Große Heilige - Walter Nigg - E-Book

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Walter Nigg

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Beschreibung

Was haben uns Heilige heute noch zu sagen? Jenseits aller religiösen Verbrämung versucht der reformierte Theologe auf diese Frage eine Antwort zu finden. Anhand von elf großen Heiligen zeigt er, wie auch sie mit dunklen Mächten in sich zu kämpfen hatten. Und wie sie dennoch zu Leitbildern und Ausnahmemenschen wurden.

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Walter Nigg

Große Heilige

Von Franz von Assisi bis Therese von Lisieux

Diogenes

AN ISABEL

WEM SONST ALS DIR

Hölderlin an Diotima

EINLEITUNG

Die Erscheinung des Heiligen

Eine unbekannte Welt tut sich auf, wenn man den Heiligen begegnet. Neue Dimensionen setzen einen in maßloses Staunen. Der menschlichen Sprache fehlen die Worte, um deren Größe zu umschreiben. Das unmittelbare Verhältnis zum Göttlichen, die religiöse Tiefe ihrer Weisheit und das hintergründige Seelenverständnis der Heiligen findet in der Geistesgeschichte kaum eine Parallele. Mit ihrer außerordentlichen Existenz stehen sie über Königen und Philosophen. Für die Heiligen gelten andere Gesetze und andere Maßstäbe. Wenn sich ihr Leben auch im irdischen Raum abspielt, so steht es doch auf einer Ebene, welche alle anderen überschneidet. Bei den Heiligen widerfahren einem fortwährend die unerwartetsten Überraschungen. Um den Zugang zu ihnen, die noch dem magischen Weltgefühl angehören und noch ein Gespür für das Hintergründige der Erscheinungswelt besitzen, zu finden, bedarf es der inneren Bereitschaft, eine neue Wirklichkeit zu erleben, die mit der eigenen nicht übereinstimmt, und die aus diesem Grunde auch nicht nach der gewöhnlichen beurteilt werden darf.

Die Menschen, denen ein inneres Wissen um das verborgene Dasein der Heiligen geschenkt war, haben stets mit der höchsten Ehrfurcht von ihnen geredet. Als Pascal sich am Ende seines tragischen Lebens selbst der Sphäre der Heiligen näherte, flammte die Einsicht in ihm auf: «Die Heiligen haben ihr eigenes Reich, ihren Glanz, ihre Siege, ihre Herrlichkeit. Sie bedürfen weder der irdischen noch geistigen Größe und haben mit ihr, die ihnen weder etwas geben noch nehmen kann, nichts zu tun. Sie werden von Gott und den Engeln gesehen, nicht von Körpern und neugierigen Geistern; Gott genügt ihnen.»1 Nach Pascal, der selbst im Feuer Gottes gestanden hatte, bilden die Heiligen ihre eigene, wunderbare Seins-Ordnung, die von den übrigen verschieden und die in ihrer religiösen Struktur zu erkennen nicht ohne Erleuchtung möglich ist. Der Verfasser der «Pensées» war nicht der Einzige, der mit intuitivem Spürsinn um das Mysterium der Heiligen wußte. Auch dem jungen Nietzsche, noch durch keine Machtphilosophie geblendet, tat sich in einer begnadeten Stunde der Ausblick auf: «Die Natur bedarf zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich-, Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und hintreibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst.»2 Mit seinem Instinkt für religiöse Werte besaß Nietzsche ein ahnendes Bewußtsein dessen, daß die Heiligen Entrückte sind, bei denen der glühende Feuerstrom noch nicht zur grauen Lava erstarrt ist. Aus diesem Grunde erwähnt er sie mit dem Künstler und Weisen zusammen.

Während das Mittelalter seine Heiligen noch auf dem Goldgrund der Ewigkeit zu malen vermochte, und auf diese Weise dem Betrachter wenigstens eine Vorstellung von ihrer Andersartigkeit vermittelt hat, ging den letzten Jahrhunderten diese Ahnung verloren. Die moderne Zeit besitzt kein durch Erfahrung gewonnenes Wissen mehr um die Heiligen. Sie entschwanden aus ihrem Gesichtskreis, und nicht ein Schimmer von deren Glanz drang noch in das aufgeklärte Bewußtsein des neuzeitlichen Menschen. Das Versinken der Heiligenwelt ist durch mannigfache Ursachen bedingt. Es hängt mit der mangelhaften Unterscheidung von Heiligenanrufung und Schätzung der Heiligen als menschliche Persönlichkeiten zusammen, indem die Betrachtung des Heiligen als religiöse Gestalt mit der anrufenden Heiligenverehrung gleichgesetzt wurde. Nicht weniger abträglich war der Welt der Heiligen die rationalistische Einstellung, die kein Verständnis mehr für die symbolische Weltauffassung besaß, in der diese Boten Gottes lebten, und die bestrebt war, alles rational verständlich zu machen, auch das, was seinem tiefsten Wesen nach irrational ist. Das Fehlen jeglichen Sensoriums für die Heiligen innerhalb des Rationalismus mußte zur Auflösung von deren Wirklichkeit führen. Zu der immer größer werdenden Unkenntnis des Heiligen in der Neuzeit hat auch die falsche Stilisierung desselben beigetragen, die alle in das gleiche Schema hineinpreßte, ohne zu fragen, ob die Schablone passe oder nicht. Durch diese unwahre Schönfärberei wurden die Heiligen zu unlebendigen Gestalten gemacht, die dem modernen Bewußtsein verdächtig vorkommen. Nur noch ausnahmsweise wurde in der Neuzeit von der überwältigenden Größe der Heiligen wirklich groß geredet.

Welchen von den erwähnten Gründen man als Hauptursache für das langsame Verblassen der Heiligenwelt namhaft machen will, eines läßt sich jedenfalls nicht bestreiten, daß dasselbe für die Christenheit sich als Verarmung ausgewirkt hat. Sie erlebte durch den Vorgang einen schweren Verlust, der nicht ausgeglichen werden konnte. Als ein tragisches Verhängnis ohnegleichen muß der Prozeß der Verdämmerung der grandiosen Heiligenwelt bezeichnet werden. Das Christentum büßte dadurch die Kenntnis von seinen überragendsten Vertretern ein. Es kam um das Salz, das seine Speise kräftig machte. Das Faszinierende in der Kirchengeschichte sind jene Gestalten, welche über die menschliche Kleinheit und Schwäche hinaus gingen, die das Evangelium auf eine kühne Art vertraten und von heiligem Wahnsinn ergriffen waren. Wenn diese lodernden Menschen unbekannt werden, muß sich dies für die gesamte Christenheit als Verfall auswirken. Sie erleidet damit eine katastrophale Einbuße und gibt etwas verloren, auf das unter keinen Umständen verzichtet werden kann.

Die Preisgabe der Heiligen wirkte sich dermaßen verhängnisvoll aus, weil sie zu den bedeutsamsten christlichen Erscheinungen gehören. Diese Wahrheit kann nicht genug betont werden. Daß der Heilige auch ein Phänomen der allgemeinen Religionsgeschichte ist, soll mit dieser Aussage nicht in Abrede gestellt werden. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber um die Sicht des Heiligen als einer der christlichen Ausprägungen, die man nicht zu einer bloß konfessionellen Angelegenheit absinken lassen darf. Zweifellos hat sich innerhalb des Christentums die katholische Kirche bis dahin als der fruchtbarste Nährboden für Heilige erwiesen. Die Heiligen sind das weitaus schönste Ruhmesblatt des Katholizismus, was vorbehaltlose Anerkennung verdient. Sie stellen die Lichtseite dieser Kirche dar. Aber die Anschauung, welche den Heiligen zu dem Sonderbesitz einer Kirche machen will, besteht trotzdem nicht zu Recht. Heilige gab es bereits in der alten und mittelalterlichen Kirche, als die Christenheit noch nicht gespalten war. Ebenso hat die Ostkirche große Heilige hervorgebracht, wie Sergius von Radonesch und Seraphim von Sarow, welche vom russischen Volk immer innig verehrt worden sind, und die in diesem Zusammenhang nicht dargestellt werden, weil ihre geistige Erfahrung leider keinen schriftlichen Niederschlag gefunden hat.3 Auch die anglikanische Kirche ließ die Heiligen aus dem Volksbewußtsein nicht vollständig entschwinden und hat damit eine bedeutsame Überlieferung bewahrt.4 Sogar im kontinentalen Protestantismus fehlt der Heilige nicht vollständig, wie in dieser Darstellung noch gezeigt werden soll. Gegenüber einer konfessionellen Betrachtungsweise ist die Tatsache festzuhalten, daß der echte Heilige mit seiner Seelengröße über den Raum seiner Kirche hinausragt, genau wie Joh. Seb. Bach mit seiner Musik weit über das Luthertum hinausschreitet und auch die Menschen zu ergreifen imstande ist, die nicht seiner protestantischen Konfession angehören. Der wahre Heilige ist der gesamten Christenheit und nicht nur einer Konfession verständlich. Diese Betonung beabsichtigt in keiner Weise, die Heiligen aus dem kirchlichen Boden herauszunehmen, in welchem sie verwurzelt sind, wohl aber darauf hinzuweisen, daß ihre Zugehörigkeit zu einer sichtbaren Kirche vom Himmelszelt der unsichtbaren Kirche überwölbt wird. Von der Wahrheit des Heiligen als christliche Erscheinung sprach bereits das apostolische Glaubensbekenntnis mit seiner Formulierung von der «Gemeinschaft der Heiligen». Als die großen Bekenner des Evangeliums gehen sie alle Christen an, weil sie das verborgene Christentum repräsentieren, das dem neuen religiösen Bewußtsein nicht verlorengehen darf.

Der schwere Schaden, den die Christenheit durch die Verkennung dieser Wahrheit erlitten hat, kann nur durch eine neue Beschwörung der Heiligenwelt behoben werden. Dem heutigen Christen muß wieder zum Bewußtsein kommen, daß die Beschäftigung mit den Heiligen eine unermeßliche innere Bereicherung nach sich zieht. Der blinden Geringschätzung der Heiligen ist schon im letzten Jahrhundert der liberale Kirchenhistoriker Karl Hase entgegengetreten und hat der protestantischen Kirche empfohlen, sich «die Heiligen des Mittelalters getrost anzueignen».5 Auch Ernst Troeltsch betrachtete «Augustin, die großen Heiligen, die Mystiker und vor allem die Reformatoren als die Erneuerer und Fortbildner der eigentlich christlichen Grundkräfte».6 Freilich ist es mit der Empfehlung allein nicht getan. Man muß den «verborgenen Katholizismus der Heiligen», die nach Hermann Kutter «oft eine Sprache geführt haben, die, wenigstens dem Wortlaut nach, fast ganz mit der unsrigen übereinstimmt»7, unter allerlei Geröll wieder ausgraben und deren unbekannte Welt in ihrer ganzen Gewalt vor die Augen des neuzeitlichen Menschen rücken. Für diese Bemühung bedeutet es jedoch kaum eine Hilfe, wenn man auf die Wandlung aufmerksam macht, welche die Gestalt des Heiligen im Laufe der Kirchengeschichte durchgemacht hat. Mit dem ideengeschichtlichen Hinweis, wie im Urchristentum alle Menschen, die an Christus glaubten, der Bezeichnung Heilige gewürdigt wurden, über die frühkatholische Auffassung, wo die Benennung nur noch vereinzelten Christen vorbehalten blieb, die sich durch das Martyrium hervorgetan hatten, bis zum Mittelalter, da der Begriff des Heiligen eine abermalige Änderung erfuhr, indem er nur noch auf verstorbene Christen angewandt wurde, die einen langwierigen Kanonisationsprozeß durchgemacht haben, kommt es zu keiner neuen Sichtbarwerdung der Heiligenwelt. Vielmehr muß man versuchen, wieder zu der ursprünglichen Auffassung vom Heiligen als einer christlichen Gestalt vorzudringen.

Dazu ist als unumgängliches Erfordernis eine neue Schau der Heiligen notwendig. Das Wort Schau wurde gewählt, weil mit einer bloßen Begriffsbestimmung dem Heiligen nicht nahezukommen ist. Weder mit soziologischen noch mit religionsgeschichtlichen Begriffen ist sein wahres Wesen zu erfassen. Der Heilige muß geschaut werden, aber nicht im Sinne einer Abstraktion von Goethes Urpflanze. «Es gibt keine Heiligen an sich, sondern nur konkrete Heilige.»8 Deswegen können seine Wesensmerkmale nur an einer Reihe von Gestalten verlebendigt werden. Aber auch bei dieser Art des Vorgehens spielt sich noch vieles in einer geheimnisvollen Atmosphäre ab und bleibt Wesentliches ungesagt. Jede Herausarbeitung des Heiligentypus, der sich auch bei gleichbleibender Grundlage verschieden manifestiert, hat mit jenen Schwierigkeiten zu kämpfen, die Georges Bernanos andeutet: «Die Heiligkeit ist auf keine Formel zu bringen, oder vielmehr auf alle. Sie umschließt und überhöht sämtliche Kräfte, sie verwirklicht die in eine einzige Ebene hinabgezwungene Verdichtung der allerhöchsten Fähigkeiten des Menschen. Um die Heiligkeit auch nur zu erkennen, bedarf es einer Anstrengung, einer Teilnahme gewissermaßen an ihrer Lebensform, an ihrem unsäglichen Aufschwung.»9

Die neue Schau erfaßt den Heiligen zuerst einmal als Ausnahmemenschen. Nicht er selbst ist aus der Reihe der gewöhnlichen Menschen herausgetreten, sondern Gott hat ihn herausgenommen und zu einer besonderen Aufgabe berufen. Das macht seine Größe aus, die von der Größe anderer Menschen wesentlich verschieden ist. Es ist die Größe der Heiligkeit, die nur Gott verleihen kann, und die mit dem Ruhm der Menschen nichts zu tun hat. Sie ist auch vorhanden bei gänzlicher Unbekanntheit. Durch seinen Ausnahmecharakter rückt der Heilige nicht in die Kategorie des interessanten Menschen, die als schleuderhafte Bezeichnung mit Heiligkeit nichts zu tun hat. Heilige sind außergewöhnliche Gestalten durch das Geheiligtsein des heiligen Gottes. Der Adel und auch die Gefahr des auserwählten Menschen fallen bei ihrer Betrachtung als erste Merkmale auf. Mit der Charakterisierung des Heiligen als einer von Gott gekennzeichneten Ausnahmeerscheinung ist zugleich gesagt, daß man ihn nicht als den Menschen schlechthin hinstellen darf. Es kann nicht nur Heilige geben, denn das menschliche Individuum hat Eigenschaften und Möglichkeiten in sich, die im Heiligen nicht zur Auswirkung gelangen.

Der Ausnahmecharakter des Heiligen wird gewöhnlich in seiner sittlichen Reinheit gesehen. Die traditionellen Heiligenbiographien lieben es, ihre Helden von Jugend an als Ausbund von Tugendhaftigkeit auszugeben; als Menschen, die für die Lockungen der Welt nie auch nur das geringste Gehör übrig hatten. Mit dieser Betonung des ethischen Momentes wird der Akzent auf eine falsche Stelle gelegt. Die großen Heiligen haben nichts von dem unwahrscheinlichen Anstrich von Idealmenschen an sich. Das Leben zahlreicher Heiliger zeigt, daß auch sie zuerst den Weg der Sünde gingen und sich durch schwere Kämpfe daraus befreien mußten. Margareta von Cortonas erschütterndes Leben ist eines der eindrucksvollsten Beispiele eines solch reuevollen Büßertums aus der Geschichte des Christentums. Die Überwindung der niederen Sphäre gehört freilich zum Wesen des Heiligen. Ein hervorragender Mensch, der jedoch nie über seine Fehler hinaus gekommen ist, kann nicht als Heiliger angesprochen werden. Trotzdem bedeutet Tugendhaftigkeit nicht dasselbe wie Heiligkeit, und es ist ein Mißverständnis, wenn man im Heiligen vor allem den moralischen Menschen sieht. Das Wesen des Heiligen kann man nur erfassen, wenn man sich über den prinzipiellen Unterschied zwischen Heiligkeit und Sittlichkeit im klaren ist. Wo die Heiligen es mit dem Sittlichen zu tun hatten, wurden dessen Forderungen von ihnen immer ins Heroische gewendet. Sie haben die gewöhnlichen Moralvorschriften stets überboten, und darin besteht eine ihrer Leistungen, welche zur Bewunderung hinreißt. Es ging ihnen um das, was mehr ist als Tugendausübung, und mit diesem «mehr» reichen sie in die Sphäre des Geheimnisses hinein.

Wie es Rudolf Otto in seinem Buche «Das Heilige» erstmals wieder ausführte, hat man in den Heiligen das Religiöse in seiner tiefsten Wesensart vor sich. Der Heilige muß in erster Linie als religiöser Mensch aufgefaßt werden. Das Religiöse tritt einem bei den Heiligen in solcher Dichte entgegen, daß es schlechterdings nicht mehr überboten werden kann. Alles kreist um diese innerste Flamme. Heilige sind nicht auch religiöse, sondern nur religiöse Menschen, und dies mit einer Ausschließlichkeit, die gleichsam wie ein Brand alles verzehrt. Gewiß gibt es neben ihnen noch andere Gestalten, die ebenfalls in die religiöse Kategorie eingereiht werden müssen, wie der Priester, der Prophet, der Apostel und der Reformator. In die Reihe dieser religiösen Erscheinungen ordnet sich auch der Heilige ein als ganz besonders bedeutsamer Typus. Wenn das Religiöse auch zu den tiefsten Urgefühlen im Menschen zu zählen ist, das bei keinem Individuum und Volk gänzlich fehlt, so ist es doch nicht überall gleich stark ausgeprägt. Während das religiöse Urgefühl bei vielen Menschen infolge mangelhafter Pflege verkümmert, ist es beim Heiligen als Veranlagung denkbar ausgeprägt, und er versucht zudem, diese Begabung noch mit allen Mitteln ins Maßlose zu steigern. Der Heilige ist der religiös begabte Mensch, auf diese Formel kann zunächst einmal sein Wesen gebracht werden. Mit diesem Satz wird allerdings ein religiöser Tatbestand profan ausgedrückt, der aber den Vorzug besitzt, nicht in der Weise abgegriffen zu sein wie der Begriff «gnadenerfüllter Mensch». Die religiöse Begabung nimmt beim Heiligen geniale Formen an und läßt manchmal sogar versunkene Möglichkeiten des Menschen wieder zum Leuchten bringen. In seiner Religiosität besteht die eigentümliche Begabung im Gegensatz zum Wissenschaftler und Techniker, die auf Eroberung der Welt ausgehen, während der Heilige ausschließlich den inneren und jenseitigen Realitäten zugewandt ist. Wertvoller, als gegen die unfruchtbaren Vertreter des Religiösen in der Kirchengeschichte zu polemisieren – was nur zu einem negativen Resultat führt – ist es, seine Aufmerksamkeit auf den religiös begabten Menschen zu richten, der in der Wertskala als die christlich schöpferische Gestalt auf die oberste Stufe gestellt werden muß, und von dem Wesentliches zu lernen ist.

Die religiöse Begabung des Heiligen wirkt sich in seinem unermüdlichen Streben nach der Vollkommenheit aus. Jesu Ausspruch in der Bergpredigt: «Ihr sollt vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist» (Mt. 5,48) umschreibt für ihn das höchste Ziel, um dessen Erreichung er sich mit der ganzen Kraft seiner Seele bemüht. Es gab Heilige, denen die Heiligkeit gleichsam schon in die Wiege gelegt wurde. Die große Mehrzahl von ihnen jedoch mußte um dieselbe mit zäher Ausdauer ringen, bis sie ihnen zuteil wurde. Heiligung ist immer ein religiös-seelischer Prozeß, der in diesem Leben keinen Abschluß findet. Nicht die Bemühung um Wahrheit als dem erkenntnismäßig Bedeutsamen steht bei diesen Erwählten Gottes an erster Stelle, sondern das Streben nach Heiligung, als dem religiös Vollkommenen. Mit Aufbietung aller geistigen Energie haben die Heiligen in brennender Weise am Aufstieg zu diesem Ziel gearbeitet, und eine ungeheure seelische Anstrengung vollbrachten sie, um dem neutestamentlichen Wort nachzukommen: «Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung» (1. Thess. 4,3). Mit dieser Forderung, welche eine Umwandlung des Menschen bezweckt, haben die Heiligen in unerbittlicher Weise Ernst gemacht. Das Ringen nach der Heiligung läßt sich bei ihnen durch das ganze Leben verfolgen, und erst zuletzt erlangen sie Anteil an Gottes Heiligkeit. Nie kommt ihr Streben nach Vollkommenheit zum Stillstand. Unablässig arbeiten sie an sich, kämpfen mit sich selbst, versuchen sich zu überwinden und begehren, dem höchsten Ziel näher zu kommen. Heilige sind Menschen, die allezeit getrieben sind, innerlich vorwärts zu schreiten, und die sich nie mit dem Erreichten zufrieden geben, weil es in diesem Leben keine Vollendung gibt. Immer ruft das Ziel der Vollkommenheit sie weiter, und unaufhörlich strengen sie sich an, noch höher hinaufzusteigen, auch wenn sie bereits auf jenen schwindelerregenden Höhen sich befinden, um die der im Alltagsleben verhaftete Mensch nicht weiß. Von daher kommt der beispiellose innere Schwung, der ihrem Leben eigen ist. Alle Heiligen sind in einem übertragenen Sinne Kinder der Gotik, welche von dem unendlichen Streben nach oben erfüllt sind, und für die genug nie genug ist. Das verleiht ihrem Dasein jenen dynamischen Charakter, auf den das Religiöse nicht verzichten kann. Es ist das Ringen um die innere Form, welche den Heiligen charakterisiert und seinem Leben jenen sturmwindähnlichen Auftrieb gibt, der alle mitzureißen droht. Wenn es auch verschiedene Grade der Heiligung gibt, so findet man doch kaum eine Gestalt, bei der diese nie zur Ruhe kommende Bemühung um die bewußte Gestaltung des eigenen Lebens sich nicht feststellen läßt.

Es ist ein Mißverständnis, dieses unablässige Ringen um die Vollkommenheit als Verschiebung der Basis der Gottesgemeinschaft vom gerechtfertigten Sünder zur eigenen Verdienstlichkeit zu bewerten. Dieser Argwohn macht auch die neutestamentliche Forderung illusorisch, «der Heiligung nachzujagen, ohne die niemand den Herrn schauen wird» (Heb. 12, 14). Wahres Streben nach der inneren Form verführt den Menschen keineswegs zur Selbstgerechtigkeit. Je ernsthafter die Heiligen nach der Vollkommenheit gestrebt haben, um so mehr ist ihnen ihre eigene Unzulänglichkeit zum Bewußtsein gekommen. Kein Heiliger hat sich selbst als Heiligen betrachtet. Allezeit blieben sie eingedenk, daß Heiligkeit vor allem eine Wesenseigentümlichkeit Gottes ist, mit der er seine Auserwählten beschenkt, und nie eine selbstherrliche Tat des Menschen. Die Heiligen besaßen infolge ihrer Gewissensverfeinerung ein ausgeprägtes Sündengefühl, hinter dem nicht nur vorgegebene Demut steckt. Das Gefühl der Ungenügendheit entspringt vielmehr der Erfahrung, daß der Mensch seine Unheiligkeit um so mehr spürt, je näher er der Heiligkeit Gottes kommt. Doch hebt die Aussage des Paulus «sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollten» (Röm. 3, 23) die Möglichkeit der Heiligung nicht auf. Wohl steht die Sünde im Gegensatz zur Heiligkeit, aber der Heilige wurde gleich Jesaja in seiner Tempelvision von einem Seraph mit einer glühenden Kohle entsühnt, und er ist der Mensch, dem die Vergebung der Sünden zuteil geworden ist.

Dem Streben nach religiöser Vollkommenheit liegt jenes Ziel zugrunde, das Kierkegaard auf dem Sterbebett in die Worte zusammenfaßte: «Es gilt, Gott so nahe zu kommen wie möglich.»10 Es ist die Gottnähe, und weder die asketische Rekordleistung noch die Kraft, Wunder zu tun, oder gar die mystische Begnadigung, welche das abschließende Kennzeichen des Heiligen ist. Sie streben die höchste im diesseitigen Leben erreichbare Gottesnähe an, und alle ihre Bemühungen, an sich selbst zu arbeiten, sind nur Wege dazu, Gottes würdig zu werden und vor ihm bestehen zu können. Aus dieser erschaudernden Gottesnähe erwächst das Gefühl des Zunichtswerdens und Versinkens, aber auch jene überirdische Seligkeit, für die man keine Worte findet. Vor allem empfängt ihr Leben aus dieser Gottnähe jenen Sinn, den wahrzunehmen die Menschen sonst kaum fähig sind. Nicht nur ihr eigenes Leben wurde dadurch sinnerfüllt, sondern sie sind auch imstande, im Dasein anderer Menschen den verschleierten Sinn zu enthüllen. Er liegt in der Erfüllung der beiden Hauptgebote: Gott zu lieben von ganzem Herzen und den Nächsten wie sich selbst. Die Nähe Gottes wirkt sich bei den Heiligen in einer brennenden Gottesliebe aus, im Gegensatz zum Leben der gewöhnlichen Christen, welche die Liebe zu Gott oft kaum noch dem Namen nach kennen. Diese Liebe macht den Heiligen heilig, weil er durch sie von Gott mit dem Unaussprechlichen begnadigt wird. Aus ihr fließt jene sich aufopfernde Liebe zum Mitmenschen, die im Leben keines Heiligen fehlt. Nur wenn man auf die Erfüllung dieses Doppelgebotes achtet, wird man seine tiefsten Bemühungen erkennen. Durch die Gottesliebe will der Heilige nicht nur in die Nähe Gottes kommen, sondern er ist es bereits. Ihm ist Gott begegnet, und er hat die Wirklichkeit Gottes erfahren. Dieses Erleben der Gottesrealität suche man beim Heiligen vor allem, und man wird bei ihm einen Menschen finden, der tiefer in Gott eingedrungen ist als andere. Dadurch fiel ein Strahl von Gottes Heiligkeit auf ihn, und in diesem Wunder besteht der unfaßliche Duft, der von ihm ausgeht. Die unwiderstehliche Anziehungskraft, welche der Heilige auf die Menschen ausübt, fließt aus diesem Mysterium seiner Gottnähe. Beinahe alle Leute, die sich ihm nähern, empfinden diese charismatische Atmosphäre, die mit göttlichen Kräften förmlich geladen ist. Noch bei der Lektüre ihrer Lebensgeschichte tritt einem die Gottnähe fühlbar entgegen, und sie kommt dem Leser oft überwältigend zum Bewußtsein, so daß sie in ihm den lebhaften Wunsch erweckt, dem Heiligen doch bei seinen Lebzeiten begegnet zu sein. Aus diesem einzigartigen Eindruck, den der Heilige allezeit auf die Menschen gemacht hat, ist der begreifliche Ausruf Bloy’s hervorgegangen, daß es für den Christen nur einen Schmerz gebe, kein Heiliger zu sein.

Mit dieser Gottnähe hängt jenes magische Sein zusammen, welches für den heiligen Menschen bezeichnend ist. Heilige sind unablässig suchende Menschen, mit dem charakteristischen Merkmal, daß ihrem leidenschaftlich bewegten Suchen bereits ein religiöses Finden beschert war und ihr weiteres Suchen stets aus einem schon Gefundenhaben hervorgeht. Die Ehrenbezeichnung Heilige kommt ihnen zu, weil sie bereits in diesem Leben die groß gelebte, gläubige Existenz verkörpern, die ganz auf Gott hin ausgerichtet ist. Auf ihre Verwirklichung des Christlichen muß man das Augenmerk richten, da ihr Leben nicht im gesetzlichen «du sollst» stecken blieb, sondern eine Illustration zu Jesu evangelischem Wort darstellt: Selig sind die … (Mt. 5, 3f.). Natürlich gehört auch zu ihrem Leben der Werdeprozeß, der wie bei den meisten Menschen zum Verständnis für ihr Wesen unentbehrlich ist. Aber die Heiligen sind aus dem Sturm und Drang der Entwicklungsjahre herausgeschritten und zur Reife gelangt. Der Gärungsprozeß hat bei ihnen durch die Gottnähe einer ruhigen Abgeklärtheit Platz gemacht. Neben der gotischen Sehnsucht findet sich bei ihnen immer auch die romanische Ruhe in Gott. Wenn die Zeichen der Heiligkeit aufzuleuchten beginnen, nähert sich der Mensch dem Zustand seiner Vollendung. Das Werk des Heiligen ist deswegen in erster Linie sein Leben, in dem es völlig enthalten ist. Die Heiligen ruhen in einer göttlichen Seinsordnung, welche das undefinierbare Geheimnis ihres Lebens ausmacht und deren Wirkung letztlich auf etwas Unerklärlichem beruht. Sie sind dermaßen ins Licht eingetaucht, daß man nicht anders kann, als die Heiligen zu lieben.

Die neue Schau der Heiligen erschließt sich einem erst in ihrer letzten Tiefe, wenn man auf die Funktion dieser Boten Gottes achtet. Sie sind in der Wüste dieser Welt nicht bloß seltsam-schöne Blumen, die lediglich einen wunderbaren Duft ausströmen. Sie sind nicht nutzlose Menschen, weil sie sich vom Getriebe der Welt zurückgezogen haben. Obschon die Heiligen nicht unter Nützlichkeits-Gesichtspunkten betrachtet werden dürfen, haben sie alle doch eine bedeutsame Funktion zu erfüllen. Die menschliche Gesellschaft kann auf die Dauer der Existenz der Heiligen nicht entbehren. Sie bedarf ihrer so gut wie der andern Glieder. Nach der Auffassung, welche die Heiligen als christliche Gestalten versteht, kommt denselben eine mehrfache Sendung zu, die in diesem Zusammenhang nicht allseitig erörtert werden kann. Nur die hauptsächlichsten Aufgaben, die ihnen innerhalb der Christenheit aufgetragen sind, müssen um ihrer Bedeutung willen erwähnt werden.

Allezeit wurde den Heiligen die Funktion des Beispieles zugeschrieben. Da ihrem Leben vorbildlicher Wert zukommt, wurden sie als Exempel aufgefaßt, für die man Gott danken soll, und an denen man seinen Glauben stärken könne. Die Heiligen verkörpern ein Ideal, das den Menschen zugleich zeigt, mit welchen Mitteln es erreicht werden kann. Die Macht des Beispiels ist von enormer Wichtigkeit, denn das Christentum wächst aus der Begegnung mit lebendigen Christen. Es kann auf seine großen Vorbilder aus allen Jahrhunderten nicht verzichten, ohne sich selbst aufzugeben. Die Heiligen sind mit flammenden, lichtspendenden Symbolen zu vergleichen, welche den im Schlamm des Alltags versunkenen Menschen aufschrecken und ihn auf das Höchste hinweisen. Deswegen wurden sie schon «das lebende Evangelium» genannt, dessen Worte sie in Taten darstellen. Darin besteht der Sinn des Heiligenkalenders, wie ihn die unvergängliche «Legenda aurea» enthält: «Die Seele des Menschen ewig in Berührung zu halten mit dem großen Weltgeschehen, das sich von der Schöpfung an bis zum Jüngsten Gericht symbolisch in dem Reiche Gottes und des Teufels abgespielt hat und abspielen wird.»11 Das Beispiel der Heiligen erhält jedoch die gesteigerte Bedeutung durch seine beständige Erneuerung in allen Jahrhunderten. Nicht nur einmal ereignet sich ein solch wunderbares Leben, sondern zu allen Zeiten bezeugt Gott sich in ihnen aufs neue, so daß von einer fortwährenden Bekundung Gottes durch die Heiligen die Rede ist, welche das Beispiel immer wieder den veränderten Zeitumständen entsprechend den Menschen vor Augen führen. Sie sind die beständig neue Verleiblichung des Christentums, gleichsam die Fleischwerdung der christlichen Idee und deren lebendige Denkmäler. Die Heiligen widerlegen unwidersprechlich die Auffassung, daß das Göttliche nur in vergangenen Zeiten Gestalt gewonnen habe und dann von der Erde verschwunden sei, eine Meinung, welche den Tod aller Religiosität bedeutet. Das Christliche muß immer wieder seine Verkörperung finden und den Menschen jedes Jahrhunderts gemäß seiner Art nahegebracht werden. Nur von dieser beständigen Erneuerung des Beispiels geht ein religiös lebendiger Einfluß aus. Heilige üben eine zündende Wirkung aus. Trotz seiner Ausnahmeerscheinung ist der Heilige der beispielhafte Mensch, dessen Dasein nicht sklavisch nachgeahmt werden kann, dem aber doch der Wert eines Urbildes zukommt. Die ernsthafte Beschäftigung mit den Heiligen dient letztlich immer der Weckung religiöser Substanz, da sie im Betrachter ein Feuer entfachen, das nicht mehr erlischt. Durch sie werden anspornende Kräfte und lebendige Impulse geweckt, welche den Menschen veranlassen, den Kampf um die Formung des eigenen Lebens auch aufzunehmen.

Mit der Erneuerung des Beispiels hängt eine weitere Funktion der Heiligen zusammen, die einem erst klar wird, wenn man in ihr Inneres einzudringen versucht. Es ist falsch, deren Äußerungen in den Mittelpunkt zu rücken. Heilige sind nicht in erster Linie religiöse Denker. Wer sie auf den philosophischen Gehalt hin prüft, betrachtet sie unter einem unrichtigen Gesichtspunkt. Gewiß finden sich auch bei den Heiligen unendlich kostbare Worte, die kein Gold der Welt aufwiegt. Aber es sind nicht in allem neue Gedanken, welche sie aussprechen, als vielmehr die glorreiche Art, wie sie einer religiösen Wahrheit durch ihre Lebenshaltung Ausdruck geben. Durch ihre Lebenshaltung gelang es ihnen oft, ein Bibelwort von einer bis dahin ganz unbekannten Seite her neu zu beleuchten und bei den Menschen den Eindruck zu erwecken, als hörten sie nun diese Wahrheit zum erstenmal. Heilige vertreten jedoch nicht nur gewöhnliche Ansichten, sondern göttliche Einsichten, und zwar in überirdische Zusammenhänge, welche andern Menschen verschlossen sind. Selbstverständlich handelt es sich auch bei ihren Äußerungen, wie bei allen religiösen Aussagen, um Umschreibungen des Göttlichen, die nicht buchstäblich genommen werden dürfen, hinter denen jedoch ein objektiver Wahrheitsgehalt steht. Auf religiösem Gebiet handelt es sich aber nicht in erster Linie um Erkenntnisse, sondern um die Heimat der Seele. Heiligung hängt mit der Seele zusammen und nicht mit dem Verstand. Um des seelischen Charakters willen finden sich unter den Heiligen so viele weibliche Vertreter, während sonst die Kirchengeschichte oft als reine Männergeschichte erscheint, was sicher nicht dem Christentum als solchem entspricht. Daß in der Welt der Heiligen Frauen einen solch breiten Raum einnehmen, zeigt, wie Heiligung ein Ausfluß jenes religiösen Herzens ist, das eine Berührung von Gott erlebt hat. Um dieses Zusammenhanges willen denken die Heiligen auch nicht mit der Vernunft, wie der naturwissenschaftliche und der geschäftstächtige Mensch. Bei den Heiligen findet sich das bedeutsame Denken des Herzens, das allein dem Religiösen entspricht. Sie betätigen das symbolische Sinnen, das sich nach ganz anderen Gesetzen bewegt als das rationale Denken, welches nach Ursache und Wirkung fragt. Der innere Verfall des Christentums beruht nicht ausschließlich auf der Gottlosigkeit und dem Materialismus der Menschen in der Neuzeit, sondern auf dem Übergewicht des rationalen gegenüber dem symbolischen Denken in religiösen Fragen. Auf dieses Verhängnis muß man aufmerksam werden, will man die tiefer reichenden Gründe des christlichen Zusammenbruches in der modernen Zeit erfassen. Rationales Denken mit seiner zergliedernden Tendenz auf symbolisches Weltempfinden anzuwenden, kann nur eine auflösende Wirkung haben. Es ist einer der größten Dienste, welche die Heiligen dem neuzeitlichen Menschen leisten können, daß er durch einen längeren Umgang mit ihnen das verschüttete Denken des Herzens wieder lernen kann, das auch ein Denken ist, aber eines, das am Bild und nicht am Begriff orientiert ist, und welches der gewöhnlichen Logik, die Gegensätze nicht in sich zu vereinigen vermag, überlegen ist. Das Herz schaut gleichsam die Wahrheit, wenn es das intuitive Denken ausübt, welches auf eine bisher ganz unbekannte Art in die religiöse Wahrheit einzudringen vermag und sie liebend von innen erhellt. Das symbolische Denken ergeht sich keineswegs in bloßen Bilderreden und ist nicht weniger mit Realität gesättigt als die rationale Beweisführung. Es ist schwer verständlich, wie wenig auf diese Logik des Herzens, welche die verschiedenen Wahrheitsaspekte gleichzeitig zu umfassen imstande ist, geachtet wird, und die doch einzig dem religiösen Verständnis entspricht. Pascal war einer der letzten Christen, der auf die prinzipielle Verschiedenheit dieser Denkmethoden aufmerksam machte und über die enorme Bedeutung dieser Angelegenheit sich klar war, als er eindringlich sagte: «Daher kommt es, daß man, wenn es um die menschlichen Dinge geht, sagt, daß man sie erkennen müsse, bevor man sie liebe – was sprichwörtlich geworden ist –, daß hingegen die Heiligen, wenn sie von den göttlichen Dingen sprechen, sagen, daß man sie lieben müsse, um sie zu erkennen, und daß man nur durch die Liebe in die Wahrheit eingehe.»12

Noch eine bedeutsame Funktion hat der Heilige auszuüben, die ins Aktuelle führt. Man kann den Heiligen als den zeitlosen Menschen bezeichnen, dessen Haltung von ewiger Gültigkeit ist. Trotz dieser Zeitlosigkeit ist er oft auch jener Mensch, der mit gewaltiger Gebärde wider seine Zeit aufgestanden ist, die im Begriffe war, ins Nichtige abzugleiten. Manchmal hat er mit einem einzigen Wort betont, daß es gilt, sich auf das Eine, was not tut, zu konzentrieren und nach der inneren Einheit zu streben. Im Gegensatz zum Menschen, der sich durch hundert Ablenkungen zerstreuen läßt, kreist der Heilige unablässig um das Wesentliche und ist beständig bemüht, das menschliche Chaos zu überwinden. Es ist gewiß kein Zufall, daß Dostojewskij bei seiner Bemühung, den modernen Nihilismus niederzuringen, Ausschau nach geeigneten Helfern hielt und dabei folgerichtig auf die Heiligen kam. Dem nihilistischen Empörertum eines Iwan Karamasoff stellte er bewußt den Staretz Sossima als Heiligen gegenüber, der im karamasoffschen Wirrsal als das Licht erscheint, welches in der Finsternis leuchtet. Der Heilige ist der große Gegenspieler des Nihilisten, den es in irgendeiner Form zu allen Zeiten gab. Gegenüber jenem Menschen, der darauf ausgeht, das Ewige, Unentbehrliche und Urgegebene problematisch zu machen und es als das scheinbar Unmögliche hinzustellen, steht der Heilige für die absoluten Werte ein, die nicht der skeptischen Fäulnis verfallen dürfen. Mit seiner göttlichen Erleuchtung tritt er als der unbedingte Mensch dem Dämon der Zersetzung entgegen. Der Heilige besitzt ein tiefes Wissen sowohl um die Verderbnis des Menschen als auch um das, was er zu seiner Rettung bedarf, denn er lebt nicht, wie eine naive Betrachtungsweise annimmt, in ahnungsloser Unschuld dahin. Wie wenige weiß er hellsichtig um die Abgründigkeit des menschlichen Daseins, und er ist oft der einzige Sehende unter lauter Blinden. Als der schlechthin positive Mensch ist der Heilige zu bezeichnen, der an Stelle der niederreißenden Tendenzen die aufbauende Bestrebung setzt. Er tritt aus seiner religiösen Position heraus mit überlegenen Kräften den unterhöhlenden, zentrifugalen Strömungen seines Zeitalters entgegen. Religiös betrachtet ist er der Vertreter Gottes, der mit den Dienern des Teufels in einem Kampf auf Leben und Tod steht. Diese aufregende Tätigkeit war bereits die Funktion des mittelalterlichen Heiligen. Allerdings wäre es ein Irrtum zu glauben, dieser Kampf gehe auch heute noch in der gleichen Form vor sich wie damals. Dazu hat sich die Bewußtseinslage in der modernen Zeit zu stark geändert. Unsere Zeit braucht eine neue Heiligkeit, welche die unterminierenden Kräfte der Gegenwart überwinden hilft. Der Heilige der heutigen Zeit hat ein ganz anderes Aussehen als das traditionelle Schema ihn sich vorzustellen gewohnt ist. In den russischen Revolutionären des 19. Jahrhunderts sind schwache Ansätze einer modernen Heiligkeit sichtbar geworden, die aber infolge des theoretischen Atheismus seiner Vertreter wieder abdorren mußten. Der neue Typus des Heiligen wird sich inmitten des Strudels der Welt bewegen und vor allem an dem blutenden Schmerz der sozialen Not nicht unbeteiligt vorübergehen. Nur von einem Heiligen im modernen Gewand und weder von einer Partei noch Weltanschauung wird die ersehnte Umwandlung des Lebens ausgehen, die in kleinen Kreisen den Ausgang nimmt.

Um von den Heiligen ein eindrucksvolles Bild zeichnen zu können, bedarf es einer neuen Hagiographie, über deren Wesensmerkmale man sich Rechenschaft geben muß. Die neue Heiligengeschichtsschreibung baut auf den alten Darstellungen auf, mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie das moderne Bewußtsein in ihre Arbeit mit hinein nimmt. Ihr erstes Erfordernis besteht deswegen in der Entfernung der rußigen Staubschicht, welche sich im Laufe der Zeit über die Gestalten der Heiligen gelegt hat, damit die ursprüngliche Farbe in ihrem eigentümlichen Glanz wieder zu leuchten beginnt. Diese bilderrestaurierende Arbeit, welche das echte Gemälde wieder hervorholen will, ist eine überaus seltsame Tätigkeit, die beinahe in das Gebiet der unheimlichen Totenbeschwörung hinüberreicht. Der Geschichtsschreiber muß zu diesem Zweck die Heiligen lange Zeit anschauen, ihr ungewöhnliches Tun immer wieder genau betrachten und mit großer Geduld warten können, bis sie ihn der Anrede würdigen. Nur wenn die Heiligen selbst zu ihm geredet haben – und sie tun es oft plötzlich –, können sie auf lebendige Art dargestellt werden. Sie müssen gleichsam auf einen zugeschritten sein und jene ewigen Worte sprechen, über die sonst die Menschen nicht verfügen, und die man auch in keinen andern Büchern findet. Entsprechend diesem Erlebnis darf die Heiligendarstellung nicht gewöhnlicher Geschichtsschreibung gleichgesetzt werden. Die magische Welt der Heiligen kann nicht mit jener unbeteiligten Kühle beschrieben werden, wie man von einer Goldschmiedearbeit des 16. Jahrhunderts berichtet. Heiligenschilderung erfordert eine das Göttliche spürende Fähigkeit, die in einem mehr als nur menschlich einfühlenden Verständnis dieser Gestalten bestehen muß. Dem Heiligen kann allein eine religiöse Erfassung gerecht werden, weil nur sie dem gleichen Erdreich entstammt, aus dem diese heiligen Menschen hervorgegangen sind. Religiöses kann nur durch Religiöses erfaßt werden. Jede andere Darstellung bleibt an der Oberfläche haften. Die Welt der Heiligen kann einzig mit Gott und niemals ohne ihn begriffen werden. Jedem anderen Versuch erschließen sie ihr Geheimnis nicht, wenn es auch anderseits eine Übertreibung ist, zu sagen, es bedürfe eines Heiligen, um das Leben eines Heiligen zu schreiben. Heilige ohne ihre Heiligkeit darstellen zu wollen, vermag keine neue religiös verpflichtende Auffassung zu geben, welche den Christen aller Konfessionen wesentliche Erkenntnis zu vermitteln imstande ist.

Zu der Erfassung der Heiligen bedarf es vor allem andern der ehrfürchtigen Liebe, die weder mit beschönigender Verteidigung noch mit unverbindlicher Bewunderung zu verwechseln ist. Mit der Haltung der Ehrfurcht sieht man in den Heiligen die großen Liebenden der Kirchengeschichte, die nicht kleinliche Nörgelei verdienen, weil diese dem Erlebnis der Liebe nicht angepaßt ist. Das Geheimnis der Heiligen erschließt sich nur dem Geschichtsschreiber, der ihnen mit wirklicher Liebe begegnet, die sich auch hierin als der wahre Schlüssel zur Öffnung verschlossener Türen erweist. Nur wenn man eine Gestalt wahrhaft liebt, enthüllt sie einem ihr tiefstes Wesen. Um der Liebe willen scheut sich die neue Heiligendarstellung nicht, mit offenkundiger Begeisterung von ihren Helden zu schreiben, von denen sie selbst unauslöschliche Eindrücke empfangen hat. Ernst Hellos «Heiligengestalten» und Hugo Balls «Byzantinisches Christentum» sind erste Anzeichen dieses neuen Enthusiasmus für die Heiligen. Der Ton begeisterter Liebe gehört zur echten Hagiographie, die nie bloße Stoffvermittlung über ein wenig bekanntes Gebiet sein will, sondern immer auch Formung des Menschen erstrebt.

Keinen inneren Gegensatz zu dieser liebenden Ehrfurcht bildet der religiöse Realismus, zu dem sich die neue Heiligenschilderung im Unterschied zu der traditionellen Heiligengeschichtsschreibung bekennt. Jeder Heiligendarstellung droht die beständige Gefahr, das geschichtliche Bild unter dem Gesichtspunkt der Glorie zu verändern und die Gestalt völlig makellos zu schildern, indem das geringste Flecklein auf dem Charakter beseitigt wird. Daraus entsteht jedoch notwendig eine falsche Idealisierung, die den Eindruck der tendenziösen Propagandaliteratur erweckt und gegen die Wahrhaftigkeit verstößt. Nur schülerhaftes Verhalten glaubt jede Tat und jedes Wort rechtfertigen zu müssen. Auch Heilige sind Menschen, denen Gebrechen anhaften. Niemand hat dies stärker betont als sie selbst. Die Vertuschung der Schatten, die auch über ihrem Leben liegen, hat mit echter Liebe nichts zu tun, denn man kann eine tiefe Liebe zu einem Menschen empfinden und doch gewisse Handlungen von ihm für nicht richtig halten. Die Erwähnung ihrer Fehler hat nur nicht aus einer hämischen Absicht zu erfolgen, welche mit ihrer Entlarvung dartun will, daß auch die Heiligen nicht anders waren als die übrigen Menschen. Diese armselige Anschauung besteht ohnehin nicht zu Recht. Heilige sind größer als gewöhnliche Menschen. Die Hervorhebung negativer Seiten hat vielmehr einzig aus Liebe zur Wahrheit und aus einer realistischen Einstellung zu geschehen, welche gerade die oft besonders schwere Bedrohung des Heiligen aufzeigt. Die Überwindung von verwerflichen Eigenschaften, die ihnen in mühsamem Ringen gelungen ist, gereicht ihnen zur größeren Ehre als die unwahrscheinliche Annahme, daß ihnen alle Versuchungen unbekannt geblieben seien. Mit welcher Offenheit hat ein Augustin in seinen «Bekenntnissen» die Verflochtenheit mit der Sünde dargestellt. Diese realistische Ehrlichkeit muß auch die neue Geschichtsschreibung aufbringen. Nur wenn sie wahrheitsgetreu schildert, wie die Heiligen auch mit dunklen Mächten in sich zu kämpfen hatten und keineswegs immer Sieger blieben, erhebt sich die Darstellung zu einer ergreifenden Beschreibung ihrer Lebenswirklichkeit. Dieser religiöse Realismus, der das Göttliche in und nicht außerhalb der Wirklichkeit sieht, bildet das notwendige Gegengewicht zu der ekstatischen Lichtfülle, die dem Leben der Heiligen eigen ist.

Aus diesem Realismus ergibt sich auch die Anwendung der Kritik in der Heiligengeschichtsschreibung. Das Recht der kritischen Methode, deren Wahrheitsleidenschaft oft bis zum tragischen Zerbrechen ihrer Träger gegangen ist, steht außer Frage. Auch bei der Heiligendarstellung kommt ihr eine Aufgabe zu, das viele Schlinggewächs zu beseitigen, das oft die Gestalten überwuchert. Zahlreiche Ranken müssen zurückgeschnitten werden, wenn das wesentliche Bild wieder hervortreten soll. Doch sind der kritischen Methode auf diesem Gebiet bestimmte Grenzen gezogen, die man beachten muß. Heilige sind wie lyrische Gedichte, die analytisch nicht zergliedert werden können, ohne ihren Duft zu verlieren. Genau wie alle Polemik von ihnen fernzuhalten ist, vertragen sie auch kein destruktives Auseinandernehmen. Für die Nichtbeachtung dieser Wahrheit ist das kluge Buch von E. Busse-Wilson über «Das Leben der heiligen Elisabeth» ein überaus lehrreiches Paradigma, welches trotz seinem großartigen menschlichen Verständnis zu einer Zerstörung der Heiligengestalt gelangte. Die kritische Methode stammt aus der Welt des rationalen Denkens, das durch eine unüberbrückbare Kluft von der symbolischen Weltauffassung getrennt ist. Fast alle Heiligen-Überlieferungen sind mit Legenden durchwoben, die Glaubliches und Unglaubliches seltsam ineinander mischen. Man kann die Trennung von Legende und Geschichte bei den Heiligen nicht restlos durchführen. Die Legenden dürfen nicht zum voraus als minder wertvolles Gut ausgeschlossen werden, namentlich dann nicht, wenn sie aus dem gleichen Kreis stammen, in welchem der Heilige sich bewegte. Es bleibt das unvergängliche Verdienst von Herder, daß er als einer der ersten wieder für die Bedeutung der Legenden eingetreten ist. Es gilt zwischen Legenden und Legenden zu unterscheiden. Es gibt legendarische Schilderungen, welche die Bedeutung eines Heiligen gleichnishaft unübertrefflich wiedergeben und manchmal an innerer Wahrheit aller geschichtlichen Überlieferung weit überlegen sind. Für das symbolische Denken besitzen Legenden höchste Bedeutung. Auch an den vielen wunderbaren Begebenheiten, welche aus dem Leben der Heiligen berichtet werden, ist kein grundsätzlicher Anstoß zu nehmen. Gewiß tragen viele Wunder der Heiligenlegende den Stempel der erfundenen Ausschmückung auf der Stirn und sind oft auch religiös wertlos. Aber ebenso sicher gibt es keinen Heiligen, dessen Leben nicht ins Wunderbare reicht. Heilige ohne übernatürliches Geschehen sind keine Heilige. Sie ohne Unerklärliches darzustellen ist unmöglich. Schließlich ist Wunderangst ebenso töricht wie Wundersucht, weil beide nicht auf den Sinn der Überwirklichkeit achten.

Statt die Heiligen beständig mit dem eigenen weltanschaulichen Urteil zu schulmeistern, ist die echte Geschichtsschreibung von dem Willen zu neuen Einsichten erfüllt. Sie will sich vom Geschauten zu neuen Erkenntnissen führen lassen, wenn sie dabei auch ungewohnte Wege beschreiten muß. Nur diese seelische Aufgeschlossenheit bringt den Menschen innerlich weiter und verhindert seine Erstarrung im eigenen Gehäuse. In der Welt der Heiligen kommen höchst seltsame und nie gehörte Dinge vor, die einem zu neuem Begreifen veranlassen sollten. Es gilt zu versuchen, die befremdlichsten Ereignisse zu verstehen und auch vor den rätselhaftesten Dingen nicht vorschnell zu kapitulieren. Wie kaum anderswo entscheidet es sich in der Heiligenschilderung, wie weit man mit kühner Bereitschaft in religiöse Wirklichkeiten vorzudringen vermag, oder ob einem die Kraft zu neuen Entdeckungen versagt geblieben ist. Doch wie lange die neue Hagiographie um die Heiligen kreisen mag, deren letztes Geheimnis wird auch sie nie ergründen. Es bleibt unauslotbar. Mit den Heiligen kommt man nie zu Ende, weil deren Tiefstes mit Worten nicht wiederzugeben ist. Wer über Heilige schreibt, wird immer die schmerzliche Erfahrung des Seelsorgers der Angela von Foligno machen, der ihre göttlichen Offenbarungen in der lichtvollen Sprache aufzeichnete, deren sie sich bei ihren Mitteilungen bediente, und der dann, als er das Nachgeschriebene ihr nochmals vorlas, die Klage zu hören bekam: «Ich verstehe nichts mehr davon; ihr schreibt ohne Kraft, es erinnert mich wohl an das Gesagte; allein es ist so dunkel und drückt die Sache lange nicht aus, wie ich sie erkenne; ihr habt eben das Schlechteste aufgeschrieben und das Beste ausgelassen!» Das ist nur scheinbar ungerecht geurteilt; es zeigt vielmehr auf anschauliche Weise, daß die Erscheinung des Heiligen in theoretischer Weise abschließend nicht erörtert werden kann. Was man über ihn auch sagen mag, es ist alles nur ein Stammeln, und das Wichtigste steht immer zwischen den Zeilen. Die Heiligkeit kann höchstens an Gestalten verdeutlicht werden, und zwar für modernes Empfinden besser an nicht-legendären Persönlichkeiten. Zur Vermittlung eines lebendigen Eindruckes genügt auch nicht ein heiliger Mensch, der im klaren Lichte der Geschichte steht. Kein Heiliger verkörpert die ganze Heiligkeit. Vielmehr bringt jeder Heilige nur eine wesentliche Seite zum Leuchten, weil auch er bloß ein Teil von Gottes Strahlen widerspiegelt. Es müssen aus der großen Zahl der Heiligen mehrere Gestalten mit jener Ausführlichkeit dargestellt werden, daß wenigstens ein schaubares und zu liebendes Bild entsteht. Die Heiligen sind wie ein Geläute. Jede Glocke hat ihren Klang, aber erst alle zusammen geben die ganze Tonfülle. Auf diese Musik der Ewigkeit muß man hören in einer Zeit, da die Menschen sich vom Evangelium immer offenkundiger abwenden. In dieser Nacht der Selbstzersetzung des Abendlandes wird das Christentum der Heiligen jenes Licht bedeuten, das dem Einzelnen auf seinem Wege vorausleuchtet und in ihm wieder jenes unstillbare Lechzen nach neuer Heiligkeit weckt, welches bereits Michael Baumgarten in die prophetischen Worte zusammenfaßte: «Es gibt Zeiten, in denen Reden und Schriften nicht mehr ausreichen, um die notwendige Wahrheit gemeinverständlich zu machen. In solchen Zeiten müssen Taten und Leiden der Heiligen ein neues Alphabet schaffen, um das Geheimnis der Wahrheit neu zu enthüllen. Unsere Gegenwart ist eine solche Zeit.»13

DAS CHRISTUSSYMBOL IM MITTELALTER

Franz von Assisi

1182–1226

I

Bruder Masseo trat einst vor Franziskus mit den Worten: «Warum dir, warum dir, warum dir?» Franziskus entgegnete auf die seltsame Frage: «Was willst du denn eigentlich sagen?» Bruder Masseo erwiderte ihm: «Ich frage, warum alle Welt dir nachläuft, warum jedermann dich sehen will und auf dich horchen und dir gehorchen. Du bist kein schöner Mann; du bist nicht sehr gelehrt, du bist nicht edel. Was ist es denn, daß alle Welt dir nachläuft?»1 Von dieser legendären Begebenheit ist auszugehen, weil sie die Frage nach dem Geheimnis des Franziskus enthält. Warum ist der Mann von Assisi der größte Heilige, den das Christentum hervorgebracht hat? Was ist es, das noch heute an ihm so stark bedrängt und einfach nicht mehr losläßt? Wie hat man diesen merkwürdigen Menschen zu deuten, und worin besteht das neue Wort, das er gesprochen hat? Ja, warum gerade dir?

Die Frage des Bruders Masseo deutet das Rätsel an, welches Franziskus in sich schließt, der zunächst fremd, sogar ungeheuer fremdartig wirkt. Diese beängstigende Unsicherheit stellt sich sofort ein, wenn man Franziskus unvoreingenommen gegenübertritt. Seine Fremdheit, die auf eine viel tiefere Hintergründigkeit schließen läßt, als gemeinhin angenommen wird, ist nicht nur in der Andersartigkeit begründet, die der rationale Mensch der Neuzeit gegenüber dem symbolisch denkenden Menschen des Mittelalters spürt. Sie besteht vielmehr in Franziskus’ Persönlichkeit, welche das Christentum auf die Spitze trieb. Man kann sagen, wer Thomas von Aquino oder wer Martin Luther war, aber man kann kaum sagen, wer Franz von Assisi war, der zu den Menschen gehört, die nicht definiert werden können. Sein Geheimnis läßt sich höchstens erahnen. Die Betonung seiner rätselhaften Fremdheit tastet keineswegs seine Größe an. Im Gegenteil. Durch den Hinweis auf seine Ferne wirkt Franziskus unergründlicher, als wenn man versuchte, ihn in die eigene Kleinheit hinein zu nehmen und ihn ohne Spürsinn für seine gefährliche Kühnheit der modernen Christlichkeit anpaßte. Franziskus selbst war nicht darauf bedacht, seine undurchdringliche Rätselhaftigkeit zu beseitigen, indem er sie eher steigerte als milderte. «Obschon er die Größe der himmlischen Liebe, die ihn erfüllte, nicht gänzlich verschweigen konnte, redete er doch vorsichtig und nur in Rätselsprache.»2 Seltsam sind schon die sich widersprechenden Eigenschaften, die Franziskus in sich vereinigte, jene gütige Weichheit, welche alles mit letzter Liebe umfaßte, und gleichzeitig jene herbe Strenge, welche sich als erschrekkende Härte auswirkte. Es ist nötig, beide Seiten, sowohl die zartfühlende als auch die unerbittliche, zu unterstreichen, weil sie erst zusammen seine beunruhigende Erscheinung ausmachen. Die Herausarbeitung von nur einer Linie führt zu einer einseitigen Verzeichnung, während die Eigenart seiner nicht leicht zu erfassenden Persönlichkeit in der lebendigen Zusammenfassung dieser beiden Gegensätze besteht.

Diese fremdartige Rätselhaftigkeit empfanden schon die Zeitgenossen des Franziskus, die ihn deswegen mit sprachlosem Staunen betrachteten. Über das beinahe revolutionäre Auftreten des Heiligen gerieten sie in Bestürzung und vermochten es nicht in ihre mittelalterliche Lebensanschauung einzuordnen. Schaudern und Befremden erfüllten sie gegenüber dem Heiligen. «Oh wunderliche Sache, unserer Zeit unerhört. Wer starrt nicht in stummem Staunen? Wer vernahm schon Ähnliches?» rief bereits sein erster Biograph aus.3 Auch die «Legende der drei Genossen» spricht vom «grenzenlosen Staunen», welches die Menschen über Franziskus erfaßte, und daß sie sich beeilen, «ihn zu sehen und zu hören als Menschen gleichsam eines andern Jahrhunderts.»4 Trotz der Unmöglichkeit, sich dieses Rätsel verständlich zu machen, übte der «überkühne Franziskus» eine unwiderstehliche Anziehung aus. «Wenn er eine Stadt betrat, freute sich die Geistlichkeit, läuteten die Glocken, frohlockten die Männer, und mit ihnen freuten sich die Frauen, die Knaben klatschten fröhlich in die Hände, brachen Zweige von den Bäumen und zogen ihm singend entgegen.»5 Als «einen neuen Menschen aus einer andern Welt» schildern ihn seine Begleiter. Den gleichen Eindruck gewann der Sultan, der mitten in den Kreuzzugskämpfen Franziskus «als einen Mann betrachtete, der allen andern ganz unähnlich war.»6 Nach dem Tode von Franziskus nahm dieses Staunen eher noch zu. Nach Petrus Johannes Olivi ist «Franziskus wirklich der Engel, der das sechste Siegel öffnet»7, und nach Dante «ward der Welt hier eine neue Sonne geboren».8 Größere Worte kann man über einen Menschen kaum aussprechen, als es in diesen Urteilen geschah, die alle versuchten, den unaussprechlichen Eindruck in Worte zu fassen.

Dieses befremdliche Staunen der Zeitgenossen wird der Persönlichkeit des Franziskus mehr gerecht, als es die schöngeistige Betrachtung in der Neuzeit tut, die das rätselhafte Phänomen neutralisiert, statt es zu erhellen. Man hat den Mann aus Assisi in den letzten Jahrzehnten zu einseitig durch die «Blümlein des heiligen Franziskus» geschaut und sich am lieblichen Duft dieser Legendensammlung erfreut. Franziskus wurde dadurch zu einem poetischen Pantheisten gemacht, welcher das Entzücken aller Schöngeister bildete. Man betonte die Naivität des harmlosen Bruders «Immerfroh», der es verstanden habe, die Schwierigkeiten des Lebens spielend zu lösen. Franziskus wurde als eine höhere Art von Wandervogel aufgefaßt, der «die schönsten Träume, Menschenweh einzuwiegen, geträumt» habe.9 Man hat vor allem Franziskus unbedenklich modernisiert, indem man sein mittelalterliches Gebaren bewußt übersah. Die ästhetisierende Auffassung entwirft zweifellos ein bezauberndes Bild von Franziskus, das sich mühelos in die Gefühle des modernen Menschen einschmeichelt, und von dem man sich so leicht nicht befreit, wenn man diese romantische Vorstellung einmal in sich aufgenommen hat. Trotzdem muß mit aller Schärfe gesagt werden, daß die moderne Betrachtung des Franziskus historisch in keiner Weise zu Recht besteht. Sie ist ein holder Irrtum und besitzt in den ältesten Überlieferungen nicht den geringsten Anhaltspunkt. Allein schon die rücksichtslose Leibfeindlichkeit des Heiligen macht dieser viel zu weichen Franziskus-Auffassung ein resolutes Ende. Auch seine Beziehung zur Natur beruht auf vollständig anderen Voraussetzungen als das moderne Naturverständnis. Die schöngeistige Deutung des Franziskus ist in jeder Beziehung falsch, sie kann in ernsthafter Weise nicht aufrechterhalten werden und geht an der gewaltigen Kraft, die in diesem Heiligen aufgebrochen ist, blind vorüber. Das Problem «warum gerade dir» vermag sie nicht im geringsten zu lösen.

Die Antwort auf diese Frage liegt vielmehr gerade in der entgegengesetzten Richtung und kann einzig in dem Hinweis auf seine Christus-Ähnlichkeit angedeutet werden. Das ist der Gesichtspunkt, unter den dieses Leben gestellt werden muß. Damit ist nicht gemeint, daß «Franziskus etlichen fast als ein anderer Christus, der Welt zum Heile gegeben» erschien, wie die Fioretti sich ausdrücken.10 Eine solche Anschauung hätte der Poverello selbst aufs bestimmteste als Lästerung abgelehnt. Für sein Empfinden gab es keinen «zweiten Christus», und er hat sich nie als den wiedergekommenen Herrn ausgegeben. Aber seine mystische Verbundenheit mit Christus, den er «in der Verzückung in unaussprechlicher und unfaßbarer Herrlichkeit»11 geschaut hatte, ließ sein Leben zu einem Christus-Symbol werden, aus dem allein sein Geheimnis erklärt werden kann. Ihm wurde die größte Christus-Ähnlichkeit zuteil. Franziskus hat das Bild des Lebens Jesu erneuert, was schon seinen Zeitgenossen aufgefallen ist. Die Christus-Ähnlichkeit wurde später in dem Werke «Über die Gleichförmigkeit des Lebens des hl. Franziskus mit dem Leben des Herrn Jesu» von Bartholomäus von Pisa leider in allzu schematischer Weise durchgeführt, so daß sie starr und gekünstelt wirkt. Aber eine richtige Ahnung liegt der unglücklich durchgeführten Parallele zugrunde, mochte sich Luther noch so sehr darüber aufregen und in seinem Unmut Franziskus als «groben Gesellen» schmähen. Der Heilige von Assisi war das Christus-Symbol des Mittelalters, und aus diesem Grunde kann er in kein Schema eingeordnet werden. «Vieles hatte er mit Jesus gemein; Jesus trug er im Herzen, führte ihn im Munde, hatte ihn in den Ohren, trug ihn in den Augen, in den Händen, ja in allen übrigen Gliedmaßen immerdar.»12 Franziskus’ Verwandtschaft mit Christus ist immer wieder festzustellen. Sie drängt sich dem Betrachter auf Schritt und Tritt auf. Franziskus lebte mit Jesus dermaßen gleichzeitig, als gehörte er seinem Gefolge an. Er befand sich fortwährend in seiner Nähe. Seine Weihnachtsfeier in Greccio ist nur ein Beispiel, wie er das evangelische Geschehen auf lebendige Weise zu vergegenwärtigen imstande war, so daß die Zeitgenossen es tatsächlich «mit körperlichen Augen zu schauen» bekamen.13 Diesem anschaulichen Miterleben konnte sich kaum jemand entziehen, und sie sahen in Franziskus das vollkommene Abbild Christi. Franziskus’ Leben war in das Leben Jesu verwandelt. Nach Guardini war es «das besondere Charisma des Franziskus, an Jesus zu erinnern», den Meister nicht nur wie die andern Heiligen zu übersetzen, sondern zu vergegenwärtigen, so daß «Christi Antlitz selbst aus dem seinen hervorblickt, Christi Gebärde in der seinen deutlich wird».14 Franziskus verdeutlicht Christus mit einer nicht mehr überbietbaren Aktualität. Betrachtet man Franziskus, so denkt man an Christus, ob man will oder nicht. Das ist das größte Wunder dieses Lebens, das einem alle Maßstäbe aus den Händen schlägt.

Es ist klar, daß es sich nicht darum handeln kann, über dieses Christussymbol eine gelehrte Abhandlung zu schreiben. Das wäre eine unpassende Darstellung. Franziskus war wie ein Blitz, der die dunkle Nacht der Christenheit erhellte, und es muß etwas in einem zünden, will man ihm nahe kommen. Der Mann von Assisi fühlte sich berufen, ein neuer Narr in der Welt zu sein, und deswegen kann man von ihm nur in närrischer Liebe zeugen, will man ihm nicht untreu werden. Er war ein Troubadour Gottes, und deshalb muß man von ihm singen, wie es die Lerchen taten, die er so sehr liebte. Ist das lächerlich und töricht geredet? Was tut’s! Franziskus war so und nicht anders. Gerade deswegen ist seinem Leben jener unnachahmliche Glanz eigen, den man so wenig wie die Sonnenstrahlen einfangen kann. Nur einzelne Bilder aus seinem einzigartigen Dasein kann man heraufbeschwören, die im Grunde alle immer dasselbe besagen. Wie fern ist dieses rätselhafte Christus-Symbol der heutigen Zeit, und wie nahe geht es sie doch an! Hat man diese absolute Andersartigkeit wahrgenommen, so erhebt sich ein unbekannter Franziskus, dessen Gestalt sich immer sowohl enthüllt als verschleiert, und der in einem rembrandthaften Helldunkel erscheint, um plötzlich wieder zu verschwinden.

II

Mit einem überraschenden Geständnis beginnt Franziskus die autobiographischen Ausführungen seines «Testamentes»: «Gott gab mir, dem Bruder Franziskus, diesen Anfang im Bußetun. Als ich nämlich noch in Sünden war, schien es mir gar bitter, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst führte mich unter sie, und ich tat Barmherzigkeit an ihnen. Und beim Scheiden von ihnen wurde mir das, was mir bitter schien, in Süßigkeit des Geistes und des Körpers verwandelt. Und danach verzog ich nur noch ein wenig und ging aus der Weltlichkeit.»15 Von dieser verhaltenen Selbstdeutung muß man Satz für Satz erwägen. In ihr klingt der Grundakkord, der im Leben des Heiligen so ernst beginnt und mit solch innerer Freude endet.

Ein hartes Urteil hat Franziskus mit den Worten «als ich noch in Sünden lebte» über seine Jugend ausgesprochen. Von einem abenteuerlichen Traum von Ruhm und Ehre vernimmt man aus seinem Munde nichts, und keine Silbe von edlem Rittertum, dem er in jungen Jahren gehuldigt habe. Alle diese Darstellungen entspringen lediglich dem Bestreben, bereits Franziskus’ Jugend in ein bengalisches Licht zu rücken und darzutun, daß er auch in seinen weltlichen Jahren sich nie etwas Ungebührliches habe zu schulden kommen lassen. Gegenüber dieser unwahren Glorifizierung von Franziskus’ Jünglingszeit ist auf Celanos erste Lebensbeschreibung zu verweisen, nach welcher der Heilige «bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr seine Zeit in beklagenswerter Weise verlor und vergeudete».16 Diese älteste Auffassung von einer verpfuschten Jugend steht mit Franziskus’ eigener Äußerung in Übereinstimmung. Der Heilige hat über die erste Hälfte seines Lebens rücksichtslos den Stab gebrochen, und es ist von nebensächlicher Bedeutung, ob er seine Jünglingsjahre mehr als üppiger Verschwender in wüsten Gelagen verpraßte, der es schlimmer trieb als alle andern, oder ob er sich mit kriegerischen Plänen trug, von denen er eine Erhöhung seines persönlichen Ansehens erwartete. Vom religiösen Gesichtspunkt aus betrachtet sind beide Einstellungen gleich eitel und ist der zügellose Ehrgeiz, es den andern zuvor zu tun, ebenso ein Laster wie die Völlerei. Für solche Unterscheidungen interessierte Franziskus sich nicht. Er betrachtete diese Zeit seines Lebens als verloren, als etwas, was er nur bereuen konnte, und für das er bloß das eine Wort fand, das sie auch einzig verdiente: Sünde. Es kann sich nicht darum handeln, Franziskus’ Jugendzeit zu belasten, um sein späteres Leben um so mehr zu erhöhen, sondern um eine schlichte Feststellung der Wahrheit, daß nämlich auch der Sohn des Bernardone den Weg der Nichtigkeit gewandelt ist und keineswegs auf einer glatten Ebene zur Vollkommenheit gelangte.

Dieses Leben in Sünde wurde durch das unerwartete Eingreifen Gottes durchkreuzt. Mit den Worten «Gott gab mir» kündigt Franziskus die große Wende an. Eine solche Äußerung aus seinem Munde ist keine gedankenlose Floskel, sondern weist auf die jenseitigen Mächte hin, von denen aus allein Franziskus zu verstehen ist. Er konnte die einschneidende Änderung seines Lebens nicht aus innerwelltichen Ursachen begreifen. Ohne den offenkundigen Einbruch Gottes in das selbstgefällige Dasein des jungen Franziskus ist all das Ungewöhnliche, das sich im Leben dieses Menschen ereignete, schlechterdings nicht zu erklären. «Die Hand Gottes kam über ihn»17 und bewirkte jene immer noch zu wenig erforschte Wandlung, die mit einer gewöhnlichen Bekehrung nicht gleichzusetzen ist. Wer nicht das Wort «Gott gab mir» an den Beginn von Franziskus’ christförmigem Leben stellt, verfehlt zum voraus den richtigen Einsatzpunkt, mag er im übrigen auch noch so Geistreiches über den Poverello zusammentragen. Selbstverständlich war Franziskus ein typischer Italiener, der in seiner Lebhaftigkeit noch vor den Kardinälen seine Füße im tanzenden Schritt bewegte. Gleichwohl können die Taten seines Lebens nicht aus seinem völkischen Naturell oder aus der umbrischen Landschaft mit dem ewig blauen Himmel abgeleitet werden.18 Es gab viele Menschen mit südländischem Temperament, aber es gab nur einen Franziskus in der Geschichte des Christentums. Der Tuchhändlerssohn hat seine italienische Herkunft nie unterstrichen, und seine Zeitgenossen haben in ihm auch nicht eine Widerspiegelung ihres nationalen Wesens gesehen. Auch der unsicher bezeugte Zusammenhang mit der französischen Provence, der er seinen Namen Franziskus verdanken soll, kann zur Erhellung so wenig herangezogen werden wie die vermuteten Einflüsse von seiten der Waldenser, über welche die Quellen schweigen. Alle diese natürlichen Erklärungen wollen das Übernatürliche nicht wahrnehmen, das in diesem Leben geschah. Sie argumentieren statt metaphysisch-hintergründig, wie Franziskus selbst dachte, empirisch-flächenhaft und stehen deswegen mit seiner Auffassung im Widerspruch. Für ihn hatte die Umkehr seines Lebens mit einem unfaßlichen Geben Gottes begonnen, das ihn aus seiner bisherigen Bahn hinausgeworfen hatte. Das größte Gewicht legte der Heilige darauf, die entscheidende Wendung auf Gott selbst zurückzuführen und die Gestaltung seines Daseins mit einer direkten Gottesoffenbarung in Zusammenhang zu bringen. Nach Franziskus’ Worten «gab Gott ihm diesen Anfang im Bußetun». Darnach hat der Poverello das Christentum stets als eine Existenzmitteilung und nicht als intellektuelles Problem erfaßt. Das ist die erste, bedeutsame Erkenntnis, die seinem Verständnis des Evangeliums die leuchtende Farbe verleiht, und es ist merkwürdig, daß man diese Selbsterklärung dermaßen überhören konnte. Franziskus war es nicht darum zu tun, ein ungezwungenes Leben im frisch-fröhlichen Stil zu führen. Diese lineare Auffassung führt zu einem fatalen Mißverständnis. Er hatte eine verlorene Jugend hinter sich, über die er schmerzliche Reue empfand. Ihm war es um Buße zu tun. Jesu Ruf «tut Buße, denn das Gottesreich ist nahe herbeigekommen» hatte auch ihn erreicht. Der scheinbar sonnige Mann aus Assisi gehört zu den großen Büßenden der christlichen Geistesgeschichte, die eine ganz neue Beachtung verdienen. Was es heißt, ein Büßer zu sein, wissen heutzutage nur noch wenige, und von dem Ungeheuren, das sich in der Tiefe von dessen leidvoller Seele abspielt, hat man fast jegliche Ahnung verloren. Dostojewskij war noch einer der Großen, der um diese Dinge wußte und deshalb auch von Staretz Ambrosij als Büßender erkannt wurde. Auch Franziskus’ Leben stand unter dem Zeichen der unablässigen Wiedergutmachung seiner Schuld. Der Poverello faßte sein Dasein als ununterbrochene Buße auf, und zwar nicht nur in den ersten Monaten seines neuen Lebens. Die Botschaft, Buße zu tun, bildet einen bleibenden Bestandteil seines ganzen Lebens. Sie steht auch im Mittelpunkt seiner spätern Predigt. Um eine von Gott befohlene Buße ging es ihm in seiner Askese, der er fortan mit heiligem Ernst oblag, und die ihn auf jene Straße führte, von der kein Ende abzusehen ist.

Als erste Tat wirkte sich Franziskus’ asketische Buße in seiner Begegnung mit den Aussätzigen aus. Die Leprosen hatten Franziskus von jeher Ekel und Grauen eingeflößt. Der Anblick ihrer verfaulten Glieder weckte in ihm einen solchen Widerwillen, daß es ihm bitter war, sie anzusehen, und noch schwerer ertrug der gepflegte junge Mann ihren stinkenden Geruch. Der Aussatz war für Franziskus in seinen Jünglingsjahren nicht wie für das Mittelalter eine «heilige Krankheit»; er empfand nur den denkbar größten Abscheu vor den von ihm betroffenen Menschen. Er ging den Aussätzigen grundsätzlich aus dem Weg. Auf zwei Meilen Entfernung hielt er sich mit der Hand die Nase zu, wenn er einem begegnete. Dieses Grauen ist durchaus begreiflich, denn den Anblick der furchtbar entstellten Gestalten kann man sich nicht schrecklich genug vorstellen. Da geschah es einst, daß Franziskus sich auf einem einsamen Spazierritt in der Nähe von Assisi unerwartet einem solch schauerlich zugerichteten Menschen gegenüber sah, sich bei ihm wieder spontan die heftigsten Ekelgefühle regten. Er war gerade im Begriffe umzukehren, als er unschlüssig noch ein wenig zauderte und sich dann überwindend entschloß, von seinem Pferde zu steigen. In eine neue Situation geraten, von der Franziskus das Gefühl bekam, «der Herr selbst habe ihn dahin geführt», gab er, von Mitleid übermannt, diesem von Gott geschlagenen Mann seine Geldbörse. Und nicht genug damit. Es geschah noch etwas ganz Unerwartetes. Sein ablehnendes Widerstreben niederkämpfend, umarmte er plötzlich den Aussätzigen und «küßte ihn» mit glühender Inbrunst.19 Bei der Betrachtung dieses Vorganges wagt man kaum zu atmen. Mit einer beinahe übermenschlichen Selbstüberwindung hatte der noch im Weltleben befangene Franziskus den ersten Sieg über sich errungen, und er empfand ihn auch als eines seiner freudigsten Erlebnisse. Die mühsam erkämpfte Selbstverleugnung ausnutzend, begab er sich wenige Tage darauf ins Hospital der Aussätzigen, wusch mit eigener Hand den Eiter von den schwärenden Wunden und ließ sich wiederum ungeachtet der übelriechenden Fäulnis zuletzt nicht davon abhalten, ihnen «Hand und Mund zu küssen».20 Dieses Berühren der Aussätzigen mit den Lippen,