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Detlef Schumacher

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Beschreibung

Brian ist ein Junge, der mit seinem Freund Emil manchen Schabernack erdenkt und ausführt. Dabei kommen sie auch mit der Dorfpolitik in Berührung. Dass diese eine positive Richtung einnimmt, ist letztlich auch ihr Verdienst.
Eine amüsante Geschichte, die vielleicht Kindheitserinnerungen wachruft.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Detlef Schumacher

Brian Sanddorn

Eine Lausbubengeschichte

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Ich über mich

Ich bin der Sohn einer Ein-Kind-Mutter. Sie heißt Sandra und ich Brian. Gemeinsam heißen wir Sanddorn. Einige kennen meine Mutter bereits. Brian ist Englisch und heißt Brei. Das erfuhr ich von Mami, als ich das Anfangsstadium des selbständigen Denkens erreicht hatte. Weil ich zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung und geistig unausgereift war, äußerte ich den Wunsch, Amanda heißen zu wollen. Die Sängerin Amanda Lear war im Kindergarten aufgehängt, als Poster. Sie sah sehr schön aus und war der Liebling einer Kindertante.

Mami meinte, dass das nicht ginge. Ich sei ein Knabe und deshalb nicht berechtigt, einen Mädchennamen tragen zu dürfen. Das wollte ich nicht einsehen und beharrte auf meinem Wunsch. Weil ich schließlich störrisch wurde, nahm Mami die Hilfe ihrer Eltern, also meiner Großeltern, in Anspruch. Opa Friedhelm brachte es schließlich fertig, mich davon zu überzeugen, dass ein Jungenname besser zu mir passe. Er weckte in mir den Stolz auf mein Pimmelchen, das Amanda nicht habe. Die müsse sich beim Pullern hinhocken, was ich nicht müsse.

Nachdem das geklärt war, blieb die Frage offen, weshalb mir der Name Brian gegeben ward. Die Kinder des Dorfes nennen mich Griesbrei. Das missfällt mir, denn Griesbrei mag ich nicht. Deshalb wollte ich so heißen wie Opa Friedhelm. Sofort schaltete sich Oma Inge ein und meinte, dass dieser Name meinen weiteren Lebensweg verunsichern würde. Ich lag schon längst im Bettchen, als sich Oma und Opa noch immer mit unfreundlichen Worten bedachten.

Leider fehlt es mir an einem Bruder und Gott sei Dank an einer Schwester. Eine Schwester ist geschwätzig und petzig, ein Bruder verschwiegen, weil er männlich ist. Zum Glück habe ich einen Freund. Der heißt Emil und drückt mit mir seit sieben Jahren die Schulbank. Eigentlich drückt er sie schon acht Jahre, weil er sich ein paar Mal vor dem Unterricht gedrückt hatte. Der eigentliche Grund war aber, dass er die minderjährige Tochter des Schuldirektors Weißbescheid geküsst hatte. Dabei wurde er von ihm erwischt. Hätte der Direktor seine Tochter einige Jahre früher gezeugt, wäre die jetzt erwachsen, und Emil wäre die Verführung einer Minderjährigen erspart geblieben. Emils Eltern glauben aber, dass ihr Sohn wegen der Note Sechs im Fach Sexualkunde den geistigen Ansprüchen des Schuldirektors nicht entsprochen habe. Die Sexualkunde ist eine Erfindung unserer Biologielehrerin Frau Schluckspecht. Mit dieser will sie der sexuellen Unzucht den Riegel vorschieben. Weil Emil äußerte, dass man zur Ausübung der sexuellen Unzucht den Riegel einschieben müsse, bekam er die Sechs. Auf der blieb er sitzen, denn Frau Schluckspecht ließ ihn nie wieder zu Wort kommen, obwohl er zum Thema Sex viel zu sagen hat. Aus Protest tat er sein Wissen in den Unterrichtspausen kund, und die zuhörenden Weiber kriegten ständig einen roten Kopf.

Mehr will ich hierzu nicht sagen, denn auch ich bin sexuell vorbelastet, und zwar aus folgendem Grund: Als ich geboren und noch sehr klein war, sahen die Frauen des Dorfes erst verächtlich auf meine damals junge Mutter und dann neugierig in den Kinderwagen, in dem ich ihren Kommentaren hilflos ausgesetzt war. Meine Mami war neun Monate vor meiner Geburt von einem Mann sexuell missbraucht worden. Sie konnte sich gegen ihn nicht wehren, weil sie das Kleid hoch halten musste. Als der Täter, ein Lüstling aus dem Nachbarort Dreckstedt, von meinem Vorhandensein im Mutterleib erfahren hatte, verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Mami betrübte die Empfängnis, denn mein Erzeuger war ein Arbeitslosengeldempfänger. Seit frühester Kindheit verlangt es sie nach einem Mann, der entweder Lotto-Millionär oder ein ähnlicher Glückspilz ist. Meine Großeltern mussten viel Kraft aufbringen, um die Tochter in ihrer Rolle als Mutter fest zu verankern. Zum Zeitpunkt meines Erscheinens war sie Achtzehn. Jetzt befindet sie sich im einunddreißigsten Lebensjahr. Ein hohes Alter für eine junge Frau. Immer noch besser, als 65 zu sein, meinte meine Oma. Eigentlich wollte sie 66 sagen, weil ihr Lieblingssänger Udo Jürgens diese Zahl in einem Schlager verewigt hat. Doch ihr keuscher Sinn verhinderte das. Weil sich auch meine Mutter der sexuellen Problematik gegenüber sehr zurückhaltend verhält, denn ich soll unverdorben aufwachsen, erhalte ich das diesbezügliche Rüstzeug von meinem Freund Emil. Und das verstärkt natürlich mein Gefühl, sexuell vorbelastet zu sein.

Vorbelastet bin ich auch in geistiger Hinsicht. Weil sich in jedem Menschen Gene seiner Vorfahren befinden, sind solche auch in meinem Körper vorhanden. Das sind vor allem die Schreib-Gene meiner Mutter. Die hat über die Anfangsjahre ihres Lebens ein Buch geschrieben. Das ist auch gedruckt worden. Da es auf der literarischen Weltrangliste ganz hinten steht, muss sie nicht fürchten, bekannt zu werden. Denn wenn man bekannt ist, muss man Autogramme geben, bis die Finger glühen. Außerdem wird man Tag und Nacht von Paparazzi belagert, die bis ins Schlafgemach vordringen.

Damit meine Mutter auch weiterhin als literarisches Genie unentdeckt bleibt, setze ich die Schreibtradition fort. Wenn die Weltöffentlichkeit nämlich erfährt, dass Sandra Sanddorns Sohn Brian ebenfalls schriftstellerisch wirkt, wird sie noch mehr entsetzt sein. So gibt es also zwei bescheidene Schriftsteller, die nicht von der Sucht besessen sind, mit ihrer Dichtung aufzufallen oder mit ihr gar Geld zu verdienen.

 

 

Paradies und Küsse

Das Buch meiner Mutter habe ich mehrere Male gelesen. Es gefällt mir. Vor allem deshalb, weil Wissenswertes über meine Urgroßeltern geschrieben steht. Leider habe ich sie nicht persönlich kennen gelernt. Kaum war ich auf die Welt gekommen, verabschiedeten sie sich von dieser. Zuerst Uropa, weil Männer kürzer leben als Frauen und drei Tage später Uroma. Ich vermutete, beide hätte der Schlag getroffen, als sie mich zum ersten Mal sahen. Als Säugling soll ich wenig hübsch gewesen sein. Meinem Kopf fehlten die Haare und meinem Mund die Zähne. Ich hätte große Ähnlichkeit mit Uropa gehabt. Die Todesursachen hatten aber einen ganz anderen Grund. Uropa soll über eine Mitteilung der Bild-Zeitung derart freudig erregt gewesen sein, dass sein veraltetes Herz schlapp machte. Die Bild-Zeitung hatte verlautbart, dass ab kommendem Jahr alle Bürger über 70 das Recht hätten, eine Kreuzung bei Rot zu überqueren. Diese Neuregelung der Straßenverkehrsordnung konnte Uropa leider nicht mehr wahrnehmen.

Uroma vermutete jedoch, Uropa wolle sich im Paradies einen gemütlichen Platz sichern, an dem er Wein, Weib und Gesang - fern von ihren Augen - genießen könne. Weil sie ihm diesen abwechslungsreichen Lebenswandel schon auf Erden missgönnt hatte, folgte sie ihm umgehend ins Paradies.

Dort soll es sehr schön sein. Die Menschen dürfen sich nackt bewegen – Männer wie Frauen – und niemand schämt sich deshalb. Auch wachsen den Unbekleideten viele Früchte fast in den Mund. Das hatte uns Konfirmanden der betagte Pastor Frommel mitgeteilt. Als er fragte, wie wir das finden, antwortete ich begeistert, dass das Paradies besser sei als das Internet, weil man im Paradies die nackten Früchte direkt in den Mund nehmen kann.

Über meine Antwort schmunzelte Pastor Frommel zufrieden. Vielleicht stellte er sich vor, wie er an der Frucht eines Teenagers nuckelt. Bei seiner Frau, die mehr als zwei Zentner wiegt, wird ihm das Nuckeln keinen Spaß mehr machen.

Die rosigen Vorstellungen vom Paradies, die auch die anderen Konfirmanden bis ins letzte Glied bewegt hatten, wurden schlagartig von meinem Freund Emil zunichte gemacht. Er sagte, dass sich im Paradies nur Verstorbene aufhalten. Zum größten Teil alte Leute. Sofort kamen mir meine Urgroßeltern in den Sinn und wie sie wohl nackt aussehen.Pastor Frommel verwies Emil des Raumes, ließ ihn aber noch wissen, dass er darüber nachdenken wird, ob er ihn konfirmieren werde. Weil Emil verächtlich die Backen aufblies, meinte Frommel erzürnt, dass Nichtkonfirmierte nicht ins Paradies kommen.

Emil darauf: „Dann komme ich eben in den Puff. Da ist es auch schöner, weil dort junge Frauen ihre Früchte anbieten.“

Pastor Frommel war erst zwei Wochen später wieder fähig, den Konfirmandenunterricht fortzusetzen.Zum Thema Urgroßeltern erklärte mir meine Mutter, dass einen die verderbliche Eifersucht bis ins hohe Alter verfolgen kann. Mir ist das völlig unverständlich, denn ganz alte Menschen sind derart verrunzelt und sexuell verbraucht, dass sie kaum mehr die Kraft haben, sich einen richtigen Kuss zu geben. Bei Oma Inge ist das allerdings nicht der Fall. Sie küsst so häufig und intensiv, dass Opa nicht selten die Spucke wegbleibt. Deshalb weicht er ihren Küssen so oft wie möglich aus. Das gelingt ihm jedoch nicht immer, weil er Omas Kussversuchssubjekt Nummer Eins ist. An ihm probiert sie immer neue Kussvarianten aus, und zwar deshalb, weil sie von der Kreisleitung der Volkssolidarität zur Senioren-Kreiskusskönigin ernannt wurde. In jungen Jahren war sie mal, das ließ mich meine Mutter wissen, Kreiskönigin im Kuchenkrümelstippen. Die Sucht, immer die Beste zu sein, hat sie seitdem nicht mehr verlassen. Opa Friedhelm wartet nun sehnlich darauf, dass sie Kreiskönigin im Schuhputzen wird.

Verständlich also, dass Oma auch im Seniorenclub unseres Dorfes die beste Küsserin ist. Einmal hatte sie sogar den Fußboden geküsst, weil sie aufs Gesicht gefallen war. Zur Faschingszeit, wenn auch im Seniorenclub wieder das närrische Treiben beginnt, ist niemand vor ihren Küssen sicher. Selbst der alte Backhaus, der sich kaum noch auf den Füßen halten kann, wurde von ihr so heftig beküsst, dass er beinahe erstickt wäre. Einmal war Oma so betrunken, dass bei einem Intensivkuss ihre Zahnprothese im Mund des Seniorenfaschingsprinzen stecken blieb.

Auch mir gab Oma mal aus irgendeinem Grund einen Kuss auf die linke Wange und saugte sie sich an dieser so fest, dass ich anschließend einen Knutschfleck hatte. Weil mir das äußerst peinlich war, klebte ich auf diese Stelle ein Pflaster. Ich ahnte nichts Gutes. Meine Freundin - es ist inzwischen die fünfte, die anderen waren zu jung -, sandte einen misstrauischen Blick auf die bepflasterte Wange. Ihre weibliche Neugier veranlasste sie zu fragen, was sich hinter dem Pflaster verberge. Ich log, dass es eine unansehnliche Schramme sei. Die wolle sie sehen. Weil ich mich ihrem Befehl widersetzte, riss sie das Pflaster ab. Seitdem bin ich auf der Suche nach einer neuen Freundin. 

Wie man Frauen glücklich macht

Meine Mutter hatte, als sie so alt war wie ich jetzt bin, ebenfalls Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht. Für sie war es sicherlich deshalb problematisch, weil Mädchen den Jungen nachlaufen müssen. Wir Männer haben es da einfacher: Mädchen sichten, fragen, ob Bereitschaft vorhanden, wenn ja, Kuss zum Einstieg oder Schluss, wenn kein Endsieg.

Als ich mit meiner Mutter über dieses Problem mal plauderte, meinte sie, ich solle nun endlich bei einer festen Freundin Fuß fassen. Die solle aber klug sein, um mich in meinen schulischen Leistungen voranzubringen. Ich erwiderte, dass ich keine kenne, die meine Schulaufgaben erledigen würde. Eine Freundin müsse unbedingt sehenswert sein, sagte ich weiter. Weil Mutter ein verzweifeltes „O Gott!“ ausstieß, denn meine schulischen Leistungen sind nicht sehenswert, fügte ich hinzu: „Eine feste Freundin sollte mindestens so hübsch sein wie du.“

Mit dieser Bemerkung hatte ich in ihr eine Riesenportion Glückshormone freigesetzt. Sie strahlte übers ganze Gesicht, fasste mich beim Schopf und beknutschte meine Wangen so heftig, als wäre ich nicht ihr Sohn, sondern ihr neuer Freund. Den sie aber nicht hat. Mit meiner Bemerkung hatte ich jedenfalls erreicht, dass sie ihr Jammern über meine schwankenden Lernleistungen reduzierte. Wenn es dann wieder vulkanartig ausbrach, beschönigte ich etwas anderes an ihr. Als ich ihre Brüste lobte, guckte sie skeptisch und fragte, ob ich die schon einmal in natura gesehen hätte. Ich bejahte und verwies auf meine frühen Lebensjahre, als ich an diesen saugte.

Wie ich bereits erwähnte, bin ich im Moment ledig. Eine passende Freundin zu finden wird immer schwieriger, da der Vorrat an hübschen Mädchen aufgebraucht ist. Der Rest vom Schützenfest ist entweder übertrieben geschminkt oder doof. Das ist in einem Dorf nun mal nicht anders. Manche der blöden Gänse behaupten zwar, auch ich sei nicht hübsch und sehr doof, aber das ist reine Ansichtssache. In Sexualkunde hatte Frau Schluckspecht erklärt, dass lediglich der weibliche Partner Reize ausstrahlen muss, um den Akt der Fortpflanzung anzuregen. Männer müssten als graue Masse nur ihrer Pflicht genügen. Für sie sei es also nicht zwingend notwendig, hübsch zu sein.

Mein Freund Emil meldete sich, wurde von der Lehrerin aber bewusst übersehen. Deshalb fragte er laut: „Welche Reize strahlen hässliche Frauen aus? Sind die für die Fortpflanzung tauglich?“ Dabei sah er Frau Schluckauf sehr direkt an.

Die glaubte natürlich, Emil wolle auf ihre Kinderlosigkeit anspielen. Deshalb reagierte sie heftig: „In deinem Alter solltest du undisziplinierter Lümmel wissen, dass man im Unterricht nur spricht, wenn man dazu aufgefordert wird. Es ist einfach unerhört, wie du mit deinen widerlichen Zwischenbemerkungen den Wissenserwerb deiner Mitschüler behinderst.“

„Meinen Wissenserwerb behindert er nicht, Frau Schluckauf“, brachte ich die Lehrerin noch mehr auf die Palme.

„Ich heiße immer noch Schluckauf, äh Schluckspecht, Brian Klette“, wies sie mich zurecht und weiter, „dass du deinem Freund die Stange hältst, ist natürlich verständlich, in diesem Falle aber verwerflich. Deine Mutter war als Schülerin züchtiger.“

Und nun geschah etwas, das weder die Lehrerin noch wir Schüler erwartet hätten. Emil erhob sich von seinem Platz, schritt auf die Schluckspecht zu, nahm ihre rechte Hand, küsste die und sprach dann: „Ich muss Ihnen endlich ein Geständnis machen, Frau Schluckspecht. Wenn ich so alt wäre wie sie, würden Sie die Frau meiner Träume sein. Leider bin ich noch zu jung.“

Er streckte die Schwurfinger und betonte: „So wahr mir Gott helfe!“

Frau Schluckspecht war von den Socken und reichlich verdattert. Ihr sonst so bleiches Gesicht errötete leicht, und ihre zahlreichen Gesichtsfalten schienen sich zu glätten. Während ihr Gehirn Emils Geständnis verarbeitete, ging der auf seinen Platz zurück und setzte sich brav wie ein Musterschüler auf seinen Platz. Ich schaute ihn verwundert an und fragte: „Bist du übergeschnappt?“

Er grinste und raunte: „Du sollst mal sehen, wie sich meine Zensuren in kürzester Zeit positiv verändern werden. Für deine wäre das auch ratsam.“

„Du glaubst doch nicht im ernst, dass ich der alten Ziege ebenfalls die Hand küsse?“

Emil hob leicht die Schultern und flüsterte: „Es gibt ja nicht nur Frau Schluckspecht.“

Die hatte sich von ihrer Überraschung erholt und sagte meinem Freund in freundlichem Ton: „Du bist nicht nur ein Schelm, sondern auch ein Charmeur, Emil Kotte. Das hast du eben bewiesen. Diese mir bislang unbekannte Seite an deiner Person ändert meine Einstellung zu dir natürlich völlig. Das gehört zur klugen Haltung einer berufserfahrenen Pädagogin. Allerdings bezweifle ich, ob du das trotz Anrufung Gottes ehrlich gemeint hast.“

Sie versuchte, ihrem Gesicht ein jugendliches Aussehen zu geben, indem sie ihren faltenreichen Mund spitze. Das sah so aus, als hätte ein Igel Heuschnupfen. Weil sie Emils Erwiderung nicht abwarten wollte, denn sie fürchtete, er könnte sein Geständnis widerrufen, fragte sie ihn hastig: „Weshalb hast du erst jetzt deine Gefühle für mich entdeckt?“

Emil senkte seine Augen, als würde er sich schämen: „Diese Empfindungen sind durch Ihren Sexualkundeunterricht in mir geweckt geworden.“

Frau Schluckspecht kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihr schien nun auch zu gefallen, wie vernünftig Emil zu sprechen verstand. Vor allem aber gefiel ihr, dass die Sexualkunde seine Gefühlswelt bereichert hatte. Sie entschloss sich, Emil zu ihrem Lieblingsschüler zu machen. Natürlich musste sie auf Distanz bedacht sein, denn einem Minderjährigen den Kopf noch weiter zu verdrehen, würde schlimme Folgen für sie haben.

Als wir nach Schulschluss das Schulgebäude verließen, grinste Emil unverschämt.

 

 

Das „Kotte-Lächeln“

 Emil ist mein bester Freund. Eine feste Freundschaft darf nichts erschüttern, sagte er, als wir unsere Freundschaftsbande knüpften. Zur Vertiefung unserer Freundschaft machten wir uns auch zu Blutsbrüdern, die bis zum letzten Blutstropfen brüderlich verbunden bleiben müssen. Zur Bekräftigung klatschte Emil eine Mücke tot, die sich auf seinem linken Oberschenkel mit Blut gefüllt hatte. Dann warteten wir ca. eine viertel Stunde, bis eine andere Mücke den Mut aufbrachte, sich auf mir niederzulassen. Die machte sich sogleich daran, meinen rechten Arm blutarm zu saugen. Nachdem sie sich vollgepumpt hatte, brachte ich sie um. So hatten wir uns mit eigenem Blut zu Blutsbrüdern gemacht.

Allerdings gab es einen Moment, der mich blutsbrüderlich schwanken lassen. Das war der Augenblick, als Emil der Schluckspecht seine verspätete Liebe gestand. Obwohl er das nur getan hatte, um seinen Zensuren ein besseres Aussehen zu geben, ohne sich weiterhin anstrengen zu müssen, hatte ich Zweifel. Wenn er die alte, hässliche Ziege tatsächlich gern hatte, dann würde er mich weniger oder gar nicht mehr mögen. Obwohl ich nicht alt und hässlich bin.

Emil stellte unsere Freundschaft auf eine harte Bewährungsprobe. So fiel er im Unterricht der Schluckspecht kein einziges Mal mehr unangenehm auf, meldete sich ordentlich zu Wort, gab Antworten in ausgesuchten Worten, erledigte die von ihr gestellten Schulaufgaben aber ebenso wenig wie bisher. Das war der Schluckspecht egal, denn wenn Emil sie anlächelte, lächelte sie zurück. Bei ihr sah das aufgrund der zahlreichen Gesichtsfalten bedrohlich aus.

Nicht nur mir, sondern auch den Mitschülern missfiel Emils Getue. Mit Erstaunen stellten wir fest, dass seine Zensuren innerhalb kürzester Zeit ein Niveau erreicht hatten, das uns selbst im Traum nicht vorstellbar gewesen wäre.

Als ich Emil daraufhin an unsere Blutsbrüderschaft erinnerte, meinte er gelassen, dass sein Benehmen der einfachste Weg sei, nach oben zu kommen, ohne den Kopf übermäßig beanspruchen zu müssen. Man müsse nur so tun als ob. Mehr Schein als Sein. Sein sprachlicher Ausdruck war nun ebenfalls auf dem Weg nach oben. Weil ich ihn bekümmert ansah, tröstete er mich mit dem Hinweis, dass seine Schauspielerei nur Mittel zum Zweck sei.

Seine guten Manieren bekamen nun auch die anderen fünf Lehrer zu spüren. Die hinterließen bei ihnen einen wohlwollenden Eindruck. Innerhalb kürzester Zeit stieg mein Freund und Blutsbruder zum Schulkrösus auf.

Das Schwulenehepaar Schönhaar/Wohlgemut veranlasste er allerdings kurzzeitig zu einem Ehestreit, weil sein gewinnendes Lächeln Eifersucht erweckt hatte. Als mich Emil vor beiden Lehrern in den Arm nahm und sagte: „Wir sind warm und brüderlich, doch warme Brüder sind wir nicht“, war die Eifersucht der Schwulen beseitigt.

Lediglich die junge und hübsche Lehramtsanwärterin, Fräulein Viola Vidiralala, hielt von Emils Anmache nichts. Kein Wunder, denn sie machte mit anderen Dorfjünglingen ihrem Namen alle Ehre. Aber gerade ihre Gunst wollte Emil erlangen. Nur wusste er nicht wie. Das ärgerte ihn. Aber, ließ er mich wissen, die biege er sich auch noch zurecht. Dann erinnerte er mich daran, dass auch ich den Gipfel des Schulruhms erklimmen könnte. Es sei ein angenehmes Gefühl, von wohlmeinenden Paukern liebevoll behandelt zu werden.

Der Schüler Emil Kotte, vor kurzem noch ein von Tadeln und schlechten Schulnoten überhäufter Lehrerschreck, wurde nun auch über die Grenzen unseres Dorfes hinaus bekannt. Als die Regionalzeitung ‚Blick ins Land’ einen Artikel über ihn veröffentlichte, setzte das auch die Leser in Erstaunen, die von einem Emil Kotte noch nie etwas gehört hatten. Nun konnten sie ihn auch sehen, denn ein Foto zeigte ihn mit fröhlichem Gesicht und gekämmten Haaren. Die geschickt formulierten Sätze hoben Emils Tugenden hervor. Frau Schluckspecht, die Verfasserin des Artikels, vergaß auch nicht, Emils früheres Verhalten zu beschreiben. Dass er sich zu einem vorbildlichen Schüler gewandelt hatte, schrieb sie ihrem pädagogischen Geschick als Sexualkundelehrerin und ihrer persönlichen Ausstrahlung als sexy Frau zu. Zum Glück war sie nicht abgebildet.

Der Artikel war natürlich auch im Kreisschulamt gelesen worden. Weil bisher noch kein Schüler des Kreises eine solche rasante Entwicklung genommen hatte, lobte sich nun auch das Kreisschulamt in einem Zeitungsbeitrag über den grünen Klee. In ihm wurde betont, dass ohne den klugen und richtungweisenden Einfluss des Kreisschulrates ein Emil Kotte nicht denkbar wäre. Damit die Lehrer unserer Schule das auch glaubten, traf eine zweiköpfige Schulkommission an unserer Schule ein und prüfte, ob die Lehrer von der Tätigkeit des Kreisschulrates begeistert sind. Nur Frl. Viola Vidiralala erklärte, dass sie von den jungen Männern des Dorfes begeisterter sei.

Emils Ruhm breitete sich noch weiter aus. Bald war er bekannter als ein bunter Hund. Wir trafen uns nur noch an ganz wenigen Unterrichtstagen, weil er die meiste Zeit in der Bundesrepublik Deutschland herumgereicht wurde. Sein Lächeln wurde schließlich berühmt. Man nannte es fortan das „Kotte-Lächeln“. Wer so lächelte, war ein Muster an Moral, Zucht und Ordnung.

Bald aber kotzte Emil Kotte das „Kotte-Lächeln“ an. Die Strapazen, immer und überall vorgeführt zu werden, stets lächelnd, schadeten seinem körperlichen und seelischen Zustand. Als er sich einmal besonders elend fühlte, spuckte er einem Fernsehreporter nicht nur an die Kameralinse, sondern ihm auch ins Gesicht. Sofort wurde dieser ungehörige Zwischenfall medienweit ausgeschlachtet und Emil wieder der größte Frechdachs unserer Schule. Als ich meine Freude darüber zum Ausdruck brachte, meinte Emil: „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.“

Der Spruch gefiel mir, und voller Stolz auf meinen heimgekehrten Freund sagte ich, dass sich der olle Goethe, wenn er noch lebte, ärgern würde, dass ihm diese Worte nicht eingefallen waren.

Samenstränge

Das Schöne an einem Schuljahr sind nicht nur die häufigen und verschiedenartigen Ferien, sondern auch die freien Tage, die eingeschoben sind, damit wir Schüler uns noch mehr erholen können. Im Amtsdeutsch heißen diese Tage „bewegliche Tage“. Bisher habe ich aber noch nicht festgestellt, dass sich diese Tage auf eine längere Ausdehnung hin bewegen. Mein Freund Emil meinte, dass es das Angenehmste wäre, wenn fünf Tage der Woche beweglich blieben und nur der Samstag und Sonntag starr.

Weil es den Lehrern nie in den Sinn kommt, uns Schülern einen erholsamen, bewegungsarmen beweglichen Tag zu wünschen, weisen sie uns in aller Strenge darauf hin, diesen zu angestrengter geistiger Tätigkeit zu nutzen. Mit anderen Worten: Wir sollen unsere Nase in die Lehrbücher stecken.

„Wir gehen“, so sagte Schulleiter Weißbescheid, „euch an einem solchen Tage mit gutem geistigen Beispiel voran. In einer ganztägigen Weiterbildungsveranstaltung erfahren wir, wie wir als Pädagogen noch besser werden können.“

Emil meinte daraufhin, dass es für uns Schüler von großem Nutzen sei, wenn sich die Lehrer bessern würden. Von Herrn Weißbescheid erntete Emil einen strafenden Blick und die Bemerkung, dass seine Besserung wesentlich notwendiger sei. Mein Freund wies auf seine erzielten Erfolge hin, die er als musterhaftester Musterschüler der Bundesrepublik Deutschland errungen hatte. Das brachte Herrn Weißbescheid zum Schweigen.