Fritz und der Weise im Walde - Mario Lichtenheldt - E-Book

Fritz und der Weise im Walde E-Book

Mario Lichtenheldt

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Beschreibung

In einer Felsspalte ein wasserdicht verschlossenes Kästchen, darin handschriftliche Aufzeichnungen und Gedichte, die offensichtlich von einem Kind stammen, einem Jungen, der vor etwa 160 Jahren gelebt hat! Mit viel Geduld entziffern der 13-jährige Marcel und seine ein Jahr jüngere Schwester Annika die mit jeder Zeile seltsamer, bizarrer und rätselhafter anmutenden Eintragungen. Was da vor ihren Augen aus einer längst vergangenen Zeit ans Licht kommt, ist die teils befremdliche, teils schauerliche Kindheitsgeschichte eines Geschwisterpaares, das damals fast genauso alt war wie Marcel und Annika heute. Mitte des 19. Jahrhunderts: Aus nächster Nähe erleben Fritz und Elisabeth den qualvollen Tod ihres Vaters mit - und kein "lieber" Gott hilft! Da wird gebetet und gebarmt, dass sich die Balken des alten Pfarrhauses biegen, in dem die beiden ihre frühe Kindheit verbringen. Doch als alles Bitten und Lamentieren nichts hilft - da sprechen plötzlich alle von "Erlösung"! Hautnah erlebt vor allem Fritz die geistige Enge und Prüderie seiner nunmehr von 5 ½ Frauen praktizierten frommen Erziehung: Zuckerbrot und Peitsche, im wahrsten Sinne des Wortes! Doch Fritz wehrt sich, denkt sich frei - gegen immense innere und äußere Widerstände, begibt sich auf Glückssuche und führt IHN schließlich vor, den "lieben" Gott - so wie er wirklich ist - falls er überhaupt ist … Obgleich die Protagonisten dieses Buches Teenager sind, handelt es sich nicht um ein reines Jugendbuch. Vielmehr wird gezeigt, was Jugendliche zu leisten vermögen, wenn man sie lässt oder - im Fall von Fritz - sogar TROTZ geistig-religiöser Dressur. Mit freundlicher Genehmigung des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar enthält das Buch u. a. die wahrscheinlich erstmalige Veröffentlichung einer Kinderzeichnung von "Fritz", die in Nietzschekreisen seit längerer Zeit für Diskussionen sorgt und die möglicherweise Einblicke in früheste, bislang tabuisierte Kindheitserlebnisse des Jungen gewährt.

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„Ich werde niemals – ja ich weiß es – niemals diese Gedanken und Vorstellungen zu einem Abschluss bringen.“

Mario Lichtenheldt

Fritz und der Weise im Walde

© 2018 Mario Lichtenheldt

Autor: Mario Lichtenheldt

Korrektorat: Andrea Lichtenheldt

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-7439-1904-4 (Paperback)

ISBN: 978-3-7439-1905-1 (Hardcover)

ISBN: 978-3-7439-1906-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Zeit – Raum

Spiegel – Bild

Felsen – Spitze

Sohn der Nacht – Wer war Fritz?

Gottes – Kind

Gottes – Acker

Der ohnmächtige Gott

Der sterbende Gott

Der untote Gott

Prinzessin im Spiegel

Der schweigende Gott

Phantasie I

Phantasie II

Zähne

Venus & Dionysos

Der Geprüfte

Götter – Dämmerung

Ein Schifflein fährt auf Meeresbahn

Andromeda

Alfonso

Sonnen – Glück

Die Glocke

Der alte Pater

Bei den Schiffern

Der Weise im Walde

Rinaldo

Franziska

Jason und Medea

Schifferlied

Zwei Lerchen

An Wilhelm

Im freien Tempel der Natur

Colombo

Nach Pforta

„Herz, was grauset dir?“

Todes – Traum

Auf nackter Felsenklippe

„Ich bin dein Labyrinth!“

Nachbemerkung

Anhang

Erläuterungen zu „Die Götter Griechenlandes“

Quellen und verwendete Literatur

Weiterführende Informationen

Zeit – Raum

K ein Telefon, erst recht kein Handy oder gar Smartphone, kein PC, kein Laptop und noch nicht mal ein Fernseher – man könnte meinen, in Großmutters Zimmer sei die Zeit stehengeblieben, irgendwann vor 70 Jahren. Doch das stimmt nicht, denn da ist die uralte Standuhr aus dunklem, fast schwarzem Holz, deren Pendel aus unerklärlichen Gründen noch immer die Zeiger bewegt – klack, klack, klack … Seit Marcel denken kann, steht der Regulator in der Ecke neben dem Fenster und ohne das monotone Geräusch, ohne die beinahe boshaft gleichförmige Bewegung des Pendels wäre Großmutters Zimmer nicht echt, nicht das, was es ist und immer schon war.

Drei Jahre ist Großmutter nun schon tot und nichts hat sich verändert. Das alte Röhrenradio, das nach dem Einschalten fast eine Minute braucht, bevor es einen Ton von sich gibt – es steht da, wo es immer stand. Und es funktioniert noch. Das alles ist so und wird, wenn es nach Marcel geht, auch so bleiben. Aus irgendeinem Grund, einem Gefühl, möchte der 13-jährige das seit Jahrzehnten unveränderte Refugium der Großmutter nicht anrühren, will dessen aus der Zeit gefallene Ruhe und Harmonie nicht stören.

Zeit? Was ist denn eigentlich Zeit? Wodurch erkennen wir Zeit? Durch Vergleiche! Wir vergleichen einen jetzigen Zustand, z. B. den Stand der Sonne, den Stand der Uhrzeiger oder die aktuelle Jahreszahl, mit einem früheren. Und was ist, wenn es nichts zu vergleichen gibt? Kann es in einem völlig leeren Raum Zeit geben? Kann es in einem völlig leeren Raum Geschichte geben, geschichtete Zeit? Kann es denn überhaupt einen vollkommen leeren Raum geben?

Nur langsam kehren Marcels Gedanken in Großmutters Zimmer zurück...

Da ist der riesige Kleiderschrank, in dem sich der Junge auch heute noch mühelos verstecken könnte, irgendwann vor fast 100 Jahren gefertigt aus dem gleichen fast schwarzen Holz, aus dem auch die alte Standuhr und überhaupt alle Möbel in Großmutters Zimmer bestehen. Da ist die altertümliche Kommode mit dem dreiflügeligen Spiegel und den geheimnisvollen Schnitzereien an Fü-ßen und Kanten; seltsam fette, nackte Baby-Engelchen mit Stummelflügeln rechts, grässlich hässliche Fabelwesen mit furchterregenden Fratzen links. Und da ist der wuchtige Schreibtisch, in dessen rechter Schublade seit eh und je die große schwarze, mit Gold-schrift verzierte Bibel ruht.

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal,

fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir …“

Nachdenklich blättert Marcel in dem uralten Buch. Ob Groß-mutter bei IHM ist? Gibt es IHN vielleicht doch – oder ist alles nur ein Märchen, an das heute nur noch Großmütter glauben?

Vorsichtig dreht Marcel den Schlüssel des altertümlichen Türschlosses herum und schließt sich ein in Großmutters kleiner Welt. Warum? Er ist allein im Haus, aber …?

Was aber? Hat er Angst? Wovor? Oder ist es nur ein Instinkt, ein unbestimmtes Gefühl, weil man eben abschließt, bevor man tut, wovon niemand etwas erfahren soll?

Stumm holt Marcel das flache Kästchen aus Großmutters Schrank, das er gestern in einer zwischen Farn und Gestrüpp verborgenen Felsspalte gefunden hat, die so eng ist, dass nur ein Kind oder ein schlanker Teenager wie Marcel hindurchgelangen kann. Oben auf dem Felsen steht eine alte Waldhütte, die der Junge oft besucht, um zu lesen oder zu träumen.

Das Kästchen hat die Form und Größe einer Geldkassette, besteht aber aus Holz, ist fest verschlossen und wasserdicht umhüllt von einer dicken schwarzen Masse. Was mag es enthalten? Schwer ist das eigenartige Behältnis nicht, jedenfalls viel zu leicht etwa für Münzen, Geld oder einen ähnlichen Schatz.

Mit dem Taschenmesser gelingt es Marcel, die schwarze Masse Stück für Stück abzukratzen und den Deckel ein Stück aufzuhebeln. Den Rest erledigt ein Stemmeisen, das der Junge vorsorglich aus Vaters Werkstatt mitgebracht hat. Zum Vorschein kommt ein in graublauen Stoff gebundenes Buch.

Marcel fühlt, dass gleich etwas passieren wird, etwas, das vielleicht sein ganzes Leben ändert. Noch zögert er – dann schlägt er das Buch auf und stutzt: „Buch der Betrachtungen“ steht auf der Titelseite – und als Marcel diese erste Seite umschlägt, erblickt er die Umrisse einer schlanken, Kinderhand.

Verdutzt lässt der Junge die eng beschriebenen Seiten durch seine Finger gleiten. Lesen kann er die verschnörkelte, aber gesto-chen scharfe Handschrift nicht, doch eines steht fest: Dieses Buch ist alt! Sehr alt!

Die Schrift ist Marcel völlig fremd. Oder doch nicht? Zumindest ein Datum kann er lesen: 31. August 1858. Wer immer das Buch versteckt hat, ist längst tot! Ein kalter Schauer läuft Marcel über den Rücken…

Wieder fällt sein Blick auf den mannshohen, auf seltsame Weise bedrohlich wirkenden Regulator in der Ecke. Wie ein längst verstorbener Urahn scheint das Zeitmonster den Jungen zu beobachten – stumm und eben doch nicht stumm. Unbeeindruckt vom Fluss der Jahrzehnte, vom Kommen und Gehen, Werden und Vergehen, zählt das Pendel die Sekunden unseres Lebens ab – gnadenlos!

Aber das sind ja Gedichte!

Gedichte? Nur Gedichte? Marcel ist enttäuscht. Und deswegen der ganze Aufwand?

Warum macht sich vor 160 Jahren irgendjemand die Mühe, irgendwelche Gedichte in ein vor allen geheim gehaltenes Buch zu schreiben? War der unbekannte Schreiber vielleicht ein Dichter, dessen Werke niemals gedruckt wurden? Oder hat er die Verse und Texte nur irgendwo abgeschrieben?

Das Buch jedenfalls verpackt er in eine kleine Holzkiste, verschließt diese wasserdicht und versteckt sie in einer gut verborgenen Felsspalte. Dafür muss der Unbekannte einen Grund gehabt haben, einen wichtigen Grund!

Gedichte bestehen aus Reimen und wenn es gelänge, nur einige Worte, nur eine der kurzen Zeilen zu entziffern, dann könnte Marcel mit etwas Köpfchen und dichterischem Geschick vielleicht die jeweils nächste Zeile erraten und auf diese Weise die alte Schrift kennenlernen, die der unbekannte Schreiber benutzt hat. Sprüche und Verse prägen sich besser ins Gedächtnis ein als Prosatexte. Vielleicht sind sie ja auch eine Hilfe beim Erlernen der alten Schrift? Nur: Wo beginnen?

Einige Seiten weiter erscheinen plötzlich Texte zwischen den Gedichten. Texte und Gedichte wechseln sich ab. Nanu? Hat der Dichter seine poetischen Kunstwerke auch gleich selbst kommentiert oder interpretiert? Vielleicht hält Marcel hier ein wertvolles Manuskript in den Händen?

Unsinn! Die Gedichte und Texte stammen von einem Kind. Darauf deutet zumindest der Umriss der kleinen, zierlichen Hand gleich auf der zweiten Seite des Buches hin. Wahrscheinlich hat das Kind nur irgendwo abgeschrieben. Aber warum? Und dann gleich so viele Seiten!

Da! Unmittelbar nach den ersten drei Gedichten entdeckt Marcel eine seltsame Zeichnung, ein Gesicht, das dem Betrachter immer näher zu kommen scheint, bedrohlich nahe sogar, ein Gesicht, das schließlich seine Zähne zeigt – ganz und gar unmenschliche Zähne! Es wird hässlich! Zuerst wächst ihm eine riesige Nase und dann ein Doppelkinn, das beinahe aussieht wie…!

Doch die Veränderung geht weiter! Zum Schluss ähnelt die Gestalt dem Kopf eines Delfins oder eines Wales mit messerscharfen Zähnen.

Was – oder wen – mag der (oder die) Unbekannte hier gezeichnet haben? Was bedeutet die offensichtlich völlig übertriebene Hässlichkeit der Gestalt, die bei Marcel aus irgendeinem Grund tatsächlich ein tiefes Hassgefühl hervorruft?

Was bedeutet denn überhaupt das Adjektiv „hässlich“? Im Gegensatz zu „schön“ bezeichnet man etwas als hässlich, wenn es Ablehnung, Abscheu oder gar Angst in uns weckt. Etwas Hässliches drückt uns zu Boden, unser Empfinden, unsere Stimmung; es zieht uns nach unten. Warum tut es das? Warum baut uns der Anblick von Schönheit auf, macht uns glücklich und optimistisch? Was ist das Geheimnis eines schönen Mädchens oder einer attraktiven Frau? Genau! Sie stehen für Zukunft, Wachsen und Werden, Stolz, Optimismus und Selbstbewusstsein, Liebe und Lust, Kinder, Leben!

Ist es vielleicht so, dass wir als „schön“ empfinden, was im Werden begriffen ist, was das Werden, Schaffen, Zeugen, Gebären verkörpert, indes „hässlich“, das zu Hassende, für Zerstörung, Destruktion, Verfall und Vergehen steht?

Sind es Instinkte, die uns etwas als „schön“ oder „hässlich“ erscheinen lassen, unabhängig von unserem bewussten Wollen?

Wäre das – mit den Augen der Evolution betrachtet – nicht folgerichtig?

Und der hässliche Mensch? Trägt er nicht allzu oft die Zeichen des Verfalls am Körper?

Stehen die Beißzähne des rätselhaften Gesichts im Buch vielleicht für Verletzung, Zerstörung, Schmerz, den sie jemandem zufügen werden – oder schon zugefügt haben?

Und was bedeuten die geometrischen Figuren auf der linken Seite der Zeichnung? Ist das einfach nur irgendwelches kindliches Gekritzel? Sind es Flächen oder Körper?

Was sind denn geometrische Flächen und Körper? Es sind Modelle, Bilder, mit deren Hilfe wir versuchen, uns etwas vorzustellen. In Wirklichkeit sind diese Flächen und Körper gar nicht da, ebensowenig wie der Raum. Ohne Körper im Raum gibt es keinen Raum – er ist nur eine Fiktion, entstanden in unserem Gehirn. Wofür mögen die Linien, Flächen oder Körper in der Zeichnung stehen? Was verbildlichen sie?

Immer wieder entdeckt Marcel Datumsangaben im Buch, so als hätte der Verfasser sich selbst Briefe geschrieben – oben rechts der Ort und das Datum, danach der Text und immer wieder Gedichte.

Briefe ohne Anrede? Nein, das sind keine Briefe und weshalb sollte auch jemand Briefe in ein Buch schreiben? Hat er – oder sie – Selbstgespräche geführt, in Briefform?

Ist das, was jetzt stumm vor Marcel auf Großmutters Schreibtisch liegt, vielleicht ein Tagebuch?

Auch Marcel führt Tagebuch. Er ist oft allein, hat nicht wirklich Freunde. Nicht, dass er deshalb einsam ist – Marcel ist in seiner Klasse durchaus beliebt.

Originalhöhe des Blattes ca. 15,5 cm.

Das Blatt steht auf dem Kopf, da das Buch/Heft bis zur Mitte von vorn, danach von hinten wiederum bis zur Mitte beschrieben wurde.

© Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 71/214,1

Foto: Klassik-Stiftung-Weimar

Die Dinge jedoch, die ihn interessieren und die seinen Geist fast pausenlos beschäftigen, taugen einfach nicht als Grundlage für eine echte Freundschaft zu Gleichaltrigen. Geschichte, Astronomie, Literatur, Biologie, Evolution, außerdem Turnen, Tanzen, Ballett – als Junge! Da wird dann schonmal hinter vorgehaltener Hand geflüstert und gewitzelt.

War jener längst tote Verfasser des Buches womöglich auch solch ein „Alleindenker“ wie Marcel? War das, was man gemeinhin als Einsamkeit bezeichnet, vielleicht auch jenem (oder jener) Unbekannten Erholung, Heimat, eine Freundin sogar? Kamen vielleicht auch ihm gerade in der Einsamkeit die wunderlichsten, wunderbarsten und manchmal atemberaubendsten Gedanken, Einfälle und Ideen, von denen er einfach nicht glauben konnte und doch sicher war, dass diese Gedanken vor ihm noch niemand gedacht hat? Dachte dieser (oder diese) längst tote Andere womöglich auch über Dinge nach, von denen er (oder sie) bisher gar nicht wusste, dass man darüber überhaupt nachdenken kann?

Nachdenklich durchblättert Marcel das Buch. Die älteste Eintragung stammt vom 5. Mai 1858, die letzte vom 29. September 1864. Nein, das ist kein Tagebuch. Vielmehr, so scheint es Marcel, ist es eine Gedichte- und Gedankensammlung, ein Buch, in dem sein Verfasser niederschreibt, was ihm persönlich wichtig und wertvoll ist. Die Handschrift ist – zumindest über weite Teile des Buches hinweg – klar und sauber. Auch das spricht dafür, dass die Aufzeichnungen etwas ganz Besonderes sind.

Nun erst fällt Marcel auf, dass auch in den Texten Jahreszahlen auftauchen – Jahreszahlen, die älter sind als der erste Eintrag im Buch: 1844, 1855 und dann ziemlich häufig die Jahre 1856, 1858 bis 1864, unter dem Titel eines langen Gedichtes, sogar 1788. Offenbar hat also im Jahre 1858 jemand damit begonnen, bestimmte, noch ältere Gedanken, Gedichte – oder Erinnerungen niederzuschreiben.

Ein dunkles Gefühl ergreift Besitz von Marcel. Es schleicht sich heran, steigt von den Füßen aufwärts, eine unglaubliche innere Kälte, ein Schauer des Grauens! Doch wovor?

Wieder blickt Marcel in das auf vergilbtes Papier gekritzelte Gesicht, unter dessen widerlichen Zähnen das eigenartig geformte, immer praller werdende Doppelkinn hervor grinst und sich aufdringlich ins Blickfeld des Betrachters schiebt. Ekel überkommt den 13-jährigen.

Alles, was der Junge bislang zu wissen meint, ist bei strenger Analyse nichts weiter als Spekulation. Wovor also sich fürchten? Oder geht von dem alten, sorgfältig in Leinen gebundenen Buch selbst eine unheimliche Magie aus? Nach wie vor kann Marcel kein einziges Wort lesen.

Warum hat der (oder die) Unbekannte sich eine solche Mühe gegeben, das Buch zu verbergen – und vor wem? Und wenn er (oder sie) das Buch verbergen musste, weshalb hat er (oder sie) es dann überhaupt geschrieben? Marcel fällt nur eine Lösung ein: Jemand möchte der Nachwelt etwas Wichtiges mitteilen, etwas, das vor 160 Jahren niemand wissen durfte, eine Botschaft aus der Vergangenheit, eine Nachricht, die etwas Außergewöhnliches beinhaltet!

Der Nachwelt? In Form von Gedichten? Warum nicht! Hat denn nicht auch Nostradamus seine Zukunftsvisionen in Versform verschlüsselt?

Abermals beschleicht den Jungen jenes beängstigende Gefühl, das er schon vorhin gespürt hat. Klack – klack – klack – unbeeindruckt zählt der Regulator die Sekunden – monoton, melancholisch, gnadenlos! Nie zuvor hat Marcel das Pendel so bewusst, so tief, so intensiv wahrgenommen, ja körperlich gespürt. Sein Bewusstsein ist jetzt überwach; seine Sinne und Gefühle sind offen und zittern vor Neugier. Fast scheint ihm, als ticke die Uhr jetzt lauter, als grinse das kupferfarbige, von rätselhaften Schnitzereien umrahmte Zifferblatt ihn höhnisch an, um ihn schließlich, als das Uhrwerk zur vollen Stunde schlägt, am ganzen Leib erbeben zu lassen. 9 durchdringende, dunkel und düster klingende Schläge, deren letzter noch lange nachhallt, lassen Marcel das Gespenstische des Zimmers bewusst werden, die Veränderung, die seit einiger Zeit den zeitlosen Raum zu durchweben scheint.

Draußen ist es längst dunkel und im flackernden Licht der uralten, unerschöpflichen Wachskerzen auf Großmutters dreiflügeligem Leuchter scheint sich das ganze Zimmer in eine Zeitmaschine zu verwandeln, einen Zeit-Raum, in dem Marcel samt seinem alten Buch, dem hölzernen Lehnstuhl und seinen Erinnerungen in der Vergangenheit versinkt.

Das stille Zimmer scheint plötzlich zum Leben zu erwachen. Erschrocken vor seinem eigenen riesigen Schatten fährt der Junge herum, erblickt sich selbst für den Bruchteil einer Sekunde in drei unterschiedlichen Perspektiven im Spiegel hinter der Kommode und lässt dabei das Buch fallen, in das er zuvor minutenlang regungslos gestarrt hat, ohne dort noch ein weiteres lesbares Wort zu entdecken. Großmutter hätte die alte Handschrift vielleicht lesen können, doch Großmutter ist seit 3 Jahren tot.

Klack – klack – klack – dumpf, beinahe wuchtig, eintönig, Sekunde um Sekunde, Minute für Minute, Stunde um Stunde: Lies! Lies! Lies…!

„Leicht gesagt!“, murmelt Marcel. Verwirrt schaut er den Regulator an, während er sich im Augenwinkel erneut im Spiegel erblickt.

Sich?

Da plötzlich hat das Grauen ein Gesicht und lässt Marcel von Großmutters uraltem Stuhl aufspringen. „Das bin nicht ich!“, haucht er tonlos.

Entsetzt schaut Marcel in das merkwürdig vertraute und doch scheinbar uralte Antlitz im Spiegel, in das Gesicht eines Jungen, der etwa genauso alt ist wie er selbst – vielleicht 12 oder 13 Jahre und der dennoch – irgendwie – aussieht, als sei er längst tot. Ein Doppelgänger? Unglaublich!

Aber nein! Natürlich sieht Marcel sich selbst! Wen denn sonst? Die Kerzen und sein eigener Schatten sind es, die eine ganz und gar seltsame Atmosphäre in Großmutters Zimmer zaubern. Ein Doppelgänger – so etwas Kindisches!

Noch einmal, während er das zum Glück unbeschädigte Buch vom Boden aufhebt, meint Marcel, das uralte und doch jugendliche Gesicht des „Anderen“ zu sehen, nicht im Spiegel, sondern auf dem Fußboden. Schluss jetzt! Abrupt dreht Marcel sich weg, bleibt ganz cool – doch das Gesicht, der lauernde Blick des Anderen, ist immer noch da!

Am Boden liegt ein Blatt Papier, eine Zeichnung, das Portrait seines Doppelgängers. Das Blatt muss vorhin aus dem Buch gerutscht sein – und wenn es ebenso alt ist wie die Texte und Gedichte, dann ist dieser Junge, selbst wenn er 80 oder 90 Jahre alt geworden wäre, längst tot!

War er der Verfasser des geheimnisvollen Buches?

Die ganz und gar verblüffende Ähnlichkeit lässt Marcel erschauern. Nebeneinander betrachtet er sein eigenes und das Gesicht des anderen Jungen im Spiegel. Sie sind sich gleich – und doch nicht gleich!

Wie ist das möglich?

Wie oft schon war Marcel allein in den Wäldern unterwegs, weit ab vom Dorf, und nie ist irgendetwas Besonderes passiert. Und dann plötzlich findet er in einer Felsspalte, in einer Höhle, die er vielleicht schon dutzende Mal übersehen hat – sich selbst, sein eigenes, 160 Jahre altes Spiegelbild!

Spiegelbild?

Ist es denn ein Spiegelbild? Noch einmal hält Marcel das Abbild des fremden Jungen neben den Spiegel, neben sein eigenes Spiegelbild. Danach hält er es neben sein Gesicht und vergleicht sein eigenes Spiegelbild mit dem Spiegelbild des Unbekannten.

Kastor und Pollux – warum muss Marcel ausgerechnet jetzt an die Zwillingsbrüder denken, die zwar, wie alle Zwillinge, von ihrer Mutter kurz nacheinander geboren wurden, aber unterschiedliche Väter hatten? Weil so etwas unmöglich ist? Unmöglich ist nur das Undenkbare. Weil es tabu ist, über eine derart unerhörte Begebenheit tiefer nachzudenken?

Ist der „Doppelgänger“ wirklich der Autor des Buches? Hat er nur abgeschrieben – oder sind das alles eigene Werke – aus dem Kopf und der Feder eines Jungen, der vor 160 Jahren gelebt hat? Einfach unglaublich! Ob er vielleicht ein früher Vorfahre ist, einer von Marcels Ahnen?

Aber warum hätte sein Ur-Ur-Ur … Opa seine Aufzeichnungen in einer kaum zugänglichen Felsspalte verbergen sollen, statt sie einfach im Keller, auf dem Dachboden oder anderswo zu verstecken? Schließlich wird das mehr als 200 Jahre alte Haus seit Ewigkeiten von Marcels Familie bewohnt und wurde wohl auch von seinen Vorfahren erbaut.

Nur langsam kehren Marcels Gedanken zu dem rätselhaften Buch auf Großmutters Schreibtisch zurück…

Wie entziffert man eine alte Handschrift, wenn man ihre Buchstaben, die Gestalt ihrer Buchstaben nicht kennt?

Man könnte zählen, wie oft jeder Buchstabe in einem bestimmten Text vorkommt. Wenn man weiß, dass der Buchstabe „e“ indeutschen Texten am häufigsten vorkommt, gefolgt von „n“ und „i“, und wenn man dann auch noch die statistische Häufigkeit aller anderen Buchstaben kennt, dann hätte man gute Chancen, zumindest einige Buchstaben mit einiger Wahrscheinlichkeit zu identifizieren.

Einige Buchstaben mit einiger Wahrscheinlichkeit? Graue Theorie! Und was ist, wenn die statistische Wahrscheinlichkeit vor 160 Jahren eine ganz andere war? Nein. Das reicht Marcel nicht. Er will die Texte lesen können, will wissen, wer dieser Junge auf dem losen Blatt Papier war, wer die Texte und Gedichte verfasst hat und weshalb das alles dem Verfasser so wichtig war, dass er das Buch in einer Felsspalte verborgen hat, in der es allenfalls durch einen Zufall gefunden werden konnte.

Man bräuchte eine Schablone, ein Beispiel-Alphabet in der damaligen Handschrift, um wenigstens einige Buchstaben oder Worte bestimmen zu können. Gelänge das, dann müsste Marcel die Texte nach einiger Zeit und Übung immer besser und sicherer lesen können, vorausgesetzt, die individuelle Handschrift des Schreibers weicht nicht allzu krass von der damaligen Schulschrift ab.

In Gedanken versunken löscht Marcel die Kerzen. Genug für heute…

***

Spiegel – Bild

D ie Schreibschrift, die der unbekannte Verfasser benutzt hat, nennt man „Deutsche Kurrentschrift“ – und die ist vielleicht gar nicht so schwer zu lesen. Im Internet hat Marcel ein Beispiel-Alphabet gefunden, in dem jeder Groß- und Kleinbuchstabe der deutschen Kurrentschrift abgebildet ist.

Doch wo beginnen? Mit der ältesten Eintragung vom Mai 1858? Nein. Erst mal üben! Ein Vierzeiler mitten im Buch sticht Marcel geradezu ins Auge, schön kurz! Also los!

„E“ – na bitte! Gleich der erste Buchstabe ist der häufigste im deutschen Alphabet. Ohne Vorlage hätte Marcel das verschnörkelte Ding allerdings niemals als „E“ erkannt – verrückt, diese alte Schrift.

Zweiter Buchstabe: „i“ – ist doch ganz leicht! Und ein „n“, das sich vom kleinen „u“ nur dadurch unterscheidet, dass über dem „u“ ein Strich oder Kringel gesetzt wird. Oder ist es doch kein „i“ und kein „n“, sondern ein „m“? Marcel ist sich nicht sicher und probiert es aus: Mit „i“ und „n“ lautet das 1. Wort „Ein“; mit „m“ dagegen „Em“. Also: „Ein“! Das erste Wort ist geschafft!

Der 1. Buchstabe des 2. Wortes ist ein großes „S“. Es handelt sich also um ein Substantiv. Der 3. Buchstabe ist wieder ein „i“ und den letzten identifiziert Marcel leicht als ein kleines „l“, weil es auch heute noch in Schreibschrift so geschrieben wird wie vor 160 Jahren. Was hat Marcel bisher herausgefunden?

„Ein S*i***l …“

Na ja, nicht gerade viel. Dafür fällt Marcel aber nun auf, dass das letzte Wort der 1. Zeile mit einem großen „L“ beginnt und mit kleinem „n“ endet.

Eine halbe Stunde rätselt Marcel nun schon an dem kurzen Vers herum und bis jetzt hat er noch keinerlei Sinn erkannt, ja er hat noch nicht einmal die 1. Zeile übersetzt.

„Ein S*i***l i** *** L***n“

Damit kann kein Mensch etwas anfangen.

Resignierend rauft sich der Junge die Haare. Wie soll er auf diese Weise ein ganzes Buch entschlüsseln? Sollte er vielleicht doch lieber mit einem anderen Gedicht oder Text beginnen? Wozu? Die Probleme sind überall die gleichen. Also weiter!

„Ein Spiegel i** *** L***n“

Nicht gerade viel nach fast einer Stunde, doch Marcel gibt nicht auf! Nur 10 Minuten später hat er den ersten Satz, na ja, nicht ganz:

„Ein Spiegel i*t *a* Leben“.

Na klar!

„Ein Spiegel ist das Leben“!

Nichts ist klar, denn 1. ergibt der Satz keinen Sinn und 2. sieht das kleine „s“ im Wort „ist“ ganz anders aus als das im Wort „das“. Es kann sich also nicht um den gleichen Buchstaben handeln.

Aber natürlich kann es das! Marcel glaubt seinen Augen nicht trauen zu können, aber auf seiner Vorlage gibt es tatsächlich 2 verschiedene kleine „s“! Irre, diese Schrift.

Ein neuer Tag – ein neuer Versuch! Nur nicht aufgeben!

Deutsche Kurrentschrift

„Ein Spiegel ist das Leben“, grübelt Marcel und schaut dabei in Großmutters 3-teiligen Kommodenspiegel. Wie kann denn das Leben ein Spiegel sein?

Was ist denn ein Spiegel? Was ist ein Spiegelbild? Ein identisches Abbild! Aber wenn das Leben ein Spiegel oder gar nur ein Spiegelbild ist – was ist dann das Original?

Moment! Das stimmt ja gar nicht! Ein Spiegel erzeugt ja gar keine identischen Abbilder, sondern seitenverkehrte! Damit wäre das Leben ein seitenverkehrtes Abbild – oder etwas, das seitenverkehrte Abbilder erzeugt! Aber wovon? Und woher weiß man eigentlich, was Original und was Abbild ist?

Wären die seltsam geometrischen Figuren der Zeichnung im Buch Spiegelbilder, dann könnten die dazu gehörenden Originale auch dreidimensionale Körper sein – genau wie Marcels „Original-kopf“ dreidimensional, sein Spiegelbild aber nur zweidimensional (und zudem seitenverkehrt) ist.

Und was ist denn Leben? Wie ist das Leben, wie sind die allerersten Lebewesen aus dem Nicht-Leben entstanden? Leben ist eine Entwicklung vom Atom zum Molekül, zur Molekülkette, zum Molekülring, zur Zelle, zur Pflanze und zum Tier, zum Organismus und schließlich zum denkenden, fühlenden, planenden, schaffenden Menschen.

Leben heißt Entwicklung, in deren Verlauf die höhere, zweckmäßigere Lebensform die niedere, unzweckmäßigere überwindet, wobei stets das Frühere die unerlässliche Voraussetzung für das Spätere ist. Das Leben – als Ganzes gesehen – überarbeitet und überwindet sich sozusagen immer wieder selbst!

Leben ist ein Ergebnis der Evolution. Marcels Physiklehrer hat es anders erklärt: Leben schafft Ordnung aus dem Chaos, Leben ist ein Zustand, der beständig Ordnung schafft und überall verstreute Information integriert, sammelt, ordnet, differenziert – und damit das Gegenteil dessen tut, was überall in der Natur gesetzmäßiggeschieht: Destruktion, Zerfall und Vernichtung. Demnach wäre das Leben ein seitenverkehrtes Spiegelbild von Nicht-Leben. Ordnung, Werden, Schaffen, Integration, Differenzierung, Konstruktivität und Kreativität wären Spiegelbilder der Destruktion, der überall in der Natur anzutreffenden Zerstörung. Und doch ist das Leben jedes Einzelnen von uns, jeder Pflanze, jedes Tieres und jedes Menschen, nicht nur ein Werden, sondern ebenso notwendig auch ein stetes Vergehen – Leben als ein Spiegel der Natur, eines fundamentalen Naturprinzips?

Das würde passen, aber wusste das der fremde Junge schon vor 160 Jahren?

Oder meint er es doch anders? Vielleicht meint er gar nicht die Natur um sich und um uns herum, sondern seine eigene Natur, das, was für ihn natürlich ist, das Natürliche im Menschen?

Es dauert eine Weile, bis Marcel sich wieder auf die alte Schrift konzentrieren kann. Also: Zweite Zeile:

„*n i*m si** *u e**ennen“,

notiert Marcel. Und dann fügt sich Wort an Wort, Zeile an Zeile, so als ob das Buch sich plötzlich dazu entschlossen hätte, sein Geheimnis preiszugeben…

Längst ist es draußen dunkel, als Marcel den kleinen Vierzeiler endlich in ein lesbares Deutsch übersetzt hat:

„Ein Spiegel ist das Leben.

In ihm sich zu erkennen,

Möchte‘ ich das erste nennen,

Wonach wir nur auch streben.!!“

Zwei Nachmittage und Abende hat Marcel dafür gebraucht, an denen er für seine Familie unsichtbar war, verkrochen und verkrümelt in Großmutters Zimmer. Wie lange wird es wohl dauern, das gesamte Buch zu entschlüsseln – und lohnt sich das am Ende überhaupt?

***

„Marcel?“

„Mann! Hast du mich erschreckt! Kannst du nicht anklopfen?“ Verlegen klappt Marcel das Buch zu.

„Also erstens bin ich kein Mann. Zweitens wäre es nett, wenn du ausnahmsweise mal wieder am gemeinsamen Abendessen der Familie teilnehmen würdest und drittens: Was versteckst du da eigentlich? Hast du neuerdings Geheimnisse vor mir?“

„Na, also gut“, knurrt Marcel und plötzlich erscheint ihm das unerwartete Auftauchen seiner 12-jährigen Schwester Annika sogar als Chance. Vielleicht würde es ihr ja sogar Spaß machen, das Geheimnis des Buches zu erforschen?

„Buch der Betrachtungen“, liest das Mädchen laut und lässt die Seiten durch ihre Finger rauschen. „Woher hast du denn das?“

„Gefunden“, antwortet Marcel wahrheitsgemäß.

Annika hat recht: Marcel und seine Schwester hatten noch nie wirkliche Geheimisse voreinander. Die beiden mögen sich. Sie sind, wie man so schön sagt, wie Pech und Schwefel und haben andererseits die gleichen, für heutige Teenager etwas ausgefallenen Interessen.

Nachdenklich liest Annika die wenigen Zeilen, die ihr Bruder bereits dechiffriert hat.

„Das ist echt gut!“, findet sie. „Das hat Tiefe!“

„Ja, echt gut“, grübelt Marcel.

„Sich selbst erkennen, das Einmalige, Besondere, Individuelle bei sich selbst, an sich selbst und in sich selbst zu entdecken – darauf kommt es an! Wie kann man wissen, wohin man im Leben geht, was man werden möchte, wenn man sich selbst nicht kennt?“

***

Felsen – Spitze

N achdem Marcel und Annika das Lesen der alten Schrift an einigen kürzeren Versen geübt haben, beschließen sie, sich an die längeren Kapitel und Gedichte heranzuwagen und das Buch nunmehr Text für Text von vorne nach hinten durchzuarbeiten. Am Anfang hapert es noch etwas, doch dann, nach etwa 10 Minuten, haben die beiden die erste Zeile des ersten längeren Gedichtes in Annikas vorbildliche Handschrift übertragen:

„Dort auf jener Felsenspitze“

Zeile 2 beginnt mit dem gleichen Wort wie Zeile 1 und danach hat Marcel gleich ein schönes Beispiel dafür, wie ähnlich Groß- und Kleinbuchstaben aussehen können:

„Dort“ und „da, „L“ und „l“:

„Dort da ist mein Lieblings,

sitz –“

Na gut, wie Goethe oder Schiller klingt das nicht gerade, eher wie die ersten Reimversuche eines Kindes. Ein einfacher, fast naiver Vers – und doch ist es wohl noch ein weiter Weg bis zu dem ausgefeilten kleinen Vierzeiler in der Mitte des Buches, an dem Marcel das Lesen der alten Schrift geübt hat.

Erstaunlich schnell gelingt es den Geschwistern, den Rest des Gedichtes zu übersetzen – und während sie dies tun, sind sie immer wieder hin und hergerissen zwischen Lachen, Ratlosigkeit und Zweifel, ob sie die alte Handschrift auch wirklich richtig lesen. Was da nach zwei Stunden auf Annikas Schulblock steht, ist anders als alles, was Marcel und seine Schwester in ihrem bisherigen Leben gelesen haben – bizarr, rätselhaft, auf kindliche Art lustig und gespenstisch zugleich. Es ist kein Gedicht, sondern so etwas Ähnliches wie ein neckisch-ironisches Gespräch zwischen zwei Kindern – zwei Kindern, deren Ausdrucksweise aber nicht so recht zu dem 12- oder 13-jährigen Jungen auf der Zeichnung passt, die zwischen den Seiten des alten Buches lag. Der kleine Dialog erinnert Marcel und Annika eher an 8- bis 10-jährige*:

„Dort auf jener Felsenspitze

Dort da ist mein Lieblings, [sic]

sitz –

Was du machest gar noch

Witze

Hast ja in den Kleidern

Schlitze

Wie erhaben ist das Schauspiel

O der leicht(e) Federkiel

Schäme dich

Wer putzet sich

So unreinlich dacht ich Dich

Sicherlich

___

Und das Pferd mit sein‘(er)

Hufe

Zieht dort jene Schlitten,

kuffe.

Aus den goldenen Pokal

Soff beim lauten Tromel

hall

Lowe Spinne und Schakal

Seht die Ziege dort im

Bette

Seht die kleine hübsche

Nette

Füchsin mit des Luchses

Blicken

___

such ich dich an mich zu

drücken

Wer ist doch der hübscheste

Der dort in der bunten

Weste

Oder diese Kellerschabe

Kom mein lieber guter

Rabe

Singe mir dein Krätzen

Ein stimt gleich das ganze

Kohr

Gips und Molche und auch

Kiefer

Nebst gar vielen Ungeziefer

___

Stimmen jetz gar blökend

ein

Bei des Mondes bleichen

Schein

Leckt dort jene Spinne

webe

Süßen Saft aus saurer

Rebe

Ziegen dreschen sicherlich

Graues Mehl für mich

und dich

Und dort jene Gans im

Neste

S sprich doch deutsch aufs

___

allerbeste

Doch die Berge neigen

sich

Eine Bescherung ich nun

krieg

Meuse**

Schl… nimt den grosen

Schlägt mich damit

Mausetodt.

Seht da wach ich auf

Springe aus den den [sic] Bette

nauf.“

Eine Felsenspitze ist also der Lieblingssitz eines der beiden Kinder – ein ziemlich einsames Bild, das da in Marcels und Annikas Fantasie aufsteigt.

Aber klar doch! Die Hütte, unterhalb der Marcel das hölzerne Kästchen mit dem Buch gefunden hat, steht auf einem Felsen! Blickt man von dort nach Westen, erscheint das schier unendliche Panorama der Wälder und Wiesen gleich einem ruhigen Meer, an dessen Horizont die rotgoldene Sonne versinkt und mit ihren letzten Strahlen eine Flut aus Farben, Stimmungen und Licht verströmt.

Man sieht unheimlich viel von dort oben und wenn man sich geschickt anstellt, wird man selbst nicht gesehen. Man hat seine Ruhe und jedenfalls Marcel hat auf den Felsen nahe der abgelegenen Hütte schon manches spannende Buch gelesen.

„Und? Was sagst du?“

„Das Gedicht wurde von einem Jungen geschrieben.“

„Ach was? Darauf wäre ich nie gekommen! Und wieso?“

„Na ist doch ganz klar: Mädchen klettern nicht auf Felsen herum – und Erwachsene auch nicht.“

„Okay. Der Junge hat einen Lieblingssitz, also einen Platz, wo er gerne hingeht.“

„Und wo er schon oft gewesen sein muss, denn sonst wäre es ja nicht sein Lieblingssitz!“

„Und wer ist das andere Kind, mit dem sich der Junge hier unterhält?“

„Seine Schwester vielleicht? Sie nennt ihn ihren ‚lieben guten Raben‘!“

„Und er bezeichnet sie dafür ebenso liebevoll als ‚Gans‘ – du hast recht: Das ist typisch für Geschwister! Na ja, jedenfalls scheint unser Knabe eine strenge Mutter gehabt zu haben…“

„Was du machest gar noch

Witze

Hast ja in den Kleidern

Schlitze“

„Wieso Mutter? Ich denke, er unterhält sich mit seiner Schwester?“

„Es klingt aber doch eher so, als spräche hier seine Mutter, findest du nicht?“

„Hm … Und wenn die beiden sich gar nicht wirklich unterhalten – egal, ob Mutter und Sohn oder Schwester und Bruder?“

„Wie meinst du denn das?“

„Na ja, das ganze neckische Gespräch findet nur im Kopf des Jungen statt, in seinen Erinnerungen oder in seiner Fantasie – und diese Erinnerungen und Fantasien schreibt er später auf!“

„Erinnerungen – aufgepeppt mit reichlich Fantasie! Und bei der Gelegenheit rechnet unser Knabe gleich noch mit Schwesterchen ab, dem kleinen Naseweis und Plappermäulchen der Familie, die sich ständig zurückgesetzt fühlt, deshalb gerne mal die Rolle der Mama übernimmt und ein heilloses Gezeter vom Stapel lässt, als Brüderchen schmutzig und mit zerrissenen Sachen nach Hause kommt!“

„Genau! Das Getue der Schwester macht den Jungen wütend. Er lässt sich aber nichts anmerken und verspottet Schwesterchen samt der ganzen frommen Familie in seinen Gedichten.“

„Und damit niemand seine ketzerischen Schriften findet, versteckt der Junge sein Buch in einer Kiste und die wiederum im Wald!“

„Typisch Junge! Aber ist das nicht ein bisschen übertrieben?“

„Vielleicht hat er Angst?“

„Vor wem?“

„Na vor seinen Eltern!“

„Möglich!“

„Jedenfalls scheint der Junge der ‚Große‘ zu sein, der Rabauke! Und das Mädchen ist die ‚Kleine‘ und außerdem ein Mädchen und deshalb automatisch die ‚Liebe‘ – das kennt man ja. Sie darf sogar ihren großen Bruder ausschimpfen!“

„Hm, wenn ich ein Junge wäre und mich gleichzeitig gegen eine strenge Mutter und deren verkleinerte Kopie durchsetzen müsste, würde ich mir wahrscheinlich auch ein Versteck im Wald suchen – zur Erholung…“

„Wie erhaben ist das Schauspiel

O der leicht(e) Federkiel“

Verflixt und zugenäht! Was soll denn das nun wieder bedeuten? Erst sitzt er auf einer Felsenspitze, dann kommt er mit zerrissenen Klamotten nach Hause und nun gibt’s ein Schauspiel, bei dem ein Federkiel seinen Auftritt hat. Total konfus!

Nachdem Marcel und Annika die nächsten Zeilen nochmals gelesen haben, müssen die beiden unwillkürlich lachen.

„Pass auf, jetzt kriegt er eine Predigt zu hören!“

„Schäme dich

Wer putzet sich

So unreinlich dacht ich Dich

Sicherlich“

„Nette Familie!“

„Sag‘ ich doch! Die Schwester bläst sich mächtig auf! Womöglich badet und wäscht sie ihn sogar, den kleinen Nackedei – oder besser gesagt: ihren großen Bruder!“

„Du spinnst wohl!“

„Abwarten!“

„Na, das ist wirklich ein Schauspiel – ‚Schäme dich‘, du unreinlicher Rabe! Oh Mann, ist das peinlich!“

„Hi hi …!“

„Sowas würde ich an seiner Stelle nicht aufschreiben, schon gar nicht, wenn es fremde Leute lesen können. Es sei denn … es sei denn, der Junge möchte genau darauf hinweisen – nämlich auf das peinliche unangemessene Verhalten der Mutter oder der Schwester!“

Marcel und Annika spielen die ganze bizarre Szene nach, die Rückkehr von der Felsenspitze, das Gemecker der Schwester, die – stellvertretend für die Mutter – ihren älteren Bruder badet und ihm frische Kleider zurechtlegt. Genau genommen ist es ein einziger Monolog der Schwester, hier gespielt von Annika. Marcel (in der Rolle des unglücklichen Jungen) hat nichts weiter zu tun, als sich zu schämen, ganz klein zu machen und seiner Schwester so oft wie möglich seinen Rücken zuzudrehen. Wie unangenehm und zutiefst peinlich muss das alles für den gar nicht mehr so kleinen Kerl gewesen sein – auch wenn Marcel und Annika 160 Jahre später einen irren Spaß bei ihrem „Nachspiel“ haben.

Wieder fällt den Geschwistern die völlig überdrehte Sprache auf.

„Fehlt eigentlich nur noch, dass der Junge seine Schwester mit ‚Sie‘ anredet! Oder ist das alles absichtlich derart albern und übertrieben dargestellt?“

„Jetzt sei doch nicht so grantig! Vielleicht ist es ja wirklich ein Schauspiel. Vielleicht spielen die Kinder die völlig überzogenen Erziehungs- und Reinlichkeitsrituale ihrer Mutter nach und machen sich darüber lustig?“