, den Herrn auszurichten. Vorausgesetzt, sie gehen zur Heiligen Messe.

Einmal die Woche. Wenigstens. Ob die vor ihm stehen ihre Sonntagspflicht erfüllen? Er weiß es nicht.

Gerade deshalb werde ich Deutsch reden, damit auch ein lauer Christ mich versteht. Seine Gedanken auf religiöse Inhalte lenkt. Seine Gefühle bewegt, sie nachzuvollziehen. Christian ist klar, er hält kein Kolleg vor wissbegierigen Studenten. Menschen sind es, die Abschied nehmen müssen. Traurig der ein oder andere. Wissen nicht, ob sie es zeigen sollen. Erinnern, verdrängen, denken an anderes. Entschließt sich, den Spickzettel zu ignorieren. „Äußere frei meine Gedanken“, sagt er sich. „Interpretiere meine Überzeugung mit Worten, die mein Gefühl mir eingibt. Der Heilige Geist hilft, wenn ich nicht weiter weiß.“

Seine Stimme klingt, als hörte man sie durch das Gitter eines Beichtstuhls: „Sind wir nicht alle Sünder? Lechzen nach Vergebung. Müssen wir nicht dankbar sein für all das Gute, das Schöne, das Gott uns schenkt? Die Momente, in denen wir glücklich sind? Auch Unglück wie das Sterben kann uns einsichtig machen. Und helfen, besser werden. Nichts ist deshalb logischer als ihn zu preisen und danke zu sagen“.

Jetzt in Fahrt, riskiert er ein schwierigeres Thema: „Zweifelt nicht jeder an der Existenz Gottes, dann und wann? Nichts hilft mehr als sich zu erinnern. An das erste Bekenntnis zum Glauben. Bei Erstkommunion, Firmung. Wir müssen glauben wollen, sagt Meister Eckart. Großer christlicher Prediger, den viele für einen Mystiker halten. Er verstand es, Geheimnisse des Glaubens zu deuten. Mit einleuchtenden Argumenten“. Räuspert sich, als müsse er Zeit gewinnen. Abstand zum schwierigsten Thema:

„Das Wunder der Verwandlung in der Messe ist ein Wunder und bleibt es. Wer glaubt, erfährt sich selbst als Teil dieses Wunders. Verwandelt in ein Kind des ewigen Gottes. Der wie ein liebender Vater verzeiht, wenn wir es bezweifeln.“ Hält inne. Was habe ich gerade gesagt?

Glaube ich selbst das, was ich sage? Bin ich überzeugt, dass Brot und Wein in Christi Leib und Blut verwandeln ist? Nur durch eine Formel. Die ich für mich hin spreche? Texte, die irgendein Papst einmal abgesegnet hat? Hunderttausende Priester es herunter gebetet haben. Herr verzeih´. Spricht weiter: „Wir alle sind Sünder. Zweifeln statt glauben. Lieben nicht genug. Gleichgültig. Fremdenfeindlich. Menschen eben. Nur vor dem Altar kommen wir auf andere Gedanken. Gehen wir also in die Kirche. Bitten um Erbarmen und Frieden.“

„Ja, meine Lieben“. Sagt Lieben zu ihnen, um auszudrücken, ich liebe euch, Brüder und Schwestern in Christus: „Wir alle sind auf einem schwierigen Weg. In eine Zukunft, die keiner von uns kennt. Darum möge uns segnen Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“ Bekreuzigt sich während er es ausspricht. „Gesegnet sei auch Fritz Rapp, verstorbener Ehemann und Vater. Freund und Vorgesetzter. Möge Gott ihm die ewige Ruhe schenken. Uns erleichtert entlassen, ihn in besten Händen zu wissen. Gehet hin in Frieden.“

Die Trauernden haben den Eindruck, er ist fertig mit seiner Rede. Denken, wie schön so kurz. Mussten andere Predigten anhören, bei denen die Knie wackelig werden. Die Füße schmerzen in den neuen, zu engen Schuhen. Der Durst auf ein Bier größer als bei anderen Anlässen.

Christian, die letzten Nachrichten im Kopf, als er es aussprach. Frieden, ach wäre doch Frieden. Denkt und vergisst, dass er noch am Grab steht. Immer dasselbe. Sehnsucht nach Frieden. Die sich nie zu erfüllen scheint. Berichte und Bilder über das Heilige Land im Kopf. Krieg zwischen Juden und Palästinensern. Bruderkrieg nennt es die Presse. Israeliten und Araber sind Stiefbrüder. Beide Nachkömmlinge von Abrahams Söhnen. Von Sara, seiner Frau geboren. Von Hagar, ihrer Dienerin. Beide sind Stammväter. Isaak der Juden. Ismael der Araber.

Las von der Ermordung Tausender in Syrien. Ganzer Stämme in Afrika. Von ungezählten Unschuldigen in den Gefängnissen ziviler Gesellschaften. Demokratien, die es nur formal sind. Bündnispartnern zu gefallen. Vorteile zu haben bei Handel und Landesverteidigung. Beispiel Türkei.

Verzweiflung in zahllosen Familien. Streit, Trennung, Suizide. Krieg im Namen Gottes, von Hass predigenden Jihadisten angezettelt. Schützen Weltverbesserungspläne vor. Die nur falsch verstandene Koranworte sind. Immer noch, fast sechshundert Jahre nach den dreißig Jahre dauernden Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten in Mitteleuropa. Ja, Menschen sündigen. Seit sie die Erde bevölkern. Ein einziges Irrenhaus diese Welt. Sie braucht eine neue Ordnung. Denkt Christian. Ordo Ecclesiae, die Ordnung der Kirche. Ein Vorbild, das zweitausend Jahre schadlos überdauerte. Ecclesia catholica.

Als er sich auf die Schulter klopft für diese Erkenntnis, ist der Zweifel da. Plötzlich wie ein Blitz. Denkt an seine Ansprache. Hat meine Interpretation überzeugt? War meine Rede frei von Eigennutz? Hätte ich nicht besser das Schema der Messe gelassen? Mich klarer ausgedrückt? In Alltagssprache? Ein Fazit gezogen, das einleuchtet wie die Sonne, die jeder akzeptiert? Weil sie alles wachsen und gedeihen lässt. Unentbehrlich ist für den Fortbestand von Mensch und Natur.

Wieder meldet sich der Theologe in ihm: Schafft nicht auch das Christentum Leben? Ewiges Leben? Erhält es wie die Sonne? Nicht meine Klugheit, Kirche ist die Instanz, die aus den Fugen geratene Welt wieder zusammenzuflicken.

Denkt er. Oder denkt es? Nicht er denkt, sondern etwas, das außer ihm ist. Gott?

Oder die Schlange im Paradies mit ihrer irritierenden Botschaft: Gehorche Gott nicht, damit du erkennst, was ihm gefällt? Die Bibel ist verdammt zweideutig. Wie der Koran. Verzeih, dass ich zweifle, Herr. Aber kann nicht auch die Kirche ein Irrtum sein? Wer das Neue Testament leugnet, Gott gefallen? Rätselhaft alles. Dachte bisher, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben. Und nun Zweifel statt Erleuchtung. Zweifel bleibt.

Bleibt in allen Menschen. Kommt wie immer durch die Hintertür. Die Tag und Nacht offensteht. Bei jedem, der glaubt zu glauben. Auch Chris, so nennen ihn Freunde, wird ihn nicht los an diesem Grab. Ob es die ungewohnte Beerdigungs- Zeremonie ist? Sieht durch den Regenschleier die Gesichter der Trauernden wie abgeschaltete Fernseher. Darauf wartend, dass einer sie einschaltet. Machen keine Miene, die erkennen lässt: wir haben verstanden. Die Theologie dahinter. Auch verklausulierte Sätze aus der Messe müsste der ein oder andere erinnern. Konnte ich nicht überzeugen, weil ich selbst nicht überzeugt bin? Nicht die passenden Worte gefunden. Zu sagen, was mittrauert und tröstet? Ohne dabei die Rolle des Besserwissers zu spielen.

Die ganze Ansprache für die Katz also. Möchte sie am liebsten nochmal halten. Mit neuer Erkenntnis im Kopf: Ordo ecclesiae. Erkennt aber gleich, mit einer Beerdigung hat es nur indirekt zu tun. Außerdem, ein zweites Mal hört keiner mehr zu. Es regnet stärker, als wollte der Himmel Schluss machen mit den von mir erdachten Theorien. Und alle guten Absichten hinweg schwemmen.