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Dieses Buch ist ein Versuch, die Kindheit und frühe Jugend Friedrich Nietzsches als prägende, vielleicht prägendste Zeit seines kurzen Lebens zumindest teilweise zu rekonstruieren - an Hand seiner frühesten Texte und Gedichte, aber auch unter Zuhilfenahme bislang wenig oder gar nicht bekannter Quellen. Es geht darum, Nietzsche, schon als Kind als Menschen menschlich zu betrachten, zu versuchen zu verstehen, warum er der Nietzsche geworden ist, den viele zu kennen meinen und was ihm wirklich wichtig war. Dabei geht der Autor mitunter über die erwiesenen Tatsachen hinaus und arbeitet mit Vermutungen. Es handelt sich hier also nicht um eine wissenschaftliche Arbeit. Es sind Gedanken, die es dem Autor wert waren, aufgeschrieben zu werden. Andere mögen anders denken - und vielleicht hat sogar "Fritz" völlig anders gedacht …
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Seitenzahl: 163
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Mario Lichtenheldt
Aus düsteren Nebelnzur Sonne
Gedanken zur Kindheit
von Friedrich Nietzsche
© 2022 Mario Lichtenheldt
Umschlag, Illustration: Andrea Lichtenheldt
Lektorat, Korrektorat: Andrea Lichtenheldt
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Softcover: 978-3-347-57074-0
ISBN Hardcover: 978-3-347-57075-7
ISBN E-Book: 978-3-347-57076-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Teil I – Die Ohnmacht des Allmächtigen
1813 – Der „kleine Pfaffe“
1826 – Die Prinzessin
1838 – Hauslehrer bei Hofe
1841 – Vom Schloss in den „Sumpf“
1842 – Röcken
1843 – Franziska
1844 – Das Königskind
1845 – Gewitterluft im Pfarrhaus
1846 – Noch eine Prinzessin
1847 – Lieschen Lieb & Fritzchen Frech
1848 – Friedhofspflanzen
1849 – Gott ist tot!
1850 – Gute Nacht, Omama …
1851 – Ein neuer Anfang
1852 – Goldene Ketten
1853 – Eichhornspiele
1854 – Neue Welten
1854/55 – Dort auf jener Felsenspitze …
Schlüssel – Worte
1855 – Moses – Paraphrase
Teil II – Hinauf zur Natur
1855 – Heimliche Gärten
1856 – Doch nachher dankten alle Gott
1857 – Glückselige Inseln?
1858 – Sonnenaufgang
Schluss
Anhang 1 – Die Götter Griechenlandes
Anhang 2 – Euphorion
Anhang 3 – Der Geprüfte
Anhang 4 – Schifflein auf Meeresbahn
Anhang 5 – Rettung
Anhang 6 – Gewittergedicht
Anhang 7 – Alfonso
Anhang 8 – Zwei Lerchen
Anhang 9 – An Wilhelm
Anhang 10 – Schifferlied
Anhang 11 – Colombo
Quellen
Teil I – Die Ohnmacht des Allmächtigen
1813 – Der „kleine Pfaffe“
Am 10. Oktober 1813, im gleichen Jahr wie Richard Wagner, wird in der sächsischen Kleinstadt Eilenburg ein Knabe namens Carl Ludwig Nietzsche geboren. Mit 12 Jahren verliert der Junge seinen Vater. Der ist zu diesem Zeitpunkt bereits 70 Jahre alt.
Ludwig ist von Anfang an kränklich, muss ein Korsett tragen und wird von seinen Kameraden im Internat Roßleben als „kleiner Pfaffe“ verspottet. Er ist – wohl nicht zuletzt wegen des frühen Vaterverlustes – ein „Mama-Kind“ und bleibt es bis zu deren Tode. Es ist klar, dass dieser zum Außenseiter verurteilte Knabe seinen Lebensunterhalt niemals durch körperliche Arbeit erwirtschaften wird. Akzeptanz und Erfolg kann er sich allenfalls durch geistige – zur damaligen Zeit am besten durch geistliche – Arbeit erwerben. Und so geschieht es.
1826 – Die Prinzessin
Im thüringischen Hildburghausen wird am 26.03.1826 eine Prinzessin namens Elisabeth geboren. Deren Großvater Friedrich I. ist Herrscher über das kleine Herzogtum Sachsen-Hildburghausen, das noch im gleichen Jahr im Zuge der Neuordnung der ernestinischen Herzogtümer aufgelöst wird. Friedrich bekommt stattdessen das Herzogtum Sachsen-Altenburg zugesprochen, wohin er alsbald mit seiner Gattin Charlotte (geb. v. Mecklenburg-Strelitz), dem Sohn Joseph nebst Gattin Amalie (geb. v. Württemberg) und deren Töchtern Marie (geb. 1818), Therese (geb. 1823) und besagter
Elisabeth (geb. 1826) umzieht. Als Friedrich 1834 stirbt, wird sein Sohn Joseph Herzog von Sachsen-Altenburg.
1838 – Hauslehrer bei Hofe
Ludwig hat in Halle an der Saale Theologie studiert und wird nun, mit nur 25 Jahren, Hauslehrer am Altenburger Hof. Seine Aufgabe: Erziehung und Unterrichtung der Prinzessinnen Alexandra (8), Elisabeth (12) und Therese (15).
Ludwig fühlt sich wohl bei Hofe, macht seine Arbeit gut und gerne und genießt es wohl auch ein wenig, von den Mädchen geachtet und verehrt zu werden. Therese, die älteste der drei Altenburger Prinzessinnen, beeindruckt durch stille Zurückhaltung, die „kleine Schwärmerin“ jedoch ist wohl die anfangs 12-jährige Elisabeth.
Das Glück währt nur kurz, denn mit dem Heranwachsen der Mädchen naht auch schon das Ende von Ludwigs Engagement. Was Ludwig aus dieser kurzen Zeit bleibt, sind Erinnerungen und vielleicht auch Sehnsüchte. Die freundschaftliche Beziehung zum Altenburger Hof wird nie abreißen.
1841 – Vom Schloss in den „Sumpf“
Herzog Joseph setzt sich beim preußischen König Friedrich Wilhelm IV. erfolgreich für seinen bisherigen Hauslehrer ein und so erhält der studierte Theologe Carl Ludwig Nietzsche 1841 auf allerhöchsten Befehl die vakante Pfarrstelle Röcken bei Lützen zugeteilt (damals zur preußischen Provinz Sachsen gehörig).
Für Ludwig wird die Umstellung vom Leben bei Hofe zum harten Dasein eines Landpfarrers im als „sumpfig“ beschriebenen und „wenig christlichen“ Röcken zum Trauma. Er ist jetzt Prediger unter einfachen Leuten und muss erkennen, dass von einem Pastor auf dem Lande mehr erwartet wird als nur schöne, geistige und geistliche Worte.
Zunächst muss das Haus saniert werden – eine Aufgabe, die dem ehemaligen Hoflehrer so gar nicht liegt. Obwohl erst 1820 erbaut, macht das Pfarrhaus beim Einzug wohl einen eher bescheidenen Eindruck.
Dazu kommt, dass von Ludwigs Salär auch noch seine Mutter Erdmuthe, seine Schwestern Rosalie (ab 1844) und Auguste sowie zeitweise die Halbschwester Lina zehren, die von nun an ebenfalls im Pfarrhaus wohnen.
Zwar führen Lina und die lungenkranke Auguste den pastoralen Haushalt nach besten Kräften; doch aus der speziellen Konstellation ergibt sich sogleich das nächste Problem:
Ludwig ist bei seinem Amtsantritt bereits 29 Jahre alt – und eine Ehefrau, respektive Haushalshilfe (Kochen, Putzen, Waschen, Heizen, Vorratshaltung) und Mutter künftiger Kinder ist weit und breit nicht in Sicht!
Mutter Erdmuthe, unangefochtenes Familienoberhaupt und gut betuchte Helferin in wirtschaftlich klammen Zeiten, die Spinne im Netz der Nietzsche-Sippe, hält sich vornehm zurück, indes Rosalie vor allem durch religiöse Kompetenz und christlichen Zuspruch in allen Lebenslagen glänzt.
Ludwig steht unter akutem Heiratsdruck!
Von seinem Sohn wird der Pastor viele Jahre später so beschrieben:
„Mein Vater war … Prediger. Das vollendete Bild eines Landgeistlichen! Mit Geist und Gemüth begabt, mit allen Tugenden eines Christen geschmückt, lebte er ein stilles, einfaches aber glückliches Leben und wurde von allen, die ihn kannten, geachtet und geliebt…“1)
Das vollendete „Bild“ eines Landgeistlichen, mit allen Tugenden eines Christen „geschmückt“ – warum drückt sich der Sohn derart geschraubt aus? Oder meint er es genau so wie er es schreibt?
1842 – Röcken
Am 9. Januar 1842 erfolgt die offizielle Amtseinführung des evangelischen Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche in Röcken. Zwei weitere Dörfer – Michlitz und Bothfeld – gehören zu seinem Kirchensprengel.
1843 – Franziska
Es folgen Antrittsbesuche bei den Pfarrherren der umliegenden Orte.2)
Im heute sachsen-anhaltinischen Dörfchen Pobles hat Ludwig eine „Erscheinung“ in Gestalt der Pfarrerstochter Franziska Oehler. Das Mädchen gleicht seiner früheren Schülerin Elisabeth von Sachsen-Altenburg wie ein Zwilling dem anderen – und sie ist fast auf den Tag genau so alt wie die Prinzessin. Welch ein Zufall!
Im Sommer jedenfalls darf Ludwig mit Zustimmung des künftigen Schwiegerpapa seine Prinzessin3) in den Garten begleiten, wo selbige dem Röckener Pastor auf dessen speziellen Wunsch ein Stängelchen Dill reicht.
Nun geht alles ganz schnell. Obwohl zwei ältere Oehler-Töchter vorhanden sind und dringend verheiratet zu werden wünschen, ehelicht der ebenso dringend nachwuchsbedürftige Ludwig am 10. Oktober 1843, seinem 30. Geburtstag, die 17-jährige Franziska Oehler, die – dem Vernehmen nach – zu dieser Zeit noch mit Puppen spielt …
Bildung ist Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem den Jungen vorbehalten. Mädchen dürfen, sofern es die Zeit und ihre häuslichen Pflichten erlauben, von ihren Brüdern lernen, am besten etwas Nützliches in Sachen Haus, Hof und Kinder. So ist es auch bei den Oehlers. Franziska kann zupacken! Doch nun nimmt Ludwig die Sache in die Hand. Ab jetzt lernt Franziska von ihrem Prinzessinnenerzieher.
Und was lernt sie? Spielt er „Schule“ mit ihr? Ist Franziska jetzt die kleine Elisabeth von Sachsen-Altenburg?
Oder ist auch hier die höfische Etikette am Werk? Spielen Ludwig und seine „Hofdamen“ gemeinsam „Altenburger Hof“? Spielt Ludwig womöglich selbst mit Puppen, besser gesagt: mit einer Puppe, nämlich dem dreidimensionalen Spiegelbild „seiner“ Prinzessin?
Franziska ist ein aufgewecktes, lebensfrohes Mädchen vom Lande, viel zu wild für die gesitteten, staubtrockenen Nietzsches. Man muss sie zähmen! Ja, hat denn der Herr Pfarrer Oehler dem Mädchen gar nichts beigebracht …?
Der Konflikt zwischen den Pfarrhäusern Nietzsche und Oehler scheint vorprogrammiert.
Pfarrer David Ernst Oehler ist beliebt in Pobles, betreibt Landwirtschaft, von der er seine 11 Kinder zu einem guten Teil selbst ernährt und hat auch für die einfachen Leute stets einen guten Rat. Man nennt ihn den „Wassermann“ – in gesundheitlichen Dingen setzt er auf die heilende Wirkung des Wassers. Der Wassermann steht mit beiden Beinen im Leben und auf festem Boden – ganz anders als Ludwig Nietzsche, der am liebsten Predigten schreibt, „Traktätlein“ studiert und in Mußestunden am Klavier fantasiert.
Im Hause Nietzsche hat Franziska einen schweren Stand. Sie liebt ihren Mann, ihr „Ludmenschchen‟, nennt ihn ihr „Tausendschönchen“4) und möchte ihn am liebsten auch während seiner dienstlichen Pflichten begleiten. Sie kann es noch immer nicht fassen, dass er ausgerechnet sie und nicht eine ihrer beiden älteren Schwestern erwählt hat.
Durch ihren Fleiß gelingt es der jungen Frau, sich unter den stets kränkelnden oder mit „höheren“ (religiösen) Dingen beschäftigten Nietzsches unentbehrlich zu machen. Viel höher als das Dienstmädchen steht sie in der Hackordnung trotzdem nicht. Sie nimmt es hin.
Franziska – halb Kind, halb Frau – von einem Traumtänzer mit einer fast noch kindlichen Prinzessin verwechselt und in eine morbide, enge Welt gesperrt? Das Mädchen zu jung, der Ehemann fast schon zu alt – hat Ludwig Torschlusspanik?
Das Pfarrhaus in Röcken hat tausend Ohren. Es wird geredet, es wird gelauscht, gehorcht, gemutmaßt. Die Damen des Hauses (und vielleicht sogar Ludwigs Freund Emil Julius Schenk?) beobachten genau, machen Andeutungen, drängen den Herrn Pastor mehr oder weniger geschickt verklausuliert dazu, in Sachen Nachwuchs doch recht bald aktiv werden zu wollen.5)
1844 – Das Königskind
„Jedes Lebensalter hat sein eignes Recht auf Rücksicht, man soll die früheren nicht nur als Mittel für die späteren behandeln. Der Zweck kann nicht nur immer außerhalb der Gegenwart liegen. Das Kind ist viel mehr als ein bloßes Objekt der Erziehung. Die Pädagogen denken immer nur daran, was sie aus dem Kind zu machen haben: das Kind lebt in der Gegenwart, das ist der Kontrast.“6)
Im März schmieden die Nietzsche-Damen Reisepläne.7) Ludwig und Franziska allein zu Hause! Endlich! – möchte man meinen. Ein Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl?
Ludwig lehrt seiner jungen Frau Schreibstil, Etikette und gehobene Sprache. Und ja – er sorgt für Nachwuchs!
Ob er dabei Schuldgefühle hat? Schließlich bekennt sich der Herr Pfarrer zur Erweckungsbewegung, ultrachristlichen Hardlinern, die vor allem Tugend, Reue, Buße, Bekämpfung des Lasters und Schmerz fordern und die Predigt und die Bibel durchaus als psychologische Waffe benutzen. Wobei: Ludwig Nietzsche bekennt sich zu den „Erweckten“, aber denkt und fühlt er auch so?
Erst im Juli findet die lange geplante Reise statt8). Da ist Franziska zwar längst schwanger und der gedachte Zweck der arrangierten Zweisamkeit somit bereits obsolet; interessant ist jedoch, was Ludwig den Reisenden per Brief nachruft:
Er lebe, so schreibt er, mit „Fränzchen“ in „Stille und Einsamkeit“ und fühle sich verlassen. Fränzchen (im 6. Monat) arbeitet fleißig, während Ludwig Briefe in alle Welt schreibt.
Nicht enden wollendes Gejammer wegen irgendwelcher Krankheiten irgendwelcher Verwandter (vorzugsweise der Tante Auguste) bilden einen Großteil der Korrespondenz. und immer wieder findet sich ein Angelhäkchen, mittels dessen man den lieben Gott ins Boot der Klagenden holen kann. Ach, dass der HERR doch alles bessern möge …
Ludwigs Liebe zu Franziska, noch mehr aber die Liebe von Franziska zu ihm, ist zweifellos echt. Am Anfang mag Schwärmerei eine Rolle spielen (bei beiden). Ludwig sieht in Franziska aber eben stets auch „seine“ Prinzessin Elisabeth – und liebt sie deswegen noch mehr.
Aber dann kommen gleich wieder Mama und die lieben Schwestern und die ganze Mummerei und der Herr Pfarrer scheint seine Franziska manchmal regelrecht zu vergessen bei aller Dankbarkeit gegen Gott, „Mutterchen“ und die unbemannten Schwestern. Was für ein Mann!
Im September brennt das vogtländische Plauen zu einem Drittel nieder9). Auch das Haus von Onkel Alfred Schmied wird vernichtet.
Ludwig und Rosalie reisen zum Unglücksort, um zu helfen. Wie – das wissen sie selbst nicht so genau – der Wille zählt.
Die Reaktion der Tante auf die massiven Zerstörungen erscheint bizarr und völlig aus der Realität gefallen:
Inmitten eines gigantischen Schutthaufens sieht sie Gottes gnädiges Wirken in den lächerlichsten Kleinigkeiten. Seine völlige Abwesenheit während des Flammeninfernos sieht sie nicht, ahnt sie nicht einmal – die typische Nietzsche-Frömmelei, wie sie uns immer und immer wieder begegnet.
Der liebe Gott – der arme Kerl! Was muss er nicht alles aushalten. Wofür muss er nicht alles herhalten. Alles, was „gut“ ist – und sei es der kleinste lächerliche Zufall, kommt von Gott. Mit den Katastrophen hat Gott nichts zu tun – und wenn, dann erlegt er eine Prüfung auf, die zu durchschauen wir Menschen zu schwach an Verstand sind.
Noch vor Fritzchens Geburt kommt es auch in Röcken zu einem Brand, ausgelöst durch einen Blitzschlag. Und irgendwann im Herbst folgt eine Explosion – und zwar eine emotionale:
Ludwig scheint beruflich wie auch familiär völlig überfordert zu sein. Bei seinem Freund Emil Julius Schenk beklagt er sich bitterlich über seine Pobleser Schwiegereltern10). Er schämt sich für sie, spricht gar von Widerwillen und Ekel. Die Oehlers sind ihm zu weltlich. Auch das nahe Naumburg ist ihm zu weltlich …
Ludwig lobt die Stille seines Dörfchens, obgleich auch hier die „Welt“ an allen Ecken und Enden hereinbricht. Aber der Herr Pastor dient ja viel mehr Gott als der Gemeinde!
„Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. Liebe zum Menschen würde mich umbringen.“11)
Ob seine Arbeit deshalb „wenig Frucht“ bringt, wie er beklagt?
Fühlt Ludwig sich wohl in Röcken?
Ja, ja, er war auf allerhöchste Empfehlung Herzog Josephs von Sachsen-Altenburg durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. angestellt worden, aber dann – Nein, dieses Dorf! Der reinste Sumpf!
Überschwänglich lobt er die Stadt – und meint damit „sein“ Altenburg. Er möchte nicht in Röcken sterben.
Am 15. Oktober 1844 wird Ludwigs Sohn geboren: Friedrich Wilhelm Nietzsche, genannt Fritz!
Sein Name ist der Dank des stolzen Papas an seinen Gönner König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der just an diesem 15. Oktober ebenfalls Geburtstag feiert! Ein weiterer Zufall? Oder wieder – Gott?
Franziska entgeht bei der Geburt nur knapp dem Tod, kann sich nicht um ihr Baby kümmern und auch nicht stillen.
Großmutter Erdmuthe und die Tanten Lina (später Rosalie) und Auguste wissen Rat und übernehmen gerne die Pflege, Erziehung und Versorgung des kleinen Jungen – viel länger und offenbar auch viel nachhaltiger als nötig. Dass sie damit Franziska aus ihrer natürlichen Mutterrolle drängen, scheinen sie gar nicht zu bemerken.
An die Stelle der Mutter tritt gleich eine ganze Reihe von Ersatzmüttern, unter denen sich der Junge erst einmal zurechtfinden muss. Irgendwann beginnt er, das Gezeter der „Übermütter“ und ihr pädagogisches Durcheinander für sich auszunutzen und wird nun immer mehr einer jeden ganz persönlicher Fritz.
Weiß der Junge anfangs überhaupt, wer seine richtige Mutter ist?
Oder hat Ludwig seine Franziska abgeschirmt, so wie man bei Hofe die Erziehung und Pflege des Nachwuchses entsprechend geschulten Untertanen überlässt?
Nun ist Erdmuthe zwar alles andere als Untertan, irgendwie aber doch – sie ist sozusagen Hofmarschall und beaufsichtigt das Personal – und wenn ein Prinz geboren wird, übernimmt sie dessen Erziehung und Aufzucht natürlich höchstpersönlich!
Natürlich?
Fakt ist: Erdmuthe ist absolute Herrscherin über die beiden in Sachen Männer zu kurz gekommenen, früh gealterten Jungfern Auguste und Rosalie, ihren staubtrockenen „erweckten“ (aber völlig welt- und lebensfremden) 30-jährigen Sohn Ludwig, die ebenfalls unter Großmamas Fuchtel stehende 17-jährige Schwiegertochter Franziska, deren gegenwärtigen und künftigen Nachwuchs sowie mindestens ein Dienstmädchen.
Hat Ludwig womöglich gehofft, durch die baldige Geburt eines Stammhalters seine Position im Weiberhaushalt zu stärken, so sieht er sich getäuscht – oder eben auch nicht, denn angesichts seiner geradezu peinlich übertriebenen Verehrung für die Mutter und die Schwestern ist es alles andere als sicher, dass er eine solch dominante Position überhaupt erstrebt. Immer wieder hebt Ludwig in diversen Briefen seine Mutter auf den Thron grenzenloser Sohnes-Liebe, grüßt und lobt allemal Mutter und Schwestern überschwänglich – und vergisst darüber nicht selten seine Frau.
Ist es denn so, wie es ist, nicht gut?
Nein Ludwig! Das ist gar nicht gut!
Rosalie ist noch immer in Plauen. Doch nun wird sie in Röcken als Arbeitskraft gebraucht. Rosalie? Als Arbeitskraft?
Die Tante lässt sich Zeit mit der Rückkehr … 12)
Bei Fritz Taufe am 24. Oktober ist Franziska noch immer unpässlich.
Ludwig predigt beschwörend, fast so als ob er sich selbst ermahnt. Fritz – ein Königs- und zugleich Gotteskind! Röcken sei sein „Kanaan“, sein gelobtes Land. Er lobt seine Mutter, seine Schwestern, an dritter Stelle sogar sein Fränzchen und seine drei Gemeinden. Er sei „heimisch geworden im köstlichen Amte“13)!
In seinen Briefen an Emil Julius Schenk indes klingt das völlig anders.
Wochen später – es ist der 11. Dezember, der Geburtstag von Großmutter Erdmuthe – ist Franziska noch immer schwach und kränklich. Papa Ludwig hat seinem Söhnchen ein Dankschreiben in die kleinen Hände gelegt, in dem der Säugling mit warmen Worten lebenslange Dankbarkeit verspricht – der Großmutter und den Tanten Lina und Auguste…!
Fritz blickt „freundlich und vernünftig in die Welt“, meint Ludwig – noch …14)!
Acht Monate lang wird Fritz von einer Amme gestillt. Ludwig kann sie nicht leiden – zu hässlich und außerdem viel zu teuer! Hanne ist 34 Jahre alt und „dick wie eine Gastwirtsfrau“. Auch das Dienstmädchen Sophie bekommt sein „Fett weg“15).
Seine eigene Mutter lehnt Fritz ab, während Erdmuthe, Auguste, Lina, Ludwig, die Amme Hanne und das Hausmädchen Sophie sich rührend um das Königskind bemühen.
Kann man sich vorstellen, wie Franziska sich gefühlt haben mag? In ihren Tagebuchaufzeichnungen schreibt sie sich ihren Kummer von der Seele16). Hat das irgendjemanden interessiert im Pfarrhaus, einschließlich ihres Ehemannes?
1845 – Gewitterluft im Pfarrhaus
Das Jahr beginnt mit einem unguten Gefühl. Im Januar häufen sich bei Ludwig Kopfschmerzen, ja sogar von Nervenzusammenbrüchen ist die Rede17). Erste Anzeichen einer bis zum Schluss mysteriösen schweren Erkrankung? Oder doch (oder auch) Folge des gespannten Klimas im Pfarrhaus?
Lina, die Arbeiterin, verlässt das Pfarrhaus und hinterlässt eine Lücke. Rosalie weilt nach wie vor in Plauen. Auguste, Fränzchen, das Dienstmädchen und zeitweise sogar die Amme halten den Haushalt am Laufen18).
Fritz bereitet allseits Freude. Ludwig nennt ihn einen „Lichtfreund“19). Ob er weiß, was er da sagt?
Die „Lichtfreunde“, eine von mehreren Triebfedern der 1848er Revolution, haben um 1845 herum bis zu 150.000 Mitglieder. Sie stehen u. a. für eine liberalere Kirche und damit im strikten Gegensatz zu Ludwig Nietzsches Verständnis von Frömmigkeit. Dummerweise ist auch Freund Schenk dem Neuen gegenüber nicht abgeneigt, was beinahe zum Bruch der Freundschaft führt. Doch das nur am Rande.
Ende Januar fühlt Ludwig sich schlecht. Er trägt sich mit dem Gedanken, Röcken zu verlassen und eine Stelle in Webau (heute Hohenmölsen, Burgenlandkreis) zu übernehmen. Doch schon verlässt ihn wieder der Mut. Er wolle doch lieber „im Kleinen und Stillen“ wirken; auch das Projekt eines offenbar drei Jahre zuvor angedachten Buches legt er ad acta20).
2. Februar 1845 – Franziskas Geburtstag: Als Geschenke bekommt sie Stoff, einen Sonnenschirm, einen Hut, ½ Dutzend Löffel, ein Nähkörbchen, Strumpfbänder, eine Kleiderbürste sowie Pfannkuchen und einen Moorkranz. Das schönste Geschenk aber ist der kleine Fritz in seinem Körbchen.
Der unternimmt im März 1845 erste Geh- und Sprechversuche.
Ludwig beklagt ein zunehmendes Gefühl körperlicher und geistiger Schwachheit und schimpft über allerlei „geistloses und wässriges Geschwätz“ im Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu Herrn Jesus21). Ja, die Frömmler haben Angst in diesen Zeiten. Den Geburtstag von Prinzessin Elisabeth von Sachsen-Altenburg am 26. März vergisst er nicht.
Auguste kann krankheitsbedingt kaum noch arbeiten. Eine Kur ist vorgesehen22).
Ludwig will Hanne loswerden, bezeichnet sie als „leidige Gesellschaft“23)