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Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse: diese drei nennt man das ›mystische Dreigestirn‹, das bei aller individuellen Eigenart doch wiederum eine Einheit bildet. Walter Nigg stellt ihr Leben und Werk dar. Er zeigt anhand dreier Beispiele von europäischer Bedeutung jene zeitlose Religiosität, welche ihre Kraft daraus schöpft, daß sie nicht etwas Erdachtes, sondern zutiefst Erlebtes ist.
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Seitenzahl: 304
Walter Nigg
Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse
Diogenes
Ich kenne einen Menschen in Christo; vor vierzehn Jahren (ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich’s nicht; oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich’s auch nicht; Gott weiß es) … der ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann.
2. Kor. 12, 2–4
Dort drin in meiner Seele strahlt ein Licht, das keine Welt faßt, dort klingen Melodien, die keine Zeit verschlingt, dort duften Wohlgerüche, die kein Wind verweht, dort schmecken Speisen, deren keine Sattheit satt wird, dort lacht ein Glück vereinter Liebe, dem ein Überdruß nicht folgt. Das ist es, was ich liebe, lieb ich meinen Gott.
Augustin: Konfessionen, X, Kap. 6
Ich gestehe: Das Wort hat auch mich besucht und – in Torheit sage ich es – mehrmals. Wenn es nun auch öfters zu mir kam, ich merkte nicht ein einziges Mal, wie es eintrat. Ich merkte, wenn es da war, ich kann mich erinnern, daß es da gewesen; zuweilen konnte ich es auch herausfühlen, daß es käme; merken konnte ich seine Ankunft nie, auch nicht einmal sein Weggehen.
Bernhard von Clairvaux: Das Hohelied, Sermo 52
Sie verlangen zu wissen, was man eigentlich durch die Mystik verstehe. Ich antworte: Das kann keiner recht sagen, oder er muß selbst ein Mystiker sein, und keiner gebührend verstehen, wo er nicht selbst auf dem Wege ist, ein solcher zu werden.
Gerhard Tersteegen: Weg der Wahrheit, 6. Stück, Anhang
Meister Eckhart zitierte einmal das Wort von Seneca: «Man soll von großen und hohen Dingen mit großen und hohen Sinnen sprechen und mit erhabener Seele1.» Diese Aufforderung ist besonders im Hinblick auf Eckhart durchaus richtig, denn er zählt zu den Großen der christlichen Geistesgeschichte. Von einer hehren Gestalt muß man mit ehrfürchtigem Respekt schreiben, jedenfalls wäre es töricht, sich einzubilden, man wisse mehr als sie, nur weil man in einem späteren Jahrhundert geboren wurde. Wie aber redet man in hohem Stil von einer überragenden Gestalt? Die Frage wird noch bedrückender, denkt man an Jacob Burckhardts Aussage: «Größe ist, was wir nicht sind2.» Wie kann man von Hohem ebenbürtig schreiben, das man selbst nicht ist? Gleich zu Beginn sieht man sich nicht geringen Schwierigkeiten gegenüber. Will man nicht sogleich die Waffen strecken, besagt Senecas Wort, auf Eckhart angewandt, wohl nichts anderes als: gehe mutig an die Arbeit, «nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz», wie es in einer bekannten Ballade heißt. Über Eckhart «mit hohen Sinnen und mit erhabener Seele» zu schreiben, bedeutet, sich um eine größtmögliche Annäherung zu bemühen. Der Versuch darf gewagt werden, von dieser einmaligen Gestalt mit innerer Freude zu berichten. Denn Freude ist nach Eckhart uns nahe, und sie leitet uns an, mit aufrichtiger Liebe von diesem Meister aus Thüringen zu schreiben. Die begeisterte Schreibweise wird zwar von der strengen Wissenschaft mit argwöhnischen Blikken verfolgt, aber die teilnahmslose Gelehrsamkeit ist doch wohl ein modernes Mißverständnis der echten Objektivität.
Schon zu seinen Lebzeiten war Eckhart von einer seltsamen Fama umgeben. Er galt bei seinen Zeitgenossen als «der Mann, dem Gott nie etwas verbarg». Welch ungeheure Aussage! Natürlich hat sie nicht Eckhart selbst getan, das wäre in seinem Munde beinahe eine Blasphemie gewesen, deren sich der hochgemute Prediger nie schuldig machte. Seine Schüler haben einander das ungewöhnliche Gerücht zugeflüstert und haben damit ihr maßloses Staunen vor diesem ungewöhnlichen Manne ausgedrückt. Das Wort verrät, mit welch grenzenloser Ehrfurcht sie zu ihm emporschauten, ist es doch eine Behauptung, die man eigentlich nicht aufstellen darf. Man wiederhole nur einmal ruhig den Satz bei sich, und man wird sofort sein Übergewicht spüren. Es wird von Eckhart etwas gesagt, was von keinem anderen Manne im Mittelalter nur von entfernt berichtet wurde. Wie ist ein Mensch beschaffen, vor dem Gott nie etwas verbarg? Was für eine Seele hatte dieser Mann in sich, der in die tiefsten Geheimnisse Gottes eingeweiht war? Jedenfalls war er von einer geradezu unheimlichen Aura umwittert. Das unerhörte und übersteigende Reden kann man sich nicht ohne weiteres aneignen. Es weist jedoch eindeutig auf eine ganz einzigartige, faszinierende Persönlichkeit hin. In ihrer Unfaßlichkeit überragt sie den Historiker dauernd. Eckhart ist bis zum heutigen Tag ein Mysterium; auf Schritt und Tritt spürt man seine unerreichbare Größe. Nie bekommt man ihn in den Griff, ja er verweigert sich allen Zudringlichkeiten. Dies spürte auch der Verfasser der vielbändigen «Kirchengeschichte Deutschlands», Albert Hauck, der von Eckhart sagte: «Der Name bedeutet eine große Frage. Denn wir kennen Eckhart und kennen ihn nicht3.» Diese Feststellung besteht noch immer zu Recht. Das Schülerwort vom Manne, dem Gott nie etwas verbarg, erweckte größte Erwartungen. Werden sie auch nicht enttäuscht werden?
Die Aneignung Eckharts ist nicht leicht, denn es gibt keine Vita über den großen Meister. Über Franziskus existieren mehrere von Zeitgenossen geschriebene Viten, so auch über Bernhard von Clairvaux und über Thomas von Aquin. Diese Lebensbeschreibungen sind von unterschiedlichem Wert, aber sie entwerfen doch von den betreffenden Persönlichkeiten ein mehr oder weniger gehaltvolles Bild. Eckhart dagegen fand keinen Biographen, offensichtlich wagte sich nach seinem tragischen Tod niemand an die damals nicht ungefährliche Aufgabe. Deswegen bleibt Eckhart eine geheimnisvoll verhüllte Gestalt. Nur einzelne Stadien seines Lebens leuchten zuweilen kurz auf und verschwinden sogleich wieder wie in einem undurchdringlichen Nebel. Aus diesem Grunde weiß man wenig von Eckharts Leben. Es geht nicht an, die großen Lücken mit der Phantasie auszuschmücken. Das Nichtwissen ist ehrlich zuzugeben. Sein Lebenslauf läßt sich nur in groben Umrissen notdürftig andeuten, und zudem ist man größtenteils auf Rückschlüsse angewiesen. Es gibt kaum nähere Einzelheiten aus seinem Dasein. Jedoch sind nur persönliche Erlebnisse und treffliche Anekdoten imstande, eine Biographie zu beleben. Da dieses Material fehlt, bleibt Eckharts Lebenslauf über weite Strecken im dunkeln4.
Eckhart wurde 1260 in Thüringen geboren, in dem Land, aus dem auch Martin Luther und Johann Sebastian Bach stammen. Der Ort hieß Hochheim, allein, es gibt zwei Dörfer dieses Namens in Mitteldeutschland, und man weiß nicht, welches von beiden gemeint ist. Eine ritterliche Abkunft kann nicht nachgewiesen werden, aber der Adel des Geistes war ihm zweifellos eigen. Auch weiß die Nachwelt nichts über seine Jugend. Mit fünfzehn Jahren trat Eckhart in Erfurt in den Dominikanerorden ein, der etwa ein halbes Jahrhundert zuvor von seinem Stifter einen bedeutsamen Auftrag erhalten hatte. Damals erlebte der Orden eine Blütezeit. Die außerordentliche Intelligenz des Novizen fiel im Orden sofort auf; er wurde denn auch kräftig gefördert. Schon in jungen Jahren zum Prior im Erfurter Konvent ernannt, erlebte Eckhart einen steilen Aufstieg.
Er wurde zum Studium generale nach Köln geschickt. Ob er in der rheinischen Stadt noch den greisen Albert den Großen kennenlernte, ist nicht bezeugt, doch wäre es an sich möglich, gewiß aber hat man ihm viel über den bahnbrechenden Mann erzählt.
Schließlich sandte die Ordensleitung Eckhart zum weiteren Studium an die Universität Paris, wo er nach zwei Jahren den Magistertitel erwarb, Meister, wie man damals zu sagen pflegte. Er nahm die thomistische Lehre in sich auf, lernte aber auch die arabischen und jüdischen Philosophen kennen. Namentlich gewann auch der neuplatonisch eingestellte Proklus für ihn Bedeutung. Eckhart verfügte über ein umfangreiches Wissen; er war kein sich mit dem Pflichtpensum begnügender Student. Seine nach verschiedenen Quellen ausgreifenden Bestrebungen legten die Grundlage zu einer Persönlichkeit von Format. In Paris begann er, Vorlesungen über die «Sentenzen» des Petrus Lombardus zu halten, wie es damaliger Sitte entsprach. Was er über die zu jener Zeit in Paris verbrannte Mystikerin Margareta Porete erfuhr, ist nicht zu ermitteln; daß es sich um eine bedeutende Frau gehandelt haben muß, beweist die neue Ausgabe ihres Buches «Der Spiegel der einfachen Seelen5».
Die Ordensleitung ernannte Eckhart bald darauf zum ersten Provinzial der neu gegründeten sächsischen Ordensprovinz. Fortan gehörte er eindeutig zu den Oberen des Dominikanerordens und war denn auch mit Leib und Seele ein Sohn des heiligen Dominikus. Wer dies nicht beachtet, deutet Eckhart schon im Ansatz falsch. Später übertrug man ihm noch das Amt eines Generalvikars über die verwahrloste böhmische Ordensprovinz. Er hatte die Aufgabe, deren Klöster wieder zur rechten Ordnung zurückzuführen. Sein Ansehen innerhalb des Ordens war so hoch, daß man ihm dies ohne weiteres zutraute. Er nahm diese Aufträge sehr ernst, und um all den Verpflichtungen nachzukommen, durchwanderte er zu Fuß große Teile Deutschlands. Es war den damaligen Bettelmönchen verboten, zu Pferd all die entlegenen Klöster aufzusuchen. Er zählt daher im wörtlichen Sinn zu den vielgewanderten Menschen, und er besuchte auch zahlreiche Stätten in den Niederlanden und die Klöster der baltischen Staaten, um seine Visitationen durchzuführen.
Ehe Eckhart auch das Amt des süddeutschen Provinzials antreten konnte, traf die Ordensleitung eine neue Entscheidung: Er wurde zum zweiten Male nach Paris abgeordnet, der Stadt, die damals die erste Universität in Europa besaß, an der ein lebhaftes Geistesleben herrschte. Das war eine hohe Ehre, die nur noch Thomas von Aquin zuteil geworden war. Der Ordensgeneral traute dem scharfsinnigen Kopf zu, daß er der Aufgabe eines akademischen Lehrers ohne weiteres gewachsen sei. Er hat sie denn auch zur Zufriedenheit der Obern erledigt. In Paris befand sich Eckhart mitten unter Gelehrten; er wurde zu einem Scholastiker. Es wäre töricht, von der Scholastik gering zu denken, denn in ihr haben die mittelalterlichen Geister um ernste philosophische Fragen gerungen. Den scholastischen Problemen gehörte Eckharts ganzes Interesse, wenn sie ihm auch, letztlich gesehen, nicht das neue Wort vermittelten, nach dem er unablässig Ausschau hielt. So urteilte Denifle im vergangenen Jahrhundert, Eckhart sei nur ein mittelmäßiger Scholastiker gewesen, der nie die Bedeutung eines Thomas von Aquin erreicht habe. Erich Seeberg doppelte nach: «Ich glaube nicht, daß Eckhart ein guter Professor war6.» Beide Urteile entbehren nicht der Komik und bedürfen keiner Widerlegung. Eckhart war dem platonischen Denken zugetan, und deswegen ist er mit dem System des Thomas von Aquin, der Aristoteles verpflichtet war, nicht völlig in Übereinstimmung zu bringen. Eckhart war kein zweiter Thomas von Aquin. Ihn mit Thomas zu vergleichen, ist unangebracht. Eckhart ist immer Eckhart. Er ist der eigenständige Repräsentant einer anderen Haltung, für den die scholastischen und mystischen Fragen sich nicht gegenseitig ausschlossen, aber auch nicht identisch waren.
Während seiner scholastischen Tätigkeit verfaßte Eckhart auch einige lateinische Schriften. Sie wurden erstmals im letzten Jahrhundert von Denifle herausgegeben, eine Edition, über die freilich das Verdikt gefällt wurde: «Selten hat sich ein gewaltiges historisch-philosophisches Verdienst mit einer so völligen Unfähigkeit verbunden, eine große, geistige Gestalt in ihrer Einheit und Besonderheit zu begreifen7.» Zwar schrieb Eckhart keine Summa, wenn er auch mit seinem «Dreigeteilten Werk» einen großen Wurf geplant hat – es ist ein Torso geblieben. Man stößt auch in seinem lateinischen Schrifttum immer wieder auf erstaunliche Ausführungen, es sei nur an einen Kommentar zum Johannes-Evangelium erinnert, wo es gleich zu Beginn heißt: «‹Ein mächtiger Adler mit weiten Fittichen, langgestreckten Gliedern, in buntem Gefieder kam zum Libanon und trug das Mark der Zeder davon. Den Wipfel ihres Laubes riß er ab und brachte ihn in das Land Kanaan› (Ezech. 17, 3). Johannes der Evangelist ist es, ‹der den Horst›, von dem er ausschaut, betrachtet und predigt, ‹auf steiler Höhe baut›, ‹auf abschüssigem Gestein› und ‹unzugänglichem Felsen› (Hiob 39,27)8.» Ganz selten begegnet man einer ähnlich tiefen Erfassung des johanneischen Christentums. Es gibt denn auch verdienstvolle Forscher, wie Joseph Bernhart, Otto Karrer und Alois Dempf, die vorwiegend an die lateinischen Schriften anknüpften. Auch der jüngere Leopold Ziegler beschritt in seiner Eckhart-Darstellung diesen Weg, von dem er jedoch später selbst nichts mehr wissen wollte9. So verständlich all diese Bemühungen waren, sie vermochten mit ihrer Blickrichtung Eckharts Geheimnis nicht zu ergründen, zumal dessen schöpferische Begabung nicht auf metaphysischem Gebiet lag.
Die lateinischen Schriften Eckharts sind nach dem Inhalt und auch nach der Form zeitbedingt und gehören der abgeschlossenen Epoche der Scholastik an. Sie wiederaufzunehmen, führt nur zu einer Neoscholastik, die, wie alle angeblichen «Renaissancen», sich als eine wenig fruchtbare Epigonenarbeit erwiesen hat. Auch sind die Probleme des Hochmittelalters nicht mehr unsere Probleme, man kann sich nur durch ein geschichtliches Studium in sie einarbeiten, und sie interessieren heute einzig noch Philosophiehistoriker. Die Fragen haben sich allzu tiefgreifend verändert; die Schlüssel der Scholastik öffnen nicht die neuzeitlichen Tore. Deswegen sind uns auch Eckharts scholastische Ausführungen fremd – das Interesse des heutigen Menschen ist anders gelagert. Alle Versuche, auf dem Weg der lateinischen Schriften Eckhart für die Gegenwart lebendig zu machen, sind gescheitert.
Nach einiger Zeit erhielt Eckhart den Befehl, sich nach Straßburg zu begeben und dort die dominikanischen Frauenklöster geistlich zu betreuen. Diese Aufgabe war dem Orden ausdrücklich von der Kurie übertragen worden. Eckhart hat sie keine Stunde seines Lebens als untergeordnet empfunden, gehörte er doch nicht umsonst dem Predigerorden an. Die Predigt wurde bald zu seiner geistigen Leidenschaft, jedenfalls legte er stets seine ganze Seele in seine Ausführungen hinein. Er gab sein Predigtamt auch nicht auf, nachdem man ihm die Leitung des Studium generale in Köln übertragen hatte. Nun war er zum Lesemeister geworden, der vom Katheder aus seine Studenten unterrichtete. Aber er wollte durchaus auch ein Lebemeister sein und fuhr deshalb fort, im dominikanischen Frauenkloster zu predigen. Ja, ihm war es viel bedeutsamer, ein Lebemeister zu sein, das heißt, eine Anweisung zum seligen Leben zu vermitteln, als ein gelehrter Lesemeister. Damit ist man bis zur Mitte von Eckharts zentralem Anliegen vorgestoßen.
Aus der Straßburger und Kölner Zeit liegen Eckharts deutsche Schriften vor. Freilich haben sie den Nachteil, daß Eckhart sie nicht mit eigener Hand aufgezeichnet hat, mit Ausnahme der Traktate. Nonnen haben seine Predigten nachgeschrieben, und wenn dabei auch gelegentlich ein Mißverständnis entstehen mochte, so hat Eckhart immerhin die Arbeiten kontrolliert. Sie sind eindeutig sein Hauptwerk, weil sie seine Mystik enthalten. Zwar ist das Wort «Mystik» etwas belastet, zu vielerlei hat man darunter verstanden, oft Dinge, die gar nichts mit ihr zu tun haben. Mystik ist Konzentration, ist ausschließliche Konzentration auf Gott, ist lebhafte Besinnung auf das Wesentliche und Verwirklichung des übernatürlichen Lebens. Nach Alois M. Haas sind die lateinischen Schriften dem wissenschaftlichen Interesse und die deutschen Schriften den pastoralen Absichten Eckharts zuzuordnen10. Das Schwergewicht liegt unbedingt auf den deutschen Schriften. Ihnen ist nicht nur eine viel größere Originalität eigen, sondern sie sind auch von einem zeitlosen Gehalt erfüllt. Frisch wie an dem Tag, da sie geschrieben worden sind, tritt in ihnen das Christliche als Existenzfrage in Erscheinung, die Eckhart auf den Nägeln brannte und dem Leser auch heute noch den Atem zu rauben vermag. Eckharts Herz schlägt in ihnen, und deshalb hat er damit auch dem Leser eine ungewöhnliche Dimension eröffnet, darob dieser nicht aus dem Staunen herauskommt. Ich halte es für sinnvoll, in der vorliegenden Darstellung ausschließlich auf die deutschen Schriften abzustellen. Um der Verständlichkeit willen ist diese Konzentration geboten, und sollte dieses Buch deswegen geringschätzig als populärwissenschaftlich abqualifiziert werden, was tut’s? Wenn nur Meister Eckhart den seelisch hungernden Menschen der Gegenwart dargereicht wird! Ganz gewiß bringen die deutschen Schriften seine Mystik am hellsten zum Leuchten, eine Erkenntnis, der auch ein so profunder Kenner Eckharts wie Hermann Kunisch zugetan war11.
Nach diesem ersten skizzenhaften Überblick über Eckharts Leben komme ich auf die zu Beginn erwähnte Fama zurück: «Der Mann, dem Gott nie etwas verbarg.» Besteht die Aussage zu Recht oder nicht? Natürlich ist sie eine maßlose Übertreibung, denn keinem Menschen hat Gott alles gesagt. Jesus sagte in seinen Reden über die Endzeit ausdrücklich: «Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater12.» Es sind dem menschlichen Wissen Grenzen gesetzt, was auch für Eckhart gilt.
Trotzdem steckt in der Fama ein Körnchen Wahrheit. Man muß es nur cum grano salis verstehen und darf sie nicht plump auffassen. Die Aussage bezeugt nur, daß die damaligen Menschen Eckhart nicht von entfernt zu fassen vermochten. Er stand in einer überdimensionierten Größe vor ihnen. Sie wußten nicht, was sie über ihn sagen sollten, und sagten deswegen das, was man im Grunde nicht sagen darf. Eckharts Mystik erweckt den Eindruck, dieser Mann sei in das tiefste Wesen Gottes eingedrungen. Sooft man sich mit ihm beschäftigt, spürt man die überragende Persönlichkeit. Eckhart war ein hinreißender Mensch, ein Mann voll Geist, Adel und unerreichbarer Hoheit. Er besaß eine ungewöhnliche Spekulationskraft und eine seltene charismatische Begabung, mit der es ihm gelang, in seinen Zuhörern die Glut christlichen Lebens zu entfachen. Aus der Feder des Meisters stammen die überaus kühnen Sätze: «Wenn die Seele im Innersten lebt, wo sie Gottes Ebenbild ist, so hat sie rechte Einung, und alle Kreaturen können sie nicht mehr davon trennen. Trutz Gott selber! Trutz den Engeln! Trutz allen Kreaturen! Sie können die Seele nicht mehr trennen von dem Urbild, darin sie eins mit Gott ist! Das ist rechte Einung, und darin liegt die wahre Seligkeit13.» Dieses «Trutz» zeigt den kühnen Geist Eckharts; ein solches Wort mußte streng kirchlich denkende Leute erschrecken. Man sieht unzweifelhaft, was in seinem Innern vorgegangen ist und zu welchen Aussagen dieser Mensch fähig war. Eckhart hegte Gedanken, die kein anderer mittelalterlicher Mensch bei sich erwog, überkühne, in geistiger Beziehung ungewohnte Gedanken. Zugleich darf man nicht übersehen, daß dieses «Trutz» zuletzt auch zur tiefsten Demut führen kann.
Vor allem erwies sich Eckhart als hinreißender Prediger. Er schwang das Schwert des Geistes mit einer Meisterschaft ohnegleichen, wußte wie wenige um die Kraft des Wortes und war überzeugt, «man könnte Wunder wirken mit Worten14». Das verkündete Wort war ihm ein Widerhall des ersten Wortes, das nach dem Johannes-Evangelium «im Anfang war» und dann Fleisch wurde. Eine Predigt ist nie bloße Buchstabenweisheit, da sie doch die Menschen zu verwandeln imstande ist. Wenn das ewige Wort im verkündeten Wort enthalten ist, dann muß diesem ein zeugnisablegender Wert zuerkannt werden. Eckhart entfaltete in seinen Predigten seine tiefsten Gedanken, und dies in deutscher Sprache. Er war sich über die Unzulänglichkeiten der Sprache durchaus klar, zumal der noch weniger entwickelten deutschen. Viele Begriffe fehlten, doch Eckhart bildete sie zuerst und erwies sich als ein genialer Sprachschöpfer, hierin nur mit Luther zu vergleichen. «Ich richte mein Augenmerk nun auf das Wörtlein ‹quasi›, das heißt ‹gleichwie›; das nennen die Kinder in der Schule ein ‹Beiwort›. Dies ist es, auf das ich’s in allen meinen Predigten abgesehen habe15.» Deswegen sprach er oft in Gleichnissen und Bildern, die ihm nur so zuflossen. «Die Seele erkennt sich nicht ohne Gleichnis, denn alle Dinge werden in Bildern und Gleichnissen erkannt16.» Eckhart unterschied äußere und innere Bilder. Vor allem waren ihm die inneren Bilder wichtig, dies um so mehr, als es paradoxerweise «Gott widerstrebt, in Bildern zu wirken17». Von germanistischer Seite wurde die bedeutsame Sprachleistung Eckharts bereitwillig anerkannt: «Eine unerschöpfliche Kühnheit, Prägnanz und Fülle des Wortes, eine in deutscher Sprache bisher nie erreichte Sicherheit des Redens von dem, wofür es im Grund keine Sprache gibt, ist hier zu bewundern18.»
Eckhart war der eigentliche Begründer der deutschen Mystik, obwohl ihm Mechthild von Magdeburg vorangegangen ist. Dieses Urteil ist weniger in nationaler als in sprachlicher Beziehung zu verstehen. Er vermochte die höchsten und innersten Fragen auf eine Art zu formulieren, daß sie nicht nur von einer elitären Minderheit, sondern auch von aufgeschlossenen Laien verstanden werden konnten. Es war für die deutschen Menschen ein starkes Erlebnis, von dem man sich gar keine rechte Vorstellung macht, das Evangelium zum ersten Male auf solche Weise in ihrer Muttersprache verkündet zu hören. Dies hat eine unbeschreibliche Freude ausgelöst. Eckhart erweckte den Eindruck, in die tiefsten Geheimnisse des christlichen Lebens eingedrungen zu sein. Wer sich mit dem Herzen und nicht bloß mit dem Intellekt in Eckharts Predigten vertieft und sich um sie bemüht, kommt nie wieder von ihnen los. Derartige Reden hatte man bis dahin in Deutschland nicht vernommen, jedenfalls kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, ein wirklicher Mann Gottes habe sie geschrieben. Tatsächlich entfaltete Eckhart in seinen Predigten sein Innerstes: Es glänzt und leuchtet in ihm wie die Sonne im Wonnemonat Mai. Seine Seele erstrahlt in ihrer ganzen Schönheit. Die Predigten sind denn auch die wahre Vita Eckharts, denn sie sagen über ihn unendlich viel mehr aus, als es jede Lebensbeschreibung hätte tun können. Dabei wird dem Leser auch evident, daß die äußeren Stationen von Eckharts Leben gar nicht entscheidend sind. Bedeutsam ist vor allem der Weg, den seine Seele zurückgelegt hat. Dieser innere Pfad liegt dem nachdenklichen Leser seiner Predigten unerwartet und klar wie ein tiefer Bergsee vor Augen, in dem sich das Ewige in überirdischer Schönheit spiegelt.
Früher stellte man sich die Heiligen gerne als ehrwürdige, in langen Kleidern daherschreitende Männer vor. Dieses fromme Klischee ist längst überwunden. Ein ähnlich falsches Bild zeichnete man von den großen Mystikern. Gewiß waren sie nicht wie unsereiner. Fraglos ist ihre Bedeutung nicht leicht faßbar. Aber sie erstarrten jedenfalls nicht in ihrer Würde. Die wirklich Großen des Glaubens waren bei aller Geistesmächtigkeit doch wiederum ganz natürliche Menschen, die es gar nicht auf Esoterik abgesehen hatten. Die Mystiker verhielten sich zu ihren Nächsten ebenso schlicht wie menschlich, und gerade ihre Bescheidenheit unterstreicht ihre innere Größe.
Auch Eckhart war alles andere als unnahbar. In Erfurt, wo er als Prior wirkte, pflegte er am Abend mit seinen «geistlichen Kindern», das heißt mit seinen jüngeren Ordensbrüdern, beisammen zu sein. Zwar ist in den Klöstern nach neunzehn Uhr Silentium geboten, doch der Prior erteilte Dispens. Man saß um einen Tisch und führte ungezwungene Gespräche. Nie war es ein bloß zeitvertreibender Plausch, denn der Prior achtete darauf, daß wesentliche Fragen behandelt wurden. Er hielt das Gespräch in den Händen, so daß es nicht im Uferlosen versandete. Die Novizen – Eckhart nannte sie liebevoll «Kinder» – waren ebenfalls nicht zu allen Torheiten aufgelegte junge Leute. Sie hatten das weltliche Kleid schon abgelegt und trachteten bewußt nach einem religiösen Leben. Aus diesem Grunde waren sie doch in den Dominikanerorden eingetreten. Bei dem abendlichen Zusammensein brachten seine jungen Mitbrüder ihre Fragen vor, und Eckhart antwortete ihnen eindeutig und aufschlußreich, ohne je einer Frage auszuweichen.
Eckhart schrieb hernach in seiner Zelle seine Antworten nieder, überdachte die Formulierungen und verfaßte so seine «Unterweisung», eine Arbeit, die von ihm selbst stammt und keine bloße Nachschrift darstellt. Auf diese Weise entstand Eckharts erstes Buch, das zunächst als Traktat bezeichnet wurde. Im Laufe der Zeit aber rief das Wort «Traktätchenliteratur» ein unangenehmes Frösteln hervor, so daß man heute besser von Eckharts Frühschrift spricht. Die aus zwanglosen Gesprächen hervorgegangenen Ausführungen sind in loser Folge aneinandergereiht, und es liegt ihnen keine strenge Komposition zugrunde19. Eckhart gab dem Buch den Titel: «Reden der Unterweisung». Wohlgemerkt: nicht «Unterhaltung», denn sie versandet im Unverbindlichen. Vor den Augen seiner staunenden Zuhörer entwickelte er eine konkrete Anweisung zum christlichen Leben. Die schriftliche Fixierung der abendlichen Tischgespräche hört sich wie eine seiner späteren Lesungen an. Die vorliegende Darstellung ist keine phantasievolle Erfindung zum Zweck, die allzu dürftigen Nachrichten über Eckharts Vita auszumalen. Sie stützt sich auf die Einleitung zu den «Reden», in der es wörtlich heißt, daß «Bruder Eckhart» solche Gespräche mit seinen «geistlichen Kindern geführt hat, die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Tischgesprächen beieinander saßen20».
Diese Frühschrift Eckharts ist beachtlich; sie ist das bezaubernde Präludium zu seiner späteren Melodie. Wohl spricht nicht der vollendete Eckhart aus ihr, denn auch er ist nicht als gemachter Mann auf die Welt gekommen, sondern hatte seine Entwicklungsphasen durchzumachen, bis er zu abgeklärter Reife gelangte. Und doch hat er zwar nicht alle, aber schon viele Themen seiner Mystik berührt. Freilich fehlte noch der spekulative Einschlag. Zunächst war der Traktat noch vorwiegend praktisch ausgerichtet. Er kann im vorliegenden Zusammenhang unmöglich in seiner ganzen Fülle entfaltet werden. Es seien deshalb nur einige Themata herausgegriffen. Der beste Weg zu Eckhart führt über seine freien Tischgespräche, denen intensiv zu lauschen eine Wonne ist.
Eckhart pries, sich darin als echter Dominikaner erweisend, den wahren Gehorsam als «eine Tugend vor allen Tugenden21». Der Gehorsam spielt im Mönchsleben eine bedeutsame Rolle. Ohne ihn vermag ein Kloster auf die Dauer kaum zu bestehen. Als erwachsener Mensch während des ganzen Lebens zu gehorchen, ist eine schwere Verpflichtung. Gewöhnlich wird der tägliche Gehorsam unterschätzt, erfordert er doch viel innere Kraft. Doch darf der Gehorsam nicht nur als eine mönchische Tugend aufgefaßt werden, besonders nicht bei Eckhart, der damit keinen Verdienstgedanken verband. Schon im Alten Testament finden sich die Worte: «Gehorsam ist besser denn Opfer22», und im Neuen Testament heißt es: «Christus war gehorsam bis zum Kreuz23.» Auch Bruder Klaus räumte bei einer Befragung dem Gehorsam den ersten Platz ein. Der religiöse Mensch ist verpflichtet, dem göttlichen Befehl zu gehorchen, selbst wenn es ihn Verzicht und Selbstüberwindung kostet. Am Anfang von Eckharts Unterweisung steht eine harte Forderung, die man nicht schnell übergehen darf, nur weil sie heute nicht zeitgemäß ist.
Eckhart sprach schon damals vom «ledigen Gemüt», das er für unbeirrbar hielt und das deshalb für ihn bedeutsam war. Mit dem durch keine Kreatur gebundenen Gemüt verband er die wichtige Einsicht: «Darum fang zuerst bei dir selbst an, und laß dich!24» Diese Erkenntnis ist die erste Stufe zum Eintritt in das Wesentliche. Solange man die anderen anklagt oder an sie Forderungen stellt, verharrt man im Unfruchtbaren. Die andern richten sich doch nie danach; der Mensch kann nur bei sich selbst beginnen. Eckhart dachte stets konkret und zupackend, wußte auch, daß man bei sich selbst anfangen muß, und wenn man dies nicht tut, wird überhaupt nie begonnen. Nur uns selbst haben wir in der Hand, und dies nicht einmal ganz. Trotzdem: bei uns selbst beginnt der wahre Ernst.
In der vierten Unterweisung führte Eckhart seine zentralen Themen aus: «So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen25.» Der Leser stutzt und denkt vielleicht, er verstehe dies nicht. Warte noch ein wenig, Eckhart wird dies in seinen späteren Predigten noch weit angriffiger ausführen, so daß man nicht mehr von Schwerverständlichkeiten reden kann. Vorläufig fährt er weiter: «Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein. Denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen26.» Damit hat Eckhart die Position bezogen, die er nie mehr verlassen wird: Es kommt auf das Sein an. Natürlich ist es auch wichtig, was der Mensch denkt, aber entscheidend ist, daß er das auch verkörpert, was er bei sich überlegt und ausspricht. Dauernd zu fragen: «Was sollen wir tun?» führt zu nichts, zumal es schon im Alten Testament heißt: «Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert27.» Ebensowenig genügt ein bloßes Postulieren, gilt es doch zu verwirklichen, was man zu wollen vorgibt. Auf das Realisieren kommt es an; Heiligkeit gründet sich tatsächlich auf ein Sein. Der Heilige ist eine Seinsgestalt, das ist gerade das Ungewöhnliche an ihm. Wenn man das persönliche Sein nicht ernst nimmt, verflattert alles wie Spreu vor dem Wind.
Dann mahnt Eckhart, daß «des Menschen Gemüt gänzlich zu Gott gekehrt sei. Darauf setze all dein Studieren, daß dir Gott groß werde28.» Dies ist der entscheidende Satz; Eckharts Geist beginnt das Feuer zu entfachen, daß Funken sprühen. Und sollte alles, was man von Eckhart liest, wieder aus dem Gedächtnis entschwinden, eines darf man nie, nie mehr vergessen: «daß dir Gott groß werde»! Vieles entfällt einem im Leben, aber diese eine Zielsetzung muß man unbedingt festhalten. Sie gehört zum zentralen Anliegen Eckharts, eine Aufforderung, mit der die Menschen nie zu Ende kommen. Sie stellen sich Gott gerne und immer wieder in menschlicher Weise vor, mögen sie sich das eingestehen oder nicht, es ändert nichts daran. Sie reden von Gott, als wäre er ein kleiner Gott, schon die gedankenlose Rede vom «lieben Gott» grenzt gewöhnlich an einen Mißbrauch seines Namens. Unsere Rede von Gott verrät meistens nur unsere geringe Ahnung von ihm. Der lebendige Gott kann zuweilen einen Menschen überfallen, daß er den Ewigen als wahre Qual erlebt. Jedenfalls geht es in der Beziehung des Menschen zu Gott immer um das Sein oder Nichtsein – anders hat noch niemand die Unmittelbarkeit Gottes erlebt. Die engen Gedanken und kleinlichen Vorstellungen halten die Christen gefangen. Dabei gälte es doch, die ganze Kraft daran zu setzen, von Gott stark zu reden, und redete man groß von ihm, ist es immer noch nie groß genug. Denn solange der Mensch meint, Gott mit seinem Wissen einfangen zu können, so lange ist er noch von Gott entfernt. Der Christ hat alle Gottesbegriffe und Gottesformulierungen beständig zu überschreiten, weil nichts davon Gott wirklich entspricht. «Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und alle Kreatur29.» Wertvoll ist einzig die persönliche Gotteserfahrung, sie allein überwindet alle Zweifel und bringt den Menschen zum inneren Beben. Der wesenhafte Gott ist der lebendige Gott, für den der brennende und doch nie verbrennende Dornbusch ein Gleichnis ist. Das ganze theologische Studium und die ganze scholastische Bemühung, denen sich die jungen Dominikaner unterziehen müssen, hat wenig Wert, wenn ihnen Gott nicht groß und flammend wird, so daß daneben alles andere versinkt. Dazu muß freilich das menschliche Gemüt ledig werden und sich gänzlich zu Gott kehren. Gott, und Gott allein, ist bedeutsam, alles andere hält daneben keinen Vergleich aus. Nur der glühende Geist entspricht dem Absoluten und dem Unbedingten, eine Gottesleidenschaft, von der Eckhart absolut erfüllt war.
Die ausschließliche Hinwendung zu Gott hatte bei ihm zur Folge, daß die Kirche nicht die erste Stelle in seinem Denken einnahm. Natürlich sagte Eckhart nie ein Wort gegen die Kirche. Das wäre ihm nicht im Traum eingefallen, hätte dies doch ohnehin gegen die dominikanische Denkweise verstoßen. Auffallend ist es jedoch, daß er ganz selten von der Kirche spricht. Sie war ihm ein Wegweiser zu Gott, aber nicht Gott selbst, und die Kirchengeschichte setzte er nicht der Gottesgeschichte gleich. In ihrem empirischen Dasein ist die Kirche eine vorübergehende Größe30, sie ist eine soziologisch notwendige Institution, und manchmal bereitet ihre gewalttätige Geschichte dem Gewissen des Historikers schwere Anfechtungen. Eckhart verblieb mit seiner Kirchenauffassung durchaus im biblischen Raum, in dem die Propheten ebenfalls den Opferkult ablehnten und wo vor den Leuten gewarnt wird, die da schreien: «Hier ist der Tempel des Herrn, hier ist der Tempel des Herrn!31»
Im stärksten Gegensatz zu der beinahe furchtbaren Gottesauffassung kam es Eckhart gleichzeitig darauf an, daß der Mensch sich an allen Stätten Gott nahe fühle. Diese beiden Gotteserfahrungen sind scheinbare Widersprüche, aber ohne Paradoxe kann man vom Ewigen gar nicht reden. Eckhart betonte nachdrücklich: «Der Mensch soll Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt daran gewöhnen, Gott allzeit gegenwärtig zu haben im Gemüt und im Streben und in der Liebe32.» Die lapidare Formulierung «Gott in allen Dingen ergreifen» wiederholt Eckhart auch in seinen späteren Predigten noch und noch. Mit dieser bedrängenden Erkenntnis entfaltet Eckhart eine ganz neue Sicht. Der Christ darf nicht nur beim Besuch der Kirche oder beim Lesen der Bibel das Gefühl haben, mit Gott verbunden zu sein, sondern Gott ist auch gegenwärtig in der täglichen Arbeit und in der Feierabendstunde, im Leiden und in den Freuden, in der Stunde der Liebe und im bitteren Sterben. Es gibt schlechterdings nichts, wo Gott nicht wäre. Eckhart durchbricht die Trennung von sakraler und profaner Sphäre, die die Christen immer zu einem zwiespältigen Verhalten verurteilt. Bei dem Thüringer ist das Heilige inmitten des Alltags, und auch das Gewöhnliche ist in Gott. Mit der kühnen Losung, «Gott in allen Dingen zu ergreifen», wird das ganze Leben geheiligt, das ganze Dasein in die Gottesbeziehung hineingenommen, und nichts bleibt von Gottes Gegenwart ausgeschlossen. Diese fürwahr umfassende Einstellung hängt mit der Bemühung, «daß dir Gott groß werde», eng zusammen. Dem Meister war der gegenwärtige Gott wichtig, denn Gott ist drinnen und draußen. Und nicht genug damit: «Das Wichtigste ist, daß der Mensch durch alle Dinge hindurch – und über alle Dinge und aller Dinge Ursache hinausgehen muß33.» Die Parole, «Gott in allen Dingen zu finden», ist die christliche Haltung schlechthin. Dafür stehen Eckhart starke Worte zur Verfügung: «Wer Gott so, im Sein, hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar34.»
Eckharts wuchtige Gottesauffassung wurde vielfach des Pantheismus bezichtigt. Früh schon erwachte dieser Verdacht, und er hat sich hartnäckig gehalten. Ganz unschuldig daran ist Eckhart nicht, liebte er es doch, gewisse Aussagen zu überspitzen. Trotzdem beruht diese Pantheismus-Verdächtigung auf einem fatalen Mißverständnis. Wenn Eckharts Mystik als Ganzes überschaut wird, kann davon nicht die Rede sein. Dies ist aus seiner wirklichen Einstellung zur Kreatur ersichtlich, die für ihn stets eine Schöpfung Gottes und nicht etwa Gott selbst war. «Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennen würde, der brauchte an keine Predigt zu denken, denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch35.» Folglich war die Kreatur für Eckhart ein Buch Gottes, in dem der Mensch staunend von Gottes Schöpfertaten lesen kann. Gleichzeitig sagte Eckhart, alle Kreaturen seien zu gering, als daß sie Gott offenbaren könnten. Zwar ist Gott «in allen Dingen», aber: «Je mehr er in den Dingen ist, um so mehr ist er außerhalb der Dinge; je mehr er drinnen ist, um so mehr ist er draußen36.» Damit ist eindeutig gesagt, daß Eckhart nie Gott mit der Kreatur identifizierte; seine lodernde Gottesbeziehung läßt jeden verschwommenen Pantheismus weit hinter sich.
Eckharts Denken kreiste ausschließlich um Gott, was ihm den Vorwurf eintrug: «Von der breiten bunten Oberfläche des Lebens weiß er nichts zu sagen, nichts von Ehe, Gesellschaft, Erziehung, Kunst, Bildung, nichts von allem, was wir Kultur nennen37.» Dieser Einwand ist unbegründet, weil Eckhart all diese Güter nicht verneint, sondern sie lediglich auf den zweiten Platz verweist. Seine verzehrende Gottesleidenschaft führte ihn nicht zu einer Weltablehnung. Ausdrücklich schrieb er: «Dies kann der Mensch nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet und sich von der Außenwelt weg in die Einsamkeit kehrt; er muß vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem es auch sei. Er muß lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen38.» Eckhart war kein Weltflüchtiger – weltflüchtig war auch der Dominikanerorden nie. Sein Stifter wollte doch, daß seine Söhne zu den Menschen gingen, um ihnen zu helfen, sich von ihren falschen Ideen freizumachen. Der Prior von Erfurt predigte vom Durchbruch zu Gott und sprach nicht von der Flucht aus der Welt. Ihm war es außerordentlich bedeutsam, daß der Mensch durch alle Vorurteile und Hemmnisse hindurchbreche, um zuletzt in die Arme Gottes zu fallen. Nur in der inneren Einsamkeit steht er unmittelbar vor dem Ewigen. Schon in dieser frühen Aufzeichnung bemühte sich Eckhart, das Wesentliche von außen nach innen zu verlegen.
Bei all diesen wie Quellwasser sprudelnden Tischgesprächen blieb Eckhart der gute Seelsorger. Er sagte seinen jüngeren Zuhörern: «Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist39.» Es hat wenig Sinn, sich mit den Vergangenheitssünden allzu lange herumzuquälen. Eckhart wußte, daß auch Leute, die es zu Großem gebracht hatten, irgendwie einmal fehlgetreten waren. Dann galt es Buße zu tun, die im Gedenken an Christi Leiden vollbracht wurde. Nie aber sollte sich der Mensch «als fern von Gott ansehen, weder wegen eines Gebresten noch wegen einer Schwäche noch wegen irgend etwas sonst … Denn darin liegt ein großes Übel, daß der Mensch sich Gott in die Ferne rückt; denn, ob der Mensch nun in der Ferne oder in der Nähe wandele: Gott geht nimmer in die Ferne, er bleibt beständig in der Nähe40.» Eckharts Gott ist das Gegenteil des «fremden» oder «fernen» Gottes. Eckhart errichtet auch keine unübersteigbare Distanz zwischen Gott und Mensch, die jede Beziehung praktisch aufheben würde; im Gegenteil, er verkündet den nahen Gott, der allein dem kraftvollen, helfenden Glauben entspricht. Einzig der nahe Gott ist der lebendige Gott des Neuen Testamentes41. Wer die Nähe Gottes spürt, findet ihn auch in allen Dingen. Gott ist dir