Buch der Büßer - Walter Nigg - E-Book

Buch der Büßer E-Book

Walter Nigg

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Beschreibung

Walter Nigg spürt im Buch der Büßer die Wirren, Ängste und Probleme im Leben von neun berühmten Persönlichkeiten auf und zeigt in lebendiger Beschreibung, daß es die gleichen Wirren, Ängste und Probleme auch des heutigen Menschen sind. Er zeigt aber auch, wie sie überwunden werden können: durch Einsicht. Auf seinem Gang durch die Jahrhunderte läßt Walter Nigg den Leser an Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen teilnehmen, deren Leben exemplarisch genannt werden kann.

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Seitenzahl: 382

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Walter Nigg

Buch der Büßer

Neun Lebensbilder

Diogenes

Der Mensch weigere sich nie, von ganzem Herzen zum Herrn zurückzukehren, selbst wenn er viele Sünden begangen hat, und verzage nie an der Barmherzigkeit des Himmels; denn durch die Buße gelangt er dazu, daß ihm verziehen und vergeben wird.

Das lehrt uns das Beispiel Eleasars, des Sohnes Tardais’, der zeit seines Lebens fremden Göttern diente und der keine Hure vorbeigehen ließ, ohne zu ihr einzugehen; es gibt keine Sünde, die er nicht getan hätte, und das Werk seiner Tage bestand aus Missetat und schweren Vergehen. Aber eines Tages überkam ihn die Reue; er bedauerte sein Tun und trat den Weg der Umkehr an; er klemmte sein Haupt zwischen die Knie und weinte laut, bis seine Seele dem Körper entstieg. Da erscholl eine himmlische Stimme und rief: Eleasars, des Sohnes Tardais’ Buße ist angenommen worden, und ihm ist ewiges Leben beschieden!

Daher heißt es: Manch einer erringt das zukünftige Leben in einer Stunde, manch einer erwirbt es in siebenzig Jahren, aber beide gelangen dazu nur durch Buße. Nicht nur wird die Buße des Sünders entgegengenommen, sondern es wird ihm die Ehrenbenennung Rabbi beigelegt.

 

AUS DEM «BORN JUDAS»

EINLEITUNG: UNBEWÄLTIGTE UND BEWÄLTIGTE VERGANGENHEIT

I

Ein merkwürdiger Anblick bietet sich uns, wenn in Arthur Millers Schauspiel «Der Preis» der Vorhang sich teilt:Wir sehen eine Dachwohnung voller alter Möbel. Schränke, Stühle und Tische sind übereinander gestapelt, altmodisches Zeug liegt herum, Dinge, die einst als vornehm galten und heute eine lächerliche Geschmacklosigkeit verraten. Die verstaubte Unordnung deutet das chaotische Durcheinander an, das die meisten Menschen in ihrer Seele herumtragen: unverdaute Erinnerungen und unverarbeitete Erlebnisse. Der Zuschauer glaubt, in ein sphinxhaftes Dasein hineinzublicken und wird jedenfalls nicht von einem fragwürdigen Bühnenzauber fasziniert.

Zwei Brüder treffen sich nach sechzehn Jahren in diesem unwohnlichen Raum, weil das elterliche Mobiliar wegen Hausabbruchs verkauft werden soll. Sie schauen sich die alten Gegenstände an, mit denen sich Assoziationen an frühere Begebenheiten verbinden, und kommen dabei auf ihre Vergangenheitskonflikte zu sprechen. Viktor verzichtete einst auf das Studium und ergriff den für ihn unbefriedigenden Beruf eines Polizeimannes, um seinem zahlungsunfähigen Vater zu helfen. Walter beschritt eine erfolgreiche medizinische Laufbahn, erlebte jedoch Schiffbruch in seiner Ehe; er baute sich nach einem Nervenzusammenbruch schließlich eine neue Praxis in einem Negerviertel auf. Die beiden Brüder stehen sich bei der unerwarteten Begegnung fremd gegenüber. Sie versuchen, den Weg zueinander zu finden, und stoßen dabei auf ungeahnte Schwierigkeiten. Die Vergangenheit, die zu übersteigen sie nicht fähig sind, steht trennend zwischen ihnen, um so mehr, als sie einander nichts Tieferes zu sagen haben und nur die früheren Erlebnisse zergliedern wollen. Die Zeit erweist sich als etwas Furchtbares. Jeder hält dem andern sein früheres Verhalten vor, angefangen mit den Entwicklungsjahren und den damit verbundenen Reaktionen. Walters Sprung über die Vergangenheit scheitert an der Sturheit Viktors, der zu vergessen nicht bereit ist. «Er ist zehn Minuten hier, und ich kann nicht achtundzwanzig Jahre meines Lebens einfach wegwischen», klagt der sich um sein Leben geprellt fühlende Bruder und wird darin von seiner Frau Esther unterstützt. Der versierte Arzt anderseits ist nicht willens, seinem Bruder das pharisäisch gefärbte Verhalten gegenüber dem Vater abzukaufen, weshalb es in der Auseinandersetzung immer wieder zu harten Zusammenstößen kommt. Es ist die alte Geschichte vom Bruderzwist, neu erzählt. Der bestellte greise ostjüdische Antiquitätenhändler Gregory Salomo mischt sich mit seinem fremdländischen Akzent ins Gespräch. Er ist vor allem daran interessiert, das nicht mehr benötigte Mobiliar zu einem billigen Preis zu erstehen, während die beiden Brüder den von ihnen geforderten Preis der Vergangenheitsbewältigung nicht zu bezahlen bereit sind. Zwar bemerkt Viktor:« Man muß einen Preis für alles bezahlen. Ich habe ihn bezahlt, du auch.»1 Dies redet er sich ein, es entspricht nicht der Wirklichkeit, und das Schauspiel endigt damit, daß sich die beiden Menschen in der gleichen ablehnenden Haltung trennen, in der sie sich zu Beginn getroffen haben.

Arthur Miller schrieb ein beunruhigendes Schauspiel; mit seiner Gesellschaftspsychologie bewegt es sich in den Fußstapfen von Ibsen. Wenn auch nur vier Personen auf der Bühne zwischen dem verstaubten Hausrat hindurchgehen, langweilt sich der Zuschauer nie, weil die Frage nach der Verantwortung und die psychologischen Gespräche fesseln. Die Vergangenheit wird von den verschiedensten Seiten angebohrt und erweist sich als eine unübersteigbare Mauer. Außerdem werden mannigfache gesellschaftskritische Probleme erörtert; der Verschleiß der heutigen Konsumgüter beispielsweise wird treffend bloßgestellt. Bei dem Feilschen um den Preis für das alte Mobiliar blitzen die Augen der verbitterten Esther in unheimlicher Geldgier auf, die Prestigesucht tritt erschreckend hervor; selbst das Haschen nach dem bißchen Vergnügen macht sich immer wieder bemerkbar. Obwohl sich alles in einem einzigen Raum abspielt und das Gespräch in zwei Stunden zu Ende ist, wird das Leben mit seinen Hintergründen doch von mehreren Aspekten her aufgerollt und seine Rätselhaftigkeit dem Zuschauer vor Augen gerückt. Auch unterläßt Miller alle zynischen Bemerkungen, mit denen viele moderne Schriftsteller glauben, ein Publikum erschrecken zu müssen, das doch schon lange über alles Erschreckende hinaus ist.

In seinem Schauspiel stellt Miller das Problem der Vergangenheit des Menschen zur Diskussion – er tut es auf eine eindringliche Weise. Er zeigt, wie der Mensch immer wieder zu dieser Frage zurückkehrt, weil sie für ihn meist eine quälende Angelegenheit ist. Der Mensch kann eine ihm unbequem gewordene Vergangenheit bewußt verdrängen, indem er sich vornimmt, nicht mehr an sie zu denken. Es geschieht auch, daß er sie verteidigt: Es ist nicht so schlimm gewesen, andere haben noch Schlimmeres getan! Was aber ist mit diesen Selbstrechtfertigungen gewonnen? Anscheinend will der Mensch sich selbst treu bleiben, in Wirklichkeit verbleibt der Ungewandelte bei diesen Beschönigungsversuchen im besten Fall« auf der Suche nach der verlorenen Zeit» [Proust]. Die Vergangenheit setzt sich oft auch aus lauter Enttäuschungen zusammen, und wiederum steht der Mensch vor der Frage: Wie werde ich mit den unerfüllten Sehnsüchten fertig? Manchmal verbittern sie ihn, was eher eine Vergiftung der eigenen Person und keine Bewältigung der Vergangenheit ist. Der Mensch kann das erdrückende Gewicht der Vergangenheit nicht abwälzen, wenn er in seiner innerweltlichen Betrachtung verharrt. Übermächtig ist das Problem, dessen Lösung ihm aufgetragen ist und die er doch nicht zu finden vermag. Ob der Mensch einsam an den Wassern Babels trauert, ob er sich im dichten Großstadtgewühl zu zerstreuen sucht oder sich in Millers Möbelraum mit seinem Bruder trifft, immer bedrängt ihn die Vergangenheit, er kann ihr nicht entlaufen noch sich von ihr ablösen. Auf dem nächtlichen Lager holt sie ihn ein, weckt in ihm das Gefühl, er habe im Leben alles falsch gemacht und habe auf der ganzen Linie versagt. Wer in seinem Dasein Fehltritte gemacht hat, auf den wird mit dem Zeigefinger gewiesen, selbst wenn die Tat schon viele, viele Jahre zurückliegt. Bedrückt empfindet er es als eine unerträgliche Zumutung, daß er sein ganzes Leben mit der Korrektur der einen Dummheit zubringen soll; Vergessenkönnen ist sein sehnlichster Wunsch. Aber merkwürdig, die andern Menschen wollen nicht vergessen, und seine Bemühung läuft auf eine bloße Verdrängung hinaus, wodurch das Problem in anderer Form am nächsten Tage erneut vor der Tür seines Lebens steht. Die Vergangenheit klebt am Menschen, er kann nicht einfach aus ihr herausschlüpfen wie die Schlange aus ihrer Haut. Red’ und Antwort muß er stehen, verpflichtet ist er, die Vergangenheit zu durchleuchten und zu bereinigen. Doch ist er dazu nur in den seltensten Fällen befähigt. Und die Vergangenheit seiner Nation vermag er überhaupt nicht zu bewältigen, sie übersteigt in ihrem gigantischen Ausmaß das Individuum. Die Kraft eines einzelnen Menschen reicht nicht aus, er zerbricht daran. Mag diese Aufgabe ihn auch überfordern, er muß für seine Vergangenheit einstehen, und niemand kann ihm diese Verantwortung abnehmen.

Miller stellt das Problem der Vergangenheit überaus anschaulich vor den Zuschauer hin, aber auch er vermag es nicht zu bewältigen. Trotz der anständigen Gesinnung des amerikanischen Autors hinterläßt das Schauspiel «Der Preis» einen unbefriedigenden Eindruck. Zwar werden ab und zu erhellende Worte gesprochen: «Lesen Sie die Bibel … Sie werden sich wundern …»2, aber derartige Lichtblitze erlöschen sofort wieder und bleiben ohne Folgen. Miller führt eindringlich aus, daß der Mensch nicht fähig ist, seine Vergangenheit zu ordnen, sondern in seiner muffigen Bodenkammer gefangen bleibt. Der Antiquitätenhändler bezahlt für das alte Mobiliar elf hundert Dollar, damit ist seine Funktion beendet. Die beiden Brüder finden sich nicht zur Versöhnung bereit. Ihre Vergangenheit ist ein zu tiefer Graben, ihn zu überspringen sind sie unfähig. Es bleibt alles in der durch die übereinander geschichteten Möbel symbolisierten Unordnung. Miller zeigt unmißverständlich, wie der Mensch seine bedrückende Vergangenheit weiterschleppt. Selbst am Schluß des Schauspiels erzählt der ostjüdische Händler keine chassidische Anekdote, die die Brüder nachdenklich stimmen könnte. Der Schriftsteller empfindet die Frage überdeutlich und ist doch nicht imstande, sie zu beantworten. Er gesteht im Nachwort offen und ehrlich: «Ich weiß auch keine Lösung.»3 Zwar neige er dazu, «das Leben vom Rand des Grabes her zu sehen», von dort also, wo sich sonst Antworten einzustellen pflegen, die man im Strudel des Lebens überhört4. Aber im Schauspiel bemerkt man nichts davon. Statt dessen läßt Miller den Antiquitätenhändler zum Schluß eine ausgeleierte, kitschige Schallplatte auflegen, eine Musik, die bei diesem ein Gelächter auslöst. Was dieser Hohn bedeutet, kann dem Zuschauer nicht fraglich sein, wenn der Vorhang fällt.

Millers Unvermögen, eine Vergangenheit zu bewältigen, darf ihm nicht als persönliches Versagen angelastet werden. Er ist mit seiner Remis-Haltung ein Repräsentant der modernen Literatur, seine Einstellung ist für sie kennzeichnend. Die Gegenwartsliteratur bekennt sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bewußt zum Verzicht auf eine Lösung und behauptet, es sei weder Aufgabe der Dichtung noch der Malerei, eine inhaltliche Aussage zu wagen. Nach der heutigen Ästhetik hat die Literatur bloß Fragen aufzuwerfen, sie selbst stellt auch alles in Frage. Nichts bleibt verschont oder ausgeklammert. Alle Ausführungen verharren im Bereich der Diskussion, man will sich auf nichts festlegen, und jede Möglichkeit soll offengelassen werden. Der Versuch einer Antwort gilt als überholt, er käme auf eine Lehre, eine Moral oder gar eine Predigt hinaus – und damit geriete sie in Widerspruch zum Geist der Moderne, der es liebt, sich hinter Kritik und Verblüffungen zu verstecken. Das klägliche Geständnis vieler Schriftsteller und Künstler, sie seien selbst auch nur ringende Menschen, wirkt wenig überzeugend, denn wer eine Aussage in der Öffentlichkeit macht, erhebt doch den Anspruch, zu einer gewissen Klarheit gekommen zu sein. Wenn nicht, würde er besser vorerst noch schweigen.

Gewiß ist mit einer billigen Antwort niemandem gedient; man verzichtet gerne auf eine sentimentale Lösung der Vergangenheitsfrage, die sich vor der harten Realität des Lebens ohnehin in nichts auflöst. Prinzipiell keine Antwort zu geben, verrät jedoch, daß man mit dem ernsthaften Nachdenken nicht begonnen hat oder seiner vorzeitig müde geworden ist. Der Verzicht auf Lösung, zum Prinzip erhoben, ist ein Feigenblatt, hinter dem man die Blöße des metaphysischen Unvermögens verbergen möchte. Man gibt keine Antwort, weil man keine zu geben imstande ist – dies ist die Diagnose der modernen Literatur. Eine sichtliche Kraftlosigkeit darf aber niemals zu einer modernen Errungenschaft umgebogen werden. Der Mensch greift zu einem Buch oder geht in das Theater, um zu erfahren, wie der Dichter sein Problem löst. Wüßte der Interessierte im voraus, daß er keine Antwort erhält, würde er sich wahrscheinlich die Auslage ersparen. Zudem sind die wenigsten Menschen geistig in der Lage, eine schwierige Lebensfrage selbständig durchzudenken und zu beantworten. Sie werden von einem Problem wohl berührt, aber sie legen es unbewältigt auf die Seite, weil ihnen die Anleitung fehlt, in welcher Richtung sie nach einer Lösung zu suchen haben. Der Mensch ist sich selbst überlassen und gerät darob in eine immer tiefere Ausweglosigkeit hinein. Es gehen von der Literatur keine heilenden Kräfte mehr aus, sondern sie bedarf selbst der Heilung. Die moderne Literatur – Miller zeigt es deutlich – ist das Produkt einer antwortlosen Zeit, die von ihr nasegeführt wird. Sie leistet dieser Zeit keineswegs avantgardistische Dienste, wie sie es sich mit ihrer verbreiteten Diskussionssucht einredet. Eine Literatur ohne Wegleitung vergrößert die Dunkelheit einer desorientierten Welt. Die Ratlosigkeit wird zunehmen, und die innere Unordnung des Menschen wird krasser werden. Der Verzicht auf Antwort ist eindeutig ein Unglück und zugleich eine der schwersten Nöte der Gegenwart. Traurig ist diese Feststellung, unendlich traurig, weil aus dieser Verwirrung zuletzt eine geistige Katastrophe hervorgehen muß.

II

Einen anderen Weg beschritt Dostojewski in seiner Dichtung «Rodion Raskolnikoff». Er eröffnet eine neue Sicht vom Vergangenheitsproblem; jedenfalls weicht das Gefühl des Unbefriedigtseins, obwohl Dostojewskis Roman in eine Traurigkeit eingehüllt ist, die von keinem Lachen erhellt wird. Die dunkle Färbung ist durch das namenlose Leid bedingt, das über diese bedrängende Erzählung ausgebreitet ist. Seltsamerweise hat die von den Gaslampen der Petersburger Straßen grünlich beleuchtete Traurigkeit des russischen Lebens etwas Tröstliches in sich, das rational nicht zu erklären ist. Im vorliegenden Zusammenhang wird nicht die ganze Fülle des Raskolnikoff-Romanes entfaltet. Der Blick richtet sich vereinfachend auf die beiden Hauptgestalten.

Rodion Raskolnikoff ist ein von Stolz, Hochmut und Verachtung erfüllter Student, der vom Fanatismus einer Idee besessen ist. Mit einer haarscharfen Dialektik denkt er unablässig über das Problem nach: «Wird nicht ein einziges unbedeutendes, winziges Verbrechen durch Tausende guter Taten wettgemacht?»5 Hoffnungslos verstrickt sich Rodion in seine unreife Idee, die mit ihrem verkappten Machtstreben bereits im Ansatz verfehlt ist. Rodion ist von einem modernen Lebenshunger erfüllt und nähert sich mit seinem Mordgedanken doch immer mehr dem Tode. Leben wollen und dennoch den Tod zweier Menschen verursachen, ist mehr als ein tragischer Widerspruch. Die Notwendigkeit der Beseitigung der alten Wucherin wird bei ihm zur Zwangsvorstellung, und schon der Gedanke daran läßt sein Herz stärker pochen. Seine dialektische Rabulistik stürzt ihn in den Abgrund; oft gerät der Mensch trotz allem Scharfsinn in eine ausweglose Situation hinein. Doch ist nicht Rodions Frage, «ich will wissen, ob ich eine zitternde Kreatur bin oder das Recht habe», das eigentliche Problem des Romans. Zwar mutet Rodions Fragestellung nach Dostojewskis eigener Aussage modern, sogar ungeheuer modern an, denn auch in der Gegenwart wollen viele Menschen eine neue Gesellschaftsordnung aufbauen, selbst wenn sie dabei zahllose Gegner «liquidieren» müssen. Vielmehr ist die tiefere Frage der Dichtung Rodions Versuch, «seine ganze Vergangenheit mit einer Schere abzuschneiden»6, um dadurch mit seinem begangenen Verbrechen fertigzuwerden.

Schildert Dostojewski in Rodion nicht einen Mörder, der seinem Wesen nach gar kein Verbrechertyp ist? Dem Einwand kann nicht jede Berechtigung abgesprochen werden. Rodion ist kein Gewohnheitsverbrecher, sondern ein junger Mensch, der sich mit der Dialektik eingelassen hat und von ihr zum Verbrechen geführt wird. Der Zusammenhang von Dialektik und Verbrechen ist nicht nur für Rodion verhängnisvoll; er hat sich im Schicksal Rußlands wiederholt, als es sich dem dialektischen Materialismus verschrieb. Gerade der Umstand, daß Rodion nicht der Typus des Kriminellen ist und doch etwas Schreckliches getan hat, ruft nach einer Deutung, die psychologisch nicht auszumachen ist. Der Mensch, der seinem Leben in die Augen schaut, es offen, scharf, sich nichts vormachend anschaut, nimmt zuletzt die Schuld seines Daseins wahr. Er verstrickt sich in Schuld, sie klagt ihn innerlich an, drückt ihn zu Boden, mag er sich wie Rodion noch so lange gegen diese Einsicht wehren. Es ist unmöglich zu leben, ohne schuldig zu werden. Der Mensch wird mit der Erbschuld geboren; obwohl diese Aussage bereits heftigen Anstoß erregt, wird er sich «selbst ohne dieses unverständlichste Mysterium unbegreifbar»7. Pascal hat mit seinen Ausführungen richtiger gesehen als die sich gegen die Erbsünde auflehnenden Bestreiter. Bei aller Behutsamkeit übertritt der Mensch die ewigen Gebote, schuldlos wird er schuldig. Die Schuld ist mit dem Dasein gegeben; daß der Mensch geboren wird, macht ihn nach der griechischen Tragödie schuldig. Schon Äschylos und Sophokles haben das Schuldproblem, das mit der Vergangenheit unlösbar verknotet ist, in seiner Unentrinnbarkeit erschütternd entfaltet. Der Mensch ist der Schuld verhaftet; er bleibt es auch dann, wenn er sie leugnet und sich ihr entziehen will. Unmöglich kann er ihr entweichen, sie holt ihn immer wieder ein. Stets hat es der Mensch mit seiner eigenen, persönlichen Schuld zu tun, und nicht mit der Schuld seiner Mitmenschen . Sobald er die Schuld von sich auf den andern abwälzt, beginnen der Unernst und zugleich der schuldhafte Fluchtweg. Von der Schuld ist nicht abzusehen: der Mensch kann sie nur auf sich nehmen und darf sie nicht von sich schieben. Ins Bodenlose führt das Selbstgespräch Rodions über die Schuld seines Lebens, es beginnt sich erst aufzuhellen, als er den Weg zu Sonja antritt. Sie schien ihm einst, während sie ihm auf seinen Wunsch zitternd die Auferweckung des Lazarus vorlas, «religiös wahnsinnig» zu sein, und dennoch spürte er ihren Glauben: «Das ist ihr Ausweg! Das ist ihre Lösung.»8 Die gemeinsame Bibellektüre von Dirne und Mörder ist eine einmalige Szene, die der Verleger ursprünglich gestrichen haben wollte, da sie aller bürgerlichen Kirchlichkeit ins Gesicht schlug.

Sonja ist die positive Gegenspielerin zu Rodion. Mit ihr schuf der Dichter eine Gestalt, die nicht durch ihr Äußeres den Leser gefangennimmt. Geradezu lächerlich wirkt ihre billige Kleidung samt der Schleppe und dem Strohhut mit der feuerroten Feder. Eindruck macht vielmehr ihre innere Schönheit: sanft und wehrlos, seltsame Kindlichkeit mit stillen Augen. Sie ist eine der ergreifendsten Mädchenfiguren der Weltliteratur, eine wahrhaft sophianische Gestalt, ein unscheinbares Geschöpf voll grenzenlosen Mitleids. Mit ihrem bleichen und erschrockenen Gesichtchen ist sie dem Lasterleben preisgegeben und dabei doch vom Unsichtbaren behütet, so daß sie in allem Ausgesetztsein begreift, daß Rodion mit seinen hybriden Fragen nie etwas verstehen wird. Das schutzlose Mädchen gehört zu den Unauffälligen; um sie leuchtet ein rembrandtähnliches Licht auf, das die Dunkelheit ihres Daseins erhellt. Bedeutsamer als Sonjas Worte ist das von ihr ausströmende undefinierbare Fluidum. Sonja läßt sich nicht begrifflich fixieren: Sie strebt nicht zu Gott, sondern sie geht von ihm aus, der Ewige steht am Anfang und nicht erst am Ende ihres Daseins. Über ihre Christus-Zugehörigkeit redet sie nicht, und als Rodion sie ausfragen will, «betest du sehr oft zu Gott, Sonja?», schweigt sie, flüstert dann nur schnell: «Was wäre ich denn ohne Gott?»9 Sonja ist von aller Dialektik unberührt: «Warum fragen Sie, was unmöglich zu beantworten ist? Und warum fragen Sie, was man nicht fragen darf? Wozu solche leere Fragen?»10 Sonja lebt aus dem Mysterium und nicht aus dem Protest. Dostojewski hat in ihr keine idealisierte Frauengestalt geschaffen. Sie ist eine Straßendirne – «du bist eine große Sünderin», sagt Rodion zu ihr –, wenn auch die Schande sie nur mechanisch berührt und nicht in ihr Herz dringt. Der Schlamm des Lebens ist über ihren gekreuzigten Körper hingegangen; deswegen ist Sonja eine so glaubwürdige Person und steht im Strahlungsfeld des Glaubens.

Zu Sonja lenkte Rodion seine Schritte, als er mit seinem erdrückenden Schuldbewußtsein auf die Wand gestoßen war, an der alle Fragen aufhören. Was er von ihr will, weiß er selbst nicht; es zieht ihn zu ihr, weil sie in den Augen der Gesellschaft beide « gleichermaßen Verdammte sind, und unser Weg infolgedessen gemeinsam ist, wenn wir auch nach verschiedenen Seiten blicken»11.

Allerdings, wie sich Rodion dann in ihrem Zimmer befindet, bringt er die Worte nicht über die Lippen – so schwer hatte er sich das Geständnis nicht vorgestellt. Sonja schaut in sein totenblasses Gesicht, ohne die Augen von ihm abzuwenden, fühlt sein gepreßtes Herz und spürt, daß er ihr etwas sagen will, das er nicht aussprechen kann. Plötzlich aber errät sie es, tritt zu ihm hin, erfaßt mit ihren dünnen Fingern seine Hände und sagt: «Es gibt jetzt niemand in der ganzen Welt, der unglücklicher ist als du.»12 Es ist eine in ihrer Qual beinahe unerträgliche Szene, und doch ist sie durch Sonjas unerschöpfliches Mitleid voller Licht und Wegweisung.

Über Rodions Untat entsteht zunächst ein Gespräch zwischen beiden. Intellektuell ist Rodion natürlich weit überlegen, denn Sonja ist alle gedankliche Problematik fremd. Trotzdem setzt sie seine kalte Sophistik, nach der er nur eine «unnütze, bösartige Laus» getötet habe, mit dem unwiderlegbaren Satz: «ein Mensch ist keine Laus», in einem Zuge schachmatt. Rodions Argumentation ist krank und Sonjas Gewissen intakt, darum überwindet ihr Herzdenken in der entscheidenden Auseinandersetzung seinen verwirrten Verstand. Großartig, einfach großartig zerreißt dieses unscheinbare Geschöpfchen den dialektischen Scharfsinn, der Unrecht in Recht umbiegen möchte.

In der gequälten Begegnung stellt Rodion zuletzt mit einem vor Verzweiflung verzerrten Gesicht die Frage: «Was soll ich jetzt tun, sprich?» Sonja ruft: «Was tun?» Sie springt von ihrem Platze auf, ihre tränenerfüllten Augen funkeln, und sie bedrängt ihn: «Steh auf, geh sofort, stell dich auf einen Kreuzweg hin, beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast, dann beuge dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen und sage allen laut: ich habe getötet! Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Willst du gehen?Willst du gehen?»13 In einer ausweglosen Situation gibt Sonja ihm die einzig helfende Antwort. Sie hält ihm keine Strafpredigt, noch schickt sie ihn auf das Polizeibüro, aber sie vermittelt ihm die unumgänglich notwendige Anweisung. Ihre erhellende Antwort leuchtet gleich einem Licht in der Finsternis; ihre Worte lassen denn auch Rodion nicht los, obwohl er sie zunächst nicht annimmt.

Sonja rät ihm, auf den Kreuzweg zu gehen, und dann «beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast». Merkwürdige Worte sagt sie, Worte, wie man sie sonst in Romanen nicht zu lesen gewohnt ist. Niederknien entspricht der Haltung der Reue; wer sich vor nichts beugt, wird sich selbst auf die Dauer nicht ertragen. Es ist unmöglich, eine schlechte Tat zu begehen, ohne sie beim nachherigen Überdenken zu bedauern. Die Reue ist kein unfruchtbares Gefühl, wie der moderne Zeitgeist argwöhnt; sie ist weder Rache an sich selbst noch unnütze Selbstanklage. Sie ist kein Zeichen innerer Disharmonie und noch weniger eine seelische Erkrankung. Das alles ist intellektuelles Gerede, das nichts vom seelischen Drama des Menschen weiß. Auch Rodion lehnt zunächst Sonjas Antwort ab: «Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Sonja.»14 Allein, es ist ihr unvorstellbar, wie man eine solche Qual das ganze Leben hindurch ertragen kann, und eindringlich fragt sie ihn: «Wie wirst du aber leben, leben? Wie wirst du weiterleben?»15 Reue hat mit dem menschlichen Gewissen zu tun, das den unabdingbaren Überzeugungswandel herbeiführt! Dies ist keine leichte Aufgabe, denn es fällt jedem Menschen schwer, die Geschichte der Wandlung seiner Überzeugungen zu erzählen. Die Reue wird in der Neuzeit in den Hintergrund gedrängt; deshalb finden die Menschen nur noch ausnahmsweise die Kraft, einen Überzeugungswandel zu vollziehen. Sie ist aber eine Form der Selbstheilung, die Seele befindet sich auf dem Weg zur Wiedergewinnung ihres verlorenen Selbst. Sonja hat dies mit ihrem weiblichen Gespür intuitiv verstanden, während es Rodion mit allen intellektuellen Überlegungen zunächst nicht begriffen hat.

Die Antwort Sonjas erschöpft sich jedoch nicht im Rat, sich in schweigender Reue vor der ganzen Welt zu verbeugen. Sie fordert Rodion auf, laut zu sagen: «Ich habe getötet.» Es ist die Beichte, die Sonja ihm nahelegt, und der Dichter vermerkt dazu: «Zu ihr, zu Sonja, war er zuerst mit seiner Beichte gegangen, in ihr hatte er einen Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte.»16 Die Beichte wird gerne als eine lästige, altväterische, dem autonomen Menschenbewußtsein widersprechende Einrichtung ironisiert. Ob altmodisch oder nicht, ist eine nebensächliche Frage. Tatsache ist jedenfalls, daß eine seelische Not durch das Bekennen gelindert wird. Die Beichte verdient keinen Spott; es lassen sich viele ernste Gründe für und nur wenige leichtfertige Argumente gegen sie anführen. Sie ist eine Wohltat; das hat sogar die moderne Psychiatrie erkannt, wiewohl der Beichtstuhl und die psychiatrische Sprechstunde nicht auf der gleichen Stufe stehen. Nicht die Beichte an sich ist fragwürdig geworden, vielmehr geht die lebenswichtige Frage dahin, einen charismatischen und nicht bloß amtlichen Beichtvater zu finden, der zur Beratung einer Seele fähig ist.

Sonjas Antwort ist von einem inneren Licht erhellt, das Rodions «finsteren Katechismus» außer Kraft setzt. Trotzdem genügt die Antwort noch nicht vollständig. Das spürt Sonja selbst und fügt einige Augenblicke später hinzu: «Wir werden doch zusammengehen und leiden, also wollen wir auch zusammen das Kreuz tragen.»17 Sonjas Rat ist keine beliebige Meinung, entstammt er doch einem tiefen Lebensverständnis. Man kann nicht einen andern Menschen zur bekennenden Sühne veranlassen und dabei sich selbst aus der Sache halten. Es ist notwendig, daß man mit ihm geht, weil man im Grunde nicht besser ist als er. In Sonjas Worten ist alle Ratlosigkeit gegenüber der Vergangenheit ausgelöscht, und geradezu triumphierend ruft sie: «Zusammen, zusammen!» Es war auch kein leeres Versprechen, denn als Rodion «auf dem Heumarkte sich zum zweitenmal bis zur Erde verneigte und sich links wandte, erblickte er fünfzig Schritte entfernt Sonja»18. Und als er zum Polizeibüro ging, stand wiederum «auf dem Hofe, unweit vom Ausgang, Sonja, totenbleich, starr, und sah ihn fassungslos an»19. Hernach war Rodion in Sibirien; als er von tiefer Schwermut gequält wurde, «trat plötzlich Sonja neben ihn»20. Immer ist sie da, wo sie nötig ist – das ist ihr Geheimnis –, immer ist sie gegenwärtig, bis an das Ende der Welt.

Nur wenn man wirklich zusammengeht, kann man dem andern Menschen das Wort der Vergebung sagen. Dieses Wort erscheint der heutigen Zeit ausgelaugt. Es wurde zu sehr gebraucht, so daß es viel von seinem silberhellen Klang eingebüßt hat. Man sollte ein neues Wort dafür erfinden. Gerade das Heiligste ist dem Mißbrauch am stärksten ausgesetzt; nichts schadet ihm mehr, als die formelhafte Verwendung. Wurde das Wort der Vergebung oft allzu leichtfertig auf die Lippen genommen, es ist und bleibt eines der Urworte. Einzig das lebendige, vergebende Wort, das dem Menschen direkt ins Ohr geflüstert wird, schließt die Fähigkeit in sich, eine bedrückende, kaum zu ertragende Vergangenheit durchzustreichen. Es fehlt auch in Dostojewskis Roman nicht. Sonjas ewig betrunkener Vater spricht es aus: «Ich habe dir schon einmal vergeben. Habe dir einmal vergeben. Vergeben sind dir auch jetzt deine vielen Sünden.»21 Das Wort der Vergebung mit seiner Kraft, die Schuld auszulöschen, ist kein konstruiertes, zurechtgelegtes Wort. Es stammt aus der Mitte des Evangeliums: Christus hat es zum ersten Mal auf dieser Welt ausgesprochen. Die Menschen haben es damals nicht als bloße Selbstverständlichkeit hingenommen. Die Zuhörer entsetzten sich darüber und waren betroffen, aber gerade in dieser Bestürzung kommt mehr Sinn für das Unerhörte des Vorgangs zum Ausdruck, als wenn man ohne weiteres damit einverstanden ist. Das Wort der Vergebung verträgt nicht viele kommentierende Bemerkungen, die nur das Übergroße in kleine Teilchen zerlegen. Was gibt es zu einer Äußerung des langen zu erklären, die dem hellen Sonnenschein gleicht? Die einzig gebotene Frage wäre: Wo sind in unserer Zeit die Menschen, die das Wort der Vergebung wieder glaubwürdig aussprechen?

«Dann wird dir Gott wieder Leben senden», schließt Sonja ihre Antwort ab. Sonja wie auch Rodion wollen das Leben, das neu gestaltete Leben, und nicht ein vitalistisch verstandenes Dasein. Der Mensch kann nach der Vergebung nicht seine frühere, abschüssige Existenz weiterfuhren. Er weiß um ein neues Dasein, ein neues Leben, das ihm der Ewige schenkt. Vieles, was dem Menschen bis dahin wichtig war, wirft er hinter sich, weil es an Bedeutung verloren hat. Andere Realitäten tauchen auf. Dostojewski erläutert es zuletzt ganz kurz dahin: «An Stelle der Dialektik war das Leben getreten.»22 Das neue Leben ist nicht einseitig unter einem moralischen Gesichtspunkt zu verstehen. Das würde eine Verengung der Blickrichtung bedeuten, von der leider Tolstois großer Büßerroman «Auferstehung» nicht frei ist. Natürlich kommt Unmoral nicht mehr in Frage, aber das Richtende in der moralischen Beurteilung ist ausgeschlossen. Das neue Leben ist von einer übermoralischen Betrachtung bestimmt. Es läßt sich nicht beschreiben, weil es sich der bloßen Schilderung entzieht. Das neue Leben kann nur gelebt werden – das gehört zu seinem Geheimnis. Trotz allem Zynismus und Skeptizismus ist auch dem heutigen Menschen das neue Leben die große Sehnsucht. Er lebt von der Hoffnung, daß es eines Tages anbrechen werde. Es läßt sich nicht künstlich herbeiführen, sondern wird dem büßenden Menschen geschenkt. «Gott sendet dir wieder Leben», sagt Sonja, und plötzlich ist ihm die Kraft zu einer anderen Gestaltung der Dinge beschieden, zu einer höheren Realität, an der alle Zweifel zerbrechen. Das neue Leben beginnt – Dostojewski deutet es noch mit einem letzten Abschnitt an: «Hier fängt schon eine neue Geschichte an, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus einer Welt in die andere, die Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannt gewesenen Wirklichkeit.»23

Dostojewski dachte während der Arbeit intensiv über seinen Roman nach. In den Notizen finden sich die Worte: «Es gibt kein Glück im Wohlstand, durch Leiden wird das Glück erkauft. Der Mensch wird nicht zum Glück geboren. Der Mensch verdient sich sein Glück immer nur durch Leiden.»24 In der Vollendung des Romans stellt der Dichter seine Lebensanschauung nicht in dieser lehrhaften Weise in den Vordergrund, was unkünstlerisch wäre, er führt sie möglichst ohne religiösen Apparat an. Es fehlen Kirche, Predigt, Geistlichkeit usw. Das Christliche ist wortlos da, man spürt es intensiv, sooft Sonja auftritt. Der moderne Mensch erträgt christliche Vorgänge nur, wenn sie sich hinter einem Schleier abspielen. Diskret spricht der Dichter von Sonjas Hintergrund, drückt ihn sozusagen mehr durch Gebärden als durch Worte aus. Trotzdem besteht kein Zweifel darüber, aus welchem Geheimnis Sonja lebt und weshalb sie fähig ist, Rodion die wegweisende Antwort zu geben. Selbst in Sibirien fürchtet Rodion noch, «daß sie mit der Religion ihn zu Tode quälen würde, daß sie über das Evangelium sprechen und ihm Bücher verschaffen werde. Aber zu seinem größten Staunen hatte Sonja nie darüber gesprochen, ihm nie das Evangelium angeboten.»25 Sonja gehört zu den Menschen, über die man nie restlos Bescheid weiß, weil sie ihr Mysterium keusch hütet. Vieles ließe sich über sie sagen, und man hat das Wesentliche immer noch nicht gesagt. Sie ist nicht aus der östlichen Welt zu erklären und gehört überhaupt nicht auf die Seite der Kultur. Vielleicht dürfte man sie eine Schwester Chantals nennen, dieses feinhörigen Mädchens aus Bernanos’ Roman «Die Freude».

Worin unterscheidet sich die große von der kleinen Literatur? Liegt es am Stil, an der Psychologie, oder sind es die Probleme? Gewiß, aber vor allem verbleibt die kleine Literatur mit avantgardistischen Tendenzen in einer enttäuschenden Resultatlosigkeit und entläßt den Leser «so klug als wie zuvor». Die große Literatur dagegen enthält eine Antwort in künstlerischer Einkleidung. Dichter wie Dostojewski, Dante, Cervantes, Gotthelf usw. zählen zu ihr, deren Werke von zeitloser Gültigkeit sind.

In «Rodion Raskolnikoff» vollzieht sich die beispielhafte Bewältigung einer dunklen Vergangenheit, aus der der Mensch als ein Gewandelter und Verwandelter hervorgeht: «Sie wollten sprechen, aber konnten nicht. Tränen standen in ihren Augen. Beide waren sie bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu neuem Leben.»26 Den Weg finden ist die große Möglichkeit, die immer vor dem Menschen steht und die er so selten in die Wirklichkeit umsetzt. Dostojewski vermittelt den Menschen eine wesentliche Antwort, und das ist der Grund, warum «uns Dostojewski zuweilen nähersteht als die Menschen, mit denen wir leben und die wir lieben – näher als unsere Verwandten und Freunde»27. Auch nach dem Urteil westlicher Skeptiker rührt Dostojewski an viel wichtigere Fragen und reicht in tiefere Bezirke hinab als irgendein anderer Romancier, weil seine Werke vom Evangelium stigmatisiert sind28, das ganz neue Dimensionen eröffnet.

III

Die von den beiden Dichtern Miller und Dostojewski in einem Bild umrissene Frage der unbewältigten und der bewältigten Vergangenheit ist in ein abschließendes Wort zusammenzufassen: Der Mensch, der sein Leben formt, ist der Büßer! Der moderne Mensch empfindet es zwar als einen unerträglichen Anachronismus, Büßergestalten vor Augen gerückt zu bekommen. Das Wort braucht bloß ausgesprochen zu werden, und schon hat man eine empörte Geste der Ablehnung hervorgerufen. Der Begriff «Buße» ist dem heutigen Menschen verhaßt, ihm riecht er nach Mottenkiste. Im Zeitalter der Weltraumerforschung nimmt sich ein solches Thema beinahe lächerlich aus. Von allem andern darf eher geredet werden als vom Büßer, dessen Haltung dem modernen Lebensgefühl absolut fremd geworden ist. Ein Büßer werden, nein, danke schön, das ist eine allzu große Zumutung, und entrüstet wird dieser Gedanke von sich gewiesen.

Vom Büßer zu reden, scheint demnach das Unmodernste von allem Unmodernen zu sein. Es klingt ganz anders, wenn über die Herausforderung der Kirche oder vom revolutionären Strukturwandel der Welt geschrieben wird. Vom «mündigen Christen» reden oder «atheistisch von Gott sprechen» ist wohl modern, aber es sind Schlagworte, mit denen sich diskussionstüchtige Christen ihre Zeit vertreiben. Ihre Worte schwirren kurz durch die Luft und fallen dann ins Leere zurück, da sie mehr Verwirrung als Klärung schaffen. Anders, vollkommen anders verhält es sich mit dem Büßertum, weil es des sensationellen Charakters entbehrt. Doch die Gleichgültigkeit von heute kann die brennende Sorge von morgen sein. Das Unzeitgemäße ist manchmal das Zeitgemäßeste, und das als aktuell Empfundene kann über Nacht ganz unaktuell werden. Die heutige Generation ist vom Weltgeschehen aufgewühlt, aber ist sie auch wirklich erschüttert und eine zur Buße bereite Menschheit? Diese Frage wird man nicht bejahen können. Daraus ergibt sich die unabweisbare Verpflichtung, in einer unbußfertigen Zeit auf den Büßer hinzuweisen, der durch die ganze Geschichte hindurchgeschritten ist und noch schreitet.

Die Heftigkeit der Ablehnung des Büßergedankens ist verdächtig, denn hinter der affektgeladenen Gebärde verbirgt sich gerne ein Ausweichen, das den Ernst in Unernst verwandelt. Das Problem einer echten Vergangenheitsbewältigung würde zunächst einmal ein ruhiges Hinhören verdienen. Die vehemente Zurückweisung ist psychologisch zwar nicht ganz unbegreiflich, denn es herrscht über das Büßertum eine verunstaltete Vorstellung. Die Meinung ist weit verbreitet, der Büßer sei eine ausgemergelte, von Selbsthaß getriebene Gestalt, die sich kasteie und einer lebensfeindlichen Einstellung verfallen sei. Geißel und härenes Hemd gelten als seine Insignien. Leider ist diese abschrekkende Vorstellung keine bloße Erfindung. Das mißverstandene Büßertum ist in der Geschichte der Christenheit immer wieder aufgetaucht, vor allem in den erschreckend großartigen Geißlerzügen des ausgehenden Mittelalters. Die vermummten Menschen zogen von Ort zu Ort, schlugen einander auf den entblößten Rücken und sangen dazu ergreifende Bußlieder, um die Barmherzigkeit Gottes auf die Erde herabzuflehen. In den Bußernst mischten sich häretische Ideen; pathologische Merkmale stellten sich ein, wenn auch diese Komponente nicht genügt, die unheimlichen Geißlerzüge zu erklären.

Gegen die Fehlentwicklung des Büßergedankens, welche die Menschen der Pönitenz entfremdete, sprach der Prophet Deuterojesaja im Alten Bunde die lapidaren Worte: «Ist das ein Fasten, das mir gefällt: ein Tag, da der Mensch sich kasteit? Daß man den Kopf hängen läßt wie die Binse und in Sack und Asche sich bettet – soll das ein Fasten heißen und ein Tag, der dem Herrn gefällt?»29 Deuterojesajas Wort wirkt wie ein mächtiger Hammerschlag. Unmöglich ist es, ihn zu überhören. Sein Wort steht da für Zeit und Ewigkeit. Nach Deuterojesaja gleicht der echte Büßer keiner mit herabhängenden Ästen dastehenden Trauerweide. Der grämliche Anblick stößt den Menschen ab, mit Recht, denn eine solche Buße ist nicht nach dem Willen Gottes. Anstelle der unfruchtbaren Selbstqualen fordert Deuterojesaja mit glühenden Sätzen eine soziale Haltung gegenüber den schwachen Gliedern der Gesellschaft, ohne damit das Religiöse auf eine bloße Sozialethik zu reduzieren. Unverständlicherweise wurde die von der Bibel ausdrücklich verworfene, sich in Sack und Asche gebärdende Kasteiung im Laufe der Zeit gerade zum Schibboleth der Buße, das durch Jahrhunderte triumphierte und die richtige Haltung ins Gegenteil kehrte. Die offensichtliche Verunstaltung des Bußgedankens ist nicht leicht auszumerzen, weil Fehlentwicklungen in der Religionsgeschichte von hartnäckiger Dauer sind. Deuterojesajas Wort stellt eine unüberhörbare Warnung dar, deren Ausmaß erst heute von den tiefer nachdenkenden Christen begriffen wird. Henry Newman legte man einst bei einem Besuch im Kloster eine Geißel auf das Nachttischchen – er betrachtete sie nachdenklich, brach sie dann kurzerhand entzwei und legte sie wieder hin!

Das positive Gegenstück zu Deuterojesajas Warnung und zugleich das wahre Wort von der Pönitenz ist in Christi Ruf enthalten: «Die Zeit ist erfüllt, und das Reich ist genaht, tut Buße und glaubet an die Frohe Botschaft.»30 Die wie ein Fanfarenstoß ertönende Aufforderung spricht das Wort aus, das alles von Grund auf erhellt. Das Evangelium beginnt mit der Buße als der echten Vergangenheitsbewältigung, daran ist nicht zu rütteln. Buße ist ein urevangelisches Anliegen, und wenn die Zeit erfüllt ist, erweist sich die Parole «wendet euren Sinn» als der einzig gangbare Weg. Die entscheidende Stunde wird nur vom Buße übenden Menschen nicht verfehlt: Er weiß, daß man nicht am irdischen Leben, am Vergänglichen und Unbeständigen der Welt hängenbleiben darf. Der Büßer ist eine christliche Kategorie, eine Feststellung, die es neu zu verstehen gilt. In jedem wahrhaft christlichen Menschen lebt der Geist des Büßertums, das sowohl der bürgerlichen wie der kommunistischen Einstellung gleicherweise widerstreitet. Die Pönitenz wird nur mit dem eigenen Leben vollbracht und niemals mit einer bloßen Meditation über dieses Thema. Die von Christus geforderte Buße steht unübersehbar am Anfang des Evangeliums, man kann nicht in das Reich eingehen, ohne sie erfüllt zu haben. Christi Bußruf hat viele Erklärungen gefunden, die beste schrieb Martin Luther in seiner ersten These, die er an die Schloßkirche zu Wittenberg anschlug: «Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‹Tut Buße›, will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine unaufhörliche Buße sein soll.»31 Nach dem Verständnis des Wittenberger Mönchs ist Buße kein einmaliger, vorübergehender Akt, sondern eine beständige, nie aufhörende Haltung.

Das griechische Wort «Metanoia» wird mit dem deutschen Wort «Buße» mißverständlich übersetzt. Es heißt eigentlich Umdenken und schließt die Aufforderung in sich, umzudenken, neu zu denken und anders zu denken. Das von Christus geforderte Umdenken ist die positive Formulierung der von Deuterojesaja abgelehnten Kasteiung. Das gewöhnliche Denken ist ein rationales Nützlichkeitsdenken, das sich in ausgetretenen Bahnen bewegt. Das Umdenken dagegen ist ein intuitives Denken, das zum Kern der Dinge vorstößt und nach einem lebendigen Erkennen strebt. Christi Wort wendet sich an den inneren Menschen, der umdenken, mit dem Denken wieder ganz von vorne anfangen und auf den Ursprung zurückgehen soll. Ohne die Parole «wendet euren Sinn» gibt es keine Vergangenheitsbewältigung, sondern nur ein Gehen an Ort. Der Mensch ist stets in Gefahr, sich in gewissen Denkgewohnheiten festzufahren und seine Gedanken immer nach dem gleichen Schema abrollen zu lassen. Er kennt zuwenig den Aufbruch und den Neuanfang. Das Neudenken fordert uns Menschen auf, aus dem erstarrten Denkgehäuse auszubrechen, unsere Lieblingsideen aufzugeben und zu uns selbst zu sagen: «So habe ich bis dahin gedacht, es hat mich nicht weitergebracht, ich habe mich damit im Kreise herumgedreht, ich muß versuchen, die ganze Angelegenheit von einer völlig anderen Seite anzuschauen.» Wer zu einem Neubeginn gelangen will, muß über den eigenen Schatten springen und die Vergangenheit vom Gesichtspunkt des Ursprungs aus betrachten. Die Neugestaltung ist kein abstraktes Problem, an diesem Umdenken ist das Herz weit stärker als der Intellekt beteiligt. Es wirkt wie ein erfrischendes Bad, wenn man die eigenen Denkgepflogenheiten einmal neu überprüft und mit dem Herzdenken zu einem inneren Umschichtungsprozeß gelangt. Das neue Denken ist das eine, was not tut, denn es allein rüttelt den in dumpfer Gedankenlosigkeit dahinvegetierenden Menschen auf und bringt ihn auf eine andere Fährte. Das Umdenken wurde in der Geschichte schon mehrfach gefordert, doch das neue Denken ist höchstens wie ein Silberstreifen am Horizont aufgetaucht, und weil die Menschen nicht näher darauf eingetreten sind, ist es ihnen wieder entschwunden, bevor es wirksam werden konnte. Dabei überfliegt allein ein Umdenken die Dinge nicht nur flächenhaft, sondern dringt in die Tiefe und wendet sie radikal um. Es ist bedeutsamer als alle technischen Erfindungen zusammen. Man kann nie genug umdenken, wenn man wirklich zu einem neuen Anfang gelangen will. Dieser schwersten Forderung kommt einzig und allein der Büßer nach, der eine unbürgerliche Erscheinung darstellt.

Das von Christus geforderte Umdenken schließt noch eine zweite Notwendigkeit in sich: die innere Entschlußkraft. Sie ist herabgemindert durch die Neigung zur Diskussion, die die Menschen seit den Tagen der Scholastik bis zum Gerede der Gegenwart förmlich überschwemmt. Auch der Diskussion kommt eine gewisse Berechtigung zu, denn viele Menschen klären sich durch eine ernsthafte Erörterung. Doch ist sie stets von der Gefahr bedroht, die religiösen Fragen vorwiegend als bloß interessanten Unterhaltungsstoff zu gebrauchen, womit die Entschlußkraft untergraben wird. Seraphim von Sarow, eine lichtvolle Gestalt aus der russischen Heiligenwelt, wurde einmal gefragt, ob den Christen seiner Zeit irgendeine Bedingung fehle, um zur inneren Größe der Persönlichkeiten der Vergangenheit aufzusteigen. Nach einigem Nachdenken antwortete Seraphim von Sarow: «Es fehlt nur eine einzige Voraussetzung – der Entschluß!» Wer an Entschlußunfähigkeit leidet, wird unweigerlich ein wankelmütiges Wesen, dem jeder geistliche Fortschritt versagt bleibt. Die Büßer haben den Entschluß gefaßt und den Rubikon ihres Lebens überschritten. Das unterscheidet sie am stärksten von den beständig zögernden und ambivalenten Menschen. Der entschlossene Büßer verfügt auch über die notwendige Rangordnung und bringt sie nicht in ungehöriger Weise durcheinander. Er spricht mit Theresia von Avila, in der sich ein kühler Verstand mit einem heißen Herzen vereinigt: «Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Buße, dann Buße!»32 Das Wort wirkt wie ein Wurf und verrät die souveräne Einsicht, was an die erste und was an die zweite Stelle gehört, es gibt kein bußfertiges Rebhuhnessen, sondern nur eine saubere Trennung.

Das Büßertum fand in der Geschichte der Christenheit eine verschiedenartige Ausgestaltung. Franziskus, um ein Beispiel herauszugreifen, erfreute sich in der Neuzeit eines hohen Lobes. Doch ist es eine Frage, ob die unverbindliche Schwärmerei nicht die wahre Gestalt verkleinert. Die Zeitgenossen nannten Franziskus und seine Brüder «die Büßer von Assisi». Diesen Eindruck machte der Poverello mit seinen ersten Anhängern auf die unmittelbaren Augenzeugen, eine Sicht, die dem wahren Franziskus weit mehr entspricht als die moderne Beweihräucherung der Fioretti. Franziskus selbst sprach noch in seinem «Testament» davon, daß ihm Gott geboten habe, Buße zu tun. Er befolgte den Befehl mit einem unerhörten Radikalismus. Der Verfasser des «Sonnengesanges» wäre dem Evangelium nicht so unmittelbar nahe gekommen, hätte er das Urwort von der Buße nicht so ernst genommen. Für den Bruder Immerfroh war es eine unvergleichliche Seligkeit, Buße zu tun. Nach seinem Dafürhalten widerfährt dem Menschen kein größeres Geschenk, als wenn sein Sinnen total umgekehrt wird. Tatsächlich hängt Franziskus’ erstaunliche Fröhlichkeit mit seinem alles umfassenden Umdenken zusammen, mit dem er Bitteres in Süßes verwandelte. Der seraphische Franziskus verstand das innerste Geheimnis des evangelischen Büßertums, es löste in ihm einen Sturm von Freude aus, eine überströmende Glückseligkeit. Anders ist die wahre Buße nie verstanden worden. Zum Trost sei gesagt: Es gibt auch heutzutage noch franziskanische Büßer; die Christenheit müßte im Schlamm versinken, wenn sie nicht mehr da wären.

Es hat seine tiefen Gründe, daß man den Büßer in der modernen Zeit selten sieht. Wohl schaut man sich heute bei einer Touristenfahrt durch Spanien noch Bußprozessionen an, sieht, wie bei dieser Gelegenheit schwere Kreuze getragen werden. Dabei wird jedoch nur eine Schaulust befriedigt, das christliche Gefühl schweigt meistens dazu. Es verursacht dem neugierigen Menschen eher Unbehagen: mit Recht, denn das Büßertum verträgt seinem wahren Wesen nach keine Schaustellung. Echte Buße vollzieht sich bei verschlossener Tür. Niemand soll es erfahren. Die Verborgenheit gehört zur wahren Buße genauso wie die innere Freude. Der Büßer will nicht gesehen werden, er tritt absichtlich und gewollt in die Unscheinbarkeit zurück. Die Unkenntlichkeit ist charakteristisch für das neue Büßertum. Zu den verschleierten Büßern der Neuzeit zählt Kierkegaard, der, nach seinen «Tagebüchern» zu schließen, von der ersten Zeile an, da er «Entweder-Oder» schrieb, sich klar bewußt war, «ein Büßender zu sein»33. Nicht nur einmal findet sich dieses Selbstverständnis bei ihm, mehrfach vermerkt er: «Aber ich bin ein Büßer. Und dies kann ich nicht begreifen, was das Mittelalter fromm glaubte, daß es Gott gefallen solle, wenn ich anfinge, mich selbst zu geißeln; wohl aber, daß es Gott gefallen könne, wenn die Wahrheit gesagt wird. Dies ist eben die Aufgabe für einen Büßer.»34 Keinem Menschen ist eine Ahnung aufgestiegen, einen Büßer vor sich zu haben, wenn er Kierkegaard, gleichsam maskentragend, etwa im Theater in Kopenhagen einer Don-Juan-Aufführung zuschauen oder ihn in einer Kutsche über Land ausfahren sah. Und doch bildet gerade die Buße das innerste Wesen dieses unvermindert aktuellen Denkers. Eine Kierkegaard-Darstellung, vom Büßerverständnis aus gesehen, ergäbe ein tieferes Bild seiner Gestalt und enthüllte zugleich die Wahrheit, daß man keinen genügend hohen Preis dafür bezahlen kann, seine Buße in der Verborgenheit zu verrichten.

Der Gedanke des Büßers wäre zu eng gefaßt, sähe man in ihm nur einen Menschen, der mit seiner dunklen Vergangenheit ringt. Unter den Pönitierenden gab es noch eine dritte Gruppe von Menschen, die die Sünden der Welt sühnen wollten. Der polnische Minoritenpater Maximilian Kolbe war ein begabter Arbeitersohn, der zum Kirchengeschichtsdozenten aufgestiegen war und sich sowohl in Polen wie im Ausland für das Christentum eingesetzt hatte, als er von der Gestapo in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert wurde. Nach der Flucht eines Gefangenen wurden zur Strafe zwölf Häftlinge zum Tode verurteilt. Pater Kolbe anerbot sich freiwillig, anstelle eines jungen Mannes die Strafe auf sich zu nehmen. Er starb nach vierzehn qualvollen Tagen im unterirdischen Hungerbunker. Er leistete die christlichste aller Sühneaktionen: die stellvertretende Buße. Diese Büßer sind die leuchtendsten Gestalten der Christenheit. Sie sind heute von ungeahnter Bedeutung, jetzt, da man so viel von der Krise der Christenheit spricht und mit größter Bereitwilligkeit Reformvorschläge für die Kirche auf den Tisch legt. Doch mit erleichternden Reduktionen ist noch nie eine Kirche erneuert worden. Wer Opfer auf sich nimmt, die ergänzen, was an den Leiden Christi noch aussteht, der allein reformiert die Kirche35.

Eine letzte Warnung sei noch angebracht. Esau wurde von seinem Bruder Jakob betrogen, so daß er laut aufschrie, über die Maßen betrübt war, weinte und doch keine Möglichkeit einer Änderung fand. Es grenzt an helle Verzweiflung, eine Situationsumgestaltung zu suchen und sie einfach nicht zu finden. Die Generation nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Hochkonjunktur ist, ohne es zu merken, in den gleichen Abgrund gestürzt. Die heutige Christenheit erleidet in anderer Form das unerklärliche Esau-Schicksal, das das Neue Testament in die Worte zusammenfaßt: «Er fand keinen Raum zur Buße, wiewohl er sie mit Tränen suchte.»36 Die Worte eröffnen eine tiefere Erfassung der Gegenwart, die viel hintergründiger ist als alle soziologischen Analysen zusammen. Der moderne Mensch hat die Kraft des Umdenkens nicht gefunden, und im Unterschied zu Esau sucht er nicht einmal mit Tränen danach. Er blickt mit toten Augen ins Leere und verfehlt die Buße. Im Vergessen dieser helfenden Möglichkeit liegt die tiefste Not unserer Zeit, die weder anzuklagen noch zu verteidigen ist. Tragisch bleibt, keinen Raum zur Buße zu finden, weil dadurch alle Hoffnung entschwindet.