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Die Lektüre der dreißig Kurzgeschichten soll keine zügellose Heiterkeit entfachen; sie soll schmunzeln machen. Wenn das auf Anhieb nicht gelingt, sollte das Lesen wiederholt werden. Der Binsenweisheit folgend: Doppelt hält besser!
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Veröffentlichungsjahr: 2020
… wie liegt sie doch so weit. So sang Oma mit dünnem Stimmchen, während sie einen Strumpf stopfte. Opa hätte sicherlich mitgesungen, wenn es ihn noch gäbe. Es war sein Strumpf, den Oma benähte. Er brauchte ihn zwar nicht mehr, doch Oma konnte von alter Gewohnheit nicht lassen.
Beim Kramen in alten Textilien entdeckte sie immer mal ein Stück, das mit Nadel und Garn bearbeitet werden musste. Jüngst überraschte ich sie, wie sie sich an meiner Jeanshose zu schaffen machte. Die ist dem Modetrend entsprechend an einigen Stellen, vor allem in der Kniegegend, durchlöchert. Als sie mich so „zerlumpt“, wie sie sich ausdrückte, sah, lief ihre Brille vor Fassungslosigkeit an.
„Mädchen“, meinte sie entsetzt, „weshalb hast du mir die Hose nicht zur Ausbesserung gegeben? Mit der musst du dich doch schämen..“
Vier Wochen wohnte ich bei Oma, weil meine Eltern in dieser Zeit irgendwo Urlaub machten. Sie hätten mich mitnehmen können, denn es waren Sommerferien, doch wollten sie mal ungestört ohne mich sein. Ständig warfen sie mir vor, ich nutze bewusst meine Pubertät, um ihre Nerven zu strapazieren. Dass ein Mädchen in der Periode beginnender Periode gegen elterliche Beschränkungen und Zwangsmaßnahmen aufbegehren würde, hätten sie wissen müssen, als sie mich schufen.
Fortpflanzung schafft zwar ein schönes Gefühl, sagte meine Freundin Jaqueline, die ihre Pubertät schon abgeschlossen hat, doch verpflichtet sie auch. Während sich die im Geschlechtsverkehr befindlichen Eltern dem Höhepunkt nähern, vergessen sie die Welt um sich her. Erst wenn sie nicht mehr übereinander, sondern geschafft nebeneinander liegen, wird ihnen klar, was sie angerichtet haben. Die Ehefrau fragt den Gatten verstört, ob das Kondom gefüllt sei. Er antwortet ebenso verstört, dass er ohne dies eingedrungen sei. Panische Angst packt beide. Nun rechnen sie aus, was in neun Monaten passieren wird. Sie solle froh sein, keine Ziege zu sein, tröstet er sie, die sei nur fünf Monate schwanger. Woher er das wisse, er habe es wohl auch mit einer Ziege getrieben, zürnt sie.
So oder ähnlich könnte es sich abspielen, erklärte Jaqueline, die in ihrer körperlichen Entwicklung uns Mädchen voraus ist. In der geistigen nicht. Intelligent ist sie nur in sexueller Hinsicht. Sie hat schon mit zwei Jungen geschlafen.
Zurück zu meiner gelochten Jeanshose. Weil sich Oma weigerte, sie mir zu geben, entriss ich sie ihr. Sie brach in Tränen aus. Ich entschuldigte mein Benehmen und nahm sie liebevoll in den Arm. Da sie nicht einsehen wollte, dass man mit einer kaputten Hose in der Öffentlichkeit bewundert wird, vor allem von den Jungen, gab ich sie ihr zurück. Mit Oma wollte ich es nicht verderben. Glücklich, endlich wieder stopfen zu können, begann sie sofort mit der Schließung der Jeanshosenlöcher. Mir passte das zwar nicht, doch nahm ich Rücksicht auf ihr empfindliches Alter und ihre angestaubte Vergangenheit. Während sie stopfte, wünschte ich mir, sie möge dieses oder jenes Loch lassen. Sie ahnte meinen stillen Wunsch und erzählte während der Lochschließung von der Zeit, in der sie und ihr Bruder geflickt die Kindheit erlebten.
Der 2. Weltkrieg war gerade beendet, als sie eingeschult wurde. Opa Emil, ihr Bruder, wurde zwei Jahre früher mit einer Zuckertüte versehen. Das Wort Zuckertüte war natürlich eine Übertreibung. In seiner Papptüte befand sich ein Apfel und eine verzierte leere Blechbüchse. Die sei für die Unterbringung gefangener Maikäfer geeignet, sagte man ihm. Früher hatte sie dem Opa meines Opas als Kautabakbüchse gedient. Die nutzte er später zur Aufbewahrung seiner Kaugummis und noch etwas später seiner Kondome.
Sie, also Oma, fand in ihrer Zuckertüte ein Spitzentaschentuch, in das schon Omas Oma geschneuzt hatte. Zusätzlich auch einen hölzernen Stopfpilz, der ihr Lust aufs Stopfen machen sollte. In jener Zeit gehörte das zum Pflichtprogramm deutscher Mädchen und Frauen. Viel lieber habe sie gekreiselt oder Hasche gespielt. Das sagte sie mit leichtem Seufzen und dann mit wehmütiger Stimme, dass die gute alte Zeit von Hunger und Entbehrung geprägt gewesen sei. Ihre Mutter hatte drei Mäuler zu stopfen, ihres und das ihrer beiden Kinder. Der Vater befand sich in Kriegsgefangenschaft. Kindheit sei dennoch die schönste Zeit.
Oma hatte inzwischen das größte Jeanshosenloch gestopft. Zufrieden biss sie den Faden ab und schob ihr nach außen gerutschtes Gebiss in den Mund zurück. Weil noch zwei Hosenlöcher offen waren, versuchte ich sie zu retten. Geschickt lenkte ich Oma vom Weiterstopfen ab und lenkte ihr Interesse wieder auf die gute alte Zeit, indem ich behauptete, ich fände sie beschissen. Sie knüpfte daran an und sagte, dass sie sich tatsächlich einmal beschissen hätte. Sie sei etwa sechs Jahre alt gewesen, als sie mal unreife Kirschen gegessen und anschließend Wasser getrunken habe. Die Schnorze (Dünnschiss, Durchfall oder Durchmarsch) habe sie zwei Tage lang geplagt. Das sei ihr eine Lehre gewesen, unreifes Obst zu meiden.
Weil ich sah, dass sie sich trotz meines Ablenkungsmanövers am nächsten Hosenloch zu schaffen machte, sagte ich, dass meine Freundin Jaqueline auch mal die Schnorze hatte und deshalb glaubte, sie sei schwanger. Erstaunt hielt Oma im Stopfen inne und fragte, ob ich schon mal geschnorzt habe. Rasch weitete ich diesen intimen Unterhaltungsbereich aus, damit sie das Weiterstopfen vergisst. Alte Leute vergessen leicht, wusste ich. Und tatsächlich, als sei ihr das Stopfzeug zu schwer geworden, legte sie es zur Seite und die Jeanshose auch. O Gott, wie sah sie aus? Wie das Beinkleid eines Obdachlosen und nicht mehr wie das eines modebewussten Teenagers. Noch aber waren zwei Löcher vorhanden – ein ganzes und ein halbgestopftes. Beide galt es zu retten, sollte ich mich in der Öffentlichkeit nicht vollends lächerlich machen. Ich würde behaupten, anderthalb Löcher seien Heidi Klums letzter Modeschrei.
Oma atmete schwer, als sie begann, über die sittliche Verderbtheit der heutigen Jugend zu sprechen. Mich nahm sie davon aus, da ich unter ihrem und Gottes Schutz stehe. Unter ihrem für vier Wochen jedenfalls. Um mir die keusche Reinheit ihrer Jugend bildlich zu machen, erhob sie sich und hinkte zum großen Esszimmerschrank. In ihm bewahrte sie das 12teilige Essgeschirr aus Meißener Porzellan auf, das ich mal erben sollte. Mit dem würde ich eine Oldie-Party veranstalten, wenn ich soweit war. Noch aber hatte ich vor mir, was ich einst hinter mir haben würde.
Omas Aufenthalt am Esszimmerschrank nutzte ich und versteckte rasch das Stopfzeug und die Jeanshose unter dem Sitzkissen des Sessels, auf dem ich saß. Als sie zurückkehrte, sah ich wie ein Unschuldslamm drein. Das gefiel ihr, und sie fand den Erfolg ihrer großmütterlichen Erziehung bestätigt. Sie ließ sich in ihrem Ohrensessel nieder und legte auf den Tisch, der zwischen uns stand, einen Schuhkarton. Ich glaubte, sie werde mir nun ein Paar Kinderschuhe aus Igelit zeigen, die sie damals jahrelang getragen hatte. Von solchen Schuhen hatte sie mal gesprochen, sie mir aber nicht gezeigt, weil sie das Pfeifen des Kochkessels auf dem Küchenherd davon abgelenkt hatte. Als sie mich dann fragte, wo sie stehengeblieben sei, antwortete ich, in der guten alten Zeit und ihrem Glauben an den Weihnachtsmann. Die Igelitschuhe hatte ich umgangen. Nun aber würde ich sie zu sehen bekommen.
Mit zittrigen Händen, wohl wegen des bedeutsamen Inhalts, öffnete Oma den Schuhkarton und entnahm ihm – alte Fotos.
„Donnerwetter“, entkam es mir beim Betrachten eines Bildes erstaunt, „du warst aber hübsch, Oma.
Du hattest Ähnlichkeit mit mir.“
Sie freute dieser Vergleich. Die jungen Frauen damals seien ungeschminkt hübsch gewesen, sagte sie. Heute würden die Tienacker - „Teenager“, verbesserte ich – mit Schminke nachhelfen.
Das Betrachten der Schuhkartonfotos nahm zwei Stunden in Anspruch. Begleitet wurde es von Omas Erklärungen. Ich hörte interessiert zu, weil ich so meine Jeanshose vor ihrer Weiterbearbeitung schützen würde. Der Bildinhalt des Schuhkartons lag fast vollständig auf dem Tisch, als Oma noch ein Foto fand. Kaum hatte es sie betrachtet, warf sie es, als hätte sie sich an ihm die Finger verbrannt, in den Karton zurück. Rasch schloss sie ihn mit dem Deckel. Das wunderte mich und machte mich neugierig. Was wollte sie verbergen? Weil ich ihr nicht wieder etwas gewaltsam entreißen wollte, rief ich: „Was macht denn die Spinne dort oben an der Lampe?“
Omas Blick glitt dorthin. Angestrengt versuchte sie, die Spinne zu entdecken, die es natürlich nicht gab. Ich nutzte diesen Augenblick und entnahm dem Schuhkartron das ominöse Bild. Fast hätte ich laut aufgelacht, als ich auf dem Schwarz-Weiß-Foto ein junges Mädchen sah, das ein Kleid anhatte, welches an zwei Stellen zerrissen war. Und zwar so schlimm, dass es den Schlüpfer freigab, aus dem zwei Gummibänder guckten, an denen zwei lange Strümpfe befestigt waren.
Oma richtete ihren Blick wieder auf mich und fragte, welche Spinne ich gemeint habe. Sie sah das Foto in meiner Hand und meinte lächelnd, dass ich es behalten dürfe, wenn es mir gefalle. Es sei lobenswert, dass ich mich für ihre bebilderte Vergangenheit interessiere. Überraschend rasch nahm sie es mir aus der Hand, um festzustellen, welchen Moment es zeige. Kaum hatte sie es vor Augen, erstarrte sie. Ihre Hand zitterte, als hielte sie eine Brennessel. Ihr Gesicht wurde noch blasser. Als sie ansetzte, es zu zerreißen, nahm ich es blitzschnell wieder in meinen Besitz. Sie röchelte und drohte, ohnmächtig zu werden.
„Oma, liebe Oma!“, rief ich besorgt, „was ist dir?“
Als hätte ich sie aufgeschreckt, löste sich ihre Starre. Verwundert sah sie mich an und fragte, wer ich sei. Ich nannte meinen Namen und sah, dass ihr ein Licht aufging.
„Ach du bist's“, sagte sie erleichtert. „Was machst du hier?“
Besorgt glaubte ich, Alzheimer habe sie heimgesucht. Dann sah sie das Foto in meiner Hand.
„Was hast du da?“, fragte sie, verlangte es aber nicht.
„Aaach“, sagte ich gedehnt, als wäre es ohne Bedeutung, „das ist ein Foto und zeigt ein zerlumptes Mädchen. Wahrscheinlich in der Nachkriegszeit.“
„Zerlumptes Mädchen?“, wiederholte Oma, sich in Gedanken vergrabend. Dann, als wäre ihr eine Erleuchtung gekommen: „Vielleicht bin ich das auf dem Bild. Ich hatte mal mein Kleid zerrissen, als ich vom Apfelbaum gefallen war, auf dem ich Äpfel gegessen hatte. Es gab ja nichts zu futtern. Ich schämte mich und hatte Angst, Mutti würde mich verhauen. Das tat sie nicht.“
Erleichtert, dass ihr Verstand wieder im Lot war, sagte ich: „Du hattest als Kind also zerrissene Klamotten an.“
„Klamotten waren das nicht“, korrigierte sie, „es war mein Kleid, dass Mutti mir wieder zusammennähte. Ich trug es bis zur Konfirmation.“
Sie legte den Zeigefinger an die Stirn, dachte kurz nach und sagte dann: „Als ich verheiratet war, habe ich oft die Socken meines Mannes gestopft. Auch an seinen Hosen musste ich manchmal Löcher schließen. Er war ein guter Mann, dem ich die Löcher verzieh.“
Mich beschlich das bange Gefühl, sie werde sich meiner Jeanshose erinnern, an der es noch etwas zu stopfen gab. Ihre Gedanken blieben jedoch an ihrem Mann haften, weshalb sie fortfuhr: „Leider lebt er nicht mehr. Du hättest ihn mal sehen sollen, er war ein fescher Mann. Er hätte dir auch gefallen.“
Ich unterließ zu sagen, dass er mein Opa war und ich ihm einige Male auf dem Schoß gesessen hatte. Oma wühlte heiter weiter in ihrer Vergangenheit und vergaß darüber meine Jeanshose.
So blieb sie vor ihrem weiteren Zugriff gerettet. Stolz trug ich sie nach Ende der Sommerferien mit den anderthalb Löchern. Die erinnerten mich an meine gute Oma und die von ihr erlebte gute alte Zeit.
Ein gewisser Teil des deutschen Volkes unterbrach alljährlich seinen jährlichen Tagesablauf und verließ für einige Zeit die vier Wände und Deutschland. Diese Volksgruppe trug die Bezeichnung Urlauber und ließ sich auf einem von Meerwasser umspülten Eiland nieder. Begehrte Eiländer waren Mallorca, Teneriffa und andere. Sie belasteten den Geldbeutel weniger als Hawaii oder Tahiti. Wenn die Urlauber, so auch ich, die heimatlichen Gefilde verließen, war der Teint blass. Kehrten wir in diese zurück, war er gebräunt. Sofern die Sonne schien. Diejenigen, die sich einer besonders intensiven Sonnenbestrahlung ausgesetzt hatten, waren von den Insel-Bewohnern kaum zu unterscheiden. Auf sie freute sich der Hautarzt besonders. So lange sie die Originalhaut frei von Ausbesserungen trugen, so lange zogen sie bewundernde und auch neidvolle Blicke auf sich. Wind und Wetter, auch Seeigel hatten an mancher Urlauberhaut ihre Narben hinterlassen. Winde, die den Körper nur sacht umfächelten, waren beliebt. Winde, die dem Mastdarm einer nebenan liegenden Person entfuhren, waren verpönt.
Der Tag begann für den Urlauber nicht so entspannt, wie er sich ihn wünschte. War das Frühstück eingenommen, hastete er an den Strand, um einen der dort stehenden Liegestühle in Beschlag zu nehmen. Am liebsten hätte er seine Besetzung mit einem draufgelegten Handtuch kenntlich gemacht. Doch Handtücher sind leicht zu entfernen. Hatte der Sonnenhungrige dennoch einen Liegestahl in seinen Besitz gebracht, ließ er sich auf diesem nieder und betrachtete siegreich und entspannt das nähere Umfeld. Anschließend dann das plätschernde Meer. Seine Glückshormone suggeriertem ihm: Endlich für zwei Wochen wieder m Busen der Natur. Geriet ein wohlgeformter weiblicher Busen ins Blickfeld, wurde dem die Aufmerksamkeit zuteil.
Es gab mallorcinische Strandabschnitte, die die Bezeichnung Teutonengrill trugen. Nicht zu Unrecht, denn an ihnen schmorten germanische Fleischhaufen in der Sonnenglut. Von ihnen gingen penetrante Gerüche aus, dem Bratfettduft ähnlich. Weil ich kotzen musste, verließ ich den Strand, um mich andernorts ästhetisch zu übergeben. Auch das war eine Methode, überflüssige Pfunde los zu werden. Mir gelang das in der Folgezeit so gut, dass ich vor dem Rückflug vom Zoll skeptisch zurückgehalten wurde. Die Beamten bezweifelten meine Identität, als sie meine skeletthafte Erscheinung mit dem Foto in meinem Reisepass verglichen. Glücklicherweise befand sich eine Person in der Nähe, die nahe meines heimatlichen Wohnhauses wohnte. Sie bestätigte meine
verzweifelt vorgebrachten Beteuerungen, dass ich ich sei. Nur etwas abgemagert.
Zu Hause fraß ich mir die fehlenden Pfunde wieder an. Man grüßte mich wieder freundlich. Ich war in die zivile Gesellschaft aufgenommen. Den nächsten Urlaub wollte ich in Norwegen oder Finnland verbringen. Dort müsste ich eine Skelettierung nicht fürchten.
Der Warteraum des Zahnarztes Dr. Schmerzlich war schwach besetzt. In ihm befanden sich zwei Personen: ein 12jähriger Knabe und eine ältere Frau zwischen 60 und 70. Sie saßen sich gegenüber und blickten sich stumm an. Im Behandlungsraum, aus dem normalerweise Schmerzensschreie zu hören waren, herrschte ebenfalls Stille. Dr. Schmerzlich nahm sein Frühstück ein. Weil Stille erdrückend sein kann, begann die ältere Frau eine Unterhaltung.
„Fürchtest du dich vor der Zahnbehandlung?“, fragte sie den Knaben.
Er parierte mit der Gegenfrage: „Fürchten Sie sich?“
Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sagte, dass sie sich gefürchtet hatte, als sie noch Zähne hatte. Der Knabe konzentrierte seinen Blick auf ihren faltigen Mund. Er wusste, dass man ohne Zähne nicht sprechen kann. Nicht deutlich jedenfalls. Sie hatte aber deutlich gesprochen, also gelogen.
„Sie haben die Wahrheit gemieden“, meinte er direkt, „man darf nicht lügen.“
Die Frau wunderte diese Anschuldigung. „Weshalb soll ich gelogen haben?“, fragte sie.
Entweder stellt sie sich dumm oder sie ist es, konstatierte der Junge. Alte Leute können nicht mehr klar denken. Das hatte Herr Alzheimer festgestellt. Der Knabe war ein kluger Kopf, fast der Klügste in der Klasse. Ihn überragte lediglich Jaqueline Schulz. Aus seiner Sicht war sie eine blöde Ziege, die eingebildet, aber nicht gebildet war. Ihr aufreizendes Aussehen stimulierte den Klassenlehrer, sie bevorzugt zu behandeln. Er war nicht verheiratet. Vielleicht wollte er sie heiraten, wenn sie reif dafür war. Das sagte der Knabe der alten Frau aber nicht. Sie hätte ihn womöglich geringgeschätzt.
Ihr dauerte das Schweigen des Jungen zu lange. „Nun“, wiederholte sie ihre Frage, „weshalb soll ich gelogen haben?“
Er erklärte ihr, dass ein zahnloser Mensch undeutlich spricht. Sie lachte, entnahm ihrem faltigen Mund zwei Gebisshälften – eine untere und eine obere – und hielt sie ihm beweisführend entgegen. Angeekelt schloss er die Augen, weil er losgelöste Zähne noch nie gesehen hatte. Vielleicht schraubt sie auch die Nase ab und nimnmt die Augen aus dem Kopf, fürchtete er. Alte Menschen sind zu allem fähig. In deren Innerem stecken verschiedene Ersatzteile, zum Beispiel Herzschrittmacher, Gelenke aus Kunststoff und ähnliches. Er war froh, noch nicht alt zu sein.
Die Frau ließ die Gebisshälften wieder im Mund verschwinden.
„Du wirst dich nun fragen“, sagte sie, „weshalb ich den Zahnarzt aufsuche. Zähne kann er mir nicht mehr ziehen und auch nicht bohren.“
„Er wird überprüfen, ob ein Zahn locker ist“, vermutete der Junge.
„Nein, nein“, verneinte die Frau, „er soll überprüfen, ob mein Gebiss noch passt und nicht klappert.“
„Wenn Sie den Mund halten, kann es nicht klappern.“
Diese Logik des Knaben verstand sie als fürwitzige Beleidigung. Ob er von den Eltern oft ausgeschimpft oder geohrfeigt werde, wollte sie wissen. Oft nicht, entgegnete er, hin und wieder schon. Das habe sicherlich seinen Grund, wollte sie ihn zur Offenheit zwingen.
„Den hat es“, gab er zu, „Mutti und Vati befinden sich in einer kritischen Phase.“
„Kritische Phase?“, staunte sie.
„Jawohl, sie befinden sich in der Abwehrhaltung meiner Pubertät. Das bereitet ihnen Probleme“, entgegnete er.
„Du bist häufig ungezogen, das zwingt sie zur Kritik an deinem Verhalten“, vermutete sie.
„Manchmal bin ich auch artig; dennoch suchen sie Streit.“
„Das glaube ich nicht“, meinte sie entschieden. „Auch ich befand mich vor einigen Jahrzehnten in der Pubertät, verhielt mich in dieser aber ordentlich. So schwer mir das auch fiel.“
Er machte ein nachdenkliches Gesicht und erklärte dann altklug, dass Frauen anders ticken als Männer. Männer seien entschlossener, willensstärker und unnachgiebiger. Diese Eigenschaften formten sich in ihrer Pubertät.
Als sie zu einem verächtlichen Lachen ansetzte, schaute aus dem Behandlungsraum eine hübsche junge Arzthelferin und bat den nächsten Patienten zum Doktor.
„Wegen ihr suche ich den Dentisten auf“, grinste der Knabe und betrat das Behandlungszimmer.
„Würden Sie bitte ihre Zärtelei beenden und näher treten“, verlangte der Mann, der hinter einem Schreibtisch saß. Er war bebrillt, mittig gescheitelt, rasiert und korrekt gekleidet. Der Duft seines männlichen Parfüms stieg den beiden Angesprochenen erst in die Nase, als sie auf zwei Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatten. Erwartungsvoll sahen sie ihn an. Prüfend sah er zurück.
Als er die Musterung vollzogen hatte, sprach er näselnd, als hätte er Polypen: „Ich freue mich, dass sie zu mir gefunden haben, Herr und Frau Rieschel.“
„Er ist Herr Rieschel“, sagte die Frau, „ich bin die Frau Altmann.“
„Was Sie nicht sagen“, nahm er die Korrektur verblüfft entgegen. Alt sieht sie nicht aus, sagte er sich und ließ seinen Blick länger auf ihr als auf ihm ruhen. „Sie führen einen unterschiedlichen Familiennamen. Das lässt vermuten, dass sie beide nicht das gleiche Bett teilen.“
„Noch nicht, wir möchten es aber in Bälde“, sagte der Mann.
Mit der würde ich es auch gern teilen, dachte Psychiater Justus Macke lüstern und ließ seine Zungenspitze sehen. Die Frau wertete diese plumpe Anmache als geile Schweinerei. Der soll seine Frau bumsen, grollte sie innerlich.
Justus Macke erkannte die Abwehrhaltung der Frau und kehrte deshalb zurück zu seiner beruflichen Aufgabe als Psychiater.
„Sie sind zu mir gekommen“, sprach er, „um sich seelisch aufrichten zu lassen. Ihrer schriftlich eingereichten Bitte entnehme ich, dass sie unter der Zweiteilung ihres seelischen Empfindens leiden. Sie wollen, dürfen aber nicht. Der angetraute Ehepartner verhindert ihre Annäherung.“
„So ist es“, gestand der Mann, „darunter leiden wir beide sehr.“
Die Frau unterdrückte ein Schluchzen.
„Deshalb entschieden wir uns, unseren gemeinsamen Kummer Ihnen als stadtbekanntem Seelenklempner vorzustellen“, fügte der Mann hinzu.
Herrn Mackes Gesicht wurde streng, als er sagte, dass seine Berufsbezeichnung Psychiater und nicht Seelenklempner sei. Der Mann entschuldigte seinen sprachlichen Ausrutscher. Die Frau begann zu schluchzen.
„Nun, nun“, beruhigte Macke und lächelte gütig, „es gibt Schlimmeres als einen verspäteten Liebeskummer.“
„Verspäteten Liebeskummer?“ Des Mannes Stimme wurde bedrohlich. „Unsere Zuneigung ist taufrisch. Sie nahm ihren Beginn während der betrieblichen Weihnachtsfeier.“
„Weihnachten war vor acht Monaten“, errechnete Justus Macke unter Zuhilfenahme seiner acht Finger. Zwei hatte er bei der Schließung der Autotür verloren. „Unter taufrisch verstehe ich einen kürzeren Zeitraum.“
Die Frau verstärkte ihr Schluchzen. Justus entnahm der Stärke ihres Flennens, dass es überwiegend gespielt war. Dennoch hielt er ihr ein Papiertaschentuch hin. Ihr würde das Funzen vergehen, wenn sie mit mir im Bett läge, lenkte er seine Gedanken in diese Richtung. Wieder ließ er seine Zungenspitze sehen. Frau Altmann unterbrach das Schluchzen und hob blitzschnell den Stinkefinger. Er wertete das als visuelles Einverständnis für einen gemeinsamen Geschlechtsakt.
Herr Rieschel hatte inzwischen gedanklich erfasst, dass ein achtmonatiger zeitlicher Abstand nicht als taufrisch gelten kann.
„Ein paar Tage mehr oder weniger fallen doch nicht ins Gewicht“, entschuldigte er seine Fehlrechnung. „Ein Baby braucht neun Monate, um ein Säugling zu werden. Wenn es zur Welt kommt, ist es taufrisch geboren.“
„Ich verstehe“, sagte Justus Macke, „sie möchten ihre körperliche Kontaktnahme für die Schaffung eines Kindes nutzen.“
Der Mann und die Frau verblüfft: „Woher wissen Sie das?“