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Detlef Schumacher

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Beschreibung

Das Lesen des Büchleins Erdachtes bereitet Vergnügen, wenn es mit dem Vorsatz gelesen wird, amüsante Unterhaltung an den kurzen Geschichten und Gedichten zu finden. Sie sind Produkte der Phantasie und deshalb nur manchmal der Realität nahe.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Detlef Schumacher

Erdachtes

Amüsante Geschichten und Gedichte

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Aus dem Leben einer Eintagsfliege

„Ich bin eine Eintagsfliege“, stellte sich die Eintagsfliege der Mehrtagsfliege vor. Beide trafen sich auf dem Rand eines Kuchentellers, auf dem noch Kuchenkrümel lagen.

„Ich könnte mein Leben lang nur Kuchen essen“, sprach die Eintagsfliege.

„Ich auch“, meinte die Mehrtagsfliege und flog weiter zu einem Teller, auf dem eine angebissene Marmeladenschnitte lag. Der sie angebissen hatte, hatte sich wegen eines Telefonanrufs von ihr entfernt. Die Mehrtagsfliege konnte also ungestört schmausen.

Die Eintagsfliege folgte ihr und fragte, weshalb sie die Kuchenmahlzeit unterbrochen habe.

„Die kann ich morgen fortsetzen“, erhielt sie zur Antwort.

„Morgen?“

„Ja, morgen.“

„Was ist 'morgen'?“

„Morgen ist Sonntag, da gibt es Kuchen in Hülle und Fülle.“ Die Mehrtagsfliege schleckte genüsslich Marmelade von der Schnitte.

„Warum heißt morgen Sonntag?“

„Weil heute Samstag ist.“

Die Eintagsfliege verstand das nicht. Die Mehrtagsfliege wunderte das nicht. Schon gestern war sie mit der Begriffsstutzigkeit einer Eintagsfliege in Berührung gekommen.

„Wann bist du geboren?“, fragte sie die Eintägige.

„Heute.“

„Genauer, wenn ich bitten darf.“

„Als es hell wurde. Weshalb willst du das wissen?“

„Weil deine Lebenszeit begrenzt ist. Du solltest das Kuchenkrümelessen schnellstens fortsetzen.“

„Wieso schnellstens? Morgen ist Sonntag, da kann auch ich Kuchen in Hülle und Fülle essen.“

„Kuchen gibt es erst am Nachmittag.“

„Na und? Bis dahin werde ich nicht verhungern.“

„Verhungern nicht, aber nicht mehr da sein.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Mit dem nächsten Morgenrot bist du tot.“ Die Mehrtagsfliege gab sich wieder der Marmelade hin.

„Tot?“

„Ja, tot!“ Der Mehrtägigen reichten die dummen Fragen. Nicht so der Eintägigen.

„Bist du dann auch tot?“

„Ich nicht, aber du! Und nun lass mich in Ruhe Marmelade schlecken.“

„Warum bin ich tot, wenn du nicht tot bist.“

„Heiliger Fliegenschiss!“, brauste die Mehrtagsliege auf, „weil du nur einen Tag und möglicherweise eine Nacht lebst.“

„Warum nur ich und du nicht auch?“

„Weil ich eine Mehrtagsfliege bin. Eine Fliege, die einen ganzen Sommer lang in Saus und Braus leben kann.“

Die Eintagsfliege guckte betrübt. Sie bedauerte, als Eintagsfliege geboren zu sein.

„So ist das nun mal“, protzte die Mehrtägige. Der Kummer der Eintägigen kümmerte sie nicht. Gefühllos tauchte sie den Rüssel wieder in die Marmelade.

Da klatschte es. Marmelade spritzte auf. Erschrocken flog die Eintagsfliege davon. Die Mehrtagsfliege nicht. Sie lag leblos im süßen Brotaufstrich.

 

Weltneuheit: Das einbruchsichere Haus

Diebe haben sich auf unterschiedliche Diebstähle spezialisiert: Am häufigsten finden sich Herzensdiebe, die sich des Herzens der Geliebten bemächtigt haben oder es vorhaben. In die Kategorie Herzensdiebe gehören auch die, die einem getöteten Menschen das Herz entreißen und es für Geld einem Herzlosen oder Herzbedürftigen anbieten. Hauptabnehmer sind in den meisten Fällen Herzchirurgen.     Die Zunft der Diebe unterteilt sich weiterhin in Taschendiebe, Fahrrad- oder Autodiebe, Schmuckdiebe, Säuglingsdiebe usw. Die meisten Diebstähle geschehen unter freiem Himmel. Bevorzugt sind hierbei die dunklen Stunden des Tages.

Weil manche Diebe die wahren Schätze eines braven Bürgers in dessen Haus vermuten, wird dieses zum begehrten Objekt eines Einbruchs. Selbiger wird auf unterschiedlichste Art getätigt. Im Endeffekt fehlt dem Hausbesitzer dann nicht nur wertvolles Hab und Gut, sondern auch die Hoffnung, je wieder in den Besitz des Entwendeten zu kommen. Die Polizei gibt sich zwar die redlichste Mühe, des Täters oder der Täter habhaft zu werden, doch gelingt ihr das meistens nicht. Die Diebe wissen um die Finessen der Bullen, sind sie doch durch Actionfilme reichlich vorgebildet. Verständlich also, dass Hausbesitzer ihren Besitz schützen wollen, und zwar so gut wie möglich. Der Möglichkeiten sind viele, doch haben selbst die ausgeklügeltsten Systeme die an sie gestellten Erwartungen bisher nicht erfüllt.

Alle Not hat aber nun ein Ende. Dem Einfall Otto von Guerickes folgend, der in Magdeburg zwei aneinandergefügte kupferne Halbkugeln von 16 Pferden (acht links und acht rechts) auseinanderziehen lassen wollte, ist nun das einbruchsichere Haus entwickelt worden. Weil sich die luftleer gesaugte Kupferkugel nicht trennen ließ, wird ein vollständig entlüftetes Haus nicht einbrechbar sein.

Um das sinnfällig zu machen, hat Prof. Siegfried Sauerstoff, der Vater der neuzeitlichen Vakuumtechnik und Erfinder des luftleeren Hauses, einen Werbefilm erstellen lassen, der eindringlich die Uneindringlichkeit besagten Gebäudes zeigt. Damit in manchem Hausbesitzer der Wunsch wach wird, sein Haus einbruchsicher zu machen, zeigt der Werbefilm ein Ehepaar, das sein Eigenheim liebt und schätzt. Herr und Frau Schulze haben sich einverstanden erklärt, ihr Wohnhaus luftleer saugen zu lassen. Dieser Vorgang, verbunden mit vorangehender Abdichtung aller luftdurchlässigen Poren und Öffnungen, soll nur einen knappen Tag in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit muss sich Familie Schulze in einem Hotel (auf eigene Rechnung) aufhalten, um überrascht zu sein, wenn sie ihr präpariertes Haus betritt.

Nach kribbeligen Stunden des Wartens dürfen Schulzes dann endlich das Hotel verlassen und auf ihr eigenes Heim zugehen. Beider Gesicht zeigt zunächst großes Erstaunen, denn da, wo sich einst die Haustür befand, befindet sich nun ein länglicher, schmaler Vorbau. Der birgt die Luftschleuse bzw. Druckausgleichskammer. Vor der Luftschleuse erwartet sie Prof. Sauerstoff mit zwei seiner engsten Mitarbeiter. Die versehen Herrn und Frau Schulzes Kopf mit einer Sauerstoffmaske und deren Rücken mit einem handlichen Sauerstoffbehälter. Dann lassen sie Beide in eine Spezialhose steigen. Schulzes erfahren, dass es eine Cordkothose ist, in deren Hinterteil ein dehnbarer Biobehälter eingelassen ist. Er dient der geruchlosen Aufnahme der körperlichen Ausscheidungen. Frau Schulze, die gern ein Cordkotkleid tragen würde, wird auf die Schwierigkeit der Unterbringung des Biobehälters in diesem hingewiesen. Das Kleid sähe dann nicht mehr kleidsam aus.

Als Schulzes die Luftschleuse betreten wollen, wird ihnen ein Schlag auf den Hinterkopf versetzt. Den erklärt Prof. Sauerstoff als schlagartige Unterbringung des Codewortes im Gehirn. Ohne Nennung desselben ist das Betreten der Luftschleuse und damit auch des Hauses nicht möglich. Herr Schulze fragt, ob es auch für den Einstieg in die Cordkothose gilt, als Cordkotcode sozusagen. Prof. Sauerstoff verneint und bittet beide, das Haus nach Nennung des Codewortes zu betreten. Frau Schulze wird der Zutritt verweigert, weil sie das Codewort unvollständig genannt hat. Nach einem erneuten Schlag auf ihren Hinterkopf ist ihre frauliche Denkfähigkeit reguliert.

Nun sieht man Schulzes im Inneren des Gebäudes. Schwerelos wie Weltraumfahrer schweben sie durch den luftleeren Korridor hin zur Küche. Sie rudern mit ihren Gliedmaßen, um die Balance zu halten. Herr Schulze tut das zu heftig, weshalb er mit dem Kopf an die Decke stößt.

Beider Luftwege trennen sich. Herr Schulze strebt dem Wohnzimmer mit dem Fernsehgerät, dem gemütlichen Fernsehsessel und dem neben ihm stehenden Kasten Bier zu. Frau Schulze erfliegt die Küche. In ihr begegnet sie der Erbsensuppe, die sie am gestrigen Tage vorbereitend gekocht hatte. Die hat infolge des Sauerstoffentzugs den Topf längst verlassen und zieht wie eine grünlich-gelbe Wolke durch den Raum. Hin und wieder entlässt sie einen kurzen Erbsenschauer.

Frau Schulze bemüht sich, auf den Küchenboden zu gelangen. Weil ihr das nicht sogleich gelingt, arbeitet sie sich am hohen Kühlschrank nach unten. Dabei öffnet sie versehentlich dessen Tür. Der Schrankinhalt tritt sofort seine Luftreise an. Dabei scheiden einige Dinge voneinander. Die Butter befreit sich aus der Butterdose und vereint sich mit der schlanken Ketchupflasche, auf deren Rücken sie den Luftraum der Küche erkundet.

Frau Schulze hat inzwischen den Küchenboden erreicht und sieht auf diesem eine Schar toter Fliegen liegen. Mitliegend eine Maus, der das Zünglein aus dem Hals hängt. Es ist die, die Herr Schulze seit Wochen vergeblich zu töten versucht hatte.

An dieser Stelle wird Prof. Sauerstoff eingeblendet, der den rechten Daumen triumphierend nach oben hält. Ein erstes sichtbares Zeichen dafür, dass ein einbruchsicheres Haus noch mehr als nur Schutz des Eigentums zu bieten hat.

Der Kamerablick wechselt zum Wohnzimmer, in das Herr Schulz soeben eingeflogen ist. Mit kräftigen Ruderbewegungen seiner Arme will er den Fernsehsessel erreichen. Nach einigen umständlichen Versuchen gelingt ihm das. Während seines Landeanflugs hat er geschickt die Fernbedienung erfasst, die seinen Luftweg kreuzte. Weil er sich zu rege im Sessel räkelt, hebt es ihn aus diesem. Hier wird ihm des Mannes siebter Sinn, der nach dem Griff zum Bier, zur Behebung der Anhebung dienlich. Er stellt den Bierkasten auf seinen Schoß und haftet somit auf der gemütlichen Sitzgelegenheit. Schulze bedient die Fernbedienung und sieht auf dem sich in Tätigkeit setzenden Flachbildschirm ein Häuschen, das genauso aussieht wie das seine. Auch die Luftschleuse fehlt ihm nicht. Ein Mann in blauer Arbeitskluft hält eine kleine Fensterscheibe ins Bild und sagt etwas, was man wegen fehlender Luft und damit fehlender Schallwellen nicht verstehen kann. Am unteren Bildrand läuft deshalb das, was er mitteilt. Schulze liest: „Panzerglas, das ist doch was!“

Auf dem Bildschirm plötzlich fährt ein Panzer vor, der mehrere Schüsse auf die Fensterscheiben des Häuschens abgibt. Die Wirkung gleicht denen von Kanonenschüssen auf Spatzen. Die Kamera zoomt an eine der Panzerglasscheiben, hinter der Prof. Sauerstoff grinsend den rechten Daumen nach oben streckt.

Das Fernsehbild wechselt ins Häuschen. Gezeigt wird der Schlafraum der Hausinhaber. Beide befinden sich mit Sauerstoffmaske vor dem Mund im Bett. Er liegt auf ihr und bewegt sich auf und nieder. Durch das Panzerglas schaut der voyeuristisch gestimmte Vollmond. Mit ihm plötzlich auch ein Mensch mit einer über den Kopf gezogenen Strumpfmaske. Schulze erkennt in ihm einen Einbrecher. Das Ehepaar im Bett nicht. Sorglos gibt es sich dem Liebesspiel weiterhin hin, wohl wissend, dass der da draußen nicht eindringen kann. Der auf der Frau Liegende tut es, sich dabei krampfhaft an ihr festhaltend, um beim Rückstoß nicht von ihr zu heben.

Neben dem Strumpfmaskierten taucht ein weiterer auf. Beide versuchen, das Fenster aufzuhebeln. Drinnen hört man es wegen fehlender Schallwellen nicht. Weil das Aufhebeln misslingt, greifen die Einbrecher zu ihrer Schusswaffe, der eine zu einer Pistole, der andere zu einer Maschinenpistole. Beide Pistolen speien Kugeln und Blitze. Sie machen auch Krach, der aus gesagtem Grund drinnen nicht zu hören ist. Die Verbrecher reißen enttäuscht die Maske vom Kopf und richten wütend den Mittelfinger gegen die auf dem Bett Beschäftigten.

Als sie verschwunden sind, taucht Prof. Sauerstoffs Kopf über dem Fenstersims auf. Er hält nicht den Mittelfinger, sondern wie gehabt den Daumen nach oben. Damit will er sagen, dass das Fenster eines luftleeren Raumes nicht zu öffnen ist. Die luftentleerte Magdeburger Kupferkugel konnte auch nicht getrennt werden.

Der Werbefilm endet mit dem Satz: Sollten Sie noch Fragen haben, dann wenden Sie sich mit diesen an Prof. Sauerstoff. Das gilt auch für den Leser dieses Tatsachenberichts.

Das ungezogene Rotkäppchen

Der Titel dieser etwas länger ausfallenden Geschichte schockiert. Das soll er auch, weil zu viele falsche Vorstellungen über das artige Rotkäppchen kursieren. Der leichtgläubige Leser verharrt in seiner Kindheitserinnerung, das Mädchen sei brav und folgsam gewesen. So jedenfalls gaukelten es die Gebrüder Grimm vor. Die Realität sah aber anders aus.

Es hat bisher zahlreiche Versuche gegeben, dem wahren Sachverhalt um Rotkäppchens Tun auf die Spur zu kommen. Dabei bleibt ihre vorpubertäre Phase reichlich verschönt. Jawohl verschönt, denn die 8 bis 10jährige – eine genaue Altersangabe fehlt – hatte ihre kindlichen Macken. Wie jedes Kind dieses Alters. Wenn man liest, dass die Mutter die Kleine mit einem gefüllten Korb zur Großmutter in den Wald schickte, damit die wieder genese und auf die Beine komme, dann bleibt völlig unerwähnt, dass auch Rotkäppchens Vater an der Bestückung des Korbs beteiligt war. Und zwar in lobenswerter Weise. Er hatte die Flasche Wein, die dem Korb beigegeben war, leergesoffen und anschließend mit roter Limonade gefüllt. In der redlichen Absicht, seine Mutter, denn das war die Großmutter, vor zunehmender Alkoholsucht zu bewahren. Oma pichelte nämlich gern. Immer wenn es sie nach Wein verlangte, gab sie vor, krank zu sein. Im Märchenwald nannte man sie deshalb ‚Schnapsdrossel‘, obwohl sie keinen Schnaps trank. Das tat ihr Sohn, Rotkäppchens Vater, um sie vor noch schlimmeren Leberschäden zu bewahren.

Das Märchen ist in seiner Fassung zu sehr auf Rotkäppchen fokussiert. Den Nebenpersonen wird nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Aus diesem Grunde weise ich genauer auch auf Rotkäppchens Mutter hin. Die sandte ihr Töchterchen keinesfalls aus Sorge um ihre Schwiegermutter los, sondern von der bösen Hoffnung beseelt, sie möge bald das Zeitliche segnen. Dass Rotkäppchen auf dem Wege zur Großmutter dem Wolf begegnete, war eine von der Mutter inszenierte Boshaftigkeit. Die Oma hauste nur deshalb in einer reparaturbedürftigen Waldhütte, weil sie die Nähe der hinterhältigen Schwiegertochter nicht ertragen konnte. Emma Rosenduft war nicht die sympathische Mutter, Schwiegertochter und Ehefrau, sondern eine von den Bewohnern des Dorfes gemiedene Person. Man nannte sie „Hosenduft“. Dass kränkte die habgierige Frau, weshalb sie sich nur selten sehen ließ.

Verständlich, dass von dem miesen Charakter der Mutter auch an Ottilie Rosenduft, so Rotkäppchens Name, etwas hängen geblieben war. Sie hasste den Familiennamen Rosenduft. Sie wusste, dass der ins Lächerliche gezogen wurde. Deshalb stahl sie einem durchs Dorf ziehenden Händler ein rotes Samtkäppchen und trug es seitdem. Wenn Dorfkinder sie Hosenduft hänselten, streckte sie ihnen die Zunge raus und rief, dass sie Rotkäppchen heiße.

Eine Gleichaltrige, die diesen Ersatznamen nicht akzeptierte, wurde von Ottilie Rosenduft windelweich geschlagen. Seither mieden sie auch die Jungen des Dorfes, weil sie, wenn in Wut geraten, wie eine Wildkatze biss und kratzte.

Frauenrechtlerinnen könnten mir nun vorhalten, ich würde mich mit der abfälligen Charakterisierung Frau Rosendufts und deren Tochter als Frauenhasser gebärden. Dem ist nicht so; ich mag Frauen, vor allem wenn sie noch nicht dreißig sind.

Da sich Wahrheit nicht vertuschen lässt, wende ich mich zwecks Aufdeckung weiterer Tatsachen dem Märcheninhalt selbst zu. Hierbei muss ich aber noch einmal auf den Titel dieser Geschichte zurückgreifen. Hätte ich sie mit ‚Das liebenswerte Rotkäppchen‘ oder ‚Die brave Maid mit dem roten Käppchen‘ überschrieben, dann wäre das kopfnickend akzeptiert worden. Die Überschrift ‚Das ungezogene Rotkäppchen‘ lässt aber sofort ahnen, dass mit diesem glorifizierten Girl etwas nicht stimmen konnte. Und in der Tat, bereits bei der Entgegennahme des mit einer Weinflasche und einem Kuchen gefüllten Korbes maulte das Mädchen, dass es keine Lust habe, schon wieder mit solcher Last durch den Wald latschen zu müssen. Die Mutter strafte es mit bösem Blick und aktivierte Rotkäppchens Lust derweise, dass es bei erfolgreicher Rückkehr etwas Schönes erhalten werde.

„Bestimmt wieder scheiß kandierten Äpfel“, meinte es unzufrieden.

Frau Rosenduft gab ihr eine Ohrfeige. Widerwillig ging das Mädchen, hinterließ aber die Bemerkung: „Hoffentlich wird bald ein Kinder- und Jugendschutzgesetz verabschiedet, das auch die Prügelstrafe verbietet.“ Die Mutter hierauf: „Darauf kannst du lange warten.“ Womit sie recht hatte.

Nichtsahnend betrat die freche Göre bald darauf den Wald. Sie wusste nicht, dass die Mutter mit dem Wolf eine Übereinkunft getroffen hatte, die beinhaltete, dass er zunächst die Tochter und dann die lästige Großmutter fressen solle. Das als böser Wolf verschriene Tier war nicht böse. Jedenfalls anfangs nicht. Deshalb fragte er Frau Rosenduft, weshalb sie ihn zu solcher Gemeinheit veranlassen wolle. Das sei keine Gemeinheit, sondern eine Notwendigkeit, versuchte sie, den Wolf willfährig zu machen. Der konnte nicht verstehen, dass sie als Mutter ihr eigenes Kind ihm zum Fraße vorwerfen wolle. Rotkäppchen sei nicht ihre Tochter, ihr Mann habe sie in die Ehe mitgebracht, log sie. Das Mädchen sei charakterlich verdorben, faul und sehr ungezogen. Übermütig hätte es einmal geäußert, dem bösen Wolf den Schwanz abzuschneiden.

Der Wolf guckte verdutzt. Das hätte er Rotkäppchen nicht zugetraut. Damit war für ihn die Entscheidung gefallen. Er werde Rotkäppchens Fleisch mit Genuss verzehren. Die Großmutter weniger genüsslich, weil die sicherlich recht zäh sei. Er könne sie ja im Ganzen herunterschlucken, empfahl die Rosenduft. Bedenken äußerte der Wolf dahingehend, dass ihn die Polizei jagen und erschlagen werde, sollte sie ihn als den Menschenfresser ausmachen. Da könne er unbesorgt sein, versicherte die Rosenduft, sie werde ihre ganze frauliche List in die Waagschale Justitias werfen und den lieben Herrn Wolf völlig entlasten. Schlimmstenfalls würde sie ihren Mann zum Schuldigen erklären und dem Gericht weißmachen, er sei Hobby-Kannibale.

„OK!“ sagte der Wolf, „dann werde ich zunächst Rotkäppchen auflauern, um es zu verspeisen und dann der Alten den Garaus machen.“ Mit diesen Worten begann der Wolf, der böse Wolf zu werden. Er versteckte sich hinter einen Busch am Rande einer Waldwiese und wartete geduldig auf das Erscheinen Rotkäppchens. Als er dessen trippelnde Schritte vernahm, troff ihm der Speichel aus dem Maul. Seine lange Zunge fuhr leckend von einem Mundwinkel zum anderen. Als es am Busch vorüber schlenderte, schnellte er hinter diesem hervor, kratzte sich am Hintern und jammerte gekünstelt: „Es ist nicht zum Aushalten mit den Ameisen. Ständig piesacken sie mich am Arsch.“

Rotkäppchen gar nicht erschrocken über sein plötzliche Erscheinen meinte lapidar: „Du solltest mal ordentlich im Waldbach baden, dann werden die Ameisen dich Drecksack auch meiden. Außerdem würdest nicht mehr so fürchterlich stinken.“ Sie zog die Nase kraus.

Mit dieser Reaktion hatte der Wolf nicht gerechnet. Dass er stinke, war ihm peinlich. Das hatte ihm noch niemand so unverblümt ins Gesicht gesagt. Ein hinreichender Grund also, das freche Kind sofort zu verspeisen. Aber samt seiner Kleidung? – Nein! Widerlich, Stofffetzen zwischen den Zähnen zu haben. Sie muss nackt sein. „Würdest du mich zum Waldbach begleiten?“, fragte er lauernd. „Dann siehst du, ob ich wirklich bade.“

„Warum nicht? Es ist heute ganz schön heiß. Also gehen wir!“

Die bedenkenlose Furchtlosigkeit Rotkäppchens erstaunte ihn. Den Leser der Geschichte erstaunt ihre Schamlosigkeit. Als Minderjährige waren ihre weiblichen Formen zwar erst im Werden begriffen, doch sich einfach entblößen zu wollen übersteigt das prüde Verständnis vor allem der älteren Leserinnen.

Dem Wolf machte Rotkäppchens Unbekümmertheit ein bisschen Angst. „Hast du ein Messer bei dir?“ fragte er argwöhnisch.

„Nein! Wieso?“

Er sagte nicht, weshalb er gefragt hatte. Seine Furcht, sie könnte ihm den Schwanz absäbeln, war somit unbegründet.

Das Mädchen lachte plötzlich: „Jetzt weiß ich, weshalb du nach einem Messer gefragt hast. Du möchtest den Kuchen anschneiden, den ich im Korb habe. Stimmt’s, alter Vielfraß?“

„Ja, ja, natürlich“, stotterte er, „deshalb.“

„Kein Problem, auch ohne Messer kriegen wir ihn klein. Nach dem gemeinsamen Bad im Waldbach werden wir picknicken. Die Flasche Wein hauen wir dabei mit auf den Kopf.“

Junge, Junge, die ist aber kess, dachte sich der Wolf. Doch mir soll’s recht sein. Wenn sie sich entkleidet hat, fresse ich erst sie und dann den Kuchen. Mit dem Hinweis, dass beide Dinge doch für die Großmutter bestimmt seien, testete er das Gewissen des Mädchens. Das meinte völlig gefühlskalt: „Die Alte lebt sowieso nicht mehr lange. Ein Kuchen und eine Flasche Wein weniger verlängern ihr Leben auch nicht.“

Der Wolf war froh, nicht die Großmutter zu sein. Eine solche brutale Enkelin könnte später einmal, wenn das Fernsehen erfunden sei, zur Gruselgestalt in Altersheimen werden.

Am Waldbach angekommen entledigte sich Rotkäppchen der Kleidung. Dann watete es ins Wasser. Weil der Wolf zögerte, ihr zu folgen, forderte es ihn auf: „Na los, alter Stinker, hinein ins kühle Nass!“

Er wollte nicht eingestehen, dass er wasserscheu ist. Deshalb log er, eine Wunde unter seiner linken hinteren Pfote zu haben. Rotkäppchen kehrte ans Ufer zurück und erklärte, dass sie die wunde Stelle mit einem Fingernagelreiniger, den sie zufällig bei sich habe, vom Schmutz befreien werde. Das sei notwendig, um eine Blutvergiftung zu verhindern.

Angstschweiß bildete sich in des Wolfs Fell. Plötzlich lachte er gequält und sagte: „Angelogen und betrogen! Ich habe gar keine wunde Pfote!“

„Waaas?!“, zürnte das Mädchen, „du hast mich angelogen? Wegen dieser Frechheit werde ich dir jetzt den Schwanz ausreißen!“

Man stelle sich vor, liebe Leser, ein splitterfasernacktes Mädchen will sich an einem Schwanz zu schaffen machen. Der Wolf zweifelte keinen Moment daran, dass Rotkäppchen das tun wird. Ohne weiteres Besinnen ergriff er die Flucht, dabei zurückrufend: „Der Kuchen soll dir im Halse stecken bleiben!“

„Der ist für die Großmutter bestimmt, du Trottel! Warum verschwindest du?“

Die Antwort blieb er ihr schuldig.

An dieser Stelle müsste das von den Grimms verfasste Märchen eigentlich enden. Deshalb enden, um die märchenverliebten Kinder nicht mit der Bestialität des Wolfs zu konfrontieren, der Großmutter und Rotkäppchen verspeist hatte. Man entsetzt sich gar zu gern über die heutzutage herrschende Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Die gab es schon früher, wie Grimms Märchen beweisen.

Die durch mich erfolgte Darstellung des wahren Sachverhalts trägt hoffentlich zum Abbau von Ängsten beim Lesen von Märchen bei und regt an, den Inhalt vieler dieser Schauergeschichten zu hinterfragen. Interessant wäre auch, die Pubertätsjahre Rotkäppchens zu betrachten

Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd

Drei Spatzen sitzen erwartungsvoll in einem Gebüsch am Rande eines Bauernhofs. Er gehört Bauer Bauermann. Er ist verheiratet. Seine Frau ist blond, vollbusig, aber nicht dumm. Sie steht in der Küche das Mittagsmahl bereitend. Am Tisch sitzen zwei Kinder: ein Mädchen acht und ein Knabe fünf an Jahren. Ihn schuf Bauermann, sie ein anderer.

Bauermann pflügt das Feld. Zwei Pferde helfen ihm. Sie sind kräftig gebaut, haben stramme Schenkel und einen dicken Hintern. An diesem hängt ein Schwanz. Er schwingt hin und her. Das ärgert die Fliegen.

Dem Bauern folgt eine Krähe. Sie pickt ihm die Würmer aus der Furche. Die Sonne guckt zu. Bauermann schwitzt. Die Pferde auch. Die Krähe nicht.

Die Spatzen im Gebüsch am Rande des Bauernhofs warten auf Bauermanns Pferde. Endlich kommen sie. Konzentrierter Blick auf beide Pferdeärsche. Ihnen werden Äpfel entfallen. Täglich zur gleichen Zeit. Frisches, dampfendes Fallobst. Den Spatzen läuft das Wasser im Schnabel zusammen. Köstlicher Kot. Sie wissen, dass den ihnen einer streitig machen wird. Der alte Bauermann, Bauermanns achtzigjähriger Vater. Sein Interesse an den Äpfeln ist ein anderes als das der Spatzen. Er düngt mit ihnen sein Erdbeerbeet. Der bewirkt ein prächtiges Beerenwachstum.

Die Aufmerksamkeit der Spatzen ist aufs äußerste gespannt. Werden sie heute vor dem alten Mann an den Äpfeln sein? Gestern war er schneller. Nicht auf den Beinen, sondern mit Kehrschaufel und Kehrbesen. Mit diesen hockt er wartend hinter der dickstämmigen Eiche. Sie steht der Hofmitte, auf die die Pferdeäpfel fallen werden, näher als das Gebüsch, in dem die Spatzen sitzen. Er ist ein missgünstiger Mensch, dem es Freude macht, hungrigen Vögeln die Kot-Kost zu nehmen. Sie wünschen ihn deshalb unter die Erdbeeren.

Bauer Bauermann sagt: „Brrr!“ Nicht weil ihm kalt ist, sondern weil die Pferde bremsen und verschnaufen sollen. Sie werden nach der Mittagszeit wieder gefordert sein. Bremsend verschnaufen sie. Entspannt lassen sie zwei Furze fahren. Je einen einem Loch. Die Spatzen kennen das. Die Winde sind das Signal für das Erscheinen der Äpfel. Aufgeregt zittert ihr Gefieder.

Bauermann Senior das Gebiss. Kehrschaufel und Kehrbesen hält er im Anschlag. Gleich geht’s los. Doch erst dann, wenn sein Sohn im Wohnhaus verschwunden ist. Die Pferde wissen sich zu benehmen. Sie wollen dem Bauern den Appetit nicht verderben.

Fünfzehn Fliegen umschwirren erwartungsvoll die Pferdehinterteile. Gestern waren es nur zehn. Leckerbissen sprechen sich herum.

Die Haustür schließt sich. Zwei Pferdeärsche öffnen sich. Die Spatzen entfliegen tschilpend dem Gebüsch. Bauermann Senior tritt hinter dem Baumstamm hervor. Um den Spatzen die Lust an der Landung zu nehmen, ruft er „Husch! Husch!“

Sie lassen sich nicht verhuschen. Die Masche zieht nicht mehr. Noch ehe der erste Pferdeapfel den Pferdeärschen entkommt, überfliegt plötzlich ein Storch den Bauernhof. Klappernd lässt er sich neben und nicht auf dem qualmenden Schornstein des Hauses nieder. Storchhusten stört beim Fliegen.

Der alte Bauermann schaut böse zu ihm hinauf und knurrt: „Noch ein Kind!“ Ihn interessiert, wie Adebar dieses überbringt. Lässt er es in die Esse sausen oder in die Dachrinne rollen?

Den Augenblick seiner geistigen Abwesenheit nutzen die Spatzen und fallen über die gefallenen Äpfel her. Damit es dem alten Mann nicht leicht wird, die Reste aufzukehren, zerscharren sie sie gründlich. Mit den Fliegen zeigen sie sich solidarisch. Sie dürfen am Mahl teilhaben.

Die Pferde haben ihre Notdurft verrichtet und begeben sich in den Schatten der großen Eiche. Das erinnert den Alten an das Geschehen in Hofes Mitte. Dort sitzen die Spatzen und tschilpen frech und herausfordernd.

Zornig wirft Bauermann Senior Kehrschaufel und Kehrbesen nach ihnen. Sie fliegen auf und lassen sich gesättigt im Gebüsch nieder.  

Der falsche Weihnachtsmann

Heilig Abend war nahe und Günter hatte noch keinen Weihnachtsbaum gekauft. Jede Familie besaß schon einen, nur Günters Familie nicht. Sie war klein; sie bestand nur aus ihm und seinem Hund Bello.

Günter war seit einem Jahr arbeitslos. Weil ihm also weniger Geld zur Verfügung stand, wollte er in diesem Jahr auf einen Weihnachtsbaum verzichten. Bello sah das nicht ein. Alljährlich nach dem Weihnachtsfest war es ihm erlaubt, am Baum ein Bein zu heben. Nur zu heben, mehr nicht. Mehr war auch nicht möglich, da der gekürzte Stamm des Baumes in einem Weihnachtsbaumständer steckte.

Bello bellte energisch. Günter sagte: „Nein, Bello, auch ein kleiner Weihnachtsbaum kostet Geld! Wir müssen sparen!“

Wieder bellte Bello. Günter hierauf: „Das Fernsehen lasse ich mir nicht verbieten. Auch das Biertrinken nicht. Und zehn Zigaretten am Tag leiste ich mir weiterhin.“

Bellos Bellen ging in ein enttäuschtes leises Jaulen über.

„An deinem Futter werde ich natürlich nicht sparen. Du bekommst weiterhin die gleichen Portionen.“ Bello schwieg und verdrehte die Augen. Günter überlegte. Dann sprach er: „Es wäre allerdings möglich, einen Weihnachtsbaum zu bekommen. Einen kostenlosen.“

Bello stellte die Augen gerade und guckte gespannt.

„Wir gehen in den Wald. Dort werde ich einen Baum schlagen. Das ist zwar verboten, doch wenn wir tief genug hineingehen, wird uns niemand sehen und hören.“

Bello bellte vergnügt. Dieses Vorhaben gefiel ihm.

Günter wartete den Vorabend des Heiligen Abend ab. Im Schutze der Dunkelheit stapfte er – eine Axt geschultert - durch den hohen Schnee in Richtung Tannenwald. Bello folgte ihm. Ihm reichte der Schnee bis zur Brust. Beide spürten die Kälte nicht. Günter nicht, weil er dick angezogen war und sich mit Schnaps vorgewärmt hatte und Bello nicht, weil ihm Günter Alkohol in den Trinknapf gegossen hatte. Mit solcher Zutat war Bello längst vertraut, dennoch wackelte er beim Laufen immer wieder etwas hin und her.

Als sie den Wald erreicht hatten, gruselte es Günter. Zwischen den Tannen war es noch dunkler und geheimnisvoller. Vielleicht saßen böse Geister in den Zweigen und warteten nur darauf, ihm etwas anzutun. Vielleicht aber schürte eine arglistige Hexe das Feuer im Ofen, um ihn und Bello in diesen zu schieben.

„Wir sollten umkehren“, meinte Günter ängstlich, „uns könnte Unangenehmes widerfahren.“

Bello bellte ihm Mut zu. Er werde jeden beißen, der Böses wolle. Natürlich übertrieb er, da ihn der Alkohol übermütig gemacht hatte. Um seinem Herrchen mit gutem Beispiel voranzugehen, stapfte er voran.

Günters Ängste waren nicht unbegründet. Als Kind hatte ihn die Großmutter mit schaurigen Geschichten überhäuft. Seine Ängste setzten sich in weiteren Lebensjahren fort, weshalb er nicht heiratete.

Als sie der dunkle Tann umfing, vernahmen sie ein fernes Klingeln von Glöckchen. Günters Ängste schwanden. Er wusste: so nähert sich der Weihnachtsmann. Und siehe, Augenblicke später sauste er im Schlitten vorüber. Zwei Pferde zogen ihn.

Wohin der Weihnachtsmann wohl will, fragte sich Günter. Heilig Abend ist doch erst morgen.

„Wir sollten seiner Spur folgen“, sagte er zu Bello, „vielleicht sehen wir, woher er die Geschenke holt.“

Bello bellte Zustimmung. Sie folgten der Schlittenspur. Auch der Mond war neugierig und lugte hinter einer dunklen Nachtwolke hervor. Sein fahles Licht ließ die Schlittenspur gut sehen. Nach etwa zehnminütigem Dahinstapfen vernahm Günter in nächster Nähe ein reges Gespräch. Bello knurrte verhalten.

„Pst!“, raunte Günter, „wir wollen hören, wer sich hier unterhält.“

Eine Bassstimme sagte sehr energisch: „Hier bringe ich dir die versprochenen Kerzen. Also gib mir sofort die zugesagte Kohle.“

Günter bog die schneebedeckten Zweige des Gebüschs, hinter dem er stand, zur Seite und erkannte an der Bassstimme den Weihnachtsmann. Wie ein solcher sah er allerdings nicht aus. Er hatte lediglich eine rote Zipfelmütze auf recht zotteligen Haaren. Ein weißen Bart hatte er nicht.

Die andere Stimme erwiderte: „Ich hoffe, du hast auch den Stoff dabei.“

Die Bassstimme hierauf: „Den Stoff erhältst du morgen. Heute nur die Kerzen.“

„Dann erhältst du auch die Kohle erst morgen.“

Günter entnahm der Unterhaltung, dass der Weihnachtsmann Christbaumkerzen gebracht hatte, die er gegen Kohle tauschen wollte. Die brauchte er zum Beheizen seines Häuschens im Wald. Der andere wollte aber noch Stoff dazu. Sicherlich als wärmende Kleidung. Dass ihn der Weihnachtsmann erst morgen liefern würde, wäre sicherlich sein Weihnachtsgeschenk.

Das Gespräch nahm an Heftigkeit zu. Der andere ging auf den Weihnachtsmann los und packte ihn am Kragen. „Wenn ich den Stoff nicht bis Mitternacht habe, bist du ein toter Mann“, drohte er.

Das war doch unerhört! Günter konnte es kaum fassen. Da wollte jemand den Weihnachtsmann umbringen, und zwar unmittelbar vor dem Fest. Wer sollte die Geschenke dann bringen?

Der Weihnachtsmann befreite sich von dem Zugriff und zog – Günter stockte der Atem – eine Pistole aus einer Hosentasche. Die richtete er auf den anderen mit den Worten: „Wenn dir dein Leben lieb ist, gibst du mir die Kohle und verschwindest.“

„Mit der Spielzeugpistole kannst du mir keine Angst einjagen“, höhnte der Bedrohte.

Der Weihnachtsmann bewies, dass die Pistole keine Spielzeugpistole ist. Er schoss seinem Gegenüber ein Loch in den Kopf. Der Getroffene sank in den Schnee und rührte sich nicht mehr.

Günter packte das kalte Grausen. Bello zog verängstigt den Schwanz ein. Der Weihnachtsmann war also ein Mörder. Eigentlich hatte er in Notwehr gehandelt, versuchte Günter dessen Tat zu entschuldigen. In der heutigen gefährlichen Zeit verdrängte die Pistole also die Rute.

„Lass uns nach Hause eilen“, flüsterte Günter seinem Hund zu. Ich werde die Haustür ordentlich verriegeln, damit der Weihnachtsmann nicht eindringen kann. Er ließ die Zweige des Gebüschs zurückschnellen. Das dadurch entstehende Geräusch machte den Weihnachtsmann aufmerksam.

„Wer da?!“ fragte der.

Günter antwortete nicht. Er zitterte aber so heftig, dass die Axt in seiner Hand gegen Bello schlug, der daraufhin schmerzhaft jaulte.

Der Weihnachtsmann trat vor beide böse blickend hin. Günter flüchtete sich in ein kleines Weihnachtsgedicht, dass er so vortrug: „Lieber, guter Weihnachtsmann, sieh mich nicht so böse an, stecke die Pistole ein, ich will noch am Leben sein.“

Der Weihnachtsmann traute seinen Ohren nicht. Was quatschte der Fremde da? Wo kam er her? Hatte er das eben Geschehene beobachtet? Am besten ist, ich lege auch ihn um.

Günter ahnte wohl dessen Absicht, weshalb er seinem Gedicht den Zusatz gab: „Lieber, guter Weihnachtsmann, erschieß' mich nicht wie diesen Mann; ich wollte eine Tanne schlagen und sie zu mir nach Hause tragen.“

Jetzt erst entdeckte der Weihnachtsmann die Axt in Günters Hand und neben ihm den Hund. Weil die Axt in Günters Hand noch immer zitterte, glaubte der Rotmützige, er werde sie schnell hochreißen und ihm mit ihr den Schädel spalten. Der Fremde war bestimmt der berüchtigte Axtmörder, der seit Wochen Menschen erschlug.

Nun überkam den falschen Weihnachtsmann das ängstliche Zittern. Er bat Günter, ihn am Leben zu lassen. Er wolle auch nie wieder Böses tun.

Günter wollte etwas einwenden, doch der Mörder fuhr fort: „Ich schenke dir meinen Schlitten samt Inhalt und Pferden. Die Sprengkerzen kannst du zum Sprengen von Häusern, Autos oder sonst irgendwas verwenden. Mit der Kohle, die das Schwein, das ich umgebracht habe, mitgebracht hat, kannst du dir ein gabenreiches Weihnachtsfest gestalten. Nur bitte, bitte, lass' mich am Leben.“ Er sank auf die Knie in den Schnee und streckte Günter flehentlich die gefalteten Hände entgegen.

Günter war von dieser neuen Situation völlig überrascht. Bello nicht minder.

 

Frage an den Leser: Wie wird die Geschichte enden?

 

Das heiße Fräulein

In einem kühlen Grundeein heißes Fräulein liegt,sie hofft mit jeder Stunde,dass einer sie beliegt.

 

Ihr Herz ist voller Hoffen,im Busen ist ihr bang,ihr ist, als hätt' gesoffensie von des Amors Trank.

 

Mit raschem Schritte eiletein junger Mann herbei,er kurz auf ihr verweilet,dann ist es schon vorbei.

 

Sie fühlte von der Liebenur diesen Augenblick,so schnell dahin die Triebemit diesem raschen F...

 

 

Der Mauerspecht

Auch heute zog es mich wieder in den Stadtpark, die grüne Lunge unserer Stadt. Ich nahm auf einer Bank am Seerosenteich Platz. Die Sonne meinte es so gut wie gestern. Sie wusste um mein Verlangen. Der Himmel war blau und wolkenlos. Störend empfand ich allerdings die Kondensstreifen, die zwei Flugzeuge zurückgelassen hatten. Die Streifen zerflossen zu einem breiten Band und nahmen dem Himmel das Ungetrübtsein. Ich bekam das Gefühl, sie wollten Wolken bilden. Die würden dem Tag die Heiterkeit nehmen.

Ähnlich dachte wohl auch ein Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite des Seerosenteichs auf einer Bank saß. Er schaute unverwandt zum Himmel. Vielleicht sah er mehr als ich. Doch nicht das wunderte mich an ihm, sondern seine Kleidung. An diesem herrlichen Hochsommertag hatte er sich in wärmende Sachen gehüllt. Auf seinem Kopf trug er eine dicke Mütze. Sein Oberkörper steckte in einer Steppjacke. Auch seine Hose war nicht aus leichtem Textil. Seine Füße befanden sich – das konnte ich aus dieser Distanz ebenfalls erkennen – in hohen Schuhen. Vielleicht war der Mann nicht gesund. Oder war es sein hohes Alter, das ihn zu dieser Vorsicht zwang. Alte Menschen frieren schnell. Auch bei sommerlichen Temperaturen. Alt war er, das entging meiner Fernbetrachtung nicht. Sein Gesicht war von einem Bart bewachsen, der ihm bis in Bauchnabelhöhe reichte.

Ich bekam Mitleid mit dem Alten. Bei dieser Gefühlsregung wollte ich es nicht belassen. Ich erhob mich und ging um den Teich. Jedoch nicht so, als wäre er mein Ziel. Er sollte meine Neugier nicht bemerken. Ich ging an ihm wie ein Spaziergänger vorüber. Natürlich grüßte ich ihn. Diesen Augenblick des Grüßens nutzte ich, um mir ein rasches Bild von ihm zu machen. Es fiel krasser aus als das bereits vorhandene.

Er grüßte zurück, undeutlich, murmelnd. Die Bartdichte um seinen Mund verhinderte eine klare Aussprache. Als ich an meinem Ausgangspunkt wieder angelangt war und mich gesetzt hatte, überdachte ich das Gesehene. Es war nur ein kurzes Betrachten gewesen, ähnlich dem eines Photoschnappschusses.

Nachsinnend nahm ich ihn erneut in den Fokus meiner Betrachtung. Einer anderen Person hätte ich meine Aufmerksamkeit nicht widmen können, da keine andere am Teich saß. Abgesehen von mir natürlich.

Entweder war es mein allzu offensichtlicher Blick in seine Richtung oder mein freundlicher Morgengruß, der ihn veranlasste, auch mich ins Visier zu nehmen. Mir war das peinlich. Vielleicht glaubte er, meine Aufmerksamkeit sei aufdringlich. Eine solche Wertung meines aufrichtigen Empfindens wollte ich nicht zulassen. Hochmut oder herablassende Haltung waren meinem Charakter fremd.

Entschlossen erhob ich mich, um erneut den Teich zu umrunden. Als ich mich ihm näherte, verlangsamte ich meine Schritte. Kurz vor ihm verhielt ich, bückte mich und tat, als müsste ich ein Steinchen aus einem Schuh entfernen.

„Det wird so nicht gehen“, nuschelte er, „du musst den Schuh ausziehen.“

Ich nickte dankbar, als wäre mir sein Hinweis nützlich. Dass er mich mit 'du' angesprochen hatte, verringerte meine mitgeführte Befürchtung. Ich kam ihm mit gleicher Vertraulichkeit und fragte: „Sitzt du schon länger hier?“