Das Buch der Ketzer - Walter Nigg - E-Book

Das Buch der Ketzer E-Book

Walter Nigg

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Beschreibung

›Das Buch der Ketzer‹ erzählt von »verunglückten Heiligen«, wie Walter Nigg sie nennt. Mit großer Empathie schreibt er über Gottes- und Wahrheitssucher, die von der Kirche aus­gestoßen wurden oder sich von ihr getrennt haben. Darunter finden sich »Hexen« und Katharer, aber auch berühmte Philosophen und Theologen, Literaten und Wissenschaftler.

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Walter Nigg

Das Buch der Ketzer

Diogenes

Glaubt doch nicht, daß Ketzereien durch ein paar hergelaufene kleine Seelen entstehen könnten.

Nur große Menschen haben Ketzereien hervorgebracht.

 

Augustinus

Einleitung

Ketzerisches über die Ketzer

In der Novelle »Nach dem Ball« erzählt Leo Tolstoi von einem jungen Mann, der eine festliche Abendunterhaltung in einer russischen Gesellschaft erlebte. Den ganzen Abend wird zur Musik getanzt und dem Champagner reichlich zugesprochen. Den Mittelpunkt des Ballfestes bildet ein reizendes Mädchen im weißen Kleid mit einer rosa Schärpe, für das der junge Mann zärtliche Gefühle empfindet. Nach Beendigung des Balles findet der verliebte Mensch in seinem Zimmer keine Ruhe und schlendert in seinem glücklich-erregten Zustand noch ein wenig durch die von der morgendlichen Dämmerung erhellten Straßen. Unvermerkt gerät er bei dieser träumerischen Wanderung in die Nähe einer Kaserne und wird unfreiwillig Zuschauer einer soeben stattfindenden Exekution. Ein desertierter und wieder eingefangener Tatar muß Spießruten laufen und stößt dabei immer wieder die flehentlichen Worte hervor: »Brüderchen, habt Erbarmen, Brüderchen, habt Erbarmen!« In dem die Tortur befehlenden Obersten erkennt der junge Mann plötzlich zu seiner größten Überraschung den Vater des hübschen Mädchens, der gegen Ballschluß zum Vergnügen aller Anwesenden mit seiner Tochter »nach der alten Art« eine Mazurka getanzt hatte. Jetzt kommandierte er »frische Spießruten«, während der Rücken des schrecklich zugerichteten Opfers bereits eine einzige blutige Masse war. Der junge Mann stürzt so schnell er kann davon. Aber der grauenhafte Eindruck bleibt in seinem Innern haften, die Gefühle für seine Balldame verschwinden, und die Erzählung schließt mit der Bemerkung, daß durch dieses Ereignis das Leben des Mannes in eine ganz andere Richtung gelenkt wurde.1

Diese Erzählung Tolstois – ein Zeugnis seiner großen Dichtkunst – ragt mit ihrem innern Gehalt in die religiöse Sphäre hinein. Obwohl darin der Name Gott kaum vorkommt, wirkt sie beinahe wie eine biblische Vision. Mit ihrem bestürzenden Wirklichkeitserlebnis enthüllt sie dem Leser eine der tiefsten Wahrheiten. Das Problem der mehrschichtigen Wirklichkeit tut sich darin in seiner ganzen Unheimlichkeit auf. Es gibt nicht nur eine Wirklichkeit, sondern verschiedene, die hintereinander gelagert sind und die nicht zusammenhanglos auseinanderfallen. Tolstoi zeigt in seiner Novelle zwei völlig verschiedene Arten von menschlicher Wirklichkeit, die durch eine tiefe Kluft voneinander getrennt und doch auch seltsam miteinander verbunden sind. Es ist eine zu einlinige Auffassung, wenn man nur die eine Wirklichkeit für wahr, die andere für falsch hält, zumal es nicht nur diese zwei Wirklichkeiten gibt, von denen der Dichter in dieser Erzählung redet.

Die Vorderseite des Daseins führt dem Menschen jene Wirklichkeit vor Augen, welche Geschichte als ein Ballfest auffaßt, bei der Mazurka getanzt und Champagner getrunken wird. Ein bestrickender Zauber umweht diese festlich illuminierte Wirklichkeit, sie nimmt denn auch im Denken der Menschen einen breiten Raum ein. Sie darf nicht kurzerhand als Illusion und Täuschung hingestellt werden. Das Ballfest verfügt über eine Schönheit, auch wenn sein glitzernder Flittertand nur im Dienste der Repräsentation und des Effektes steht. Das entzückende Mädchen mit dem weißen Kleid und der rosa Schärpe besitzt einen Wirklichkeitswert, der nicht in Abrede gestellt werden kann. Geschichte als Ballfest ist ein Wirklichkeitserlebnis, dessen Berechtigung nur von denen bestritten wird, welche die Wahrheit in ein einziges Schema hineinzwängen wollen.

In seltsamem Kontrast zu diesem Ballfest steht jedoch jene Wirklichkeit, welche sich auf der Hinterseite des Lebens abspielt. Eine nur ungern gesehene Realität tritt dort dem Menschen entgegen, die nicht leicht in Worte gefaßt werden kann. Geschichte als Spießrutenlaufen ist keine der gebräuchlichen Formulierungen. Aber ungeachtet dieser ungewöhnlichen Bezeichnung entspricht sie doch der Wirklichkeit des entlaufenen Tataren, der nun geknutet wird und dessen zusammengeschnürter Kehle sich immer wieder der herzzerreißende Aufschrei entringt: »Brüderchen, habt Erbarmen.« Etwas vom Unbegreiflichsten sind die merkwürdigen Verbindungsglieder zwischen diesen zwei Wirklichkeiten. Gibt es doch Menschen, die auf der Vorderseite des Lebens mit der eigenen Tochter zur allgemeinen Bewunderung eine Mazurka tanzen können und wenige Stunden später auf der Hinterseite des Daseins die Befehlsgewalt bei einer Exekution innehaben, was das Ineinanderübergehen dieser verschiedenen Wirklichkeiten zum Ausdruck bringt. Das Verhalten des Vaters zeigt, daß die mehrschichtige Wirklichkeit bis in den Menschen selbst hineinreicht, wodurch das Rätselhafte dieser Erscheinung noch gesteigert wird.

Die konkrete Anwendung dieser geschichtsphilosophischen Erörterungen führt zu einer völlig neuen Schau der christlichen Geistesgeschichte. Ein unerwarteter Anblick mit gänzlich veränderten Perspektiven eröffnet sich, wenn der Blick einmal von dem geschichtlichen Ballfest auf die hinter dieser Vorderseite liegenden Ereignisse gerichtet wird. Das Hindurchdringen zu der Geschichte als Spießrutenlaufen bildet nichts Geringeres als das gewaltige Thema der Ketzergeschichte, für das die entsprechenden Kategorien noch fehlen. Eine Dramatik ohnegleichen schließt diese meist absichtlich nicht beachtete Wirklichkeit in sich, die an erschütternder Gewalt füglich mit der griechischen Tragödie verglichen werden darf. Begreiflicherweise wagen es nur wenige Menschen, sich mit diesem dunklen Geschehen zu beschäftigen, das sich auf der Hinterseite des Lebens immer aufs neue mit einer bis zum Bersten angefüllten Grausamkeit abspielt. Man geht der die fürchterlichste Anklage enthaltenden Ketzergeschichte unwillkürlich aus dem Weg und scheut deren martervollen Anblick. Instinktiv fürchtet man, aus ihren Annalen Geschehnisse zu erfahren, die einen nur zu leicht um den Schlaf bringen. Es läßt sich viel angenehmer auf der Vorderseite des Lebens Mazurka tanzen, als in der morgendlichen Dämmerung auf einem Platz dem Spießrutenlaufen der Ketzer zuzusehen. Und doch enthält das Buch der Ketzer potenzierte Wahrheiten, die den Menschen unausweichlich mit dem Ewigen konfrontieren, wie es nur von wenigen Geschehnissen gesagt werden kann.

Der Tatar als Deserteur steht zum voraus in einem schlimmen Licht, weil niemand fragt, welche Gründe ihn zur Flucht bewogen haben mögen. Müssen es durchaus unehrenhafte gewesen sein? Die gleiche Unterlassung der Frage geschieht auch beim Ketzer, der die Geschichte als Spießrutenlaufen erlebt. Er ist zum vornherein ein ruchloser Mensch, mit dem sich ein Christ nicht näher beschäftigt. Jahrhundertelang wurde der Häretiker in den Augen der Menschen mit allen Mitteln diffamiert. Immer wurde von den Ketzern eine furchterregende, abstoßende Vorstellung verbreitet. Schon die Ketzerbezichtigung erwies sich in der Kirchengeschichte als eine entsetzliche Waffe, mit der jeder unbequeme Gegner sogleich vernichtet werden konnte. Aus diesen Vorurteilen ist jenes falsche Bild des Ketzers hervorgegangen, in welchem er als ein mit geistigem Aussatz behafteter Mensch dargestellt wurde, ein Verführer zum Bösen, ein Wolf im Schafskleid, über dessen Seele Dämonen Gewalt bekommen haben. Jeglichen frevelhaften Tuns hielt man den Häretiker für fähig, und es gibt kein verwerfliches Urteil, das man nicht für erlaubt hielt, noch auf ihn anzuwenden. In jeder Form wurde der Ketzer zum voraus diskreditiert, damit er nicht gefährlich werden konnte. Diese irreführende Auffassung vom Ketzer erhielt sich bis in unsere Gegenwart. Noch im 20. Jahrhundert kann man in profangeschichtlichen Werken die Definition lesen: »Ketzer waren einzelne, die es besser wissen wollten.«2

Wer aber entwirft dieses entstellte Fratzenbild des Ketzers? Ist es nicht jener Offizier, welcher gegenüber dem bereits blutig geschlagenen Tataren noch ausdrücklich befiehlt: »Frische Spießruten!« Ohne Bild gesprochen ist es der Standpunkt der kirchengeschichtlichen Sieger, von welchen beinahe alle Geschichtswerke geschrieben wurden und welche den Ketzer in dieses ungünstige Licht rücken. Fast immer werden die Geschehnisse in jenem Interesse dargestellt, welches diejenigen vertreten, die in der geschichtlichen Auseinandersetzung das Feld behauptet haben. Die Sieger der Kirchengeschichte haben das begreifliche Bedürfnis zu zeigen, auf welchem gottgewollten Weg sie zur Herrschaft gelangt sind, und alles, was ihr legitimes Prinzip antasten könnte, als minderwertig hinzustellen. Dieser zu wenig beachtete Sachverhalt ist schuld an der Verbreitung jener abschreckenden Ketzervorstellung. Ein ganz anderes Bild vom kirchengeschichtlichen Prozeß ergibt sich jedoch, wenn er einmal vom Standpunkt der Besiegten aus betrachtet wird. Diese Umkehrung schließt viele neue Fragestellungen in sich, wenn auch selbstverständlich der Aspekt von Siegern und Besiegten nicht die einzige Betrachtung der Geschichtsschreibung sein darf.

Wer die Tendenz des offiziellen Häretikerbildes durchschaut hat, wird sich nicht mehr länger von den Schlagworten beeinflussen lassen, welche über die spießrutenlaufenden Ketzer ausgestreut wurden. Nachdem diese Schreckmittel in ihrer Trüglichkeit erkannt sind, ergibt sich die Notwendigkeit, das Ketzerproblem auf eine neue Grundlage zu stellen. Sein Bereich kann zunächst allerdings nur in großen Umrissen abgesteckt werden. Der Ketzer verkörpert kein neues Problem; seine Erscheinung ist vielmehr sehr alt. Aber die alten Fragen sind nicht überholt, sondern müssen frisch gestellt werden. Von Zeit zu Zeit müssen die unvergänglichen Probleme wieder diskutiert und sollte über sie neu abgestimmt werden. Keineswegs führt das wiederholte Nachdenken über sie zu den gleichen Resultaten, zu denen man früher kam. Vielmehr hat eine spätere Zeit auch eine andere Betrachtungsmöglichkeit, welche den vergangenen Jahrhunderten mit ihren oft noch unzulänglichen Mitteln nicht zur Verfügung stand. Wer im zwanzigsten Jahrhundert das Ketzerproblem aufgreift, tut es von andern Voraussetzungen aus, als wer sich mit ihm im zweiten Jahrhundert beschäftigte. Die mehrschichtige Wirklichkeits-Erfassung, welche den Blick von der Geschichte als Ballfest auf die Geschichte als Spießrutenlaufen hinlenkt, rückt die Ketzergeschichte in eine andere Beleuchtung. Das realistische Erleben der unbekannten Wirklichkeit führt zunächst zu einer dringend notwendigen Rehabilitierung von einigen verfemten Gestalten. Eine Zeit, welche einen Geistesumbruch von solchem Ausmaß erlebt wie die Gegenwart, ist direkt aufgefordert, an diese überfällige Revision vieler Geschichtsurteile zu gehen. Die Aufgabe einer neuen Ketzergeschichte besteht in der bewußten Verpflichtung, über die Ketzer auch ketzerisch zu denken und nicht mehr länger die sattsam bekannte Auffassung einfach zu wiederholen. Dem Häretiker kann nur auf häretischem Wege Gerechtigkeit widerfahren. Alle andern Kategorien entsprechen ihm zum voraus nicht und sind auch nicht imstande, in sein inneres Wesen einzudringen. Es ist notwendig, sich in das umwertende Denken der Ketzer hineinzufühlen und für ketzerische Haltung, ketzerische Erfahrung und ketzerische Wirksamkeit Sinn zu bekommen. Bereits die innerlich aufregende Beachtung der Hinterseite des Lebens ist im Grunde etwas Ketzerisches. Nur zu leicht gerät man dabei selbst auf verbotene Wege und bekommt unheimliche Dinge zu sehen, welche gewöhnlich absichtlich zugedeckt werden. Sind doch nicht alle Menschen an der Enthüllung der Wahrheit interessiert, sonst hätte Pascal nicht jenes furchtbare Wort niedergeschrieben, an das man angesichts der Ketzer-Schicksale immer wieder denken muß: »Auf Erden ist nicht die Heimat der Wahrheit, unerkannt irrt sie unter den Menschen umher.«3 Erstes Erfordernis für die neue Grundlage, auf die das Ketzerproblem gestellt werden muß, ist die seelische Bereitschaft, einen ungewohnten Pfad zu betreten, der in ein unbekanntes Gebiet führt. Es bedarf einer Liebe für Außenseiter und einer Neigung zum Abseitigen, deren man sich nicht zu schämen braucht. Die Beschäftigung mit den Ketzern ist freilich nicht ungefährlich. Für unreife, innerlich ungefestigte Gemüter ist das Buch der Ketzer nicht geeignet, da es auf sie nur eine verwirrende Wirkung ausüben kann. Es müssen neben großen Wahrheiten auch dämonische Versuchungen zur Sprache gebracht werden, welche ein kritisches Denken und die Gabe der Geisterunterscheidung erfordern. Das Wort Gideons, »wer blöde und verzagt ist, der kehre um«,4 ist auch an dieser Stelle als Warnungstafel aufzustellen.

Man kann das Ketzerproblem auf keine neue Grundlage stellen, wenn man nicht vorerst die Frage nach der Entstehung der Ketzerei bewußt auf die Seite schiebt. Aus naheliegenden Gründen hat sie die Christen nachhaltig beschäftigt. Schon in den ersten christlichen Jahrhunderten sah man in der Ketzerei einen vom Teufel bewirkten Abfall von der Rechtgläubigkeit. Der Satan habe sich in die Reihe der Christen eingeschlichen und etliche von ihnen zur Irrlehre verführt. Diese Auffassung versucht dem Problem unter einem metaphysischen Gesichtspunkt beizukommen, was ihr eine sichtliche Tiefendimension verleiht. Doch ist mit ihr der unablösbare Nachteil verbunden, daß sie vom Ketzer als Teufelswerkzeug ein häßliches Bild entwerfen muß. Wer in der Häresie zum vornherein eine satanische Wirkung sieht, besitzt keine Möglichkeit mehr, den Aussagen der Ketzer unbefangen entgegenzutreten. Er ist aufs stärkste voreingenommen und hat sich das Verständnis des Phänomens zum voraus verbaut. Gegenüber diesem metaphysischen Erklärungsversuch war jener patristischen Auffassung eine entgiftende Wirkung eigen, welche alle Ketzerei als eine durch die griechische Philosophie bewirkte Anschauung erklärte, wobei allerdings die Weisheit Hellas’ als Irrtum betrachtet wurde. Die Häresie als eine Verunreinigung des Christentums durch die griechische Philosophie anzusehen, schließt angesichts der Ketzerbewegungen der alten Kirche ein Wahrheitselement in sich, das nicht bestritten werden kann. Doch versagt diese Auffassung bereits gegenüber den mittelalterlichen Häretikern, die oft nicht die geringste Kenntnis der griechischen Philosophie besaßen und von ganz anderen Motiven bewegt waren. Neuerdings wurde Entstehung der Ketzerei durch die Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit und der Minderheit innerhalb der Christenheit zu erklären versucht, wobei die siegreiche Majorität zuletzt immer die unterliegende Minorität zu Ketzern gestempelt habe.5 Auch dieser Erklärung liegt eine richtige Beobachtung zugrunde, und sie hat sehr viel historische Wahrscheinlichkeit für sich. Ihr geschichtlicher Wert wird einzig durch ihre Flachheit beeinträchtigt, weil sie auf den dadurch bedingten geschichtsphilosophischen Fragenkomplex gar nicht eingeht. Nach dieser Auffassung wird der Entscheid über Rechtgläubigkeit und Ketzerei mehr oder weniger dem geschichtlichen Zufall überlassen, was eine religiös ganz unbefriedigende Betrachtung ist. Obschon die Frage nach der Entstehung der Ketzerei immer wieder aufgeworfen wird, ist auf diesem Wege keine Lösung des Ketzerproblems zu erwarten. Man kann das Werden der Häresie nicht nach einem Schema erklären, weil es immer wieder andere Gründe waren, welche die Ketzer auf den Plan riefen. Die Entstehung der Ketzerei kann nicht in summarischer Weise beantwortet werden, und man tut darum gut, dieses Problem nicht an den Anfang einer Ketzergeschichte zu setzen.

Viel bedeutsamer für die neue Grundlage, auf die das Ketzerproblem gestellt werden muß, ist jene Einsicht, welche die Häretiker nicht kurzerhand von der Kirche ablöst. Es gilt die unumgängliche Notwendigkeit des Ketzertums für das kirchengeschichtliche Leben zu begreifen. Sagt doch auch ein christlicher Religionsphilosoph vom Range eines Leopold Ziegler: »Was die Ketzer und Irrlehrer anbetrifft, vergesse man aber nicht, daß sie eben der Überlieferung not tun, wenn sie im Flusse bleiben und nicht erstarren soll.«6 Der Ketzer darf nicht in einseitigen Gegensatz zur Kirche gerückt, sondern muß als eine Ergänzung zu ihr aufgefaßt werden. Kirche und Ketzer gehören viel stärker zusammen, als sich beide Teile eingestehen wollen. Mit dieser Erkenntnis wird nicht auf dem Weg über die Geschichtsschreibung das Element der Häresie in die Kirche wieder hineingetragen, es befindet sich vielmehr von Anfang an in ihr. Die Auffassung, daß am Beginn das Christentum eine Einheit war, woraus dann eine Vielheit wurde, ist historisch nicht aufrechtzuerhalten. Vielmehr reden bereits die Briefe des Paulus von verschiedenen Strömungen innerhalb der christlichen Gemeinden – was angesichts der polyformen Welt, in welche das Evangelium eintrat, auch nicht verwunderlich ist – und die Christen waren immer wieder von dem Bestreben erfüllt, zu einer Einheit zu gelangen, die ihnen aber nie beschieden war. Die Kirche ist allezeit für das Aufkommen der Ketzerei in ihrer Mitte verantwortlich, weil dieselbe fast immer aus einer Vernachlässigung der Wahrheit ihrerseits entstanden ist. Was sie auch sagen mag, sie kann sich ihrer indirekten Teilhaberschaft an der Häresie nicht entschlagen. Aus diesem Grunde haben die Ketzer im Hinblick auf die stets wieder innerhalb der Kirche eintretende Verfälschung, Entartung und Verschüttung des Evangeliums eine notwendige Funktion auszuüben, die vom Standpunkt christlicher Selbstbesinnung aus nicht ernst genug genommen werden kann. Aus einer solchen durch das Phänomen der Ketzer veranlaßten Selbstkritik können erneuernde Kräfte hervorgehen, deren die Christenheit mehr als je bedarf. Steht doch auch nach katholischer Auffassung »der Häretiker immer noch irgendwie auf christlichem, gläubigem Boden«, wenn auch nicht mehr mit beiden Füßen.7 Kirche und Ketzer sind Erscheinungen einer geistigen Welt, sie sind als Ausdrucksformen einer ihnen übergeordneten göttlichen Wirklichkeit zu begreifen, von der jeder Teil eine ganz bestimmte in ihrem Wesen begründete Funktion auszuüben hat. Es kann deshalb nie zu »einer endgültigen Überwindung der Begriffe Orthodoxie und Häresie« kommen, welche Nikolai Berdiajew mit eindringlichen Worten gefordert hat,8 wohl aber zu einer neuen Bewertung des Ketzers, die nicht länger aufgeschoben werden darf.

Der Versuch, ein neues Bild des Ketzers zu zeichnen, hat zunächst einmal von der Frage auszugehen: Worin besteht das Wesen des Häretikers? Was macht den Ketzer zum Ketzer? Ist es der Ungehorsam gegenüber der Kirche, das trotzige Auflehnen gegen die Wahrheit der Bibel, die gleisnerische Verführungskunst, andere Menschen ins Verderben zu locken? Über eine Einstellung, die solche Fragen bejahen müßte, lohnte es sich nicht, länger zu reden. Der echte Ketzer, der nicht mit dem Sektierer, welcher sein individuelles Schicksal zum allgemeinen Gesetz erheben will, verwechselt werden darf, wird von ganz anderen Kräften getrieben, die man nicht in einem kurzen Satz zusammenfassen kann. Der Ketzer ist nicht auf eine einzige Formel zu bringen, und alle, die es versuchen, tun seiner hintergründigen Psychologie, die große Gegensätze nebeneinander in sich schließt, Gewalt an. Ungeheure Widersprüche klaffen auf, welche die Spannung verursachen, die den Ketzer zu jenem reichhaltigen Phänomen machen, das auch in jedem Jahrhundert wieder einen andern Ausdruck annimmt. Da die Anschauungen der Ketzer verschieden waren, kann der Typus des Häretikers inhaltlich nicht auf einen Nenner gebracht werden. Nur zahlreiche Umschreibungen verhelfen zu einer annähernd richtigen Vorstellung von dem, was man unter einem Ketzer sich zu denken hat. Alle Ableitungen aus einem einzigen Punkt entsprechen trotz dem Reiz, den ein solches Vorgehen oftmals ausübt, nicht der historischen Wirklichkeit, die allezeit eine Summe von Erscheinungen ist.

Nach Bernard Shaw ist »jeder wahrhaft religiöse Mensch ein Ketzer, daher auch ein Umstürzler«.9 Diese Äußerung ist – wie die meisten Worte des witzigen Iren – überspitzt formuliert, enthält aber doch ein Körnchen Wahrheit. Nicht jeder, aber viele religiöse Menschen sind Häretiker, muß man sagen. Der Ketzer ist nicht das gottlose Scheusal, als das er so lange hingestellt wurde, sondern hat mit dem Propheten, dem Heiligen zunächst einmal die Gemeinsamkeit, daß er als der religiös lebendige Mensch für seinen Glauben alles opfert und von einer christlichen Dynamik erfüllt ist. Er ist der stärkste Gegenpol zum religiös Indifferenten, zum diplomatischen und kirchenpolitisch orientierten Menschen. In seiner christlichen Entschiedenheit begegnet der Ketzer dem Ernste auch ernst, er hinkt nicht auf beiden Seiten und weicht der Stellungnahme nicht in kluger Vorsicht aus. Der Häretiker nimmt die Folgen seiner Handlungsweise entschlossen auf sich, aus seiner Einsatzbereitschaft kann man lernen, was der Wahrheit Treue halten heißt. Diese innere Lebendigkeit setzt ein außerordentlich starkes religiöses Interesse voraus, das im Ketzer überdurchschnittlich vorhanden ist. Man darf den Ketzer nicht als den religiösen Menschen schlechthin ausgeben. Die Auffassung, welche nur ihn als wertvolle Gestalt gelten lassen will, verfällt einer ungerechten Überschätzung. Es gab große religiöse Menschen – man denke nur an Benedikt von Nursia, an Anselm von Canterbury, an Gerhard Tersteegen und viele andere –, die gar nichts Ketzerisches an sich haben und die doch gewaltige Kräfte ausstrahlten. Die Behauptung aber, die im Ketzer das Religiöse in verdichteter Form sieht, macht sich keiner Übertreibung schuldig. Das christliche Anliegen steht bei ihm an erster Stelle, dem alles andere untergeordnet wird. Diese Aussage trifft auf beinahe alle bedeutsamen Ketzergestalten zu, die allein auf einen Platz im Buch der Ketzer Anspruch erheben können. Daß es unter den Häretikern auch pathologische Querulanten gab, wird kein Geschichtskundiger bestreiten. Doch sind sie nicht wichtig und dürfen als unwesentliche Erscheinungen unberücksichtigt bleiben, zumal aus Raumgründen ohnehin nicht alle Gestalten erwähnt werden können. Bedeutsam sind nur die großen Ketzer, welche das religiös Lebendige vertraten, und solch glühende Gestalten gibt es in allen Geschichtsepochen. Mit ihrem religiösen Feuer steckten sie oft ganze Generationen in Brand. Eine christliche Glut erfüllte diese Persönlichkeiten, die einen nötigt, sie zu den religiös wertvollsten Menschen zu zählen. Überaus eindrucksvoll ist es, wenn diese christliche Opposition aller Jahrhunderte zusammengefaßt und in ihrer Ganzheit überblickt wird. Erst aus einer solchen Zusammenstellung wird die religiöse Bedeutung des Ketzertums restlos klar, die eine neue Sicht des Evangeliums vermittelt.

Die religiösen Außenseiter, als was die Ketzer zu verstehen sind, vertreten eine andere Auffassung des Christentums. Diese Wahrnehmung ist für das Verständnis des Ketzerbuches grundlegend, und von ihrer richtigen Erfassung hängt alles Weitere ab. Häresie hat nicht das geringste mit einer feindseligen Bekämpfung des christlichen Glaubens zu tun. Diese immer wiederkehrende Verleumdung ist falsch, sie verunmöglicht jedes tiefere Verständnis des Ketzers hoffnungslos. Ketzerei ist vielmehr Christentum, Christentum in denkbar stärkstem Maße, wie es von einem religiös lebendigen Menschen nicht anders zu erwarten ist. Freilich setzt sich der Ketzer für ein anderes Verständnis des Christentums ein, als es die siegreichen Kirchen vertraten. Die andere Seite des Evangeliums zur Geltung zu bringen, mit dieser Formulierung könnte ihre Bestrebung überschrieben werden. Ob man diese andere Christentumsauffassung der Kirche unter-, neben- oder überordnen will, ist eine Frage der Wertung, die zunächst nicht zur Diskussion steht. Aber daß es auch eine Ansicht vom Christentum ist, die aus dessen Wesen geschlossen und auf ehrlichem Wege errungen wurde, sollte nicht länger bestritten werden. Es gibt nun einmal mannigfache Auffassungen des Christentums, wie aus seinen individuellen und nationalen Ausprägungen zu ersehen ist. Das Evangelium darf und kann nicht in eine einzige Form hineingepreßt werden, welche dann als die allein gültige zu betrachten ist. Dies bedeutet geistige Gleichschaltung und wird dem johanneischen Wort von dem göttlichen Haus, in welchem viele Wohnungen sind, nicht gerecht. In Wahrheit gibt es verschiedene Verständnismöglichkeiten des Christentums, die zwar nicht den gleichen Wert besitzen, aber die alle eine Funktion zu erfüllen haben. Gegenüber dem unduldsamen Geist der Ausschließlichkeit muß mit allem Nachdruck auf die andere Auffassung des Christentums hingewiesen werden, die entsprechend dem Erlebnis von der mehrschichtigen Wirklichkeit auch ihre Berechtigung hat und die noch unerkannte Kräfte in sich schließt.

Die Ketzer vertraten jene Anschauung vom Evangelium, die in der geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung unterlegen ist. Ein unterdrücktes Verständnis des Christentums meldet sich bei ihnen zu Wort. Es sind die Besiegten, welche auf der Walstatt liegengeblieben sind. Dieses Mißgeschick besagt über Wert und Unwert ihrer Anschauungen nichts aus. Nur zu oft ist in der Kirchengeschichte die tiefere Auffassung ins Hintertreffen gelangt, weil die Zeit für sie noch nicht reif war. Wie auch die Würfel im kirchenpolitischen Geschehen jeweils gefallen sind – keineswegs darf der Sieg mit der Wahrheit identifiziert werden! Die Gleichsetzung der Niederlage mit der Unwahrheit ist eine kurzschlüssige Geschichtstheologie, die nicht aufrechterhalten werden kann. Mehrfach hat in der Geschichte zunächst eine Bewegung gesiegt, die einen falschen Wahrheitsanspruch vertrat, und ist eine Persönlichkeit unterlegen, welche erst viel später zu ihrem Recht kam. Die Geschichte kennt auf kurze Zeitspanne beurteilt Fehlentwicklungen, welche aber, sub specie aeternitatis betrachtet, wieder korrigiert werden. Eine dieser Revisionen wird durch das Buch der Ketzer angestrebt, welches die unterdrückten Möglichkeiten des Christentums an das Tageslicht fördert. Aus der Geschichte der Häretiker steigt eine verschüttete Wahrheit herauf, die unerwartet in neuem Glanz zu leuchten beginnt. Sie zeigt, wie Gewaltmaßnahmen nie geistige Probleme dauernd zu lösen imstande sind. Die Ketzergeschichte birgt die Fragen in sich, ob die erlittene Niederlage für alle Ewigkeit gültig sei, ob das Anliegen vieler Häretiker nicht allzufrüh abgelehnt wurde und ob es immer ausgeschaltet bleiben soll. Ist nicht gegenüber vielen geschichtlichen Entscheidungen eine Überprüfung am Platze, und hat die niedergestampfte Christentums-Auffassung nicht als Ergänzung zum siegreichen Evangeliums-Verständnis eine Aufgabe zu erfüllen? Es sind die unerledigten Probleme, die in der Ketzergeschichte zur Sprache kommen. Vorzeitig unterdrückte Fragen tauchen auf, denen man nicht gerecht geworden ist und die eine erneute Prüfung erheischen. Die unerledigten Probleme sind aber für die christliche Geistesgeschichte bedeutsamer als diejenigen, welche als gelöst endgültig abgeschrieben werden können. In dem unablässigen Bestreben, mit dem die Ketzer für die andere, übersehene und verkannte Auffassung des Christentums eingetreten sind, liegt ihr bedeutsamer Beitrag zur Kirchengeschichte. Der Platz im großen Kosmos Gottes darf ihnen nicht länger vorenthalten werden, denn sie sind genau wie ihre Gegner Geschöpfe Gottes, die Spießrutenlaufenden nicht weniger als die Mazurkatanzenden.

Durch ihr mutiges und oft heldenhaftes Eintreten für die andere Auffassung des Christentums sind die Ketzer zu den großen Wegbereitern neuer Ideen zu zählen. Nicht alle Häretiker dürfen zwar als Pioniere des Neuen bezeichnet werden. Es gab unter ihnen auch Vertreter, welche das Recht der Überlieferung verkörperten und sich für das konservative Element gegen eine modische Zeitströmung wehrten. Aber zahlreiche Ketzer waren Vorläufer des Kommenden. Viele dieser Menschen, die in der Öffentlichkeit als teuflische Scheusale verleumdet und als verstockte Sünder verlästert wurden, sind in Wahrheit jene Gestalten, welche das christliche Geistesleben immer wieder vorwärtsgetrieben haben und dasselbe vor einer Versteinerung bewahrten. Mit ihrem dynamischen Auftrieb sind sie ihrer Zeit manchmal weit vorausgeeilt, sind in neue, im ersten Augenblick erschreckende Sphären vorgestoßen und haben völlig unbekannte religiöse Werte entdeckt. Diese neubauende Tätigkeit ist eine der großartigsten Seiten des Ketzertums, die verdient, ans Licht gestellt zu werden. Als gewaltige Kämpfer für die Wahrheit waren die Häretiker manchmal die Elite in der geschichtlichen Entwicklung und konnten deswegen von ihrer Zeit oft mit dem besten Willen nicht begriffen werden. Um ihrer brennenden religiösen Sehnsucht willen, die sich im Bisherigen unbefriedigt fühlte und die sie veranlaßte, sich der erstarrenden Tradition entgegenzustellen, wurden sie als kühne, waghalsige Neuerer empfunden, die in ihrem stürmischen Drang Dämme einrissen, über welche die größten Fluten hinwegbrandeten. Ketzer sind in der Regel religiöse Revolutionäre, deren Wirksamkeit in keiner Weise harmlos war. Sie denken weder in kollektiven noch autoritativen Kategorien – was sich in geistiger Hinsicht fast immer lähmend auswirkte –, sondern schauen den Dingen selbständig in die Augen und sind mit ihrem Mut zur Unabhängigkeit auch von der weitverbreiteten, nichtsdestoweniger verderblichen Neigung völlig frei, sich immer der Majorität anzuschließen. Es sind Menschen, welche dem selten befolgten Wort der Bibel nachkommen: »Laufe nicht dem großen Haufen nach.«10 Es gehört zu dem Ketzerischen, was über die Ketzer unbedingt gesagt werden muß, daß die großen Häretiker als die wahrhaft religiös schöpferischen Menschen aufzufassen sind, die Neues und Unvergängliches geschaffen haben, auf das die Christenheit trotz allem anfänglichen Ärgernis, das damit unvermeidlich verbunden war, nicht mehr verzichten kann. Von ihrem schöpferischen Impuls sind unübersehbare Wirkungen ausgegangen. Viele Einsichten der Ketzer sind infolge nicht richtiger Beachtung heute noch verkannt und harren der Verwertung. Aus der Ketzergeschichte gehen allezeit anregende Kräfte hervor, die sich belebend auswirken, und sie stellt sich als eine der existentiellsten Problemgeschichten dar, welche es in der Menschheit gab. Für diese Pioniertätigkeit mußten die Ketzer in der Regel büßen, und von ihnen allen gilt das Wort Nietzsches, daß, wer ein Erstling ist, immer geopfert wird.

In der Haltung als religiös lebendige Menschen, die mit ihrer anderen Auffassung vom Christentum als Pioniere in der christlichen Geistesgeschichte zu bezeichnen sind, gleichen die Ketzer den Heiligen. Die Häretiker haben mit den Heiligen oft mehr verwandte Züge, als gewöhnlich angenommen wird. Die Verwandtschaft kann sich bis zur verwechselbaren Ähnlichkeit steigern. Zwischen Ketzern und Heiligen besteht eine innere Beziehung, die schon in der Überschreitung des Alltags-Christentums sichtbar wird. Aber während der religiöse Strom in beiden Typen zunächst in der gleichen Richtung fließt, gabelt er sich doch an einer entscheidenden Stelle in zwei weit auseinandergehende Arme. Die auffallendste Andersartigkeit kommt im Konflikt zum Ausdruck, in den der Ketzer immer, die Heiligen manchmal mit der Kirche gerieten. Der Heilige ist der Mensch, dem die kirchliche Pietät ein nicht preiszugebendes Anliegen bedeutet, welches ihn veranlaßt, sich der Anforderung der Kirche zuletzt immer zu fügen. Er ist der duldende Mensch, und die demutsvolle Beugung ist eines der echtesten Merkmale des Heiligen. An ihre Stelle tritt nun beim Ketzer eine andere Haltung. Der Ketzer als der kämpfende Mensch kann diese Unterwerfung nicht vollziehen. Sie ist mit seiner Wesenseigentümlichkeit unvereinbar. Die Ketzer als die großen Kämpfer im Hause der Christenheit kennen gegenüber der kirchlichen Autorität nur offenkundige Auflehnung, worin sich ihre tiefste Verschiedenheit zu den Heiligen zeigt. Der Häretiker beharrt auf seiner Überzeugung, er wendet sich eher gegen die kirchliche Gemeinschaft, als daß er auf die eigene Auffassung verzichtet, und beschreitet damit den nicht minder dornenvollen Weg der offenen Rebellion. Diese Auflehnung läßt das Leben des Ketzers beinahe immer zu einer Tragödie werden, in der sich der dramatische Knoten zuletzt unheilvoll schürzt. Diese Empörung, die sich aus fast keinem Ketzerleben wegdenken läßt, geschieht nicht um der bloßen Aufbäumung willen. Nicht aus Rechthaberei bleibt der Ketzer fest auf seinem Posten. Für ihn stehen vielmehr letzte Wahrheits-Einsichten auf dem Spiel, die ihm geschenkt worden waren und die er nicht verraten darf, soll er nicht seiner Begnadung und damit sich selber untreu werden. Aus diesem religiösen Bewußtsein geht das erstaunliche Ethos des Ketzertums hervor, das sich durch keine noch so grausamen Maßnahmen brechen ließ. Das religiöse Gewissen steht dem Ketzer höher als der Machtanspruch der kirchlichen Vertreter. Leicht wird ihm in der Regel diese Gewissensentscheidung nicht gemacht. In der Seele mancher Ketzer müssen sich furchtbare Kämpfe abgespielt haben, und man würde auch in kirchlichen Kreisen weniger verwerflich über die Ketzer reden, wenn man sich nur ein wenig in die seelische Situation hineindenken wollte, in der sich diese religiösen Empörer befunden haben. Der Ketzer ist der sich nur von Gott abhängig wissende Mensch, der seinem Gewissen gehorsam sein muß, ein Standpunkt, der, christlich beurteilt, nicht mißbilligt werden kann.

Diese Treue gegenüber Gott und dem eigenen Gewissen wurde jedoch stets als Ungehorsam gegenüber der Kirche aufgefaßt, wofür der Ketzer zur Strafe aus ihrer Mitte ausgestoßen wurde. Alle Häretiker sind Gekennzeichnete, die als Geächtete aus der Reihe der gewöhnlichen Menschen entfernt wurden. Sie dürfen deshalb nicht mehr mit alltäglichen Maßstäben gemessen werden. Für die Wahrheit Gottes haben diese Verfemten oft unsagbare Lasten auf sich genommen. Sie waren zum Spießrutenlaufen verurteilt, wie es auf der Hinterseite des Lebens nicht anders sein kann, und sie haben dabei manchmal tränenüberströmt voller Schmerzen gerufen: »Brüderchen, habt Erbarmen.« Aber die Brüderchen hatten kein Erbarmen und bemühten sich weit eher, an diese gequälten Menschen nicht zu denken, wie aus den alten Geschichtsakten zu ersehen ist, die oft eine unbegreifliche Gefühllosigkeit der Christen zeigen. Es stimmt einen traurig, wenn man an das grauenhafte Los vieler Ketzer denkt, die um jener Wahrheit willen, die auf Erden keine Stätte hat, leiden mußten. Doch wird diese Traurigkeit von einem seltsamen innern Licht erhellt, welches das neutestamentliche Wort andeutet: »Alle, die gottselig leben wollen in Jesus Christus, müssen Verfolgung leiden.«11 Wo immer der Christ Erfolg hat und Ansehen gewinnt, schreitet er nicht auf dem Weg des Evangeliums. Aller Triumph in der Welt ist in den Augen des echten Christentums verdächtig. Warum das Evangelium in diesem Leben nur durch Unterliegen siegen kann, ist eine der schwersten Fragen, die einzig vom Kreuz auf Golgatha her beantwortet werden kann. Das Ketzertum ist die ergreifende Illustration zu dieser Wahrheit. Es stellt die erhabene Geschichte der verfolgten Wahrheit dar und damit etwas vom Größten, was es auf Erden gibt. Die blutroten Blätter der Ketzergeschichte erzählen von den Märtyrern innerhalb der Christenheit. Diese dürfen als die großen Opfer bezeichnet werden, deren Historie als eine mit nichts anderem zu vergleichende Leidensgeschichte aufzufassen ist. Mit ihrer ergreifenden Bereitschaft zum Leiden stellen die Ketzer die in die Kirchengeschichte hineinragende Verlängerung der Passion des Herrn dar, die dauern wird bis zum Ende der Welt. Der erschütternde Gedanke von der Fortsetzung der evangelischen Passionsgeschichte in die christliche Zeitrechnung hinein kann nur aus einer unergründlichen Leidensmystik heraus begriffen werden, die rational nicht zu verstehen ist. Er stammt aus der letzten Tiefe christlicher Religiosität. Das Christentum hat das Leiden nicht aus der Welt schaffen können, aber es hat mit seinem religiösen Wirklichkeitserlebnis eine grundsätzlich neue Auffassung von der Passion gebracht, indem es das Leiden um der Wahrheit willen als etwas Göttliches erfaßte. Das Spießrutenlaufen um Christi willen ist nur oberflächlich betrachtet Schmach, von innen gesehen eine Adelsauszeichnung. Die Passion ist der wahre Weg zum Ewigen, im unaussprechlichen Schmerze begegnet dem Menschen Gott. Erst das Christentum hat die stöhnende Menschheit richtig leiden gelehrt, indem es das Erdulden der Pein mit den Himmelsmächten in Verbindung brachte. Das hatte vordem kein Mensch verstanden. Die leidgequälte Ketzergeschichte führt direkt ins Herz des Christentums. Sie besingt das unfaßliche Mysterium, wie der auf dem Scheiterhaufen verbrannte Ketzer inmitten der lodernden Flammen zum Paradies aufsteigt und der ewigen Glorie teilhaftig wird!

Der Vater der Häresie

Simon Magus

Vater aller Häretiker, mit diesem Namen bezeichnet Irenäus in seinem ketzerbekämpfenden Werk Simon Magus.1 Nach der Auffassung dieses Kirchenvaters stammen sämtliche Ketzereien von Simon Magus ab, gegen den sich der Ingrimm aller rechtschaffenen Christen gerichtet habe. Irenäus’ Anschauung blieb nicht eine individuelle Meinung; sie wurde von Euseb in seiner »Kirchengeschichte« übernommen, und seither galt Simon für die alte Kirche als »erster Urheber jeder Häresie«.2 Vater einer großen Bewegung zu sein ist aber ein Titel, den nur ein Mensch von ungewöhnlichem Format erhält.

Der Bedeutung des Simon Magus ist jedoch abträglich, daß von diesem der urchristlichen Zeit angehörenden Ketzer nur wenige zuverlässige Nachrichten auf die Nachwelt gekommen sind. Diese Berichte stammen zudem weder von ihm selbst noch von seinen Schülern, sondern ausnahmslos von seinen Gegnern, die damit eine bestimmte Absicht verbanden. Die erhaltenen Notizen sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen und stellen einen vor die Aufgabe eines Mosaikspieles. Simons wahre Bestrebungen wurden von der Überlieferung nur notdürftig angedeutet und erweitern sich kaum zu einer detaillierten Schilderung, welche die Zeichnung eines plastischen Bildes erlaubte. Nur in Umrissen schimmert seine rätselvolle Gestalt durch die altchristlichen Überlieferungen hindurch. Die Persönlichkeit verbleibt in der Atmosphäre des Geheimnisvollen und läßt mannigfachen Vermutungen Raum. Die Phantasie, die ausgeschaltet bleibt, wenn eine geschichtliche Figur ganz im klaren Licht steht, kommt in Bewegung. Die bloß fragmentarischen Andeutungen vermitteln jedoch eine Ahnung von Simons Wollen, wenn von diesem auch nur ein Schattenriß skizziert werden kann.

Simon trägt den Zunamen Magus. In die Geschichte ist er mit dieser Bezeichnung eingegangen, welche für den Historiker zugleich eine Mahnung zur Vorsicht enthält, denn das magische Weltgefühl bleibt der rationalen Interpretation unzugänglich. Dieser Ketzer ist einer Denkweise zugehörig, die mit ihrer vorwissenschaftlichen Geistigkeit nach prälogischen Gesetzen verfährt. Als Magier weiß Simon um Geheimnisse, welche dem heutigen Menschen verschlossen sind; er verfügt über unerklärliche Kräfte, die nicht alle kennen und deren Existenz nicht bezweifelt werden darf. Nicht umsonst hat das samaritanische Volk von Simon gesagt: »Dieser ist die Kraft Gottes, die man die große nennt«,3 und damit ein in jeder Beziehung ungewöhnliches Urteil abgegeben. In der ältesten Berichterstattung wird Simon als ein unheimlicher Zauberer geschildert, welcher »das Volk von Samaria in Erstaunen« versetzte. Auch diese Bemerkung ist nicht nebensächlich. Simon hat die Menschen zum Erstaunen gebracht, und das ist die erste Stufe auf der Treppe zum Aufgang in die geistige Welt. Sie spürten bei Simon ein Können, das dem gewöhnlichen Sterblichen versagt ist. Deswegen das maßlose Erstaunen, womit sie diesen als »große Kraft Gottes« verehrten Mann betrachteten. Mit einem ebenso neugierigen als unbehaglichen Gefühl standen die Samaritaner der außergewöhnlichen Kunst des Magiers gegenüber, der sich unterfing, verschlossene Siegel zu lösen. Die antike Welt glaubte noch an Magie. Auch dem Neuen Testament ist der Glaube an geheimnisvolle Kräfte und Geistesgaben nicht fremd. Waren es doch nach dem Matthäus-Evangelium drei Magier, die zuerst im Morgenland auf die Geburt des Christus aufmerksam wurden und dem Stern folgten, bis sie im Stall von Bethlehem dem neugeborenen König ihre Huldigung darbrachten. Aber während das Urchristentum das magische Weltgefühl noch in sich einschloß – sind doch die Charismen für dasselbe geradezu charakteristisch –, wurde im Laufe der christlichen Geistesgeschichte die Magie in Verruf gebracht und sie zu gebrauchen als frevelhaftes Tun bezeichnet. Nur wenige Menschen machten später die unumgängliche Unterscheidung von weißer und schwarzer Magie, wobei sie erstere mit dem Lichtreich in Verbindung brachten und nur die letztere in Beziehung mit dämonischen Mächten sahen.

Nach dem Bericht der Apostelgeschichte trat dieser Magier zum Christentum über. Die den Christen zuteil gewordenen Geistesgaben schienen ihm bedeutsam genug zu sein, ein Anhänger der neuen Botschaft zu werden. Durch die Predigt des Philippus wurde Simon »gläubig« und ließ sich von ihm taufen. Schon früh wurde die Ehrlichkeit von Simons Annahme des Christentums bezweifelt. Nur aus Heuchelei habe er diese Konversion vollzogen. Doch stellt diese Auffassung sowohl der Menschenkenntnis als der Geisterunterscheidung des Philippus ein schlechtes Zeugnis aus. Heißt es doch, daß Simon nach seiner Taufe beständig bei Philippus verblieb, und als er später mit den übrigen Aposteln in Konflikt geriet, hat der Magier eine echt religiöse Haltung zum Ausdruck gebracht. Ersuchte er doch nach der Darstellung der Apostelgeschichte den ihn grauenhaft verwünschenden Petrus mit demütiger Gebärde, für ihn zu beten, damit das angedrohte Unglück nicht über ihn hereinbreche. Simon stand unstreitig in einer Beziehung zum Christentum. Er ist der erste Beweis dafür, daß die Häresie eine christliche Erscheinung darstellt und als eine getaufte Größe bezeichnet werden muß. Fraglich bleibt einzig, in welcher Weise Simon das Christentum auffaßte. Sicher hat er dessen Botschaft nicht im Sinne der Apostel aufgenommen, und möglicherweise ist Philippus bei seiner Taufe etwas allzu rasch vorgegangen. Aber die Verschiedenheit seiner Christentumsauffassung von derjenigen der Apostel rechtfertigt nicht, ihn zum voraus als unlauteren Menschen hinzustellen.

Simon stand noch in einer andern Verbindung, die älter war als seine christliche Beziehung. Er stammte aus Getthon in Samaria, wo er in die Schule des Dositheos eingetreten war, der nach dem Tode Johannes des Täufers eine religiöse Schule gegründet hatte. Zu Studienzwecken hatte sich Simon dann nach Alexandrien begeben, um sich in der arabisch-jüdischen Zaubermedizin auszubilden. Der Kirchenvater Hippolyt rückte deswegen Simon in die Nähe des »dunklen Heraklit«, jenes hintergründigen Philosophen, der noch Nietzsche in helles Entzücken versetzte. Nach Hippolyt hat Simon als das Prinzip des Alls die unendliche Kraft bezeichnet, und er zitierte von ihm das Wort: »Dies ist das Buch der Offenbarung der Stimme und des Namens aus der Erkenntnis der großen unendlichen Kraft. Deswegen wird es versiegelt, verborgen, verhüllt werden und in dem Raume liegen, wo die Wurzel des Alls sich gründet.«4 Ob Simon tatsächlich eine Schrift unter dem Titel »Große Verkündigung« geschrieben hat, welche solch seltsame an Empedokles gemahnende Formulierungen wie »Wurzel des Alls« enthielt, muß dahingestellt bleiben. Erhalten hat sich eine solche Schrift jedenfalls nicht. Bedeutsam an der Ausführung des Hippolyt bleibt jedoch die angedeutete Verbindung Simons mit der griechischen Philosophie. Dieser Hinweis muß beachtet werden, weil er wohl nicht buchstäblich, aber sinngemäß auf die richtige Fährte führte. Simon war ein Jünger der hellenistischen Weisheit. Dieser Feststellung kommt entscheidendes Gewicht zu. Er wollte als erster Mensch das Christentum mit der griechischen Philosophie in einen Zusammenhang bringen. Eine Verbindung von Evangelium und Hellas schwebte diesem Urketzer vor Augen. Unstreitig ein grandioses Ziel, über das man nicht hoch genug denken kann. In dieser Bemühung und in nichts anderem bestand Simons ursprüngliche Häresie, welche Anlaß bot, ihn in maßloser Weise zu verlästern. Dabei hat er nur als erster einen Schritt unternommen, den im Laufe der Kirchengeschichte unzählige Christen ihm nachgetan haben, ohne das Bewußtsein gehabt zu haben, etwas Verbotenes zu tun und auf häretischen Spuren zu wandeln.

Aus seiner Verbindung mit dem Hellenismus ist auch der überaus beachtenswerte Helena-Mythos zu verstehen, den Justin als erster erwähnt. Helena gilt als das Ideal der irdischen Schönheit, das Simon jedoch auf eine eigenartige Weise mit dem Erlösungsmotiv verknüpfte. Nach Irenäus’ Darstellung nannte Simon die Helena »die Mutter aller«, die viele Inkarnationen durchgemacht habe. »So war sie auch in dem Leib der Helena, deretwegen der Trojanische Krieg unternommen wurde. Bei ihrer Wanderung von Körper zu Körper erlitt sie in jedem immer neue Schmach und landete zuletzt in einem öffentlichen Hause – sie ist das verlorene Schaf.«5 Diese Ausführungen Irenäus’ lassen den tieferen Sinn der interessanten Helena-Gestalt für Simon erraten und münden mit der Bezeichnung »verlorenes Schaf« wieder ins Evangelium ein. Die simonische Helena ist aber nicht bloß als reuige Magdalena aufzufassen, sie bedeutete ihm als die vom Himmel herabgeführte Weisheit unendlich viel mehr. Diese Hierodule einer phönizischen Madonna war für Simon eine Gestalt von mythischem Ausmaß, die aus der oberen Welt des Seins in diese Scheinwelt entführt worden war, wo sie dann gefangengehalten wurde, bis sie endlich die Rückkehr antreten konte. Helena ist eines der Urbilder der nach Erlösung sich sehnenden Menschen. Ihr Schicksal ist als die Geschichte einer Seele zu verstehen, in welchem das himmlische Selbstbewußtsein sich aus den unwürdigen Fesseln der Materie befreit. Der Helena-Mythos des Simon ist sehr unvollkommen überliefert, aber seinem religiösen Kern nach darf er vielleicht mit der Sophia-Lehre in Verbindung gebracht werden, indem diese Gestalt als eine Inkarnation der Weisheit Gottes aufzufassen ist.

Die Christen besaßen für diese mythischen Gedanken freilich kein Verständnis. Denn diese lagen zu weit ab von dem Glauben, der sie erfüllte. Nur den fremden Hauch spürten sie, der ihnen entgegenwehte, und sie empfanden die Wirksamkeit des Simon als eine höchst unerfreuliche Konkurrenz zu ihrer Tätigkeit. Aus diesem Motiv erklärt sich alles, was die patristische Literatur über Simon ausführt. Ihre Berichterstattung ist vollständig unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung und nicht der objektiven Darstellung geschrieben. Die Kirchenväter standen Simon in Feindschaft gegenüber und blieben darauf bedacht, dessen erfolgreichen Einfluß zunichte zu machen. Aus diesem Grunde wurde Simon als derfalsche Apostel hingestellt, der seine Irrlehre über die ganze Welt trägt, wie die Pseudoclementinen ausführen. Eifrig zog der Magier hinter Petrus her, um dessen Evangeliumsbotschaft durch seine Verkündigung zu widerlegen. Endlose Disputationen, die sich tagelang hinzogen, sollen zwischen diesen beiden Männern stattgefunden haben, in welchen Simon den Petrus beschuldigte, ihm nichts erwidern zu können, da er nur lehre, was dem unvernünftigen Volk schon längstens vertraut sei, während er, Simon, Neues verkünde. Der Magier vertritt eine andere Lehre als die Apostel, die als »unerhört« bezeichnet wird. Diese Charakterisierung steigert noch den Nimbus, der diese Gestalt umgab. Sie veranlaßte die Christen, ihn als Pseudomessias, ja sogar als Antichrist zu bekämpfen. Diese Gegnerschaft nötigte sie, von Simon ein immer furchterregenderes Bild zu zeichnen. Zu diesem Zweck stellten sie seine Verkündigung in das ungünstigste Licht, und das Simon-Bild erlitt infolgedessen nicht nur eine nicht wiedergutzumachende Trübung, sondern es wurde bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Als Schwindler und Gaukler suchten sie ihn zu entlarven, der aber doch durch die Luft fliegen könne, die Kunst, Gold zu machen verstehe, Geister zu beschwören imstande sei, kurz eine Verkörperung des Satans darstelle. Die maßlosen Verlästerungen sind ein Kennzeichen dafür, daß die tieferen Hintergründe bei Simon nicht im geringsten verstanden wurden. Die meisten Verleumdungen in der Geschichte sind Symptome eines Unverständnisses. Man verketzert, was man nicht begreift, wofür Tertullian mit seinem Spott gegenüber Simons Helena-Mythos ein Beweis ist.6 Der »Vater der Häretiker« hat dieses Schicksal reichlich über sich ergehen lassen müssen, und man ist verpflichtet, zwischen dem geschichtlichen Simon und dem, was die Christen mit ihren Beschimpfungen aus ihm gemacht haben, zu unterscheiden.

Bereits in der Apostelgeschichte wird erzählt, wie der gläubig gewordene Simon nach seinem Übertritt zum Christentum Petrus Geld anbot, um von ihm das Geheimnis der Vermittlung des Heiligen Geistes durch Handauflegen zu erfahren. Entsetzt über dieses Ansinnen sprach Petrus zu ihm: »Daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, weil du gemeint hast, Gottes Gabe durch Geld erkaufen zu können. Du hast weder Anteil noch Anrecht an dieser Sache; denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott. Darum tue Buße für diese deine Bosheit und bitte Gott, ob dir vergeben werden möchte die Tücke deines Herzens. Denn ich sehe, daß du bist voll bitterer Galle und verknüpft mit Ungerechtigkeit.«7 Seit dieser zornigen Verdammung, die Petrus über Simon aussprach, war dieser Mann in den Augen aller Christen gerichtet. Sein Angebot wurde nicht als hellenistische Sitte verstanden, eine Entschädigung für ein mitgeteiltes Geheimnis zu bezahlen. Vielmehr galt Simon als der ruchlose Mensch, der mit Geld das Geistige erkaufen wollte und dadurch das alles verderbende Element des Mammonismus in das Religiöse hineingebracht habe. Bis ins Mittelalter wirkte diese Perhorreszierung nach, indem das Laster des geistlichen Ämterkaufes mit dem Wort Simonie bezeichnet wurde. Simons Name mußte zur Kennzeichnung eines der ärgsten kirchlichen Mißstände herhalten. Noch Dantes Mund entringt sich die durch alle Jahrhunderte hindurch gellende Verwünschung:

O Simon Magus, o elende Schar

Der Deinen! Sie, die güt’ge Hochzeitsgaben

Aus Gottes Hand für Gold und Silber her

Um einen Kuppelpelz verschachert haben.8

Außer der Verquickung von Religion und Mammon wurde Simon noch ein ausschweifender Lebenswandel nachgesagt. Nach Justins Bericht »zog eine gewisse Helena mit ihm in jener Zeit umher, nachdem sie früher in einem Bordell sich preisgegeben hatte, und die jetzt von seinen Anhängern der erste Gedanke genannt wurde«.9 Seine Gefährtin wurde als schamlose Dirne beschimpft, die Simon zudem seinem Lehrer Dositheos abspenstig gemacht und in den eigenen Besitz genommen habe. Entsprechend diesem unmoralischen Verhalten von Simon wird auch die religiöse Gemeinschaft, welche er ins Leben gerufen habe, der Unsittlichkeit bezichtigt. »Ihre Geheimpriester dienen daher der Sinnenlust und treiben nach Kräften Zauberei, gebrauchen Beschwörungen und Zaubersprüche, üben sich in Liebestränken und Verführungsmethoden, Geisterspuk und Traumdeuterei und in dunklen Taschenspielerkünsten. Auch haben sie ein Standbild des Simon nach der Art des Zeus und eines der Helena nach Art der Minerva, und die beten sie an. Nach dem Urheber der fluchwürdigen Irrlehre, dem Simon, nennen sie sich Simonianer. Von ihm hat die fälschlich so genannte Gnosis ihren Anfang genommen, wie man aus ihren eigenen Behauptungen entnehmen kann.«10 Noch schlimmere Dinge als die Erzählungen über die okkultistischen Veranstaltungen, die der Geisterbeschwörung dienten, streute Hippolyt aus, welcher den unverstandenen Helena-Mythos mit zügellosen geschlechtlichen Ausschweifungen in Zusammenhang bringt. Darnach vermischen sich in der religiösen Gemeinschaft, der Simon als Oberhaupt vorsteht, Frauen und Männer unterschiedslos miteinander, weil sie der Anschauung huldigen: »Jegliche Erde sei Erde, und es komme nicht darauf an, wo einer säe, wenn er nur säe; ja sie preisen sich selig wegen des allgemeinen Geschlechtsverkehres, indem sie sagen, das sei die vollkommene Liebe … sie ließen sich nicht von einem eingebildeten Übel beherrschen, sie seien ja doch erlöst.«11 Diese Aussagen mußten Simon bei allen ethisch denkenden Christen in unheilvollen Verruf bringen, denn nur wenige von ihnen verfügten über einen genügend kritischen Sinn, welcher sie die Unhaltbarkeit dieser Verleumdung durchschauen ließ. In der kirchlichen Literatur begegnet man immer wieder dem Versuch, die Ketzer in ethischer Beziehung zu diskreditieren, um sie aus dem Kampfesfeld auszuschalten.

Als Vater aller Häretiker habe Simon einer gotteslästerlichen Hybris gehuldigt, welche seinen Untaten noch die Krone aufsetzte. Die geistige Überheblichkeit war die Ursünde, deren sich bereits die Stammeseltern im Paradies schuldig machten, als sie den Einflüsterungen der Schlange ihr Ohr liehen und sein wollten wie Gott. Auch der Magier habe sich nicht begnügt, als Gesandter Gottes aufzutreten, sondern sich selbst für die höchste Gotteskraft ausgegeben. »Dieser Mann nun, der von vielen wie ein Gott verherrlicht wurde, lehrte von sich selbst, er sei unter den Juden als Sohn erschienen, in Samaria als Vater herabgestiegen und bei den übrigen Völkern als der Heilige Geist angekommen.«12 Justin berichtet in seiner ersten Apologie, wie Simon nach Rom gegangen sei und dort sowohl Senat als Volk durch seine magischen Taten in solches Staunen versetzt habe, daß sie ihn für einen Gott hielten. Da ihm die Demut als primäre religiöse Haltung fremd war, habe er sich diese Anbetung als Gott gefallen lassen, und die Römer hätten ihn durch eine Bildsäule geehrt. »Diese Bildsäule steht im Tiberfluß mitten zwischen zwei Brücken und trägt die lateinische Aufschrift ›Simoni deo sancto‹«, schreibt der Christ mit dem Philosophenmantel.13 Mit dem Hinweis, daß Simon göttliche Ehren für sich in Anspruch genommen habe, will Justin die blasphemische Hybris dieses Urketzers anprangern. Aber gerade dieser Beweis Justins, mit welchem der kirchliche Ketzerbekämpfer gleichsam seine beste Karte ausspielte, war nicht stringent. Die erwähnte Bildsäule wurde 1574 an der angegebenen Stelle auf der Tiberinsel ausgegraben und erwies sich als ein Standbild der altsabinischen Schwurgottheit Semo Sancus. Justin ist unzweideutig einer fatalen Verwechslung zum Opfer gefallen, und Irenäus hat die Falschmeldung ungeprüft von ihm übernommen. Die Argumentation beider Kirchenväter gegen Simons lästerliche Überheblichkeit fällt in sich zusammen und behält einzig ihren Wert, die Zuverlässigkeit dieser Berichterstattung in Frage zu stellen.

Entsprechend dem titanischen Übermut, sich als die höchste Kraft Gottes auszugeben, war denn Simon auch ein schreckliches Ende beschieden. In Rom soll der große Zauberer dem Apostel Widerstand geleistet und unter einer Platane sitzend gelehrt haben, »er würde, wenn er lebend eingegraben würde, am dritten Tage wiederauferstehen. Nachdem von seinen Schülern auf sein Geheiß eine Grube ausgehoben worden war, befahl er, daß er eingegraben würde. Sie taten nun wie ihnen befohlen; er blieb aber bis auf den heutigen Tag aus, er war eben nicht der Messias«.14 Nach einer andern Version habe Simon Magus die übernatürliche Kraft besessen, zum Himmel auffliegen zu können. Petrus aber habe »den Simon, der auf dem Fittiche der Magie zur Himmelshöhe aufstrebte, herabgeschleudert und niedergestreckt, indem er der Gewalt seiner Zaubersprüche die Flügel lähmte«.15 Die tendenziöse Absicht dieser Berichterstattung ist offenkundig: sie stellt nichts Geringeres dar als Simons Verdammung. Der Ketzer darf nicht wie ein frommer Christ selig sterben. Er muß als Strafe für seine Häresie ein Ende mit Schrecken nehmen, zugleich eine eindringliche Warnung an alle Christen darstellend, sich vor solchen Irrwegen zu hüten.

Trotz allen diesen unglaubwürdigen Nachrichten über Simon ist an der historischen Existenz des Magiers nicht zu zweifeln. Man hat es bei ihm unstreitig mit einer geschichtlichen Persönlichkeit zu tun. Aber seine historische Gestalt wurde von christlicher Seite denkbar stark übermalt.16 Die chronologische Überlieferung von der Apostelgeschichte über die Pseudoclementinen, Justin, Irenäus, Hippolyt bis zu Ambrosius zeigt eine sichtliche Steigerung, welche als ein instruktives Paradigma zu bewerten ist, wie eine Ketzergestalt gleichsam »gedichtet« wird, das will besagen, wie beständig neue Züge hinzugetragen werden, bis sich zuletzt das gewünschte Bild ergibt. Je weiter man sich von der realen historischen Existenz entfernt, um so umfangreicher wird die Kenntnis über Simon, während es sich bei einer zuverlässigen Geschichtsschreibung gerade umgekehrt verhält. Wahrheit und Dichtung verschlingen sich beim Bild über Simon auf eine unlösbare Weise. Dieser negative Mythisierungsprozeß kann bei wenigen Gestalten so anschaulich verfolgt werden wie bei diesem altchristlichen Ketzer. Doch ist dieser Vorgang nicht aus einem literarischen Bedürfnis zu erklären; seine Ursache wurzelt tiefer. Der Mythisierungsprozeß arbeitet so lange, bis die geschichtliche Gestalt die historisch greifbaren Züge mehr und mehr eingebüßt hat und deshalb kaum mehr auf eine bestimmte Person oder auf ein konkretes Land wie das jüdische Samaria geschlossen werden kann. Alle geschichtlichen Angaben werden verflüchtigt oder auch zusammengeballt zu dem schauerlichen Prototyp aller Häresien. Jede denkbare häretische Eigenschaft wird in diese eine Gestalt hineinprojiziert, um auf diese Weise zu einer Personifikation der Ketzerei zu gelangen. Simon Magus wurde zum Urbild des Häretikers, er stellt gewissermaßen den Archetypus des Ketzers dar, der den Christen dazu diente, das unfaßliche Phänomen der Häresie in einer Gestalt sich zu veranschaulichen. Das ist trotz der negativen Tendenz auch ein großartiger Vorgang, der in seiner Bedeutung gewürdigt werden muß. Er weist auf einen Prozeß hin, der sich den Blicken der Menschen entzieht, und zeigt zugleich, welche Kräfte unterirdisch in der Geschichte des Christentums auch am Werk sind. Die Aussagen der Kirchenväter sind deswegen nicht als Geschichtsquellen über Simon Magus wichtig; sie haben ihre große Bedeutung für die Kenntnis, in welchem Licht die Christen das Urbild des Ketzers sahen. Auf solche Weise konnten sie sich zugleich das Problem der Entstehung der Häresie erklären, indem man diesen einen Menschen dafür verantwortlich machte. Die Simon-Legende steht ganz »im Dienste der Ketzerbekämpfung, und so ziemlich jeder Ketzer, dessen Namen man nicht kannte oder nicht kennen wollte, konnte als ›Simon‹ bezeichnet werden. So wurde Simon einfach zum Prügelknaben für alles, was man nicht unter seinem wahren Namen anzugreifen vermochte«.17 Noch als die iroschottischen Mönche gegenüber Rom an ihrer Tonsur festhielten, wurde ihnen gesagt, diese Haartracht leite sich von Simon Magus ab. Die Abschreckung wirkte so nachhaltig, daß bis zum heutigen Tag niemand eine Rehabilitierung des ersten Ketzers gewagt hat, ein Tun, dem freilich auch infolge des geringen Quellenmaterials enge Grenzen gesetzt wären.

Durch alle Verzerrungen hindurch, die sich zuletzt in der Schaffung eines Ketzer-Archetypus verdichteten, läßt sich bei Simon Magus jedoch das Antlitz einer gewichtigen Persönlichkeit erkennen. Wer war eigentlich Simon Magus? Das vermochte bis heute kein Mensch mit abschließender Bestimmtheit zu sagen. Der geschichtliche Schleier ist nicht zu durchdringen, und wie eine Sphinx blickt dieser Mann den Historiker an. Aber ungeachtet aller Verhüllungen hat man das Gefühl von einer gewaltigen Gestalt, wie man ihr nicht alle Tage begegnet. Als einer der ersten Gnostiker verdient der historische Simon die Bezeichnung einer urchristlichen Faust-Figur. Unter diesem Gesichtspunkt muß dieser rätselhafte Mensch betrachtet werden, will man seinem Wesen nahekommen und zugleich das kalte Grauen verstehen, mit dem ihm die Christen gegenüberstanden. Was aber für das altchristliche Empfinden ein Schaudern auslöste, bildet für die moderne Auffassung gerade das Anziehende an der Gestalt des Simon. Auf eine Faust-Figur deutet schon sein Magiertum hin, mit dem er die Menschen in Erstaunen setzte, und in dieses Bild fügt sich auch sein Helena-Mythos sachgemäß ein, der nur aus dem magischen Weltgefühl zu verstehen ist. Simon vertrat eine andere Christentums-Auffassung als die Apostel, indem er mit seinem philosophischen Interesse eine Verbindung zwischen Christentum und hellenistischer Weisheit herstellte, was in seiner Erstmaligkeit als ein großartiger Versuch bewertet werden muß. Mit all diesen kühnen Bestrebungen gibt sich Simon als eine echt faustische Natur zu erkennen. Das Faustische, das der ringende, strebende Mensch, der mit den höheren Welten in Verbindung treten will, verkörpert, darf nicht gering geschätzt werden. Als jener religiös grübelnde Geist, der wissen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, verdient Simon Magus den Titel »Vater aller Häretiker« vollkommen, den niemand ihm streitig machen kann und von dem Rembrandt in seiner bekannten Radierung ein ewig gültiges Symbol geschaffen hat.

Die Geburt der Religionsphilosophie

Die Gnostiker

Nach einer frühchristlichen Überlieferung begab sich der Apostel Johannes in der Stadt Ephesus einmal in ein öffentliches Bad. Bei seinem Eintritt erblickte er daselbst den Gnostiker Cerinth. Voller Entsetzen verließ Johannes alsogleich den Raum, indem er mit drohender Gebärde rief: »Gebt acht, die Badanstalt stürzt zusammen, weil der Feind der Wahrheit darinnen ist.«1

Ob sich Johannes, der Jünger, der an des Herrn Brust lag, wirklich dermaßen ablehnend verhalten hat, sei dahingestellt. Aber wenn diese Begebenheit auch mehr Legende als Geschichte ist, zeigt sie doch anschaulich die Abscheu der Kirchenchristen vor den Gnostikern. Sie betrachteten diese Männer als Feinde der Wahrheit und waren nicht bereit, mit ihnen ein Gespräch zu führen. Die Angst ließ sie wähnen, die Weltordnung stürze durch die Tätigkeit dieser Menschen zusammen, und voller Furcht ergriffen sie vor ihnen die Flucht. Für diese Einstellung ist das angebliche Zusammentreffen von Johannes mit Cerinth ein sprechendes Symptom. Diese durch das Grauen diktierte Ablehnung der Gnosis durch die kirchlichen Christen ist fast bis zum heutigen Tag geblieben.

Ganz unbegreiflich war dieses Verhalten der Kirchenchristen nicht. Von den Gnostikern als Persönlichkeiten kann schwerlich ein scharfumrissenes Bild gezeichnet werden, aber das eine steht fest, daß sie Gestalten waren, die aufs tiefste zu erschrecken vermochten. Aus ihren umwertenden Lehren blicken einem Menschen entgegen, die mit ihrer ungewöhnlichen Denkfähigkeit und ihrem leidenschaftlichen Gefühlsleben auf von Gefahren umwitterten Wegen wandelten. Mag ihr Sinn für äußere Realitäten mangelhaft gewesen sein, als originelle Köpfe brachten sie den Willen zu einer geschlossenen Weltanschauung auf, und sie besaßen den Mut, die schwersten Probleme anzupacken. Ängstliche Gemüter konnten vor diesen geborenen Häretikern zurückbeben, deren Gedankenwelt Adolf Hilgenfeld unter dem Titel »Die Ketzergeschichte des Urchristentums« urkundlich zu schildern versuchte. Diese Häretiker waren kühne Menschen, die keiner geistigen Schwierigkeit auswichen und waghalsige Systeme aufstellten, die in schwindelerregende Höhen hinaufführten. Die Gnosis bildet das Sammelbecken aller frühchristlichen Häresien. Von ihr kann gelernt werden, was ketzerisch denken und ketzerisch fühlen heißt.

Als die Christenheit nach vielen Jahrhunderten den furchterregenden Schrecken vor den Gnostikern verloren hatte, begann sie dieselben als eine rückwärtsgewandte Bewegung gering zu achten und beurteilte sie als eine späte Blüte an einem abdorrenden Baum. In den labyrinthähnlichen Gedanken der Gnostiker erblickte man ein Übermaß von Exzentrischem, das regellose Spiel einer kranken Phantasie. Doch verkennt diese Auffassung das verborgene Licht der Gnosis, das eine große Helligkeit ausstrahlt. Die Gnosis besitzt den Wert, »ganze Schichten untergegangener religiöser Vorstellungen und Anschauungen in der Versteinerung und Erstarrung« erhalten zu haben,2 da sie eine Bewegung darstellt, die tatsächlich älter als das Christentum ist. Über diesen archaischen Zügen darf man aber nach den aufschlußreichen Forschungen von Hans Jonas nicht das ursprungshaft Neue übersehen, das damals im orientalisch-hellenistischen Synkretismus ans Licht brach. Wo man bisher nur »Vergangenheit, Auslaufen aller Traditionen, Dekadenz und Ausklang« sah, gilt es fortan unter all diesen Erscheinungen auch Beginn, Schöpfung, Werden und Zukunft wahrzunehmen.3 Von einem gnostischen Zeitalter muß gesprochen werden, wo, durch die Apokalyptik verursacht, ein neues Weltgefühl geboren wurde, das seinen Höhepunkt im zweiten nachchristlichen Jahrhundert erreichte und von einer gewaltigen Schöpferkraft war. Die große und so lange verkannte Bedeutung dieser Häretiker hat bereits der ihnen teilweise nahestehende Kirchenvater Clemens Alexandrinus geahnt: »Denn in den Lehrmeinungen der Ketzerschulen, sofern sie nicht völlig taub geworden sind … findet sich sehr vieles, das, so unähnlich es auch unter sich erscheint, der Gattung nach mit dem Ganzen der Wahrheit übereinstimmt.«4

Das Grundproblem, um das diese ketzerischen Denker kreisten, war der Gegensatz von Gnosis und Pistis. In der Ausschließlichkeit, mit der diese Menschen den Glauben der Erkenntnis opferten, kommt das Häretische alsobald zum Vorschein. Doch hat die im Problem »Erkenntnis und Glauben« zum Ausdruck gebrachte Spannung nichts mit dem neuzeitlichen Gegensatz von Wissen und Glauben zu tun. Das moderne Zeitalter, in welchem an Stelle der Metaphysik die Technik getreten ist, hat mit seinem müden Agnostizismus kaum die Möglichkeit, eine Bewegung zu verstehen, deren höchste Bemühung galt, metaphysische Erkenntnis zu erlangen. Doch hängt alles davon ab, daß man den Begriff gnostisches Wissen auch richtig erfaßt. Der gnostische Mensch erstrebt Erkenntnis und nicht Vielwisserei, die den Menschen mit einem Wissensstoff belädt, mit dem er innerlich nichts zu tun hat. Es ist dabei weder ein Schulwissen gemeint, das man in seinem Gehirn aufspeichert, noch eine Begrifflichkeit, wie sie die Wissenschaft pflegt und die gerne mit einem Wissensüberdruß endet. Nur begrenzt darf die gnostische Erkenntnis mit dem Verstand in Zusammenhang gebracht werden. Es ist verkehrt, die Gnostiker als die Rationalisten des zweiten Jahrhunderts zu bezeichnen, wie denn alle modernen Vorstellungen von vernunftmäßigem Wissen strikte fernzuhalten sind. Sie betätigen im Gegensatz zur gradlinigen Logik ein kreisförmiges Denken, dessen Inhalt nur in Bildern zu umschreiben ist.5 Den Gnostikern war es um ein Wissen der innern Wahrheit zu tun, das mit der Seele des Menschen in Beziehung steht und das allein auch in religiöser Beziehung weiterführt. Eine Erkenntnis, welche für den Menschen nicht heilsam ist, interessiert sie gar nicht, vielmehr nur jenes heilige Wissen, das vom Logos erleuchtet ist. In diesem, den Menschen innerlich angehenden Wissen ist die zeitlose Vorbildlichkeit der Gnosis zu sehen, welcher in der Krisis der modernen Wissenschaftlichkeit wegweisende Bedeutung zukommt. Das sakrale Urwissen beruht nach gnostischer Auffassung auf Offenbarung, in die Jesus die Apostel in einer unbekannten Geheimtradition eingeweiht habe und die von den Gnostikern ebenfalls nur in esoterischen Kreisen weitergegeben wurde. Zu diesen hatten die kirchlichen Gegner keinen Zutritt, und aus diesem Grunde besaßen diese auch eine völlig ungenügende, oft direkt irrige Kenntnis von der gnostischen Bewegung. Der Gnostiker ist der heilige Wissende im Sinne des Erleuchtetseins, der immer noch höher hinaufzusteigen versucht, und das ist das direkte Gegenstück zum wissenschaftlichen Menschen der Neuzeit. Im Unterschied zu einer oft nur zusammenhanglosen modernen Gelehrsamkeit verlangt der Gnostiker nach jenem religiösen Wissen, das bewußt zum Wesentlichen vordringt. Von einem Schauenden darf man reden, zumal »der wahrhafte Gnostiker alles weiß und alles umfaßt, indem er ein sicheres Begreifen auch über das uns Unklare besitzt«.6 Es lebt in der Gnosis der Geist des aufwärtsstrebenden Suchens, und nach dem gnostischen Werk »Pistis Sophia« hat Jesus zu seinen Jüngern gesagt: »Nicht lasset nach, zu suchen Tag und Nacht.«7

Als die Wissenden vertreten die Gnostiker eine Weltauffassung, in der sich ein schmerzhaft erregtes, tief verwundetes Gefühl ausspricht. Bei ihnen findet sich eine überaus düstere Weltbetrachtung, bei der zunächst kaum noch von Sinn-Fragmenten geredet werden kann. Das unheimliche Dasein führte die Gnostiker zu einer radikalen Weltablehnung, wie sie vorher nur bei den indischen