Heimliche Weisheit - Walter Nigg - E-Book

Heimliche Weisheit E-Book

Walter Nigg

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Beschreibung

Mystik als das Gebiet am Grenzrand des Glaubens, das Gebiet, in dem die Seele Atem holt zwischen Wort und Wort (Martin Buber), spielte in der katholischen Tradition schon immer eine wichtige Rolle (neben oder entgegen der offiziellen Lehre), und zahlreiche Mystiker ­ von Augustin bis Ignatius ­ wurden heiliggesprochen. Wie steht es mit dem Protestantismus? Kennt auch er, neben der aufs biblische Wort ausgerichteten Lehre, mystische Strömungen? Dieser Frage ist Walter Nigg als ein wahrer Entdecker nachgegangen. Dargestellt werden folgende Mystiker des 16. bis 19. Jahrhunderts: Martin Luther, Thomas Müntzer, Kaspar Schwenckfeld, Sebastian Franck, Valentin Weigel, Johann Arndt, Jakob Böhme, Angelus Silesius, Johann Georg Gichtel, Georg Fox, Peter Poiret, Gottfried Arnold, Gerhard Tersteegen, Friedrich Christoph Oetinger, Michael Hahn, Novalis.

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Walter Nigg

Heimliche Weisheit

Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit

Diogenes

GESTÄNDNIS

Vor etlichen Jahren besuchte ich das Kloster «La Valsainte», um ein konkretes Bild vom Leben der Kartäuser zu bekommen. Der Gastpater beantwortete mit einer rührenden Geduld meine vielen Fragen. Auch gab er bereitwillig Auskunft über Dinge, die ihm offensichtlich nicht angenehm waren, so zeigte er mir einen Bußgürtel, den die Mönche heute noch tragen. Zuletzt sagte der freundliche Pater: «Haben Sie nun alles gefragt, was Sie wissen wollten?» Auf meine Erwiderung, das Leben der Kartäuser stehe jetzt ganz lebendig vor meinem Geiste und ich hätte wirklich nichts mehr auf dem Herzen, rückte der Pater seinen Stuhl etwas näher an meine Seite und sprach zu mir: «Gut, aber nun erzählen Sie mir doch etwas von dem Gottesleben in Ihrer evangelischen Kirche». Die Frage kam aus der lautersten Gesinnung, und doch versetzte sie mich in eine nicht geringe Verlegenheit. Unwillkürlich schnappte ich nach Luft, hilflos irrten meine Blicke in der kahlen Mönchszelle umher, und ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoß. Der Pater hatte mich nicht nach den theologischen Strömungen im Protestantismus gefragt, sonst hätte ich ihm einige Stunden von dem Problem der Enteschatologisierung, von der dialektischen Theologie und ihrer Rückkehr zu den Reformatoren, von der Diskussion zwischen Theologie und Naturwissenschaft usw. erzählen können. Aber darnach hatte mich der Pater nicht gefragt, die gelehrten Auseinandersetzungen der Theologen beschäftigten ihn sichtlich nicht sonderlich. Vom Gottesleben im Protestantismus begehrte er zu hören, wie er auch mir ausschließlich von der religiösen Lebensführung im Kartäuserkloster berichtet hatte. Es ist mir entfallen, was ich in meiner Verlegenheit gestammelt habe; meine Antwort war kläglich und stand in keinem Verhältnis zu der Tiefe seiner Ausführungen.

Nach Beendigung des Besuches fuhr ich zu Tal, voller Eindrücke von der ernsten Frömmigkeit des klösterlichen Lebens in der Kartause und im Bewußtsein, daß mir eines der stärksten und unvergeßlichsten Erlebnisse widerfahren war. Noch lange sah ich vor mir die leuchtenden Augen des von einer inneren Fröhlichkeit erfüllten Paters, der mich in eine mir bis dahin unbekannte Welt hineinschauen ließ. Nie mehr ist das von einer wirklichen Gottesstille erfüllte Kloster aus meiner Erinnerung entschwunden, und noch oft habe ich in schlaflosen Stunden an das mitternächtliche Gotteslob der Kartäusermönche denken müssen. Aber ebenso brannte in meinem Gewissen das Versagen gegenüber der Aufforderung des Paters, ihm vom Gottesleben in der evangelischen Christenheit zu erzählen. Nicht schmerzte mich, daß ich eine beliebige Frage nicht zu beantworten vermocht hatte. Kein Mensch kann über alles Auskunft geben, und man muß nur wenig von Sokrates begriffen haben, um nicht beständig vom kleinen Umfang unseres Wissens durchdrungen zu sein, das in eine viel größere Unwissenheit eingetaucht ist. Wäre es eine Nebenfrage gewesen, dann hätte ich mir mein beschämendes Stottern ohne weiteres verziehen, aber ich war in einer zentralen Frage die Antwort schuldig geblieben. Ich war nicht fähig gewesen, über das Gottesleben in der evangelischen Christenheit ein anschauliches Bild zu zeichnen. Es war eine Schmach und eine Schande, daß ich nicht imstande war, dem Wunsche des Mönches zu entsprechen, und das Versagen bohrte unablässig in mir.

Gab es kein Gottesleben in der evangelischen Kirche, wie es die Kartäuser Tag und Nacht so eindrucksvoll in ihrem Kloster lebten? Das konnte doch gar nicht der Fall sein! Vielmehr wußte ich nichts oder doch nur ganz ungenügend davon. Immer wieder beschäftigte mich die Frage, was ich dem Pater hätte erzählen können und sollen. Nach längerer Überlegung faßte ich schließlich den Entschluß, mit aller Leidenschaft dem Gottesleben in der evangelischen Christenheit nachzuspüren. Sicherlich war etwas davon in den Menschen vorhanden, die ihr eigenes Leben in verzehrendem Helferwillen an ihren schwachen und gefährdeten Mitmenschen verströmten, und an solchen von der Liebe Christi durchdrungenen Gestalten ist die evangelische Christenheit nicht arm. Noch unmittelbarer leuchtete es mir aber aus den in einer mystischen Verbindung mit dem Allmächtigen stehenden Christen entgegen. Im mystischen Leben blüht die Gottestrunkenheit wie eine Rose auf, und wenn von ihr ein Zeugnis abgelegt werden sollte, war meine Aufgabe klar umrissen: die Mystik im evangelischen Raume darzustellen.

Bei den Vorarbeiten zu der Schilderung wurde mir freilich bald eine unumgängliche Voraussetzung klar. Das mystische Leben ist von den theologischen Streitigkeiten scharf zu trennen und kann mit ihren Kategorien gar nicht erfaßt werden. Auf den tieferliegenden Unterschied vom verborgenen Leben mit Gott und der Tätigkeit der Theologen ist bereits die in einem unmittelbaren Gottesverhältnis stehende Jeanne d’Arc aufmerksam geworden, als sie zu den sie prüfenden Männern sagte: «Gott hat mehr Bücher als ihr», und nach einer Weile des Nachdenkens noch hinzufügte: «Gott besitzt ein Buch, in das noch nie ein Priester blicken durfte1.» Ein unheimliches, abgrundtiefes Wort, dem gegenüber man nur erschrocken zurückfahren kann, wirft es doch beinahe alle theologische Betrachtung mit einem Schlag über den Haufen. Das geheimnisschwere Gottesbuch, in das nach der Jungfrau von Orléans noch nie ein Priester hineinschauen durfte, handelt vor allem vom mystischen Leben. Damit war eine erste Einsicht gegeben: wer nur ein wenig in dem göttlichen Buch zu lesen wünscht, hat nicht nur den theologischen Rock vorher auszuziehen, er muß sogar das rein wissenschaftliche Interesse zurückstellen, denn die Gelehrten durften so wenig wie die von sich eingenommenen Kleriker hineinblicken. Sowohl angesichts der theologischen Besserwisserei als der bloß gelehrten Neugierde schließen sich die Deckel des Buches, ehe man nur einen Buchstaben davon erhascht hat. Ohne Bild gesprochen, möchte ich keine Unklarheit darüber aufkommen lassen, daß die Darstellung des mystischen Lebens in der evangelischen Christenheit keine Forschung um der Forschung willen ist. Natürlich kann jeder Abschnitt historisch genau belegt werden, und nicht die kleinste Begebenheit ist erfunden. Die Lektüre eines mystischen Buches erschließt sich immer nur einer hungernden und dürstenden Seele. Es öffnet sich einzig dem Menschen, der darin eine Anleitung für sein eigenes Innenleben sucht und die mystische Gottesbeziehung in seinem Dasein zu realisieren bemüht ist. Das Gottesleben ist zudem von einer solch unergründlichen Reichhaltigkeit, daß es buchmäßig nie auszuschöpfen ist. Deswegen war es auch nicht möglich, eine Geschichte der evangelischen Mystik zu schreiben, die nur den leisesten Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Auch wenn noch Daniel von Czepko, Emanuel Swedenborg, Jung-Stilling, Friedrich Oberlin, William Blake usw. in die Darstellung hätten einbezogen werden können, ohne die Arbeit allzu umfangreich anschwellen zu lassen, so wäre immer noch nicht der hundertste Teil erfaßt worden. Es sind nur einige Szenen, die Unermeßliches andeuten, und dabei sind sie doch bloß Abbilder, die weit hinter dem Urbild zurückbleiben.

Die vom mystischen Gottesleben erfüllten Christen wurden zu ihren Lebzeiten meistens verfolgt. Ausweisung und Bekämpfung an sich erfahrend, haben sie damit erneut die apostolische Rede bestätigt, daß alle, die gottselig leben wollen, Verfolgung erleiden müssen. Es verrät ein wenig tiefes Denken, sich darüber allzusehr zu verwundern, denn das Leiden ist immer ein Zeichen der Auserwählung. Unbegreiflich dagegen ist es, daß, nachdem diese Gottesmänner längst in die Ewigkeit eingegangen sind, sie noch heute in den kirchengeschichtlichen Werken als Sonderlinge, Phantasten und Schwärmer geschmäht werden. Vorurteile über Vorurteile werden über sie verbreitet, und keiner der gelehrten Männer denkt nur einen Augenblick an die Äußerung Christi, daß «der Mensch einst Rechenschaft geben muß von jedem unnützen Wort, das er geredet hat», und erst recht von jeder bösartigen und verleumderischen Aussage. Doch hat sich die namentlich in der Zwischenkriegszeit bis zur Schalheit nachgesprochene Meinung von der Unvereinbarkeit von Mystik und Evangelium inzwischen in Dunst aufgelöst, so daß sie heute keiner ausführlichen Widerlegung mehr bedarf. Sie ist auch eine bloß dogmatische Konstruktion, deren Urheber weder eine genaue geschichtliche Kenntnis vom mystischen Leben besaßen, noch aus eigener Erfahrung über das Gottesleben sprechen konnten. An Stelle der verständnislosen Ablehnung der Mystik hat eine ehrfürchtige Sehnsucht nach der heimlichen Weisheit zu treten, wie sie aus den Worten zweier Männer hervorgeht, die sich näher mit der Mystik beschäftigt haben. Nikolai Berdjajew schreibt gegen die Furcht vor der Mystik als einem Herd der Häresien: «Die Mystik hebt die Dogmen nicht auf, sie geht aber in eine größere Tiefe als jene, für welche die dogmatischen Formeln ausgearbeitet werden. Die Mystik ist tiefer und urtümlicher als die Theologie2.» Ebenso hat Martin Buber bezeugt: «Glaube und Mystik sind nicht zwei Welten, obgleich in ihnen immer wieder die Tendenz, zu zwei selbständigen Welten zu werden, die Oberhand gewinnt. Die Mystik ist das Gebiet am Grenzrand des Glaubens, das Gebiet, in dem die Seele Atem holt zwischen Wort und Wort3.» Die Zeit ist überfällig, die uneinsichtige Befehdung der Mystik im evangelischen Raum abzubrechen und statt dessen zu erkennen, daß zu den tiefsten Schichten, zu denen wir Menschen überhaupt vorzudringen imstande sind, das Erleben des Mystischen gehört. Wem das Organ hiefür fehlt, der ist in religiöser Beziehung tot, und mag er jetzt noch so mit wichtigtuerischer Gebärde in eine kirchliche Trompete blasen. Die Mystiker haben das Gottesverhältnis gelebt und im geschichtlichen Prozeß das Evangelium am reinsten bewahrt, unverfälscht von ehrgeizigen Machtkämpfen und gehässigen Lehrstreitigkeiten.

Es ist nicht leicht, eine Wesensbestimmung der Mystik zu geben, namentlich, wenn man von der modischen und untauglichen Verwendung des Wortes absieht. Beinahe unmöglich ist es, hierüber eine korrekte und allseitig befriedigende Definition aufzustellen, weil das Wesen der Mystik nicht aus der Welt der Begriffe stammt. Margarete Susman hat die Schwierigkeit zu spüren bekommen, als sie die Mystik ein Erleben nannte «von den geheimnisvollen Ordnungen, die unser Leben gründen und durchwalten. Der Mensch, hineingestellt in die Beziehungen von Gott und Welt, Leben und Tod, die sein kurzes, beschränktes Erdendasein unendlich übergreifen, hat von je nach diesen Zusammenhängen als nach der Wahrheit seines eigenen Seins gefragt. Alle Mystik ist Heimweh der Seele nach dem, was sie in Wahrheit ist und was durch die Wirrnis ihres irdischen Daseins nur undeutlich hindurchscheint4.» In dieser Aussage leuchtet ein Verständnis auf für die Mystik als der Vergegenwärtigung des verborgenen Lebens mit Gott. Sie ist ein Schauen und Erkennen des Ewigen unter Vermittlung eines übernatürlichen Lichtes, und in diesem Erleben ist das Religiöse noch flammend und nicht erstarrt. Das Mystische im wahren Sinn des Wortes kann nur der Mensch verstehen, der selber an ihm lebendigen Anteil hat und es nicht durch eine von außen kommende, angeblich objektive Betrachtung beurteilen oder gar psychologisch analysieren will. Das mystische Leben hat es mit der heimlichen Weisheit zu tun, eine Formulierung, die dem «Buch der Preisungen» entnommen ist: «Siehe, du hast Lust zur Wahrheit, die im Verborgenen liegt, du lässest mich wissen die heimliche Weisheit5.» Die evangelischen Mystiker haben sich gerne auf das Psalmwort berufen, in diesem Ebenbild und Spiegelbild erkannten sie sich selbst. Die heimliche Weisheit ist der göttliche Lichtstrahl, der von oben kommt und das menschliche Herz durchbohrt. Von ihr nur annähernd adäquat zu reden, übersteigt bei weitem die Macht des Menschen. Jedem, der über sie schreibt, wird es dabei so ergehen wie dem großen Augustin, dem seine oft hinreißenden Worte über die heimliche Weisheit fast allezeit mißfallen haben und der sie gerne noch viel eindrucksvoller formuliert hätte. Er wußte in seinem bebenden Innern ganz klar, wie man ihre Herrlichkeit umschreiben sollte, es aber mit den Buchstaben wiederzugeben, vermochte auch der schreibgewaltige Mann zu seinem eigenen Leidwesen nicht. Dies ist die immerwährende Qual aller, die, vom seelischen Entzücken ergriffen, über Mystik nur eine Silbe schreiben.

Die Schilderung des mystischen Lebens in der evangelischen Christenheit hat nichts mit konfessionellen Absichten zu tun. Der Begriff «evangelische Christenheit» ist hier im Sinne einer religiösen Geographie gemeint und will die Aufmerksamkeit auf jenes unergründliche Gottesleben lenken, das in der Tiefe des Protestantismus lebt und zugleich mächtig über ihn hinausgreift. Die Mystiker der katholischen Christenheit wurden erfreulicherweise in zahlreichen Monographien dargestellt, während man dies von den evangelischen Gottesfreunden leider nicht sagen kann. Von jeder konfessionellen Rivalität aber ist das mystische Leben weit entfernt, zumal das wahre Gottesleben stets auf eine Überwindung der gespaltenen Christenheit tendiert. Man muß wenig von dem in der Christenheit geheimnisvoll fortlebenden Leib Christi verstanden haben, wenn man über dem konfessionalistischen Eifer «die Gemeinschaft der Heiligen» vergißt, die das Apostolikum bekennt. Wer sich am Gottesleben in allen Konfessionen beteiligt weiß, darf Bitte und Hoffnung aussprechen, die evangelischen Mystiker mögen bei aller Andersartigkeit ihrer Gedanken nicht gleich mit dem verächtlichen Wort «Aftermystik» disqualifiziert werden. Wie edel hat sich hierin Joseph Görres verhalten, der vor mehr als hundert Jahren eine Lanze für den «Privatmystizismus» gebrochen hat, der auch den evangelischen Mystikern zubilligte, daß das, was sie schauten, wahr ist, und der im Protestantismus eine komplementäre Ergänzung zum Katholizismus sah.

Da Mystik ein sich in den Heiligen spiegelndes Evangelium ist, erreicht die Sicht vom Gottesleben im Protestantismus ihren Höhepunkt in der erregenden Wahrnehmung, daß auch in der evangelischen Christenheit heilige Männer und Frauen lebten. Nur der eine Unterschied bleibt bestehen: Dem katholischen Heiligen wird, nachdem er den Kanonisationsprozeß bestanden hat, eine lebhafte Verehrung entgegengebracht, während die evangelische Christenheit von ihren Mystikern kaum Notiz nimmt und sie zu ihrem eigenen Schaden einer unbegreiflichen Vergessenheit anheimfallen läßt. Die große Mehrzahl der Protestanten weiß nicht einmal von ihrer Existenz, ihre Augen sind so gehalten wie die der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Ja, viele werden erstaunt fragen: Gibt es denn auch wirkliche Heilige in der evangelischen Christenheit? Warum sollte es sie nicht geben? Ihrer Struktur nach sehen sie freilich ein wenig anders aus als die traditionellen Gestalten, denen die Maler einen Heiligenschein verliehen haben. Die evangelischen Heiligen tragen ein unscheinbares Kleid, aber in aller Verhüllung verfügen auch sie über eine entwaffnende Offenheit. Mit einem Herzen voll Heiterkeit haben sie ihre Weisheit nicht aus Büchern erworben, sie erhielten sie direkt von Gott. Trotz aller Anfeindung waren sie mit ihrem schweren Los zufrieden, sie besaßen die Klarheit der erleuchteten Vernunft und haben in der Gottnähe ihr Geheimnis erfüllt. Ihre religiöse Andersartigkeit gegenüber dem überlieferten Heiligenschema ist in der Verschiedenheit der evangelischen Christenheit gegenüber dem Katholizismus und der Ostkirche begründet. Man kann sich nie genug mit den Heiligen beschäftigen, denn diese heiligen Boten bringen den Menschen Nachricht von Gott, und zwar aus erster Hand. Es findet sich nichts Ersonnenes bei ihnen, vielmehr eine von Gott mitgeteilte Wahrheit gab sich ihnen kund, und daraus fließt die einzigartige Freude, die wesensnotwendig mit dem inneren Denken an sie verbunden ist. Wer von der Ausstrahlungskraft dieser heiligmäßigen Menschen einmal betroffen ist, wird zuletzt in den unbeschreiblichen Jubel ausbrechen: Gott, du ließest mich deine Heiligen schauen und darob erglühte mein Antlitz!

Die heimliche Weisheit wendet sich in erster Linie an jene Menschen, die aufrichtig nach dem Ewigkeitsgrund suchen und sich doch in den heutigen Gotteshäusern heimatlos fühlen, sei es, weil «der Antichrist am liebsten in unsern Kirchenbänken herumhockt»6, sei es, weil sie sich von der gegenwärtig zu Lava geronnenen Wortverkündigung nicht mehr unmittelbar angesprochen fühlen. Es ist nicht die Meinung des Verfassers, daß die ganze evangelische Christenheit jetzt mit fliegenden Fahnen ins Lager der Mystik hinüberwechseln sollte. Das kann sie gar nicht, wenn sie es auch wollte. Mystik war nie für die breiten Massen berechnet, sie kam mit ihren hohen, inneren Ansprüchen immer nur für eine Minderheit in Frage. Es geht die kleine Herde an – die nichts mit dem schöngeistigen Elitebegriff zu tun hat –, jenes unverzagte Häuflein, das in aller Verborgenheit sich als das Salz auswirkt, von dem die Bergpredigt redet. Das Gottesleben der Mystiker ist kein egoistisches Seligkeitschristentum, wie oft mißverständlich geargwöhnt wird, das überzeitliche Gespräch der Heiligen mit dem Ewigen ist vielmehr stellvertretend und kommt der ganzen Christenheit zugute. Das mystische Leben ist ein durchdringendes Ferment, auf das verzichten so viel bedeutet wie das Beste ausscheiden. Ohne die Pflege der heimlichen Weisheit treibt die evangelische Christenheit einer katastrophalen Verkümmerung entgegen. Mögen Kirchenkonferenzen und Kirchentagungen, theologische Auseinandersetzungen und kirchliche Betriebsamkeit noch so notwendig sein, die Christenheit lebt doch nicht von ihnen, sondern einzig von jenen äußerlich unansehnlichen Christen, die, einer unterirdischen Strömung gleich, in aller Stille in einer beständigen mystischen Verbundenheit mit Gott verglühen. Von ihnen, und von niemand anderem wird die innere Rettung ausgehen – dieses Geständnis wünscht den nachfolgenden Skizzen den Charakter eines Bekenntnisses zu verleihen.

DIE WURZELN

MARTIN LUTHER [1483–1546] DAS HEIMLICHE JA DES REFORMATORS

Das mystische Leben in der evangelischen Christenheit ist einem Baume gleich der aus dem Boden herauswächst und sich in Zweigen, Blüten und Früchten entfaltet. Der Vergleich mit dem lebendigen Baum ist ein Bild, das dem Gegenstand keinerlei Zwang antut und auf einen organischen Vorgang hinweist. Die Wurzeln jeder Pflanze sind von grundlegender Bedeutung, man kann sie gewöhnlich gar nicht wahrnehmen und muß ihnen nachgraben, um sie überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Der älteste Wurzelstrang der evangelischen Mystik reicht bis ins Reformationszeitalter hinab, tief verborgen in der Klosterzelle des Wittenberger Mönches liegt er.

Von Martin Luther hat sich das deutsche Volk die Vorstellung eines kühnen Recken gemacht, der mutig dem römischen Ablaßhandel entgegentretend voll Kampfeslust gesagt hat: «Wir müssen und wollen am Jüngsten Tag mit dem Papst und seinen Haufen disputieren1.» Neben dem auftrumpfenden, zuweilen unglaublich groben Reformator gibt es noch jenen stillen Luther, der mit letztem Ernst um das Heil seiner angefochtenen Seele ringt und dem das anmutige Bild von der Gluckhenne, die ihre Küklein unter die Flügel nimmt, das liebste Gleichnis für des Christen Stellung zu Gott bedeutete. Der zarte, innige Luther, der sich betend mit ganzer Seele an Gottes Wort hängte, wurde vom trotzigen Kämpfer beinahe verdrängt. Vom überdeckten Luther muß man reden, ein Begriff, der seiner vielschichtigen Persönlichkeit entspricht, die nicht mit einer einzigen Formel zu umschreiben ist. Überdeckt, verdeckt und zugedeckt in seinem innersten Gottesverhältnis wurde Luther nicht nur von seinen ihn schmähenden Gegnern, sondern auch von den lobpreisenden Freunden und schließlich sogar manchmal von sich selbst! Die verborgenen Seelenschichten, in denen Luther in Furcht und Beben Christi Hilfe erlebte, sind sein Bestes; sie enthalten jenes innerliche Element, das diesen tiefreligiösen Menschen mit dem Ewigen verband. In der Übertönung des leisen Betens durch den äußeren Lärm liegt der tragische Einschlag im Leben Luthers, der jedoch «auch als im Wesenskern gespaltener Reformator einer der abgründlichsten Mystiker west-östlicher Christenheit geblieben ist»2.

Wie der von Gott wirklich überfallene Luther zum mystischen Leben stand, ist die Frage, mit der eine Geschichte der evangelischen Mystik zu beginnen hat. Man kann sie nicht bündig beantworten, da sich beim Reformator widersprechende Äußerungen über diesen Fragenkomplex finden. Luthers Zwiespältigkeit hierin darf nicht übergangen werden, damit die Geschlossenheit der Darstellung keine Einbuße erleidet. Sie ist vielmehr offen zuzugeben, zumal sie auch den Reichtum seiner Persönlichkeit sichtbar macht. Um dem Problem ein wenig beizukommen, unterschied man Mystisches und Unmystisches bei Luther. Von der bedrängenden Gegenwärtigkeit Gottes hat kein Mystiker eindringlicher geredet als der Wittenberger Mönch, und mit der schroffen Verwerfung der Brautmystik hat er sich sogleich wieder von der mystischen Einstellung distanziert. Offensichtlich vermag die Trennung von Mystischem und Unmystischem bei Luther die Frage nicht zu bewältigen; sie bleibt in einem äußerlichen Schematismus hängen, wofür die älteren, ungenügenden Arbeiten über dieses Thema ein Beweis sind3. Der Wahrheit näher kam der Versuch, zwischen dem jungen und dem alten Luther zu unterscheiden, eine Differenzierung, die bereits Sebastian Franck eingeführt hat und die von Gottfried Arnold übernommen worden ist. Doch tut man dem Glaubensleben des Reformators Gewalt an, will man zwischen dem früheren und dem späten Luther einen scharfen Bruch feststellen. Dermaßen unharmonisch verlief Luthers innere Entwicklung nicht. Zwischen den Anfängen und dem Ende Luthers gibt es neben allen Veränderungen auch eine Kontinuität, innerhalb der freilich die Akzente vom Reformator verschieden gesetzt wurden. Aus diesem Grunde «gibt es kaum eine angeblich mystische Aussage des jungen Luther, die nicht bei dem angeblich unmystischen späteren Luther nachzuweisen wäre»4. Luthers Verhältnis zur Mystik darf man nicht nur aus seinen Ansichten über einen Mystiker interpretieren, es ist immer die Gesamthaltung ausschlaggebend, und nur der Blick auf Luthers Ganzheitseinstellung vermittelt den Aufschluß, der die Frage wirklich erhellt. Luther spricht einmal von der Anfechtung, in der der Christ vermeint, eitel Nein zu hören, und rät dann dem zitternden Herzen, sich «von solchem Fühlen zu kehren und das tiefe heimliche Ja unter und über dem Nein mit festem Glauben»5 zu fassen. In dieser Äußerung steckt der Schlüssel zu Luthers widerspruchsvollem Verhalten gegenüber der Mystik. Es ist niemals mit einem einzigen Wort auszumachen, da sich seine Einstellung weder in bloßer Zustimmung noch in strikter Ablehnung erschöpft. Sie bestand in einem heimlichen Ja, das oft unter einem lauten Nein tief vergraben ist. Luthers wahre Einstellung liegt nicht offen da, sie findet sich nicht am Wegrand ausgebreitet, sie ist verborgen wie ein Veilchen. Man darf sich nicht von der Oberfläche täuschen lassen; ein feines Gehör für heimliche Töne ist erforderlich, um sie wahrzunehmen, und die Fähigkeit eines Rutengängers gehört dazu, der die unterirdischen Quellen spürt.

Luther hat in der Öffentlichkeit ein deutliches Nein zur Mystik gesprochen. Seine Subjektivität tat sich keinerlei Zwang an in der Verwerfung vieler mystischer Erscheinungen. Er scheute sich nicht, die Visionen der begnadeten Birgitta von Schweden als «reine Illusionen des Satans» zu schmähen. Die neuplatonisch gefärbte Mystik blieb ihm stets fremd, so daß er die mystische Theologie des Dionysios Areopagita und alles, was in ihrer Gefolgschaft stand, kräftig von sich stieß. Sie erschien ihm eindeutig mit Plato und nicht mit Paulus in Beziehung zu stehen. In den Tischreden polterte Luther drauflos: «Der Schultheologen Kunst mit ihrem Spekulieren in der Heiligen Schrift ist nichts denn lauter Eitelkeit und menschliche Gedanken nach der Vernunft. Dann hab ich viel von Bonaventura gelesen, aber er hat mich schön taub gemacht. Ich hätte gerne gewußt und verstanden, wie Gott mit meiner Seele vereinigt sei, aber ich konnte es nicht daraus lernen. Sie sagen viel von der Vereinigung des Verstandes und des Willens, aber es ist eitel Phantasie und Schwärmerei. Desgleichen ist die mystische Theologia Dionysii lauter Fabelwerk und Lügen6.» Dermaßen grobschlächtig brach Luther die Fragen der mittelalterlichen Mystik übers Knie, und diese massive Ablehnung wurde leider von vielen Professoren und Pastoren des Protestantismus nur allzu bereitwillig übernommen.

Die Ursachen von Luthers Ablehnung der Mystik lagen in den schweren Kämpfen, in die er durch seinen Thesenanschlag verwickelt wurde. Der Reformator sah sich bald einer Anzahl von Gegnern gegenüber, denen er allenthalben entgegentreten mußte und dies auch mit einer teutonischen Kraft tat, die ihn zum wilden Eber im Weinberg des Herrn machte. Der vor Gottes Strenge bebende Mönch lernte in der kirchlichen Auseinandersetzung jene Waffen schwingen, mit denen er seine Feinde niederstreckte. Beinahe über Nacht begriff er, welche Register man zu ziehen hat, um den Widerpart lächerlich zu machen und die trüben Masseninstinkte zu wecken. Luther wurde in seinem Kampf gegen Rom einer der großen Polemiker der Geistesgeschichte. Ohne die derbe Kampfesweise glaubte er die gewaltige Schlacht nicht zu gewinnen. Freilich war der Sieg mit einem enormen Verlust erkauft. Das Rufen aus der Tiefe zu Gott ging im Höllenlärm beinahe unter, es war auch mit der spitzigen Polemik und den unflätigen Ausdrücken nicht vereinbar. In den wilden Kämpfen mit den altgläubigen Gegnern verlernte der Reformator in zunehmendem Maße, seinen Glauben mit jener Innerlichkeit auszudrücken, die den religiösen Menschen im Gewissen trifft. Statt auf die milde Stimme zu hören, die zu seinem Herzen sprach, hatte dieser Mann, wie Bernanos in seinem verständnisvollen Luther-Fragment sagte, «den Kopf verloren, ist losgeprescht wie ein Ackergaul, der in ein Wespennest tritt, links und rechts Hufschläge austeilend, er ist Hals über Kopf davongestürmt, und als er innehielt – gewiß nicht, weil er müde war, sondern weil er sehen wollte, wo er stand, weil er verschnaufen und seine Wunden beschnuppern mußte –, da lag die alte Kirche bereits weit hinter ihm, in unermeßlicher, riesiger Ferne, durch eine ganze Ewigkeit von ihm getrennt. O Wut, o Bestürzung, o herzzerreißendes Mißgeschick …7»

Verstärkt wurde Luthers Nein zur Mystik noch durch eine zweite Front, die ihn nötigte, gegen die «Geisterer» anzukämpfen. «Der Satan ist mir in meine Hürde gefallen», schrie der Reformator auf und sah sich unerwartet einem Feind gegenüber, der ihm ursprünglich nahestand. Die Auseinandersetzung mit den «himmlischen Propheten», die sich auf innere Gesichte beriefen und vorgaben, mit Gott direkt zu reden, machte Luther schwer zu schaffen. Je stärker sie sich auf den Geist beriefen, um so mehr wurde Luther in mystischer Beziehung kopfscheu. Die Übertragung der christlichen Offenbarung aus der Vergangenheit in die Gegenwart rief in Luther ein förmliches Grauen hervor. Der spiritualistische Anspruch machte ihn um so wütender, je mehr er ihm eine gewisse Berechtigung nicht aberkennen konnte. Er berief sich von Monat zu Monat weniger auf seine eigenen mystischen Erfahrungen, nur um nicht auf einer verwandten Fährte ertappt zu werden. Er klagte die himmlischen Propheten der Phantasterei an, und in seinem ungestümen Temperament prägte er für sie den Ausdruck «Schwärmer», mit dem er alles niederschlug, was nur von entfernt in diese Richtung schaute. Luthers Spott ist an den Spiritualisten bis zum heutigen Tag haften geblieben, so daß die Christen sich gar nicht mehr unvoreingenommen mit ihnen beschäftigten. In Luthers Kampf gegen die «Geisterer» sind Recht und Unrecht seltsam verschlungen. Er überwand auch diesen Feind, aber er nahm dafür Schaden an seiner Seele, indem sich in ihm durch den Kampf mit den «Schwarmgeistern und Propheten» eine «Verstauchung» ereignete.

Sowohl durch den Kampf gegen Rom als durch das Gefecht mit den Spiritualisten rückte bei Luther das theologische Interesse in den Mittelpunkt. Theologie und Mystik decken sich aber nicht. Wohl gibt es mannigfache Verbindungsfäden, die gerade die mittelalterliche Scholastik davor bewahrten, im Rationalismus zu versanden. Man kann von einer Theologie der Mystik und von einer mystischen Theologie sprechen, doch darf auch der Unterschied nicht übersehen werden. Die Mystik beruht auf inneren Erfahrungen mit dem Göttlichen, während die Theologie eine gedankliche Bewältigung der christlichen Probleme versucht. Es ist deswegen so viel leichter, Theologe als Mystiker zu sein. Luther wurde durch die heftige Kampfessituation unaufhörlich von seinem ursprünglich religiösen Erleben zur Theologie abgedrängt. In ihm brannte immer stärker eine theologische Leidenschaft, die zuletzt wie ein Vulkan loderte. Nun hat auch die Theologie, wie alles in der Welt, ihre Berechtigung, aber sie steigert sich gerne zu einem gefährlichen Theologismus, der Selbstzweck wird und seine dienende Bestimmung vergißt. Es gibt auch einen theologischen Dämon, der Luther zur Rechthaberei, zur Disputiersucht und zur Streitlust verführte, die der christlichen Innerlichkeit abträglich sind. Immer weniger ertrug er den geringsten Widerspruch, er wurde gegen andere Auffassungen zusehends unduldsamer, anstatt sie in Liebe zu ertragen, solange er mit ihnen auf dem Wege war. Durch die Entwicklung vom religiösen Ringen zur kampfgeübten Theologie wurde die Türe geöffnet, durch die die Schulweisheit in die evangelische Kirche einziehen konnte. An Stelle der mittelalterlichen Scholastik trat eine lutherische Scholastik, die nicht weniger unfruchtbare Folgen nach sich zog. Das schulmäßige, dogmatische Denken wirkt auf die Dauer ausdörrend auf das religiöse Leben, sofern es nicht durch mystische Gegenkräfte befruchtet wird. Luther hat in seinen Anfängen gesagt: «Nicht die Gelehrtesten, die viel lesen und viel Bücher haben, nicht sie sind die besten Christen. Denn alle ihre Bücher und alle ihre Erkenntnis ist Buchstabe und tot für die Seele. Nein, die sind die besten Christen, die das wirklich in die Tat umsetzen mit voller Freiwilligkeit, was jene in den Büchern lesen und andere lehren8.» Später rühmte sich Luther, daß er im Gegensatz zu den früheren Reformbestrebungen die Lehre angreife und nicht das Leben bessern wolle. In dieser Selbstcharakterisierung Luthers liegt die ganze Tragik des Nein beschlossen, das er gegenüber dem mystischen Leben ausgesprochen hat. Das Evangelium ist nun einmal eine Lebensanweisung, und als reine Lehre aufgefaßt erfährt es eine verhängnisvolle Veränderung, denn es kostet eine viel geringere Mühe, eine Lehre zu reformieren, anstatt das eigene Leben ernsthaft zu ändern.

Luthers Nein zum mystischen Leben ist überaus bedauerlich. Es wurde dadurch in der evangelischen Christenheit eine der tiefsten Quellen verschüttet, die allein die Fluren hätte zum Grünen und Blühen bringen können. Man würde jedoch eine geringe historische Einsicht verraten, wollte man das lutherische Nein aus einer Launenhaftigkeit erklären. Es ist nicht durch eine persönliche Gereiztheit bedingt, sondern aus einer geschichtlichen Notwendigkeit hervorgegangen. Luthers veränderte Einstellung war durch die historische Situation gegeben. Ihm daraus einen Vorwurf machen kann nur, wer den zeitlichen Zusammenhang nicht begriffen hat. Dieses laute, oft überlaute Nein gehört zu den bekannten, allzu bekannten Äußerungen Luthers. Statt sie endlos zu wiederholen, ist es an der Zeit, sich den unbekannteren Einsichten und Ausblicken des Reformators zuzuwenden, die leider nicht vom Allgemeinbewußtsein aufgenommen wurden. Luthers Nein darf nicht zu seinem einzigen Wort erhoben werden, es ist lediglich eine Äußerung, die den Vordergrund beherrscht und dem natürlichen Bedürfnis der Menschen am stärksten entgegenkommt.

Viel wichtiger ist das tiefe, heimliche Ja, das unter diesem Nein verborgen ist. Es wurde von jeher bemerkt, aber viel zu wenig unterstrichen. Dabei geht von ihm jene christliche Melodie aus, die die Glaubenskraft und die Leidensfähigkeit des Luthertums erklärt. Luthers Ja ist von einer Innigkeit, Zartheit und Süße, die man bei diesem reckenhaften Kämpen gar nicht vermuten würde. Keineswegs war es ein Ja und ein Nein, das wiederum von einem Nein und einem Ja abgelöst wurde. Das wäre ein dialektisches Spiel gewesen, und einer solchen Verwirrung hat sich Luther nicht schuldig gemacht. Er sagte vielmehr mit Paulus: «Da war nicht Ja und Nein, sondern es war Ja in ihm.» Es gilt das heimliche Ja in seiner ganzen berückenden Innerlichkeit zu vernehmen, das bald stärker, bald schwächer zum Vorschein kommt und das in seiner Bejahung viel bedeutsamer ist als alle Negation zusammen. Denn nicht, was alle Welt schon weiß, ist wichtig, sondern jenes verborgene Geschehen, das sie nicht kennt und von dem sie doch unbedingt Notiz nehmen sollte. Zu ihm gehört das geflüsterte Ja des Reformators, das allein die innerste Sehnsucht des Christenmenschen zu stillen vermag und das noch heute an die Herzenstüre der Menschen pocht. Wer sich nicht mit dem offiziellen, etwas abgegriffenen Luther-Bild begnügen will, der muß diesem heimlichen Ja zur Mystik nachgehen, das den Wittenberger Mönch von seiner tiefsten Seite zeigt, die ausschließlich Gott zugewendet war.

Es wäre verwunderlich, fast unbegreiflich, wenn Luther nicht eine unverkennbare Neigung zum mystischen Leben besessen hätte. War er doch in einem seltenen Maße der Mann der metaphysischen Schrecken, die noch immer das Vorfeld der Mystik bilden. Dieses urtümliche Erschauern ist ein Beweis für seine unmittelbare Beziehung zum Göttlichen, aus der seine ungemein starke christliche Kraft floß.

Die religiöse Entwicklung Luthers setzte mit dem Gewitter-Erlebnis bei Stotternheim ein, wo der Schrecken Gottes erstmals über den jungen Mann hereinbrach. Ein jäher Blitz des Himmels bewog Luther, der Welt den Abschied zu geben und ins Kloster einzutreten. Gegenüber dem eigenen Vater erklärte er, daß er «durch einen Schrecken vom Himmel» zum Mönch berufen wurde. Der ihn unversehens überfallende Todesschreck bewirkte die erste Wende in seinem Leben.

Die schützenden Klostermauern haben Luther jedoch keineswegs von den Gewittern Gottes abgeschirmt. Gleich bei der ersten Messe, die er las, durchdrang ihn der Schrecken des Heiligen dermaßen, daß er die Worte kaum zu Ende zu sprechen vermochte, weil sie ihm zu gewaltig vorkamen. Er selbst hat später gestanden, wie er bei den Worten «wir opfern Dir, dem lebendigen, dem wahren, dem ewigen Gott» äußerst betroffen zusammenfuhr. «Ich dachte bei mir: Mit welcher Zunge soll ich solche Majestät anreden, da ich sehe, daß alle Menschen in Gegenwart schon eines irdischen Fürsten zittern. Wer bin ich, daß ich meine Augen zu der göttlichen Majestät aufheben dürfte? Die Engel umgeben ihn. Auf seinen Wink erbebt die Erde. Und soll ich elender, kleiner Zwerg sagen: Ich brauche dies, ich bitte um das? Denn ich bin Staub und Asche und voller Sünde, und ich rede zu dem lebendigen, ewigen und wahren Gott?9» Luther spürte ein Zittern am ganzen Körper, sein metaphysisches Entsetzen verrät eine seelische Disposition, die in gerader Linie zur Mystik führt.

Während seines Mönchlebens ist Luther öfters vor dem Heiligen betroffen stillgestanden. Beim bloßen Anblick eines Kruzifixes durchzuckte ihn der Blitz des Grauens. Einmal wurde im Chor der Klosterkirche aus den Evangelien die Erzählung des Besessenen vorgelesen, der auf die Erde fiel, sich wälzte und schäumte. Luther bezog die Worte auf sich, stürzte vor den Augen seiner Mitbrüder zu Boden und schrie: «Ich bin es nicht! Ich bin es nicht!» Wie anders wäre sein Verhalten zu erklären, als daß wiederum der Schrecken Gottes ihn heimgesucht hatte? Noch bei der Prozession zu Eisleben im Jahre 1515 wurde Luther beim Anblick des heiligen Sakramentes von einem plötzlichen Todesschrecken überwältigt, so daß er meinte, vergehen zu müssen. In all diesen Situationen bekam es der Bergmannssohn mit den ewigen Mächten zu tun, und diese reale Berührung ist die Voraussetzung allen mystischen Lebens.

Johannes Staupitz, der aus der Schule der Mystiker kam, wies Luther während dieser Zeit auf das geistliche Schrifttum der Mystiker hin. Schon als Augustinermönch wurde Luther in die Nähe Augustins geführt, der stets der Kirchenvater blieb, dem Luther am meisten zugetan war. Es ist viel Augustinisches in Luther; die Gnadenlehre des Afrikaners hat ihm starke Impulse gegeben, wenn er sie auch überspitzte. Diese augustinische Einwirkung erfuhr noch eine Verstärkung, als Luther Bernhard von Clairvaux kennenlernte und sich von diesem mächtigen Geist des Hochmittelalters stark angezogen fühlte. Er hat zeitlebens Bernhard neben Augustin geliebt. Obwohl beide Männer mit der Mystik in Beziehung standen, hat sich Luther nicht in ihre ausgesprochen mystischen Erlebnisse vertieft. Luther redet weder von Augustins Berührung mit dem Göttlichen in Ostia noch vom Kommen des Bräutigams in Bernhards Seele. Und doch hat der Reformator durch die Beschäftigung mit ihnen bewußt oder unbewußt mystischen Einfluß erfahren. Luther hat als Mönch die Milch der Mystik getrunken, sie hat ihn innerlich gekräftigt und gestärkt, auch dann noch, als ihn Paulus zur offenen Paradiesespforte führte.

Mitten in seiner religiösen Krisenzeit stieß Luther auf eine alte Handschrift, deren Entdeckung für ihn zu einer Offenbarung wurde. Die Luther-Biographen pflegen dieses Ereignis geringfügig zu behandeln, der Traktat sei ihm «ganz zufällig in die Hände gefallen»10. In dieser Hinsicht aber gibt es kein zufälliges Geschehen; auch über diesem Vorkommnis waltete die Vorsehung, und deswegen hatte es für Luthers seelisches Leben eine ungeahnte Bedeutung. Die Entdekkung des «Frankfurters» im Jahre 1516 war ein inneres Erlebnis, das, geschichtlich betrachtet, nicht die gleichen Wellen werfen konnte wie der ein Jahr später erfolgte Thesenanschlag, dessen sensationelle Wirkung es übertönte. Doch war das stille Aufschlagen der verstaubten Handschrift eine Tat, die auf der Waage der Ewigkeit vielleicht schwerer wog als die Hammerschläge an die Wittenberger Schloßkirche. Durch das vergilbte Dokument wurde Luther auf die Pfadeder Mystik gelenkt, und dieses leise Geschehen war trotz aller Unscheinbarkeit eines der entscheidendsten Ereignisse für das geistige Leben der evangelischen Christenheit. Hier und nirgends anders liegen die tragenden Wurzeln der evangelischen Mystik verborgen. Sie verdienen eine liebende Aufmerksamkeit, weil sonst das fast lautlose Vorkommnis der Entdeckung nicht in seiner wahren Tiefe erfaßt wird.

Der unbekannte Verfasser der alten Handschrift stammt aus dem Kreis der spätmittelalterlichen Gottesfreunde. Er lebte als Priester und Kustos des Deutschherrenhauses in Frankfurt am Main, und von daher erhielt er den Namen «der Frankfurter». Geschrieben wurde das Büchlein in der Mitte des 14. Jahrhunderts; es ist eine Frucht vom Baume Meister Eckharts. Es beschreibt gar hohe Dinge vom vollkommenen Leben des göttlichen Menschen, weshalb es auch zuweilen «Das Büchlein vom vollkommenen Leben» genannt wird. Nach der Vorrede hat der ewige Gott selbst dieses Büchlein ausgesprochen durch «einen weisen, einsichtigen Menschen», damit man die wahrhaften Gottesfreunde von den falschen, freien Geistern erkennen könne11. Das Büchlein ist ein unfehlbarer Prüfstein, ob jemand ein mystisches Empfinden hat oder nicht, denn seiner religiösen Schönheit kann sich ein innerlicher Mensch schwerlich entziehen. Die Ansicht, dieses Schriftstück sei wenig originell und wiederhole nur in abgeschwächter Weise Eckharts Gedanken, ist irrig. In der Mystik ist nicht die Priorität entscheidend, dieweil in ihr alles von Gott kommt, und bedeutsam ist allein, ob das Empfangene auch wahr und innig empfunden ist.

Für Luther bedeutete die Entdeckung des Büchleins eine ganz unerwartete Bereicherung und Vertiefung des Innenlebens. Er konnte sich vor Überraschung kaum fassen und ward an dem Fund, als er «noch in des Papstes Lehre ersoffen war», zum Narren, ein Geständnis, das Bände spricht. Obschon ihm zunächst nur ein Teilstück des «Frankfurters» zu Gesicht kam, bereitete ihm das Büchlein eine beispiellose Freude. Er konnte das Glück des Finders nicht für sich behalten und übergab den Text noch im gleichen Jahr der Öffentlichkeit. Die erste Publikation Luthers war somit die einer mystischen Schrift, eine Tatsache, die viel zu wenig gewürdigt wird. Luther versah sie mit dem altmodisch langen Titel: «Ein geistlich edles Büchlein, von rechtem Unterschied und Verstand, was der alte und neue Mensch sei. Was Adam und was Gottes Kind sei und wie der Adam in uns sterben und Christus auferstehen soll.» Er schrieb zu dem köstlichen Erbauungsbuch auch eine kleine gewichtige Vorrede, die über das Frohlocken seines Herzens unmißverständlichen Aufschluß gibt: «Zuvoran ermahnet dies Büchlein alle, die es lesen und verstehen wollen, sonderlich die von heller Vernunft und sinnereiches Verstands sein, daß sie zum erstenmal nicht sich selbs mit schwindem Urteil übereilen. Denn es in etlichen Worten scheinet untüchtig, oder aus der Weise gewöhnlicher Prediger und Lehrer reden; ja es schwebt nicht oben, wie Schaum auf dem Wasser, sondern es ist aus dem Grunde des Jordans von einem wahrhaftigen Israeliten erlesen, welches Namen Gott weiß, und wer es wissen will. Denn diesmal ist das Büchlein ohn Titel und Namen funden, aber, nach möglichem Gedenken zu schätzen, ist die Materie fast nach der Art des erleuchten Doctors Tauleri12.» Schade, überaus schade, daß die Menschen sich bis zum heutigen Tag diese Worte Luthers so wenig zu Herzen genommen haben und mit ihrem «geschwinden Urteil» sich tatsächlich übereilt haben, anstatt sich durch des Reformators Mahnung warnen zu lassen, alle mystischen Ausführungen auf den Knien zu lesen und sie nicht gleich wie weiland Saul den David mit dem Spieß an die Wand zu spießen. Sie wären dann gewiß gar vielfach im Hinblick auf die Mystik zu einer anderen Schlußfolgerung gekommen, hätten gelernt, bloßen Schaum vom Grundwasser zu unterscheiden, und eine innere Beglückung erlebt über die Begegnung mit einem Menschen, der wirklich um Gott weiß.

Luthers Begeisterung über den «Frankfurter» war kein kurzes Strohfeuer. Ein Jahr nach dem Thesenanschlag kam ihm das ganze Büchlein in die Hände, und er zögerte keinen Augenblick, nun eine zweite, vollständige Ausgabe erscheinen zu lassen. Deutlicher konnte er seine innere Beziehung zu dem Büchlein gar nicht unterstreichen. Diesmal gab er ihm den Titel «Eine deutsche Theologia», eine Bezeichnung, die ihm neben der Überschrift «Das Büchlein vom vollkommenen Leben» geblieben ist. Wiederum schrieb Luther eine Vorrede dazu, in der er vom Psalmwort «aus dem Munde der Unmündigen hast du dir dein Lob zubereitet» ausging und dann mit sichtlichem Hochgefühl ausführte: «Das sag ich darum, daß ich gewarnet haben will ein jeglichen, der dies Büchlein liest, daß er sein Schaden nicht verwirke, und sich ärgere in dem schlechten Deutsche oder ungekränzten Worten, wann dies edel Büchlein, als arm und ungeschmückt es ist in Worten und menschlicher Weisheit, also und vielmehr reicher und köstlicher ist es in Kunst und göttlicher Weisheit. Und daß ich noch meinen alten Narren rühm, ist mir nächst der Bibel und St. Augustin nicht fürkommen ein Buch, daraus ich mehr erlernet hab und will, was Gott, Christus, Mensch und alle Dinge sein, und befinde nun allererst, daß es wahr sei, daß etliche Hochgelehrten von uns Wittenbergischen Theologen schimpflich reden, als wollten wir neue Dinge fürnehmen, gleich als wären nicht vorhin und anderswo auch Leut gewesen. Ja freilich sind sie gewesen, aber Gottes Zorn, durch unsere Sünd verwirkt, hat uns nicht lassen würdig sein, dieselben zu sehen oder hören13.» Ein erstaunliches Bekenntnis, das kaum übertroffen werden kann! Man begreift plötzlich, warum im Luthertum die Entdeckung des «Frankfurters» verharmlost wird. Der Reformator wagte hier Unerhörtes: Er stellte den «Frankfurter» an die Seite der Bibel! Ist es statthaft, diese grandiose Bewertung einfach zu ignorieren, bloß deshalb, weil sie sich nicht in die vorgefaßten Meinungen einfügt, die man sich vom Reformator gemacht hat? Ein unvoreingenommener Sinn kann doch den seligen Jubel gar nicht überhören, der aus Luthers Vorwort herausklingt. In ihm tritt Luthers heimliches Ja zur Mystik herrlich aus der verborgenen Tiefe an das Licht des Tages. Es ist kein zaghaftes Flüstern mehr, es nimmt den Ton einer hellen Glocke an, deren mächtige Klänge weit über das Land schallen. Gar innig und sinnig freut sich Luther, daß in diesem Büchlein Gott in deutscher Zunge zu seinem Geiste redet und einmal nicht in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache. Dies ist nicht im nationalistischen Sinne zu interpretieren, es ist aus einer echten Heimatverbundenheit heraus zu verstehen. Aus diesem Grunde bittet der Reformator Gott, daß dies Büchlein, das ein epochales Ereignis im Dasein des jungen Luther bedeutete, mehr an den Tag kommen möge.

Luther war in der Schätzung des «Frankfurters» von einem richtigen Instinkt geleitet. Die «Deutsche Theologia» war ein Bundesgenosse in seiner suchenden Lebensperiode und wird gewiß auch von jedem religiös ringenden Menschen begrüßt werden, der in ein inneres Verhältnis zum Christentum gelangen will. Durch Luthers Verherrlichung des trostreichen Büchleins hat die deutsche Mystik in der evangelischen Christenheit Heimatrecht bekommen, und keine Macht der Welt kann ihr dies mehr streitig machen. Einmal, und zwar ganz in den Anfängen, küßten sich Mystik und Reformation, und daran war sicher die Freude des Himmels beteiligt. Die geistliche Umarmung hat sich nicht schnell wieder gelöst, denn die Schrift «Von der Freiheit eines Christenmenschen» liest sich wie eine Fortsetzung des «Frankfurters», die gleichen innigen, innerlichen Töne finden sich hier und dort.

Zur gleichen Zeit, da sich Luther am «Büchlein vom vollkommenen Leben» berauschte, las er viel in einem Folianten, der die deutschen Predigten des Johannes Tauler enthielt, von dem Christina von Ebner sagte, daß er Gott der liebste Mensch sei, den er auf Erden hatte. Die Verwandtschaft der beiden Bücher ist Luther sogleich aufgefallen, und er hat die Ausführungen des geistesmächtigen Dominikanerpredigers mit zustimmenden Randglossen versehen. Der Straßburger Prediger, nach welchem die Menschen zu unermeßlich hohen Dingen geschaffen sind, hatte es dem nach Gott rufenden Luther angetan. Wann er auf Tauler gestoßen ist, kann nicht genau angegeben werden. Wahrscheinlich geschah es Ende des Jahres 1515 oder Anfang 1516, da der Reformator in seiner «Römerbriefvorlesung» den Straßburger Prediger rühmend erwähnt: «Über dieses Erleiden und Ertragen Gottes siehe bei Tauler nach, der vor den andern gerade diesen Stoff vortrefflich in deutscher Sprache ans Licht gehoben hat14.» Auch in den «Resolutiones» zu seinen Fünfundneunzig Thesen unterläßt Luther es nicht, Tauler hervorzuheben: «Ich weiß zwar, daß dieser Lehrer den Scholastikern unbekannt und darum vielleicht verächtlich ist. Aber ich für mein Teil habe in ihm, wiewohl er nur in deutscher Sprache geschrieben ist, mehr von gediegener und reiner Theologie gefunden als bei allen Scholastikern sämtlicher Universitäten erfunden ist und erfunden werden kann in ihren Sentenzenkommentaren15.» Tauler erfüllte damals Luther so sehr, daß er in einem Brief an seinen Freund Spalantin die Theologie des Straßburger Predigers als rein, gründlich und der alten Theologie sehr ähnlich pries. Luther ließ sich sofort die im Jahre 1521 in Basel erschienene Tauler-Ausgabe auf die Wartburg kommen und las eifrig in den Predigten des Mystikers.

Über die Tragweite von Luthers Begegnung mit Tauler wurde bis jetzt keine Einigkeit erzielt. Den Einfluß überschätzend, behauptete man schon: «Durch die Folgerungen, die Tauler aus diesem Augustinismus gezogen hat, wurde Luther direkt auf die reformatorische Bahn gedrängt. Taulers Werktheologie bildet die Grundlage für Luthers so stark angefochtene Auffassung von den Werken. Taulers Kreuztheologie hat Luther den Ansporn zum Kampf gegen die mittelalterliche Bußtheorie und gegen die Ablässe gegeben. Die ‚Freiheit eines Christenmenschen‛ ist eine Lehre der deutschen Mystik, die auf ihrer Werktheologie fußt und in ihren Konsequenzen gegen die Gelübde und das Observantentum, die Hierarchie usw. bereits von der Mystik erkannt und verteidigt worden war, aber erst von Luther ausgebaut und dem deutschen Volk geschenkt wurde16.» Das Urteil besteht nicht völlig zu Recht, aber auch die umgekehrte Behauptung ist kurzschlüssig, nach der Luther den Straßburger Prediger «in allen für ihn wesentlichen Fragen vollkommen mißverstanden hat»17. Sicherlich hat Tauler dem jungen Luther viel bedeutet, aber er hat nicht dessen ganze mystische Welt in sich aufgenommen. Der Reformator war eine viel zu reiche Natur, um eine historische Gestalt in ihrer Eigenart zu erfassen; er legte immer sich selbst in sie hinein, wie das oft bedeutsame Menschen machen. Das bescheidene Zurücktreten, das zum geschichtlichen Verstehen gehört, besaß er nicht. Aber Luther hat sich von Tauler angesprochen gefühlt, der so eindringlich von der Einkehr in das lautere, göttliche, einfältige Gut, welches das edle, inwendige Fünklein ist, zu reden verstand, und von ihm eine innere Förderung erfahren. Taulers Predigten bedeuteten ihm eine Hilfe in seinem Durchbruch, er lernte durch sie das Evangelium innerlicher verstehen, und für diesen Beistand war er ihm aufrichtig dankbar.

Freilich hat Luther nur einen schmalen Ausschnitt aus der deutschen Mystik kennengelernt. Vor allem begegnete ihm der Zentralgeist der deutschen Mystik nicht: Meister Eckhart. Daß er ihn nicht kannte, ist jedoch nicht die Schuld des Reformators. Seit der Verurteilung des Kölner Lesemeisters war Eckhart für den frommen Kirchenchristen ein religiös Aussätziger geworden und fiel deswegen in zunehmendem Maße der Vergessenheit anheim. Nur der unabhängige Kardinal Nikolaus von Cusa sammelte eifrig die handschriftlich verbreiteten Predigten des verpönten Mannes; dann wurde Meister Eckhart beinahe zu einer sagenhaften Gestalt, von der für lange Zeit kaum noch jemand Näheres wußte. Das Thema «Eckhart und Luther» ist mehr hypothetischer als geschichtlicher Art, das keinen großen Ertrag abwerfen kann18. Auch der zartfühlende Seuse, der spekulative Johannes Ruysbroek und merkwürdigerweise auch Thomas a Kempis’ «Nachfolge Christi» traten nicht in Luthers Gesichtskreis. Ebenso scheint Luther nichts von der minnetrunkenen Frauenmystik erfahren zu haben. Es bleibt überaus zu bedauern, daß die Seele des Reformators nicht im vollen Umfang von der deutschen Mystik gegrüßt wurde.

Dessen ungeachtet erhebt sich die Frage: Was hat Luther am Frankfurter und an Tauler gefesselt? Das spekulative Interesse, das in der deutschen Mystik einen breiten Raum einnimmt, beschäftigte Luther nicht, es war eindeutig das Frömmigkeitserlebnis, das Sterben und Auferstehen der Seele in Christo, das ihn zur Mystik hinzog. Die praktischen Anwendungen der deutschen Mystik nahmen sein Herz gefangen und dienten ihm, Gott näherzukommen. Einzig das sehnsüchtige Verlangen nach Innerlichkeit bewegte ihn, und das seelische Verhältnis zu Christus trat ihm in der Mystik auf eine überaus konkrete und ergreifende Art entgegen. Er spürte die göttliche Realität aus dem «Büchlein vom vollkommenen Leben» und aus Taulers Predigten lebendig werden, und dieses Gefühl ergriff ihn unwiderstehlich. Luther war nicht unempfindlich gegen die gottinnige Stimme der Mystik. Wo ihre Töne echt an sein Ohr klangen, da antwortete in seiner Seele ein Echo. Er hat offenkundig die tiefen religiösen Kräfte gespürt, die in der Mystik sich regen und bewegen. Eine überwältigende, unwiderstehliche Gottessehnsucht drängt in ihr ans Licht, und durch sie kam der junge Luther zu der Ansicht, daß alles, was vom Herrn Jesus Christus gesagt wird, auf jeden geistigen Menschen zu übertragen sei. Es ist Luthers früher Phase zu verdanken, daß die deutsche Mystik auch in der evangelischen Christenheit immer wieder als ein sauerteigartiges Ferment wirkte, und wenn sie das einst nicht mehr wäre, so würde eine unübersehbare Verarmung eintreten.

Als ein Mann, der durch die metaphysischen Schrecken hindurchgegangen war, wurde Luther in seinen religiösen Aussagen zeitlebens nicht von bloß intellektuellen Überlegungen bestimmt. Zwar erzählt der Reformator nie von erlebten Visionen, aber Erleuchtungen hat der ehemalige Bergmannssohn gehabt – man denke nur an das bekannte Turmerlebnis. Sie lassen sich auch aus einem Christenleben, das in tiefere Schichten vordringt, nicht wegdenken. Reale Erlebnisse und nicht bloß gedankliche Vorstellungen bewegten Luther in seinem religiösen Ringen. Da nach ihm der Christ durch Leben und Sterben und nicht durch Erkennen und Spekulieren geboren wird, verschwand auch das mystische Element nicht gänzlich aus seinem Leben. Doch trat es im Vergleich zur Zeitspanne von 1516–1519 später sichtlich zurück, erlosch aber nie gänzlich. Die frohe Zustimmung zur Mystik wandelte sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einem heimlichen Ja, das in den Hintergrund trat und vom öffentlichen Nein überdeckt wurde. Es ist jedoch notwendig, einmal dem heimlichen Ja in Luthers späterer Phase nachzuspüren und in aller skizzenhaften Kürze zu zeigen, wie es stets anwesend blieb, wenn auch manchmal in stark veränderter Gestalt. Ohne diesen freilich mehr angedeuteten als ausgeführten Nachweis wäre das Bild vom inneren Antlitz Luthers nicht richtig gezeichnet.

Der Wittenberger Mönch hatte einen ungeheuren Eindruck von Gott empfangen. Ihm erschien es oft in seinem Furchtgefühl, als sei der Ewige mit einer Keule hinter ihm her. Für ihn war Gott zeitlebens ein verzehrendes Feuer; die Worte und Befehle des Allmächtigen sind stets schrecklich. Der Reformator empfand unendliche Ängste gegenüber Gott, vor dessen Heiligkeit er nicht zu bestehen vermochte. Um seines Gottesschreckens willen ist Luther durch wahre Höllenqualen hindurchgeschritten, die zu schildern ihm die Feder versagte. Gott hat ihm alle Gebeine zerbrochen, und die Narben sind ihm zeitlebens geblieben. Immer wieder betonte Luther, wer die göttliche Majestät erforsche, werde von ihrer Herrlichkeit erdrückt. Nie ertrug er es, wenn man sich mit dem Ewigen allzu vertraulich gebärdete. Mit Gott direkt zu reden, kann niemand ertragen, da dessen bloßer Anblick schon den Menschen vernichtet. Für Luther war Gott nicht Behauptung, Ansicht, Lehre, sondern eine religiöse Erfahrung, denn der Ewige war mit elementarer Gewalt in sein Dasein eingebrochen. Gottes Gruß ist im Anfang greulich, weil es zum Wesen des Allmächtigen gehört, sich zu verbergen. Luther hat überaus eindringlich über den verborgenen Gott geredet, dessen Werk allezeit unverstanden bleibt und dessen ferne Nähe eine dem menschlichen Denken widersprechende Form annimmt. Doch überwand Luther Gott mit Gott, wie er im Gedenken an Jesu Gebetskampf in Gethsemane sagt. Mitten im Zorne Gottes, der Luther in die Glieder gefahren war, erblickte er plötzlich «durch die Fenster des dunkeln Glaubens» den allergütigsten Vater. Zuweilen sprach Luther von der zornigen Liebe, die in Gott sei, aber zuletzt bricht es wie ein Strom hervor, daß der Ewige «ein glühender Backofen voller Liebe ist», der da reichet von der Erde bis zum Himmel. Der Zorn ist Gottes fremdes Werk, während die Liebe ihn in seinem eigensten Wesen offenbart. Luther konnte überaus innig von der einigenden Gottnähe sprechen – die Lektüre des «Büchleins vom vollkommenen Leben» war nicht spurlos verblaßt. In diesen Momenten überwallte Luthers Herz vor «Süßwerden» gegenüber Gott, und er jubelte voll Fröhlichkeit, daß «wer in der Liebe bleibt, der in Gott bleibt und Gott in ihm, also, daß er und Gott ein Kuchen wird»19. Die herrliche Äußerung zwingt um so mehr zum Aufhorchen, als sie aus einer Predigt aus dem Jahre 1532 stammt, also aus einer Zeit, da man längst nicht mehr vom jungen Luther reden kann. Sie öffnet den Blick in das innerste Herz des Reformators, und von ihr aus sind auch seine übrigen Gottesaussagen zu interpretieren. Der mit Gott ein Kuchen gewordene Mensch stellt einen nochmaligen Höhepunkt seiner mystischen Aussage dar. Eine solche kühne und ungewöhnliche Formulierung konnte sich nur ein Christ erlauben, der mitten im Erschrecken vor Gottes namenloser Größe das Innerste des Allmächtigen gefunden hatte. Der Mensch, der mit Gott ein Kuchen geworden ist, befindet sich wahrhaftig im mystischen Bereich. Mystischeres kann man gar nicht erleben. Dieses brennende Verlangen und nichts anderes hat auch die größten Ekstatiker bewegt. In den Momenten der glaubensmäßigen Einswerdung mit dem verborgenen-geoffenbarten Gott muß man Luther belauschen, will man zur Seele des Reformators vorstoßen. Hier begegnet man dem wahren Luther, der nur äußerlich ein lärmiger Polemiker und innerlich ein reines Kind geblieben war, das mit dem größten Vertrauen gar innig die Knie des himmlischen Vaters umschlang. Das Bild von dem mit Gott zu einem Kuchen verwandelten Menschen beweist eindeutig, daß Luther der verborgenen Neigung zur Mystik treu blieb. Unstatthaft ist es, so lange an dieser Aussage herumzuinterpretieren, bis man sie ins Gegenteil verkehrt hat. Dabei ist er keineswegs einer zweideutigen Verschmelzungsmystik zum Opfer gefallen; er blieb mit der unmittelbaren Gotteserfahrung durchaus auf der Linie der paulinischen Mystik, die ebenfalls von der Gewißheit erfüllt war: «Wer aber dem Herrn anhanget, der ist ein Geist mit ihm20.»

«Das, was wir lieben, das werden wir. Liebst du Gott, dann bist du Gott, liebst du die Erde, dann bist der Erde», sagt Luther in der «Römerbriefvorlesung»21 und rückt durch die Tiefe dieser reformatorischen Gottverbundenheit auch das Erleben der Rechtfertigung in die richtige Sicht. Ihm haftet durchaus eine irrationale Komponente an, die Luther auch stark betont hat. Verstandesmäßig kann man nicht begreifen, wie der Mensch Sünder und Gerechter zugleich sein soll. Es grenzt ans Wunderbare, zu glauben, daß der Mensch gerechtfertigt sei, obwohl er noch mit einem unflätigen Kleid angetan ist. Wie sonderbar, nicht mehr zu sehen, was man doch täglich sehen muß: die eigene Ungerechtigkeit; und zu glauben, was man noch nicht besitzt: die Seligkeit; und doch besteht gerade in diesem überrationalen Vorgang die Vergebung der Sünden! «Was in den Formeln der lutherischen Rechtfertigungslehre sich ausdrückt, ist seinem Wesen nach überhaupt keine Theorie, kein Dogma, sondern etwas rein Erlebtes und immer von neuem schwer Erkämpftes: das Wagnis – das als solches immer empfunden wird –, im Streite mit Gott gleichsam die Waffen zu strecken und das scheinbar Unmöglichste zu tun, was sich in solcher Lage denken läßt: sich dem zürnenden Gotte gläubig und restlos anzuvertrauen22.» Tatsächlich verführt die Rechtfertigung, als formelhafte Lehre nachgeplappert, den Menschen gerne zum bequemen Leichtsinn, dagegen als spannungsgeladenes Erleben erfahren, verbindet sie zahlreiche Fäden mit der Mystik. Der innere Zusammenhang zwischen dem Rechtfertigungsglauben und der Mystik ist nicht zu übersehen. Sie verhalten sich keineswegs so spröde gegeneinander, wie oft dargetan wird23.

Man entkleidet überhaupt Luthers Errungenschaften ihres tiefsten Gehaltes, macht man aus seinen mühsam erreichten, blitzlichtartigen Erfahrungen eine reine Lehre. Freilich hat er zuweilen selbst hiezu Hand geboten, indem er auf die Lehre pochte und zu ihrer Darlegung die Begriffe der spätmittelalterlichen Theologie zu Hilfe nehmen mußte, die seinem Gotteserlebnis gar nicht adäquat waren. Luthers Aufgabe war jedoch die eines Wiederentdeckers, und seine Schriften gleichen einem Kessel siedenden Wassers auf einem Feuerherd. Seine innersten Ausführungen gehen über doktrinäre Lehrauffassungen hinaus, was in seinem Christus-Verhältnis deutlich spürbar wird. Die Gottesbeziehung des Reformators kann nicht von seiner innigen Christus-Erfahrung abgelöst werden, die durch alles hindurchgeht. Luther zwängte jedoch seinen Christus-Glauben weder in Paragraphen hinein, noch hat er ihn einmal endgültig formuliert. In seiner theologia crucis schaute Luther das Kreuz Christi und das Kreuz des Christen wie die Mystiker zusammen. Der Reformator sprach vom Leben, das der Christ unter dem Kreuz zu führen hat und das sich in der Leidensnachfolge bewegt. Wenn der Mensch Christus gleichförmig werden will, dann muß er auch Christus im Innern haben. Nach Luthers Auffassung weilt der Christ gleichsam schon jetzt im Himmel und hat den Herrn im Herzen. Was Demut, was Anfechtung, was Anbetung heißt, hätte Luther nicht in der innerlich bewegenden Art ausführen können ohne die mystischen Untertöne. Die Nichtbeachtung dieses verborgenen Untergrundes führt zu einer Verzeichnung Luthers. Besonnene Kirchenhistoriker haben den Zusammenhang von Luthers Kreuzestheologie und der Mystik mit erfreulicher Deutlichkeit ausgesprochen24. Unvoreingenommene Betrachtung stößt beständig auf die mystischen Anklänge: «O wie herzlich gerne wollen wir leer sein, auf daß du voll seiest in uns!25» Noch in der «Freiheit eines Christenmenschen» sprach Luther davon, wie die Seele mit Christo als eine Braut mit ihrem Bräutigam vereinigt werde. Zeitlebens war er bestrebt, die zwei Stücke zu fassen, wie wir in Christo sind und Christus in uns ist.

Das überrationale Christus-Verhältnis Luthers erweist sich besonders stark in seinem mystischen Abendmahlsverständnis. Der Reformator hat den Wandlungsvorgang nie preisgegeben, sondern ihn nur anders gefaßt als die katholische Kirche. Tritt in der Messe bei der Wiederholung der Einsetzungsworte durch den Priester die Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi ein, so geschieht dies nach Luther nicht auf das Wort des Priesters, sondern Gott tut es während des Abendmahles zu einem Zeitpunkt, der nicht genau angegeben werden kann. Allein, es geschieht wirklich eine Verwandlung, und Luther hat an der Realpräsenz Christi im Abendmahl mit größter Zähigkeit festgehalten. Brot und Wein bedeuten für ihn nicht nur Leib und Blut Christi, sie sind es auch tatsächlich. Die Gegenwart des Herrn war ihm eine Gewißheit; er wußte also, was eine ausgesprochen mystische Erfahrung ist. Sie war für Luther so wichtig, daß er hierin nicht mit sich reden ließ. Er ist beim Gespräch mit Zwingli in Marburg in seinen Auffassungen nicht um ein Jota von seiner mystischen Überzeugung abgewichen. Luthers Verhalten in der Abendmahlsfrage beruht nicht auf Starrköpfigkeit. In der Weise wurde es oft von reformierter Seite bewertet. Diese Beurteilung nimmt das religiöse Motiv in seiner Argumentation zu wenig wahr. Luther sah hierin die mystische Realität, die ihn tröstete und beglückte, gefährdet, die er nicht preisgeben wollte und konnte. Das rein symbolisch aufgefaßte Gedächtnismahl, das in einen bloßen Erinnerungsakt ausklingt, war ihm nicht nur allzu nüchtern und dürr; er fürchtete, daß es zu einer rationalen Auflösung führe. Die wirkliche Anwesenheit des Herrn im Abendmahl gehört zu Luthers Mystik. Es ist dies kein mittelalterlicher Überrest, den er nicht zu überwinden vermochte. Bei seiner Sakramentsmystik kommt es zu einer realen Vereinigung von Christus und Mensch. Luther empfindet das Sakrament als unmittelbares Ereignis des gegenwärtigen Heiligen. Sein kultisches Feiern besitzt eine mystische Tiefe, aus der das heimliche Ja überaus deutlich hervorschaut.

Auch Luthers Aussagen über den Heiligen Geist stehen in mystischem Zusammenhang. In der Vorrede zur Auslegung des «Magnificates» führt der Reformator wie ein Schüler der deutschen Mystik aus: «Es kann niemand Gott noch Gottes Wort recht verstehen, er hab’s denn unmittelbar von dem Heiligen Geist. Niemand kann’s aber von dem Heiligen Geist haben, er erfahr’ es, versuch’s und empfinde es denn; und in derselben Erfahrung lehret der Heilige Geist als in seiner eigenen Schule, außer welcher wird nichts gelernet denn nur bloße Worte und Geschwätz26.» Luthers Darlegung bedarf keiner Erläuterung, sie grenzt deutlich genug das mystische Anliegen gegenüber allem theologischen Gerede ab. Nach der Auffassung des Reformators kommt es auf eine innige Verbindung von Heiligem Geist und Herzensmeinung an, die in ihrer sich verströmenden Unmittelbarkeit den stärksten dogmatischen Verdächtigungen ausgesetzt ist. Doch was tut’s, Gott sagt dem Menschen das ewige Geheimnis nun einmal direkt in die Seele hinein: «Das heißt den Heiligen Geist haben, wenn man die Schöpfung und Erlösung also im Herzen fühlet; der Heilige Geist schreibt das Wort des Evangeliums innerlich ins Herze, denn die es hören, kriegen auch inwendig eine Flamme, daß das Herz spricht: das ist wahr und sollte ich hundert Tode darüber leiden27.» Unstreitig eine kühne Formulierung, in der Luther beinahe eine Gleichsetzung vom Heiligen Geist mit der Flamme des Herzens vollzieht. Wie viele Bedenken könnte man dagegen geltend machen, und doch – wie kläglich fallen sie in sich zusammen gegenüber dem religiösen Urverlangen, das sich herrlich wie am ersten Tag darin bekundet! Das Erleben des Geistes im Innern des Menschen als eine heilige Flamme ist und bleibt die genuine Sehnsucht des Mystikers, der sich nie damit abfinden kann, daß das Evangelium nur zu einer intellektuellen Klopffechterei gemacht wird. Luther hat es kräftig betont, wie der Christ «das Rufen des Geistes im Herzen fühlen muß; denn es ist ja deines Herzens Rufen, wie solltest du es denn nicht fühlen?28» Stärker kann man die Innerlichkeit des Christentums nicht mehr hervorheben, und wer diese Herzensfrömmigkeit vermeint als eine zweideutige Sentimentalität ironisieren zu müssen, der sehe zu, ob er nicht die Sünde gegen den Heiligen Geist begeht, die nach Jesu Ausspruch weder in diesem noch in jenem Leben vergeben werden kann.

Luthers Überzeugung, «wie der Heilige Geist es ins Herze schreibt, so reimet es sich mit der Heiligen Schrift», dokumentiert, daß auch die Betonung des Wortes beim Reformator letztlich mystisch bedingt war29. Das Wort, das Wort allein muß es tun, sagte Luther, eine Gewißheit, die ihn auch das Formalprinzip der Reformation aufstellen ließ: die alleinige Autorität der Heiligen Schrift, die nicht irren kann. Unzähligemal hat Luther gesagt: «Denn im ganzen Christentum haben wir nichts Höheres und Größeres, denn das Wort30