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In seiner faszinierenden Untersuchung interessiert den Autor dabei immer auch die andere Seite der Hoffnung: Höchste Freude und dramatische Enttäuschung, Glaube und Mißtrauen liegen gefährlich nahe beieinander. Gerade hier aber sieht Nigg ein außergewöhnliches Potential: Für ihn ist diese Konkurrenz letztlich Quelle aller Kreativität.
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Seitenzahl: 597
Walter Nigg
Geschichte einer Hoffnung
Diogenes
Eine Geschichte des Gottesreiches zu schreiben, ist um seines überirdischen Charakters willen eine Unmöglichkeit. Trotz allen heimlichen Wünschen des Kirchenhistorikers ist es zu jenseitsbezogen und zu verhüllt, als daß es mit einer menschlichen Feder geschildert werden könnte. Das »Geheimnis des Reiches«, von dem Jesus redet, entzieht sich dem historischen Zugriff, es ist nur durch Gleichnisse zu erfahren.1 Auch eine »Historie der Wiedergeborenen«, die mit Johann Heinrich Reitz von jedem profangeschichtlichen Bezug absieht und ganz dem inneren Geschehen der Seele zugewendet ist, kann nicht als Geschichte des ewigen Reiches angesprochen werden.
Dagegen kann die Erwartung auf das kommende Reich dargestellt werden, die das Leben der Christenheit durchzittert. Von den Tagen der Propheten bis zur Gegenwart reicht die gespannte Ausschau nach der hereinbrechenden Gottesherrschaft und erweist sich als das große Licht in der Trostlosigkeit des menschlichen Daseins. Das ewige Reich ist eine Urwahrheit, deren Unabweisbarkeit schon im rätselhaften Erscheinen dieser Hoffnung zu allen Zeiten sichtbar wird. Es gehört zu den großen Themen des christlichen Abendlandes, dem Warten auf das Reich durch alle Jahrhunderte nachzugehen, zumal wenn es nicht in doktrinärer Weise geschieht, die um Definitionen und Abgrenzungen besorgt ist. Die Reichserwartung ist keine untätige Passivität, in der sich der menschliche Geist nutzlos verzehrt. Es ist ein hoffendes Warten und eine wartende Hoffnung, die das Angeld der Erfüllung bereits in sich hat und in ihrer unendlichen Spannung oft das Zukünftige schon als Gegenwart erlebt. Das sehnsüchtige Sichausstrecken nach dem Reich als Lebenshaltung verstanden, vermittelt dem Menschen eine innere Freude und wirft einen schimmernden Glanz über seinen Lebensweg. Die geduldigungeduldige Erwartung des Reiches ist eine bedrängende Begebenheit der christlichen Geschichte. Ihre erschütternde Gewalt braucht nicht noch unterstrichen zu werden, ist sie doch durch den Gegenstand selbst gegeben. Geschichtskenner haben »die Idee des Tausendjährigen Reiches als einen der schicksalhaftesten und folgenreichsten Gedanken der christlichen Entwicklung« bezeichnet.2 Es liegt in dieser immer wieder auflebenden Erwartung des Reiches eine eigentümliche Kraft, die den Menschen trägt und zugleich weit über seinen engen Horizont hinaushebt. Auch G.F. Händel hat in seinem »Messias« der Mächtigkeit dieser lebendigen Hoffnung mit sehnsüchtigen Fanfarenklängen unvergleichlichen Ausdruck gegeben.
Freilich war dieses nie zu unterdrückende Warten immer wieder von schweren Gefahren bedroht. Seine erregende Geschichte hat von mannigfachen Qualen zu berichten. Stets haben sich an die größte Hoffnung auch zahlreiche Unzulänglichkeiten gehängt, die die Strahlungskraft verdunkelten. Die menschlich-allzumenschlichen Vorstellungen, die sich gerne damit verbanden, konnten nicht anders als unerfüllt bleiben. Allen jenen Christen, die nicht zwischen Vergänglichem und Bleibendem in der Reichserwartung zu unterscheiden vermochten, die nicht zu dem Wesen durchdringen konnten, das hinter all den mannigfachen Bildern steht, in die sich die Reichshoffnung von ihrer Entstehung an gekleidet hat, blieben die schmerzlichsten Erlebnisse nicht erspart. Sie fielen einer verhängnisvollen Verwechslung von Vorläufigem und Endgültigem zum Opfer, einem Irrtum, der sich notwendigerweise in einer schluchzenden Resignation auswirken mußte. Es gibt viel zuckendes Weh in der Geschichte der Reichserwartung, die ein religiöses Weinen zur Folge hatte. Das schlimmste in diesem betrüblichen Erleben war, daß auch diese Hoffnung nicht vom nagenden Unglauben verschont blieb. Ein Mann aus dem Volk Israel scheute sich nicht, im 18. Jahrhundert die Ansicht zu vertreten: »Ich sage euch, daß alle Juden jetzt im großen Unglück sind, weil sie das Kommen des Erlösers erwarten und nicht das Kommen des Mädchens. Blicket auf die Völker, wie sie friedlich in ihren Ländern sitzen, denn sie vertrauen auf ihr Mädchen.«3 Ein verführerisches Wort, das die Vergeblichkeit und Nutzlosigkeit dieser hoffenden Erwartung sinnfällig formuliert und dessen Absicht darin besteht, den Menschen der Gleichgültigkeit auszuliefern. Wer aber sprach diese Weisung aus? Es war Jakob Frank, einer jener falschen Messiasse, die das jüdische Volk heimgesucht haben, das aber ihre betrügerische Rolle durchschaute und sie aus seiner Mitte ausschloß. Eine verlockende Versuchung aus dem Unglauben ist der Rat Jakob Franks, der mit seinem gleisnerischen Hinweis den Menschen zuredet, das religiöse Erstgeburtsrecht des Messianismus um ein erotisches Linsengericht zu verkaufen, das ihn leer dastehen läßt, sobald er es genossen hat.
Es kam in der Geschichte zwischen der sehnsüchtigen Erwartung auf das Reich und der ungläubigen Skepsis zu einem Ringkampf, von dem die nachfolgenden Blätter freilich nur in indirekter Weise erzählen. Ist doch der Kampf zwischen Glaube und Unglaube nach einem berühmten Wort Goethes das tiefste Thema der Weltgeschichte. Es ist ein atembeklemmendes Ringen, das nie abreißt und zu immer neuen Auseinandersetzungen anhebt. Es treibt dem Betrachter unwillkürlich das Blut in die Wangen, sofern er das Drama mit seelischer Anteilnahme und nicht nur als unbeteiligter Zuschauer verfolgt. Welch eine Unsumme von glühender Inbrunst und lebendiger Sehnsucht steht hinter diesen Begebenheiten, die keinen fühlenden Menschen gleichgültig lassen können. Die Reichserwartung hat beinahe übermenschliche Spannungen und gewaltige schöpferische Kräfte entbunden. Seelenvorgänge der Christenheit, die sonst verborgen bleiben, kommen in einer Geschichte des Chiliasmus unerwarteterweise zum Vorschein, und verschiedene geschichtliche Bewegungen erscheinen plötzlich in völlig neuen Perspektiven. Mit beklemmender Bestürzung nimmt man jeweilen das Aufgeben der messianischen Sehnsucht wahr, woraus nichts anderes als ein Versinken in die in sich ruhende Endlichkeit hervorgehen konnte, die den geistigen Tod nach sich zieht. Und welch jubelnde Hoffnung flammte in den Herzen auf, wenn die große Erwartung sich wieder stürmisch erhob und die Menschen einfach mit sich riß. Die Schilderung wirkt sich wie ein Sterben und Auferstehen im eigenen Innern aus, ein Vorgang, der nur ein Abbild vom großen Geschehen ist.
Der keuchende Ringkampf zwischen Erwartung und Enttäuschung hält sich weder die Waage, noch bleibt er zuletzt unentschieden. Noch viel weniger kann man die Erwartung auf das Reich als eine bloße Krankheitsgeschichte auffassen, sonst hätte sie nicht derart beschwingte Kräfte zu wecken vermocht. Der christliche Messianismus, der auf die zweite Erscheinung Christi mit der Offenbarung des Reiches wartet, darf auch nicht lediglich als eine zeitgeschichtlich bedingte Auffassung des Urchristentums bewertet werden, die abzustreifen endlich an der Zeit ist. Niemals erhebt sich am Schluß dieser Geschichte nur ein großes Fragezeichen, das den Leser ratlos am Berge stehen läßt. Wer zu diesem dürftigen Resultat gelangt, hat diese Blätter schlecht gelesen. In der Geschichte der Reichserwartung wird jeder müde Verzicht stets durch eine erneuerte Hoffnung besiegt, die zeigt, daß der Ausblick nach dem Reich die Grundhaltung der christlichen Einstellung schlechthin ist, die jeweilen vom unerleuchteten Denken versucht und zurückgedrängt, aber keinesfalls überwunden werden kann. Allezeit lodert die Reichswirklichkeit in ihrer brennenden Aktualität als die unzerstörbare Hoffnung auf, deren innere Intention von aller historischen Erfahrung und von jedem naturwissenschaftlichen Weltbild unabhängig ist. Sie allein bewahrt den Menschen vor dem Sichverlieren in die ungenügende Diesseitigkeit und schürt unablässig die Glut seiner verzehrenden Sehnsucht nach dem Jenseits. Für den Christen beginnt das wahre Leben erst in jenem Moment, da alle irdischen Erscheinungsformen sich wie Nebel aufzulösen beginnen und das übergeschichtliche Reich hereinbricht.
Um dieses Sachverhaltes willen ist die Geschichte der Reichserwartung die Lehrmeisterin der unvergänglichen Hoffnung. An ihr beweist es sich, daß ein Leben ohne Erwartung nicht lebenswert ist, und öffnet mit dieser Erkenntnis »das Tor zum Geheimnis der Hoffnung«, um diese Formulierung Péguys zu gebrauchen. Es ist nicht eine jener kleinen, innerweltlichen Hoffnungen, mit denen die Menschen gewöhnlich ihr armes Dasein notdürftig zu erwärmen suchen, es ist die über die Erde hinaus greifende Hoffnung, die auf der Grundlage der göttlichen Zusicherung beruht und das Höchste in sich schließt. Nichts wirkt sich im Leben eines Menschen so finster aus wie völlige Hoffnungslosigkeit, und das rapide Schwinden jeglicher Hoffnung in der Gegenwart bildet ein verhängnisvolles Merkmal der modernen Christenheit. Deswegen rührt diese Geschichte einer Hoffnung mit all ihren mannigfachen Problemen an den Nerv unserer Zeit. Der Christ ist der Mensch, der »wiedergeboren ist zu einer lebendigen Hoffnung«,4 und mit dieser Einstellung hat er den lähmenden Pessimismus überwunden, weil er mit Paulus der Überzeugung lebt: »Hoffnung läßt nicht zuschanden werden.«5 Die Christenheit nährt sich von der Hoffnung, die sie vor aller Verzweiflung bewahrt. »Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte«, sang auch Hölderlin.6 Aus der hoffnungsfreudigen Erwartung fließt dem Christen jene stärkende Kraft zu, die sich gerade inmitten aller Not als Hilfe dokumentiert. Wer die Hoffnung der Menschheit untergräbt, indem er sie als Illusion verhöhnt, betreibt ein teuflisch Werk, und wer die Christen dazu anfeuert, »festzuhalten in der angebotenen Hoffnung«,7 der tut in aller Unscheinbarkeit eine vorbildliche Tat. Was die messianische Reichserwartung dem Menschen bedeutet, hat kaum jemand schlichter ausgedrückt als der östliche Christ Pawel Florenskij: »Man wartet auf irgend etwas. Es fehlt an irgend etwas, nach irgend etwas sehnt sich die Seele, die frei werden und mit Christo sein will. Und irgend etwas wird sein; es ist noch nicht erschienen, was sein wird … Mit stiller Freude warte ich auf das, was sein wird. Wenn jenes eintreten wird, dann wird sich das große universale Ostern offenbaren, dann werden alle menschlichen Streitigkeiten ein Ende haben. Ich weiß nicht, ob das bald sein wird, oder ob noch jahrmillionenlang gewartet werden muß, aber mein Herz ist ruhig, weil die Hoffnung nahe an jenes heranführt.«8
»Ein Reis wird hervorgehen aus dem Sumpf Isais, und ein Schoß aus seinen Wurzeln Frucht tragen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Frucht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Recht sprechen nach dem, was seine Ohren hören. Er wird die Armen richten mit Gerechtigkeit und den Elenden im Lande Recht sprechen mit Billigkeit; er wird den Tyrannen schlagen mit dem Stabe seines Mundes und den Gottlosen töten mit dem Hauche seiner Lippen. Gerechtigkeit wird der Gürtel seiner Lenden und Treue der Geist seiner Hüften sein. Da wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamme und der Panther bei dem Böcklein lagern. Kalb und Jungleu weiden beieinander, und ein kleiner Knabe leitet sie. Kuh und Bärin werden sich befreunden, und ihre Jungen werden zusammen lagern; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Der Säugling wird spielen an dem Loch der Otter, und nach der Höhle der Natter streckt das kleine Kind die Hand aus. Nichts Böses und nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn wie von Wassern, die das Land bedecken. An jenem Tage, da werden sich die Heiden wenden an das Wurzelschoß Isais, das als Panier der Völker dasteht, und sein Wohnsitz wird herrlich sein.«1
Es muß eine der gewaltigsten Stunden im Leben des Propheten Jesaja gewesen sein, als ihm diese grandiose Schau vom messianischen Reich zuteil geworden war, ein Reich, das sogar die Umwandlung der Tierwelt in sich schließt. Die Wucht der Vision vom kommenden Friedensreich nötigte ihn, nicht nur einmal von dieser großen Weissagung zu reden, sondern mehrfach darauf zurückzukommen. Man spürt es noch heute seinen Worten an, wie er sich nicht genug tun konnte in der Schilderung jener messianischen Zeit, wo »sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spieße zu Rebmessern. Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.«2 Jesajas wundervolle Prophetie von der »Wiederkehr des Paradieses«3 war weder idealistisches Postulat noch unreife Schwärmerei. Er erwartete das Kommen des messianischen Reiches nicht von Menschenhand. Die Gestalt, die das Goldene Zeitalter heraufführen wird, trägt nach Jesajas Ausführungen unverkennbar überirdische Züge, wie aus den Worten »Wunderrat, starker Gott, Ewigvater, Friedfürst«4 hervorgeht. Es ist die größte, unüberbietbare Hoffnung, die je auf dieser Welt geboren worden ist.
Wenn auch Jesajas Weissagung ganz die Farbe seines Wesens trägt, so ist doch nicht er der alleinige Schöpfer der messianischen Verkündung. Die Erwartung des Reichs ist älter als Jesaja, und ihr Ursprung verliert sich im Dunkel der frühesten Geschichte. In Alt-Israel wurde die Verheißung des Gelobten Landes, in welchem Milch und Honig fließt, nach der Eroberung Palästinas nicht als erfüllt auf die Seite gelegt. Sie lebte als Sehnsucht weiter und erfuhr nach dem nationalen Unglück der Reichsteilung einen erneuten Auftrieb, namentlich als die Gestalt des Königs David mit der weiteren Entfernung in einem immer glänzenderen Licht erschien. Bei dem Propheten Amos, der den Gerichtsgedanken in die israelitische Vorstellungswelt einführte, wurde freilich der »Tag Jahves«5 zu einem erschreckenden Ereignis, das Finsternis und nicht Licht bedeutete. Diese furchtbare Drohung vom demnächst stattfindenden Untergang Israels bildet den Auftakt zum unvergänglichen Prophetismus, der als eine der tiefsten Erscheinungen der Religionsgeschichte zu bewerten ist.6 Bei Jesaja aber, dem zwar das düstere Pathos genauso eigen war wie dem zürnenden Amos oder dem schaudernden Hosea, kam mit seiner messianischen Botschaft doch das lichtvolle Hoffnungselement zu der erschütternden Unheilsweissagung. Er vermochte das zukünftige Reich in solch leuchtenden Farben zu schildern, daß noch bei dem schwermütigen Jeremia durch das dunkle Gewölk vom Ende Israels jener erwärmende Sonnenstrahl der messianischen Hoffnung durchbricht, die in den berühmten Worten zum Ausdruck kommt: »Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da schließe ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund, nicht einen Bund, wie ich ihn mit ihren Vätern schloß zu der Zeit, da ich sie bei der Hand nahm, sie aus dem Lande Ägypten herauszuführen; denn sie haben meinen Bund gebrochen, ich aber habe sie verworfen, spricht der Herr. Nein, das ist der Bund, den ich nach jenen Tagen mit dem Hause Israel schließen will, spricht der Herr: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und es ihnen ins Herz schreiben; ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Da wird keiner mehr den andern, keiner seinen Bruder belehren und sprechen ›Erkennet den Herrn‹, sondern sie werden mich alle erkennen, klein und groß, spricht der Herr; denn ich werde ihre Schuld verzeihen und ihrer Sünden nimmermehr gedenken.«7 Dieses Bild vom messianischen Reich, das der Prophetismus geprägt hat, konnte die Menschheit nie mehr vergessen; diese zeitlose Hoffnung tauchte immer wieder ermutigend vor ihren Augen auf.
Wie ein Nordlicht in der Finsternis leuchtete es, als die politischen Zustände in Palästina sich immer mehr verschlechterten. Nach der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar geriet das jüdische Volk in babylonische Gefangenschaft und mußte darin verharren, bis der Perserkönig Cyros ihm die Rückkehr gestattete. Aber auch noch nachher lag die Fremdherrschaft in ihrer ganzen Schwere auf ihm. Besonders als das Reich Alexanders des Großen nach kurzer Blüte zerfiel und Israel nach langen Machtkämpfen unter syrische Oberhoheit geriet, wurde die Situation immer gespannter. Als unerhörten Frevel empfanden es die Juden, wie Antiochus iv. nach seinem ägyptischen Feldzug in Jerusalem den Tempel betrat, die kostbaren Geräte raubte und nachher sogar die Ausübung des jüdischen Kultus verbot.8 Die syrische Herrschaft mit ihren Versuchen einer gewaltsamen Hellenisierung Israels brachte unendlich viele Leiden über das gequälte Volk, und das Spätjudentum hat mit innerster Leidenschaft gegen die geistige Übermacht gekämpft. Die Trostlosigkeit der religiösen Situation spricht aus dem gequälten Aufschrei der Psalmisten, der aus dieser Zeit stammt: »Unsre Zeichen sehen wir nimmer, kein Prophet ist mehr da; niemand unter uns weiß, bis wie lange.«9 Die bis zum Zerreißen gespannte und in ihrer Dunkelheit unerträglich gewordene politisch-religiöse Not trieb das Spätjudentum zu einem heldenhaften Freiheitskampf unter der Führung der Makkabäer, der ihm jedoch nur eine vorübergehende Erleichterung brachte, um nachher aufs neue in die Knechtschaft der Römer zu geraten. Zahlreiche Aufstände hielten das Volk in beständiger Erregung und verwickelten die Juden schließlich in den Verzweiflungskampf mit den Römern, der durch die zweite Zerstörung Israels ein Ende fand.
In all diesen Jahrhunderten blieb das jüdische Volk vom Einfluß der fremden Religionen mit ihrer Erlösersehnsucht nicht unberührt. In seiner erschütterten Situation vermochte es keineswegs, dem Fremden immun gegenüberzustehen. Sowohl die babylonische als die ägyptische Religion haben auf das Judentum abgefärbt. Diese Einflüsse werden jedoch von der iranischen Religion noch übertroffen. In der Verkündigung Zarathustras nimmt die Gottesreich-Vorstellung einen breiten Raum ein, ja Zarathustra ist wohl als einer ihrer Schöpfer zu betrachten. »Es ist zum erstenmal in der Geschichte der Religion, daß dieser Begriff auftaucht, um dann später in seiner Verschmelzung mit der jüdischen Vorstellung von der Königsherrschaft Jahves nicht mehr aus ihr zu schwinden.«10 Zarathustra unterscheidet zwei Reiche, das Reich des Lichtes und das Reich der Finsternis, die miteinander im harten Kampfe liegen. Das Reich Gottes wird sich in dem unmittelbar bevorstehenden Endkampf vollenden, den der Prophet selbst noch zu erleben hoffte. Zarathustra hat aller Wahrscheinlichkeit nach die Verwirklichung des Gottesreiches noch bei seinen Lebzeiten erwartet, und als diese Hoffnung sich nicht erfüllte, haben seine Anhänger diese Vorstellung keineswegs preisgegeben.11 Zwar tritt die Reichserwartung in der jüngeren Avesta offenkundig zurück, wenn sie auch nicht ausgeschieden wurde. In Persien teilte man die Weltgeschichte in vier Perioden ein und sprach von den 9000 Wintern der Falschheit. Die letzte Weltperiode wird mit dem Millenium des Zarathustra eröffnet. Diese beginnende Heilszeit spielt in der iranischen Religion eine große Rolle, in der sich sehnsüchtige und ängstliche Vorstellungen seltsam vermischten. Diese eschatologischen Anschauungen drangen unaufhörlich in Israel ein, wie denn Spuren ihrer Verarbeitung bereits bei Ezechiel und Deutero-Jesaja wahrzunehmen sind.
Als der altisraelische Messianismus sich mit den eschatologischen Vorstellungen der iranischen Religion verband und als auslösendes Moment die politische Not des Volkes dazukam, wurde im Spätjudentum das neue Weltgefühl der Apokalyptik geboren. Diese Umstände lösten jene fahle, apokalyptische Weltstimmung aus, die das ganze menschliche Dasein in einer schwefelgelben Beleuchtung sah und die als ein neues Phänomen zu bewerten ist. Apokalyptisches Weltgefühl überflutete beim Ausklang der Antike das Erdreich und erzeugte jene unheimliche Weltuntergangsstimmung, in der die Menschen ausriefen: Fallt über uns, ihr Berge, bedeckt uns, ihr Hügel! Die Welt war ein fiebernder Organismus geworden, der sich unter unsäglichen Krämpfen wand. Durch die Verschmelzung von orientalischen und okzidentalischen Elementen brach eine Zeit der ungeheuren Verwirrung herein, in der das Alte zusammenfiel und das Neue noch nicht geboren war. Die Menschen standen in einer grenzenlosen Erschütterung, die Erwartung des Endes erschien ihnen als einziger Ausweg. Wie ein loderndes Feuer flammte das apokalpytische Weltgefühl auf und breitete sich mit der Schnelligkeit einer Epidemie zu einem gewaltigen Brand aus. Diese siedendheiße Stimmung ist nicht leicht zu erfassen. Die Menschen fühlten sich am Vorabend der umstürzenden Ereignisse, sie waren von einer grenzenlosen Erwartung erfüllt, daß die Zeit für eine große Umwandlung gekommen sei. Eine unaussprechliche Ahnung durchzuckte sie beim Gedanken der demnächst eintretenden größten Veränderung seit Anbeginn der Welt, die alles bisher Erlebte in den Schatten stelle. Eine offenkundige Geringschätzung gegenüber dem monumentalen Weltbewußtsein der Antike ist ihr eigen. Der von diesem apokalyptischen Weltgefühl erfaßte Mensch schaute über sie hinweg, in der Erwartung, daß das Bestehende bald in sich zusammenfallen werde, das nach seinem Dafürhalten keine Realität mehr in sich barg. Diese antike Wirklichkeit mußte sich nach diesem Empfinden wie ein Sumpfnebel in naher Zukunft auflösen. Sie erschien ihm wie unrealer Spuk. Das Ende stand vor der Tür, und nachher sollte etwas ganz Neues, etwas, das bis dahin noch nie dagewesen ist, beginnen.
Diese seltsame Ewartung steht in unverkennbarem Zusammenhang mit dem altisraelitischen Messianismus. Doch stellt sie keine geradlinige Entwicklung desselben dar, sondern muß als religiöse Revolution im Judentum bezeichnet werden. »Die Apokalyptik ist ein Novum innerhalb der jüdischen Religionsgeschichte; sie hat sich nicht organisch aus der messianischen Hoffnung heraus entwickelt, steht vielmehr zu dieser von Anfang an in einem gewissen Gegensatz und einer Spannung.«12 Jedenfalls ist sie vom Messianismus durch das Exil getrennt und durch zahlreiche Vorstellungen bereichert, so daß sie nach Form und Inhalt von ihm unterschieden werden muß. Apokalyptische Stimmung regte sich bereits in den Nachtgesichten des Sacharja, aber ihren großen schriftlichen Niederschlag hat sie erst in den Dokumenten aus der Zeit des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert gefunden. Sie kann nur in Andeutungen verfolgt werden, da nur noch Überreste nicht leicht verständlicher Art vorhanden sind. Ein erstes Erzeugnis dieser neuen Literaturgattung ist das Buch Daniel, das um das Jahr 160 v. Chr. entstanden ist und das in den alttestamentlichen Kanon aufgenommen wurde. »In dieser Apokalypse ertönt der Wutschrei über den frivolen Angriff gegen Gott und sein Volk«, und das Kommen einer neuen Zeit wird in ihr mit eindrucksvoller Gebärde verkündet.13 Dem Buch Daniel folgte das Henochbuch, das sich bis zum heutigen Tag in der abessinischen Bibel festsetzen konnte und das auch im neutestamentlichen Judasbrief zitiert wird. Ihm schließen sich die Baruchapokalypse, die Himmelfahrt Mose, das Testament der zwölf Patriarchen, die Sibyllinen, das vierte Esrabuch, die Petrusapokalpyse, der Hirt des Hermas und endlich die Offenbarung Johannes an, welch letztere wiederum in den neutestamentlichen Kanon einzudringen vermochte.
Der erste Eindruck bei der Lektüre des apokalpytischen Schrifttums ist wohl derjenige des befremdenden Erstaunens. Himmlische Stimmen werden gehört und jenseitige Vorgänge beobachtet, merkwürdige Träume erzählt und sonderbare Tiere gesehen, schreckliche Reiter kommen daher, und unheimliche Bücher werden geöffnet. Die seltsamsten Vorstellungen von Engeln, Teufeln und Planetengeistern, die aus den babylonischen Astralmythen stammen mögen, und ungewöhnliche Ausführungen über Jahrwochen begegnen einem fortwährend. Dem heutigen Leser sind diese Apokalypsen, deren Form auf den ersten Blick unmöglich anmutet und deren Inhalt eine lächerliche Phantasterei zu sein scheint, nicht leicht zugänglich. Dieses Kopfschütteln spiegelt sich auch in der Hilflosigkeit der Beurteilung des apokalyptischen Schrifttums wider. Da der Mensch gerne geringschätzt, was er nicht versteht, wurde auch über die Apokalypsen meistens der Stab gebrochen. »In einen Zaubergarten wird man versetzt, in dem bizarre, oft an die Märchen von Tausendundeiner Nacht erinnernde Phantasmagorie wie üppiges Schlingkraut wuchert.«14 Man sprach von fratzenhaften Bildern und absurden Motiven, von naturphilosophischem Quacksalbertum und mystisierendem Scharlatanismus, durchsäuert mit physikalischen Spekulationen, die sich in dieser Literatur des religiösen Synkretismus auslebe. Ihre Bilder besäßen keine plastische Anschaulichkeit und würden jede klare Linienführung vermissen lassen. Alles sei blaß, nebelhaft und verschnörkelt wie bei einer Arabeske. Bei ihren Visionen werde man nie den Eindruck einer retouchierten Arbeit los, indem diese »Gesichte« nachträglich zurechtgestutzt worden seien. Etwas Anomales und Pathologisches liege in dem »oft törichten Kauderwelsch« dieser Apokalyptiker, mit ihren unmöglichen Beschreibungen von Häusern, »die heiß wie Feuer und kalt wie Schnee« seien.15 Unwillkürlich werde man durch diese phantastischen Ausführungen an die Bilder eines Hieronymus Bosch und an die Zeichnungen eines Pieter Bruegel erinnert. Es seien doch sehr seltsame Menschen gewesen, die solch skurrile Gedanken ausgeheckt und sich in diesen labyrinthhaften Räumen mit einer derart eleganten Behendigkeit zurechtgefunden hätten. Ein Hauch des hysterischen Barockzeitalters liege über dieser grotesken Bildersprache der Apokalypsen, die als Müdigkeitserscheinungen zu bewerten seien, da sie vom Gefühl des Alterns der Welt beherrscht würden. Ihre enttäuschten Verfasser werfen die Frage auf: »Ist unsere Mutter, von der du gesprochen, noch jung oder schon dem Alter nahe?« und erhalten darauf die Antwort: »Die Welt hat ihre Jugend verloren, die Zeiten nähern sich dem Alter.«16 Sie alle seien der Meinung: »Die Jugendzeit der Welt ist vergangen, und die Vollkraft der Schöpfung ist schon längst zu Ende gekommen; das Herbeikommen der Zeiten ist beinahe schon da und fast schon vorübergegangen. Denn nahe ist der Krug dem Brunnen und das Schiff dem Hafen und die Karawane der Stadt und das Leben dem Abschluß.«17 Man spüre es deutlich, wie durch die lange Elendsgeschichte, welche das gequälte Israel durchmachen mußte, die Lebensfreude dieses einst so vitalen Volkes gebrochen worden sei und wie ein immer größerer Pessimismus in seiner Mitte überhandnahm. »Denn je schwächer die Welt im Alter wird, um so mehr wird der Leiden, die über ihre Bewohner einhergehen.«18 Das menschliche Leben werde nicht mehr als wert empfunden, gelebt zu werden, und die Apokalyptik sei an dieser Welt völlig verzweifelt. Als ein Symptom der Schwäche und der Flucht müsse man die apokalyptische Literatur taxieren, sie sei ein Produkt der Dekadenz.
Diese weitverbreitete Bewertung ist jedoch voreilig und wird der Eigenart des apokalyptischen Schrifttums in keiner Weise gerecht. Es ist an der Zeit, dieses langjährige, völlig unberechtigte Vorurteil fahrenzulassen, das lediglich eine Verkennung zur Folge hat. Mit dem abschätzenden Werturteil »Degeneration« ist ohnehin nicht viel gesagt, zumal Verfallsepochen Erscheinungen sind, die eine notwendige Funktion auszuüben haben, so daß sie aus der Geschichte gar nicht weggedacht werden können. Dekadenzperioden haben immer den nötigen Fäulnisstoff geliefert, so daß auf ihrem Boden die jungen Pflanzen um so besser gedeihen konnten. Tatsächlich ist die Apokalyptik der Ausdruck einer Spätkultur, und sie stellt zunächst einen geschichtlichen Herbst dar, der die letzten Früchte zum Reifen und alle satten Farben zum Leuchten bringt. Vor allem verkennt die negative Beurteilung der Apokalyptik die Andersartigkeit dieses Schrifttums, das nicht als gewöhnliche Literatur verstanden werden darf. Nichts ist verkehrter, als es beständig mit der prophetischen Literatur des Alten Testamentes zu vergleichen. Dieses Tun ist noch viel unstatthafter, als wenn die Gotik beständig mit der Romantik, die Reformation mit dem Mittelalter verglichen werden. Jedes Phänomen hat Anspruch, aus sich selbst und nicht in Beziehung zu einem andern verstanden zu werden. Die Apokalypsen bilden weder den Abschluß der alten Prophetie, noch sind sie eine Entartung des prophetischen Geistes. Ihre Pseudonymität, mit der sie sich hinter die großen Namen der Vergangenheit eines Henoch, Moses, Baruch, Esra verbergen, bedeutet nicht, daß ihre Verfasser es nicht wagen, mit ihrer Persönlichkeit für sie einzustehen, sondern es stellt dies nach ihrem Glauben einen Rückgriff auf den echten Henoch, Moses usw. dar. Da sie ohnehin nicht ihre eigenen Ansichten vortragen, spielt die Verfassung für sie nicht jene Rolle wie in der modernen Zeit. Es ist unangebracht, von einem Täuschungsmanöver zu reden, waren sie doch durch das allgemeine Vorurteil, daß die Prophetie erloschen sei, gezwungen, ihr prophetisches Gewand von der Vergangenheit zu borgen. Das Rätsel der Pseudonymität der apokalyptischen Literatur, das bis heute noch keine genügende Aufhellung gefunden hat,19 wird etwas verständlicher, betrachtet man sie als eine ausgesprochene Geheimliteratur, die der damaligen politischen Zustände zufolge ihre Ansichten nicht offen äußern konnte. Wenn man die Eigenart des apokalyptischen Schrifttums mit einer modernen Erscheinung verdeutlichen will, was aber nur den Wert einer Analogie hat, so muß sie am ehesten mit den revolutionären Flugblättern der Neuzeit in Parallele gesetzt werden. Auch sie ist eine Verschwörerliteratur, die oft unter einem falschen Titel einen ganz anderen Inhalt verstecken mußte. Die Apokalypsen sind als »unterirdische Literatur« zu verstehen, die zwar, wie ihr griechischer Name besagt, etwas enthüllen wollen, es aber nicht offen tun dürfen. Sie bewegen sich grundsätzlich auf einer anderen Ebene als jene Literatur, die dem bloßen Unterhaltungsbedürfnis der Menschen dient. Deswegen können sie nicht mit den Maßstäben der übrigen Literatur gemessen werden. Alle religionsgeschichtlichen Erklärungen sind außerstande, ihr beizukommen, sosehr das traditionelle Gut, das sie mit sich führen, dazu reizen mag. Es ist dies ein im Ansatz verfehltes Unternehmen, denn diese Literatur muß mit ihren eigenen Kategorien betrachtet werden. Sonst kommt man ihr nicht nahe. Da es sich bei den Apokalypsen um Schriften handelt, in denen sich die Geburt eines neuen Weltgefühls dokumentiert, sind sie als Urliteratur zu bezeichnen. Das ist der einzig adäquate Name für sie, zu deren Erforschung höchste Behutsamkeit erforderlich ist. Urgeschichtliche Probleme sind nach Franz Overbecks trefflicher Formulierung »in steter Gefahr, im Lichte betrieben zu werden, in dem alle Katzen grau sind. Sie sind daher nur Forschern erlaubt, die in diesem Lichte zu sehen vermögen – also Forschern mit ›Katzenaugen‹, die im Dunkeln sich zurechtfinden.«20 Das apokalyptische Schrifttum ist wie das Neue Testament Urliteratur, und deswegen kann es in keiner Weise prinzipiell vom biblischen Kanon unterschieden werden. Die Trennung von Apokalypsen und biblischem Schrifttum ist eine willkürliche, die schon durch die Tatsache widerlegt wird, daß sowohl in den alttestamentlichen wie in den neutestamentlichen Kanon apokalyptische Literatur eingedrungen ist. Beide sind aus der gleich undurchsichtigen Atmosphäre hervorgegangen, die immer für das Werden eines neuen religiösen Bewußtseins charakteristisch ist.
Als Urliteratur müssen jedoch die rationalen Gesichtspunkte ihr gegenüber versagen. Die logische Begriffssprache ist in diesem Fall unzureichend. Die Apokalypsen stammen nicht aus der Welt des rationalen Denkens, und sie können deshalb auch nicht mit den wissenschaftlichen Denkformen erfaßt werden. Der Vernunft erscheinen sie genauso phantastisch, wie sie nicht buchstäblich verstanden werden dürfen. Die apokalyptischen Schriften sind aus der Welt des symbolischen Denkens heraus geboren; sie stellen ein unvergängliches Denkmal der magischen Weltanschauung dar. Ihre Ausführungen sind Sinnbilder, die das geistig Unsichtbare verständlich zu machen versuchen und darum dieselbe Sache oft in mehreren Bildern umschreiben, die doch das gleiche besagen. Ihre Tiere, Hörner, Schalen, Berge sind Symbole, die nicht eine kleinliche präzise Exegese verlangen, wohl aber nach einer großartigen religiösen Deutung rufen und nur dem Leser verständlich sind, der symbolisch-bildhaft zu denken vermag. Der Apokalyptiker schaut Bilder, und alles Bildhafte muß bei ihm sehr ernst genommen werden; es darf nicht zu einem allegorischen Poem verflüchtigt werden. Da sie aus einer Zeit stammen, in der das fruchtbare symbolische Denken noch nicht allgemein vom einlinigen, rationalen Denken abgelöst war, verwenden sie auch ohne weiteres die damals gebräuchlichen Ausdrucksformen, ohne deren genaue Kenntnis sie jedoch heute kaum verständlich sind. Alle diese kosmischen Bilder sind dichterisch verwendete Symbole, und wer sie interpretieren will, der muß zum allermindesten ein nachschaffender Künstler sein, der sich zu ihnen wie ein Dirigent zu einer Komposition verhält. Aus dieser Symbolwelt ist die beachtenswerte Sprache geflossen, mit der sie von »der Sonne süßblickendem Licht«,21 von der »allesgebärenden Erde«,22 vom »flammenden Feuer«23 reden. Die eindrucksvollen Bilder, die oft eine nicht alltägliche Sprachgewalt verraten, machen die Schönheit der Apokalypsen aus. Deswegen würdigte ein Herder die Offenbarung Johannes und hat dieselbe auf Künstler wie Dante, Dürer und Milton eingewirkt. Freilich ist es eine Schönheit eigener Art, die weder die Besonnenheit noch das Maß der abendländischen Phantasie hat. »Die orientalische Poesie liebt das Ungeheure, Unermeßliche. Die apokalyptische Phantasie öffnet Himmel und Hölle … und indem sie das Ende der Dinge schaut, zerbricht sie das Maß und die Schranke des Irdischen … Aber es gibt auch eine Schönheit des Ungeheuren, des Unermeßlichen, eine Poesie in der Zerstörung, in der schrankenlosen Gewalt.«24
Mit dem symbolischen Denken hängt der visionäre Charakter der Urliteratur zusammen. Diese triumphierenden Schilderungen konnten die Schriftsteller nur geben, weil ihre Visionen echt waren. Keineswegs sind ihre Ausführungen in der Studierstube zusammengeklügelt worden. Gegen diese Annahme sprechen schon die starken Gemütserregungen, denen ihre Verfasser ausgesetzt waren. Sie »geraten in Bestürzung«, und ihr »Gemüt ist heftig erregt«, ihr »Leib erschaudert gewaltig«, und ihre »Seele wird ohnmächtig vor Ermattung«,25 Tränen fließen, und die Gedanken des Herzens wallen, sie stehen Schmerzen aus über dem, was sie sehen, und »das Herz blutet ihnen aufs neue.«26 »Mir Daniel machten meine Gedanken sehr angst, und meine Gesichtsfarbe veränderte sich an mir«, heißt es in seinem Buch,27 und der Seher der Offenbarung Johannes kam jeweils »in den Geist«, so daß er »wie tot« hinfiel.28 Diese Schriften sind in Verzückungszuständen geschrieben, und ihre Verfasser sind Seher. Eine großartige Schau widerfuhr diesen visionären Unbekannten. Es ist der ekstatische Mensch, der sich in der Apokalyptik zu Wort meldet. Er, der mit seinen glühenden Visionen in den Himmel gehoben wird, steht über dem Typus des gesetzestreuen Pharisäers, obwohl dieser in jener Zeit den Ausschlag gab. Niemals darf der ekstatische Mensch als krankhaftes Wesen hingestellt werden. Er repräsentiert in seinen Entrückungen eine Haltung, die nicht nur als Ausdruck von Zeiten großer Geistesbewegungen und innerer Revolutionen zu bewerten ist, ihm kommt ewige Gültigkeit zu. Die von Gott gewirkte Begeisterungsfähigkeit, die den Menschen über sich selbst hinaushebt und in der alle großen Dinge vollbracht werden, muß als positiver Wert anerkannt werden.
Die Religiosität dieser ekstatischen Menschen war von einer solch verwirrenden Gedankenfülle, daß in diesem Zusammenhang nur die großen Konturen hervorzuheben sind. Daß es sich bei der Apokalyptik um eine ernsthafte Frömmigkeit handelt, kann nicht bezweifelt werden. Freilich ist es eine Religiosität, zu der man nicht ohne weiteres Zutritt hat, sie muß durch eine mühsame Einfühlung ertastet werden. Eine verzehrende Glut und eine brennende Sehnsucht sprechen aus ihren fiebrigen Schriften, die voll von religiös-sittlichem Pathos sind. Nicht umsonst hat der leidenschaftliche Tertullian diese Apokalypsen hochgeschätzt. In der apokalyptischen Weltanschauung begegnen einem die tiefsten Gedanken; ihre Verfasser dringen zu den letzten Problemen vor, die Menschen überhaupt beschäftigen können. Namentlich das Theodizeeproblem wird in dem ungewöhnlichen vierten Esrabuch auf eine eindrucksvolle Art behandelt, die an Marcion und in der modernen Zeit an Dostojewskij gemahnt. Selbstverständlich sind nicht alle Apokalyptiker gleich hoch zu werten. Man muß auch bei ihnen Unterschiede machen und darf ferner nicht übersehen, daß ihre Schriften zuweilen auch überarbeitet worden sind. Von der Großartigkeit ihrer religiösen Weltanschauung kann eine kurze Skizze nur eine notdürftige Vorstellung geben, die weder ihrem Reichtum noch ihren Nuancen gerecht zu werden vermag.
Die Apokalyptik nimmt ihren Ausgang von der Not des menschlichen Daseins. Das Leben wird als düster und schwer empfunden. Als Adam das Gebot Gottes übertrat, ward nach der dunklen Sicht des vierten Esrabuches »die Schöpfung gerichtet. Da sind die Wege in diesem Äon schmal und traurig und mühselig geworden, elend und schlimm, voll von Gefahren und nahe an großen Nöten.«29 Die niederdrückenden Geschehnisse der nationalen Geschichte, durch die das jüdische Volk von den Großmächten immer rücksichtsloser zu Boden getreten wurde, erzeugte folgerichtig eine trostlose Stimmung. Ein grenzenloser Pessimismus nahm überhand. Mit jedem Tag empfand man stärker das Anwachsen des Elends. Die menschliche Not schien ausweglos zu werden. Keine Bemühung des Menschen vermochte sie noch zu überwinden, vielmehr standen sie ihr machtlos gegenüber. Das Unglück war zu tief in diesem Weltzustand verwurzelt und erschien als ein Wesensbestandteil.
In dieser Zeit steigert sich die Notlage ins Gigantische. Unheimliche Zeiten sehen die Apokalyptiker heraufkommen. »Es wird zur letzten Zeit um das Ende des Mondes sein, ein die Welt durchrasender Krieg, trugvoll in Arglist. Es wird kommen vom Ende der Erde der muttermörderische Mann, fliehend und im Geiste Scharfschneidiges sinnend, der die ganze Erde niederwerfen und alles bezwingen wird. Es wird vom Westen her ein großer Krieg den Menschen kommen, und das Blut wird fließen, vom Hügel herab bis zu den tiefwirbelnden Flüssen.«30 Ein winterlicher Hauch wird auf Erden zu wehen beginnen, und gleichzeitig wird es Feuer von den himmlischen Gegenden auf die Menschen regnen. Unheimliche Prophezeiungen stoßen die Apokalyptiker schreckerfüllt über diese letzte Zeit aus, die den Menschen unmittelbar bevorsteht. Nicht ausdenkbare Drangsale werden die Erde heimsuchen, die aller Beschreibung spotten. Nach dem Buche Henoch »werden in jenen Tagen die Völker in Aufruhr kommen und … die, welche Not leiden, werden hingehen, ihre Kinder zu zerfleischen, und sie werden sie verstoßen … Fehlgeburten werden ihnen abgehen … und die Sünde für einen Tag unaufhörlichen Blutvergießens ist bereitet …«31 Gerüchte entstehen, und Träume erschrecken die Menschen, keiner traut mehr dem andern, und überall wittert man Verrat. Sogar die Gestirnswelt wird in diese Drangsal einbezogen. »Die Sonne wird kein Licht mehr geben und sich in Finsternis verwandeln; die Hörner des Mondes werden zerbrechen, und er verwandelt sich ganz in Blut, und der Kreis der Sterne wird in Verwirrung geraten.«32 Nach dem tiefsinnigen vierten Esrabuch »wird plötzlich die Sonne bei Nacht scheinen und der Mond am Tage, von Bäumen wird Blut träufeln; Steine werden schreien. Die Völker kommen in Aufruhr … die Vögel wandern aus, das Meer von Sodom bringt Fische hervor und brüllt des Nachts mit einer Stimme, die viele nicht verstehen, aber alle vernehmen.«33 Der ganze Weltenraum wird in dieses ungeheure Geschehen einbezogen. Es ist durchaus kosmisches Weltgefühl, das sich in der Apokalyptik ausspricht, und diese Fülle von Beziehungen verleiht dieser Weltanschauung auch ihre eigentümliche Größe.
Wenn diese Schrecken ihren Höhepunkt erreicht haben werden und kaum noch zu ertragen sind, dann zerbricht die Form dieses Äons, und der Weltuntergang beginnt. Das Gefühl, daß es so nicht mehr weitergehen könne und kein Mensch mehr Rat wisse, wie das immer größer werdende Chaos zu meistern sei, brachte die Apokalyptiker folgerichtig zu der Erwartung des Weltendes. Da die Sünde in der Substanz dieses Äons liegt, kann sie nicht beseitigt werden, ohne daß diese Welt der Vernichtung anheimfällt. Alle Apokalyptiker sind von dem Glauben an den Weltuntergang erfüllt, der aus allen ihren Zeilen spricht, und diese Einstellung ist es auch, die sie von den griechischen Denkern so stark abhebt. Das Ende aller Tage zu verkünden ist die ihnen aufgetragene schwere Botschaft, die ihren Ausführungen das entscheidende, erschreckende Gewicht verleiht. »Ich bin gekommen, um dir von dem Kenntnis zu geben, was deinem Volk am Ende der Tage begegnen wird«, heißt es bei Daniel,34 und ebenso behauptet Baruch: »Jetzt muß das Ende eintreten für die Zeit … denn nahe ist der Krug dem Brunnen.«35 Durch die Apokalyptik hallt der schrille Ruf vom Ende aller Dinge, das gekommen ist, ein unheimlicher Ruf, der die Menschen in Aufregung versetzt. Entsprechend der Weltuntergangsstimmung läutet der letzte Glockenschlag auf der Weltenuhr.
Mit dem Zerbrechen der Welt verbindet die Apokalyptik den Gedanken vom Gericht. Die Erwartung des Gerichtes spielt im apokalyptischen Denken eine zentrale Rolle. »Der Höchste erscheint auf dem Richterthron. Dann kommt das Ende, und das Erbarmen vergeht … mein Gericht allein wird bleiben.«36 Es handelt sich keineswegs nur um ein Völkergericht, das die erlittene Unterdrückung Israels rächen soll, sondern um ein Weltgericht. Der Charakter des Endgerichts beweist sich darin, daß in jenem Moment sich die unvorstellbare Auferstehung der Toten ereignen wird, eine Hoffnung, durch die sich die Apokalyptik am stärksten von den Propheten unterscheidet. Die Abgeschiedenen werden zum Endakt erscheinen müssen, wie Daniel schreibt: »Viele von denen, die schlafen im Erdenstaube, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zur Schmach.«37 Auch die sibyllischen Orakel geben diesem Glauben Ausdruck: »Aber wenn dann alles zu Staub und Asche geworden ist und Gott das unsägliche Feuer stillt, er, der es angezündet, und dann wird Gott selbst wiederum die Gebeine und den Staub der Männer gestalten und die Sterblichen wieder aufrichten, wie sie zuvor waren. Und dann wird das Gericht sein, bei welchem Gott selbst richten wird, die Welten wiederum richtend.«38 Die Bücher der Lebendigen werden aufgeschlagen, und alle Menschen werden erbleichen. Der einzigartige Ernst dieser atembeklemmenden Literatur kann nicht überboten werden. »Jener Tag ist also, daß er Sonne nicht hat, nicht Mond, nicht Sterne, nicht Wolken, nicht Donner, nicht Blitz, nicht Dunkel, nicht Abend, nicht Morgen, nicht Glanz, nicht Helle, nicht Leuchten, sondern ganz allein den Glanz der Herrlichkeit des Höchsten, wobei alle das schauen kommen, was ihnen bestimmt ist.«39 Doch ergeht sich die Phantasie nicht in zügellosem Sadismus. Ausdrücklich wird gesagt: »Du also frage nicht weiter, wie die Gottlosen gemartert, sondern forsche darüber, wie die Gerechten erlöst werden sollen.«40
Das mit dem Weltuntergang verbundene Weltgericht stellt freilich noch nicht das letzte Wort der Apokalyptik dar. Die tiefste Eigenart der apokalyptischen Religiosität kommt in ihren Ausführungen über diesen und jenen Äon zum Ausdruck. Nicht wie die alten Propheten kennt sie nur diese Erde, sondern die transzendentale Hoffnung ist mit Macht in ihre Vorstellungswelt eingebrochen, die ihrer Botschaft eine für das jüdische Denken ganz neue Wendung gab. Die rein diesseitige, flächenhafte Einstellung, wie sie die nationale Hoffnung bis dahin vertrat, wird durch eine hintergründige Anschauung durchbrochen. Die Entdeckung des Transzendentalismus muß als eine der schöpferischen Leistungen der Apokalyptik gewertet werden. Mit unerhörter Kühnheit sagt das Esrabuch: »Eben deshalb hat der Höchste nicht einen Äon geschaffen, sondern zwei.«41 Der kommende Äon bringt die neue Welt, die ewig bleibt. Es sind neue Klänge, welche die Apokalyptiker mit dieser Verkündigung anschlagen, deren Tragweite nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Nicht daß dadurch das Diesseits ihren Blicken entschwunden wäre. Die Eigenart der großen Welterneuerung, die den Inhalt ihrer Hoffnung bildete, bestand in einer untrennbaren Verbindung von irdischen und transzendenten Elementen. Beide Vorstellungen stehen nebeneinander und überschneiden sich auf mannigfache Weise.
Von dieser irdisch-überirdischen Atmosphäre ist auch die apokalyptische Reichserwartung umgeben. Die Heraufführung des Reiches ist das Werk des Messias. Die Messiasvorstellung in der Apokalyptik hat etwas Schillerndes an sich, was auch noch in der späteren jüdischen Auffassung wahrnehmbar ist.42 Zum »eisernen Bestand der eschatologischen Hoffnungen Israels gehört die Gestalt des Messias nicht«, da er in den »meisten Zukunftsschilderungen der älteren Zeit überhaupt nicht erwähnt wird.«43 Je stärker die transzendentale Hoffnung über die Apokalyptik Macht gewann, um so unklarer wurde es, ob der Messias als ein irdisches Wesen oder als eine mythische Gestalt aufzufassen sei. Bedeutsam bleibt, daß das Erscheinen des Messias das Kommen des messianischen Reiches zur Folge hat, das sich als die große Wende erwies. »Und dann wird sein Reich über all seine Kreatur erscheinen, dann wird der Teufel ein Ende haben und die Traurigkeit mit ihm hinweggenommen werden.«44 Als eine unfaßliche Wiederkehr der Tage des Paradieses hat die Apokalyptik das Gottesreich verkündet, in welchem die ganze Erde von der Freude verwandelt wird. »Ich werde den Himmel verwandeln, und … ich werde die Erde verwandeln«, heißt es bei Henoch.45 Welche überströmende Vorstellung, daß nicht nur die Erde erneuert werden müsse, sondern auch der Himmel! »Der erste Himmel wird verschwinden und vergehen; ein neuer Himmel wird erscheinen, und alle Kräfte der Himmel werden siebenfach immer leuchten.«46 Der Messias, dessen Haupthaar weiß wie Wolle ist, wird diese verwandelte Erde beherrschen, und »seine Macht ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört.«47 Dann wird »kein Schwert auf Erden noch Kriegslärm sein, noch wird ferner die schwer seufzende Erde erschüttert werden. Nicht Krieg noch auch Dürre wird ferner auf Erden sein, nicht Hunger und Früchte verwüstender Hagel, sondern großer Friede auf der ganzen Erde.«48 Es ist das Gottesreich, das nun gekommen ist, dessen Heilszeit von ewiger Dauer sein wird. Die Weissagung dieses göttlichen Reiches ist neben dem Monotheismus die religiös tiefste Idee, die das Judentum hervorgebracht hat. Diese Reichserwartung ist von der apokalyptischen Weltstimmung unablösbar, aus ihr hat sie den stärksten Auftrieb erhalten, so daß ein wegweisendes Wort aus jener Zeit lautet: »Alle Gebete, welche nichts vom Reiche haben, verdienen nicht den Namen Gebet.«49
Bei der Größe der hochgespannten Erwartung dieser Menschen mußte die Frage brennend werden: Wann ereignen sich diese unerhörten Geschehnisse? Um diese aktuelle Frage kreiste das zentrale Interesse der Apokalyptiker, und sie gab ihren Ausführungen den existentiellen Charakter. Stets waren sie bereit zu fragen: Hüter, ist die Nacht bald hin? Der Apokalyptiker ist bestrebt, in die Zukunft hineinzuschauen, und er will den Menschen »das Künftige in den Sinn legen«.50 Offen gesteht Henoch: »Nicht für das gegenwärtige Geschlecht dachte ich nach, sondern für das künftige.«51 Die Apokalyptiker schreiben aus keinem andern Grund, als »damit ihr wißt, was kommen wird«.52 Sie waren ausgesprochene Zukunftsmenschen, die sich voll leidenschaftlicher Sehnsucht dem Kommenden entgegenstreckten. Vergangenheit und Gegenwart versanken zur Bedeutungslosigkeit angesichts der großen Zukunft. Direkt wirft Esra die Frage auf: »Warum nimmst du dir nicht die Zukunft zu Herzen, sondern nur die Gegenwart?«53 Die Apokalyptiker opfern gewollt die Gegenwart der Zukunft und schreiten in kühner Weise dem Kommenden entgegen.
In ihrem gespannten Harren auf das Kommende waren sie von der Gewißheit durchdrungen, daß diese Weissagungen in Bälde in Erfüllung gehen werden. Die Verwirklichung ist in diesem Moment nur deshalb nicht möglich, weil diese Welt zu sehr dem Bösen verfallen ist, als daß sie die große Umwandlung zu erleben gewürdigt würden. Aber es dauert nicht mehr lange, und alle Fristen werden abgelaufen sein. Auf die gespannte Frage: »Wie lange noch, wann soll das geschehen?« antwortete der Engel dem von heiliger Ungeduld erfüllten Seher: »Du willst doch nicht mehr eilen als der Höchste.«54 Offenbar eilt Gott, und die Dinge drängen einem beschleunigten Ablauf entgegen. Alles befindet sich in einem unheimlich bewegten Fluß, die Ereignisse werden sich in Kürze überstürzen, und in allernächster Zeit wird sich das sehnsüchtig Erwartete vollziehen. Diese ungeheure Spannung verleiht der apokalyptischen Weltauffassung ihren beispiellos dynamischen Charakter. Esra versteigt sich sogar zu der Frage: »Glaubst du, daß ich leben werde bis zu jenem Tage«, worauf er freilich die Antwort erhält, darüber ihm etwas zu sagen sei nicht vorgesehen. Aber aus allen apokalyptischen Ausführungen geht die Nähe der letzten Dinge hervor. Apokalyptische Weltstimmung ist immer Naherwartung, und der Glaube an die Nähe des Endes drückt dieser Haltung den Stempel der Echtheit auf.
Die Überzeugung von dem unmittelbar bevorstehenden Weltende und dem Hereinbrechen des Reiches wurde durch mannigfache Anzeichen gestützt, die die Apokalyptiker wahrzunehmen glaubten und die alle darauf hinwiesen, welche Stunde es auf der Weltenuhr geschlagen habe. Auf diese Vorboten, die die Menschen warnen sollten, legten sie größtes Gewicht. »Ich werde dir aber ein deutliches Zeichen sagen, daß du erkennen kannst, wann das Ende aller Dinge auf Erden kommt: Wenn Schwerter am gestirnten Himmel nächtlicherweise erscheinen gegen Abend und auch gegen Morgen; alsobald wird auch Staubwirbel am Himmel herfahren gegen die ganze Erde, und der Glanz der Sonne wird vom Himmel mitten am Tage verschwinden und des Mondes Strahlen sichtbar werden und zurück auf die Erde kommen. Mit blutigen Tropfen aus dem Felsen wird ein Zeichen geschehen; in der Wolke werdet ihr sehen einen Kampf von Fußvolk und Reisigen, gleichsam eine Jagd auf wilde Tiere, Nebeln ähnlich.«55 Krankheiten beginnen zu wüten, die Frauen hören zu gebären auf, die Erde gibt keine Frucht mehr usw. Auch im Esrabuch ist von diesen Vorzeichen die Rede, die der gleichen Aufgabe dienen: »Denn wie alles, was in der Welt geschehen ist, einen verborgenen Anfang hat im Wort, aber ein offenkundiges Ende, so sind auch des Höchsten Zeiten: ihr Anfang in Worten und Vorzeichen, ihr Ende aber in Taten und Wünschen.«56
Diese zahlreichen Anzeichen brachten die Apokalyptiker auf den Gedanken, das Eintreffen dieser Geschehnisse berechnen zu können. Daniel gibt dieser Annahme mit den bedeutsamen Worten Ausdruck: »Aber es ist ein Gott im Himmel, der Geheimnisse enthüllt; der hat zu wissen getan, was am Ende der Tage geschehen wird.«57 Deswegen stellten die Apokalyptiker ausführliche Berechnungen über diesen Äon an. Durch die Umwandlung der Jahre in Jahrwochen glaubten sie, das Ende in ihrer Gegenwart erwarten zu können. Eine eigenartige Zahlenmystik findet sich bei den Apokalyptikern, die eine eschatologische Chronologie aufstellten, in der dunkel, aber doch verständlich das gewünschte Resultat angedeutet wird. Freilich mußten auch sie zuweilen erfahren, daß diese seltsamen Berechnungen mit den geschichtlichen Ereignissen schließlich doch nicht übereinstimmten. Deswegen sprach Rabbi Jose die Warnung aus: »Wer das Ende berechnet, hat keinen Anteil am ewigen Leben.«58 Gleichwohl sind diese Berechnungen nicht nur als Ausdruck einer primitiven Welteinstellung oder einer ungezügelten Neugierde zu betrachten. Es steht auch hinter dieser Magie der Zahlen etwas Größeres, als gewöhnlich vermutet wird. In den Berechnungen meldet sich, wenn auch noch in unbeholfener Weise, das erste Verständnis für das Zeitproblem. Die Apokalyptiker haben die Zeit als einen Rhythmus verstanden, den sie in gewisse Perioden gliederten. Nach ihrem Dafürhalten kann die Zeit in Zahlen gefaßt werden, da alles seinen Tag und seine Stunde hat. Doch hat sie diese Annahme nicht an der Erkenntnis von der merkwürdigen Ungleichwertigkeit der Zeiten gehindert. Die Zeit kann trotz allem nicht einem Strom, der gleichmäßig dahinfließt, verglichen werden. Es gibt Jahre, wo das Leben beinahe stillzustehen scheint, und plötzlich kann sich die Zeit wieder überstürzen; es gibt Sekunden, in denen Entscheidungen für das ganze Leben fallen. Die Apokalyptik hat ein erstes Gefühl für das Krisenhafte der Zeit, und wenn sie sich auch in den großen Fristen Gottes täuschte, so stellen ihre Berechnungen doch die ersten Grundakkorde einer Philosophie dar, die das Zeitproblem als solches erkannt hat.
Die Apokalyptiker – von der Erwartung einer völligen Umkehrung des Bestehenden erfüllt – liebten es, dieser Überzeugung mit starken Worten und kräftigen Strichen Ausdruck zu geben. Deswegen darf ihre Beurteilung auch nicht von einem kleinlichen Aspekt aus erfolgen. Sie besitzen Anspruch auf Anerkennung ihrer positiven Werte, denn in ihnen lebte die Hoffnung auf das unfaßliche Finale der Weltgeschichte.
Wenn die apokalyptische Weltstimmung auch von düsterer Färbung ist, so kann sie doch nicht als »fassungslos« charakterisiert werden. Im Gegenteil: sie ist eine kräftige Trostspenderin. In gedrückter Situation, da die Menschen infolge der ungünstigen Zeitereignisse der Verzweiflung nahe waren, versuchten die Apokalyptiker die zitternden Knie wieder zu stärken und die lässigen Hände wieder aufzurichten. Mitten in der verhängten Lage wiesen sie auf jenen kommenden Zustand hin, da Gott abwischen wird die Tränen. Durch alle ihre Schriften geht die tröstliche Zusicherung: »Am Trübsalstage der Sünder werden eure Kinder sich erheben und wie die Adler auffahren … Ihr Leidenden aber, fürchtet euch nicht, denn Heilung wird euch zuteil werden …«59 Mütterlicher Zuspruch klingt aus den Worten: »Fasse Mut, Israel, sei nicht traurig, Jakobs Haus.«60 Bei allen furchterregenden Fanfarenstößen trösteten die Apokalyptiker doch wieder ihre Leser so wundersam, wie nur eine Mutter ihr weinendes Kind zu beruhigen vermag. Ein reicher Trostquell ergießt sich aus dem apokalyptischen Schrifttum, und unzählige Menschen haben aus ihm in schwerer Zeit innere Stärkung geschöpft. Allein schon um dieser tröstenden Elemente willen verdienen die Apokalypsen eine andere Schätzung, als ihnen gewöhnlich zuteil wird. Die Makkabäerzeit beweist, wie diese apokalyptisch eingestellten Menschen fähig wurden, sich aufzuopfern. Sie waren von einer großen Leidensbereitschaft erfüllt. Wahrhaftig, die Apokalyptik vermochte starke religiöse Kräfte zu entbinden.
Die Apokalyptiker verbanden mit ihrer Trostspendung einen deutlich wahrnehmbaren ethischen Appell. Ihr Schrifttum vertritt keine sittlich indifferente Weltanschauung, die sich jenseits von Gut und Böse fühlt. Es ist vielmehr von einem sehr starken Ethos durchdrungen, das an die Menschen Forderungen stellt: »Seid nicht gottlos in eurem Herzen, lügt nicht, ändert nicht die Worte der Wahrheit und gebt die Worte der großen Heiligen nicht für Lüge aus.«61 Zur Treue bis in den Tod ruft die Apokalyptik die Menschen auf und ermuntert sie, das zu behalten, was sie haben, damit ihnen niemand ihre Krone rauben könne. Wer sich nicht eines rechtschaffenen Wandels befleißt und wer nicht Gottes Gebote genau beachtet, der hat keine Aussicht, in den Drangsalen zu bestehen und nachher zur Gemeinde der Frommen gerechnet zu werden. Die Apokalyptik ist von dem Gedanken der kosmischen Tragweite einer sittlichen Tat durchdrungen. Was der Mensch in diesem Leben tut, das besitzt seine Wirkungen in der jenseitigen Welt. Dem Frevel gegenüber gibt es nur ein rücksichtsloses Entweder-Oder. Die wahre Frömmigkeit duldet kein Sowohl-Als-auch. Dieser unerbittlich-sittliche Ernst verleiht der Apokalyptik ihren ethischen Charakter.
In ihren Kreisen hat man sich auch zuerst über den Ablauf der Geschichte Gedanken gemacht, versuchte sie in verschiedene Perioden einzuteilen und dann festzustellen, in welcher von ihnen sich die Gegenwart befinde. Man kann diese Überlegungen der Dürftigkeit bezichtigen. Gewiß sind sie das auch in mehr als einer Beziehung. Aber aus dieser Primitivität hat sich etwas Großes entwickelt. Diese unbeholfenen Gedanken führten zu nichts Geringerem als zur Entstehung der Geschichtsphilosophie! Der Apokalyptiker reflektierte: »In zwölf Teilen ist die Weltgeschichte geteilt; gekommen ist sie bereits zum zehnten, zur Hälfte des zehnten; überbleiben aber zwei nach der Hälfte des zehnten.«62 Natürlich war es ein weiter Weg, den die geschichtsphilosophischen Bemühungen von Daniel über Augustin bis zu Hegel zurückgelegt haben; aber ihre Ursprünge sind tatsächlich bei den Apokalyptikern zu suchen. Wer sich nicht mit einem trockenen Pragmatismus des historischen Geschehens begnügen will, sondern das unabweisbare Bedürfnis empfindet, sich über den Ablauf der Geschichte seine Gedanken zu machen und nach dem verhüllten Sinn zu fragen, der wird in den Apokalyptikern seine Väter erblicken. Diese haben als erste eine theologische Betrachtungsweise ausgeübt und das Weltgeschehen von einem einheitlichen Gedanken aus zu verstehen gesucht. Als diese eine Idee muß das Problem der Theodizee bezeichnet werden, das die Apokalyptiker unablässig quälte, weil das fremdartige Tun des verborgenen Gottes sie vor lauter Rätsel stellte. Auf geschichtsphilosophischem Wege versuchten sie diese ewige Frage durch die Lösung zu bezwingen, daß die in tiefe Unordnung geratene Welt nicht mehr gesunden könne, sondern einer andern Platz machen müsse. Aber die der Menschheit noch bevorstehende glückliche Zukunft wird nur unter großen Schmerzen geboren, die der neuen Zeit vorangehen. Nach der apokalyptischen Geschichtsphilosophie liegt der Sinn nicht im menschlichen Leben; er verwirklicht sich erst im Kommenden.
Das Weltbild der Apokalyptik ist von einer unüberbietbaren Dramatik durchpulst. In ihr ist nichts von einer Idylle, von behaglicher Ruhe zu finden. Vielmehr lebt in ihm ein deutlich ausgeprägtes Gefühl für das Tragische des Weltlaufes, und es wird dieses Bewußtsein zu einem höchst dramatischen Bild gestaltet, das die Menschen aus dem Schlafe aufschreckt. Ein grandioses Lebensgefühl lebt in den apokalyptischen Ausführungen, das in den oft als phantastisch gerügten Bildern nur unvollkommenen Ausdruck bekommt. Was bedeuten diese skurrilen Vorstellungen anders, als daß ihre Seher von Ideen bewegt waren, die sie nicht in der gewöhnlichen Sprache formulieren konnten, weil sie zu stark erschüttert waren. Ein heißer Atem weht aus der Apokalyptik; sie hat in der Welt einen Feuerbrand entfacht, der sich durch Jahrhunderte hindurch nicht löschen ließ und dessen erstarrte Lava noch in die Gegenwart hineinfließt. Es ist an der Zeit, endlich die Großartigkeit der apokalyptischen Schau zu sehen, die eine Wahrheit enthält, die immer wiederkehrt.
Der Apokalyptik wohnt eine revolutionäre Kraft inne. Ihr Wille ist auf das Kommende gerichtet, und sie entrollt einen prophetischen Ausblick in die Zukunft. Apokalyptische Weltstimmung ist Adventszeit, ihre größte Bedeutung liegt darin, daß aus ihr das Christentum hervorgegangen ist. Nicht zufällig steht am Eingang des Neuen Testamentes Johannes der Täufer mit seiner drohenden Gerichtspredigt. Von allen geschichtlichen Bewegungen hat die Apokalyptik für das werdende Christentum die größte Wichtigkeit erlangt. Mit ihrem vorbereitenden Charakter stellt sie »die Vorgeschichte des Evangeliums« dar, die wie keine andere »in die eigentliche Geburtsstätte des Christentums hineinführt.«63
Wegen ihrer Verbundenheit mit dem Evangelium hat sie auch dem heutigen Menschen noch ein gewichtiges Wort zu sagen. Auch der Christ der Gegenwart muß wieder dem apokalyptischen Weltgefühl gegenüber geöffnet sein, und die apokalyptische Spannung ist nun einmal mit der religiösen Einstellung aufs engste verwandt. Die Geschehnisse der Welt drängen ihn förmlich darauf. Allezeit muß in ihm ein Witterungsvermögen für jenes Bewußtsein vorhanden sein, das der große, moderne Apokalyptiker Dostojewskij einmal in die Worte kleidete: »In der Tat, wer kann es wissen, was der Welt im nächsten Vierteljahrhundert bevorsteht, oder vielleicht schon in diesem Jahr? Europa ist unruhig. Aber ist es nicht vielleicht nur eine jähe vorübergehende Unruhe? Keineswegs: man fühlt, es ist die Zeit für etwas Tausendjähriges, für etwas Ewiges gekommen, für das, was sich auf der Erde seit dem Anfang ihrer Zivilisation vorbereitet hat.«64
Der Vorwurf, es fehlte dem Zeitalter der apokalyptischen Weltstimmung an großen Gestalten, ist ungerechtfertigt, allein schon im Hinblick auf Jesus von Nazareth. Freilich erfuhren wenige Persönlichkeiten eine solche Übermalung bis zur Unkenntlichkeit wie Jesus. Er ist die mißhandeltste Gestalt der Weltgeschichte, die noch nach dem Tode eine zweite Passion durchmachen mußte. Um Jesus in dem ihm allein entsprechenden Lichte zu sehen, ist es notwendig, sich entschieden von der traditionellen Vorstellung zu befreien. Das süßlich-weiche Wesen, in das ihn eine kleinbürgerliche Kunst eingehüllt hat, muß restlos abgestreift werden. Für den, der Jesus in dem langweiligen Schema der kirchlichen Überlieferung in sich aufgenommen hat, ist die Umstellung allerdings sehr schwer. Und doch hängt alles davon ab, ob man Leben und Lehre Jesu wieder groß und mit jener unmittelbaren Frische zu schauen vermag, als begegnete sie einem zum erstenmal. Es ist wichtig, daß man sich diese neue Schau nicht gleich durch die banausische Frage der praktischen Verwendbarkeit verdirbt.
Das Einzigartige und Überragende am jungen Christentum ist die Gestalt Jesu. Es gibt keine Persönlichkeit, die sich an elementarer Wirkung mit ihm vergleichen ließe. Er war der fruchtbarste Mensch, der je über diese Erde geschritten ist. Jesus Christus wurde das Schicksal des Abendlandes. Bis zum heutigen Tag steht diese Entwicklung in seinem Schatten. Auch dort, wo das abendländische Denken in der Neuzeit antichristliche Wege geht, geschieht dies in bewußter Auseinandersetzung mit ihm. Als ein Meteor, der aus einem andern Weltenraum kam und in einen andern ging, erschien er dieser Erde, der nach der apokryphen Tradition von sich selbst sagte: »Ich trat mitten in der Welt auf und erschien im Fleische ihnen und fand alle trunken, und niemand fand ich durstig unter ihnen, und es mühet sich meine Seele ab an den Söhnen der Menschen, denn sie sind blind in ihrem Herzen …«1 Das magische Leuchten seiner Erscheinung kann mit historischen Begriffen nie eingefangen werden. Der Unergründlichkeit seines Wesens vermag keine Darstellung gerecht zu werden. Was man auch sagen mag, es ist alles zum voraus unzureichend. Es gibt kein Jesusbuch, das auch nur annähernd den Glanz der Evangelien erreicht. Niemand vermochte bis dahin das Außerordentliche, das mit ihm gegeben war, zu umschreiben. Mit Jesus ist etwas ganz Neues in die Welt hineingekommen, wenn es auch überaus schwer ist, auszusagen, worin dieses bis dahin noch nie Dagewesene besteht. Man spürt es nur aus jener Reihe von explosiven Wirkungen, die beständig von ihm ausgingen und noch ausgehen.
Das Unfaßliche seines Wesens bezeugen auch die Synoptiker, die den unvergleichlichen Rhythmus dieses Lebens festzuhalten versuchten und die mit ihrer anekdotischen Darstellung Jesus bald in nebliger Verhüllung und bald in blitzartiger Überhelle zeigen. Ihre Berichterstattung steht freilich unter dem schwerwiegenden Urteil von Jesu Wort: »Die mit mir sind, haben mich nicht verstanden.«2 »Gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten« predigte Jesus, über »dessen Lehre sich das Volk entsetzte«.3 Erdbebenartige Erschütterungen lösten seine Worte aus, und allezeit stand er als der Überlegene da. Die Wucht seiner hoheitsvollen Persönlichkeit auf seine Zeitgenossen war von unauslöschlichem Eindruck, als er mit der Peitsche in der Hand den Tempel säuberte. Er überragte mit seinem befremdenden Format alles, was sich ihm in respektvollem Abstand näherte. Gemeißelt und doch voll Lebendigkeit, zugänglich und doch abseits steht Jesus vor den Menschen. Auch nach seinem Tode zitterte noch die unheimliche Seinsgewalt in seinen Worten nach, von denen eine unwiderstehliche Anziehungskraft und die größte Weltumwälzung ausgingen. Es gibt auch nach dem Urteil profaner Geschichtsphilosophen in der ausgehenden Antike nichts, was sich nur von entfernt an die Seite Jesu stellen ließe: »Wer damals seine Leidensgeschichte las und hörte, wie sie sich kurz vorher begeben hatte, den letzten Zug nach Jerusalem, das letzte bange Abendmahl, die Stunde der Verzweiflung in Gethsemane und den Tod am Kreuz, dem mußten alle Legenden und heiligen Abenteuer von Mithras, Attis und Osiris flach und leer erscheinen.«4 Über Jesus war tatsächlich nur das eine Urteil des Volkes möglich: »Solches haben wir noch nie gesehen.«5
Dabei war diese von nicht aufzuhellenden Geheimnissen umwitterte Gestalt voller Widersprüche. Eine weiche Milde von beinahe frauenhafter Zartheit findet sich neben männlichem Kampfeswillen von metallener Härte. Jesus stellte eine strenge Ethik auf, um dann wieder das Übermoralische in einer Weise zu betonen, daß er den Kirchenmännern aller Zeiten schwersten Anstoß bereitete. Er verkündete die schroffste Prädestinationslehre, um im nächsten Augenblick wieder alle Mühseligen zu sich zu rufen; er kann sich auf den exklusiv nationalistischen Standpunkt stellen als einer, der nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt sei, um alsobald wieder ein Gleichnis zu erzählen, nach dem das Reich den Heiden gegeben werde. Er preist die Friedfertigen selig und hielt sich doch für den, der das Schwert zu bringen gekommen sei. Immer neue Gegensätze von imperatorischem Herrscherwillen und von tiefster Demut traten bei Jesus hervor und machen diese Gestalt zu jenem faszinierenden Rätsel, das nicht gelöst werden kann. Unmöglich ist es, diese Persönlichkeit ganz zu erfassen, die wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang zuckt. Ist sie als Dichter von lyrischer Schönheit oder als Denker mit abgründiger Tiefsinnigkeit zu verstehen? War er der größte aller Propheten, oder ist er nur als der einzige Sohn zu begreifen? Alle diese Bezeichnungen können auf Jesus angewandt werden, und doch ist mit keinem dieser Begriffe dem Unerklärlichen seines Wesens beizukommen, das sogar den Seinigen den erschreckten Ausruf entlockte: »Er ist von Sinnen.«6
Trotz diesen mannigfachen Gegensätzen, die Jesus in sich barg, war er doch ein Mensch von hinreißender Geschlossenheit, dem das galiläische Volk in Scharen folgte, obschon er nicht im geringsten Massenanhang suchte. Jegliche innere Zerrissenheit war diesem in sich geeinten Menschen völlig fremd, dessen beispielloser Radikalismus in einem ungewöhnlichen Selbstbewußtsein wurzelt. Man muß bei Jesus vor allem auf den zentralen Obergedanken achten, zu dem all die verschiedenartigen Ausführungen sich bloß wie Erläuterungen verhalten. Im Grunde hat Jesus nicht vieles, sondern immer nur eines gesagt. Dieses Eine, das durch alle seine Worte hindurchgeht, muß in den Mittelpunkt gestellt werden, von dem aus all die mannigfachen Gleichnisse und Sprüche zu verstehen sind. Jede Jesus-Auffassung, die nicht zu dieser Einheit vordringt, bleibt an der Peripherie hängen und ahnt nichts von dem Worte Jesu: »Mein Geheimnis gehört mir und den Söhnen meines Hauses.«7 Nur wenn man dieses Zentrum sieht, nimmt man den leuchtenden Glanz wahr, der diese Gestalt umfließt, einen Eindruck, den Rembrandt wohl am besten wiederzugeben vermochte. Es kommt allein auf diesen Lichtkern an, und alle Jesus verliehenen schmückenden Worte sind nur stammelnde Versuche, dieses verborgene Göttliche seiner Persönlichkeit sichtbar zu machen, das sich in einer charismatischen Tätigkeit ohnegleichen auswirkte. Rudolf Otto versuchte dies in seinem Buch »Reich Gottes und Menschensohn« zu schildern, womit er einen neuen Aspekt gewann.