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"Es geht wieder los", murmelte die Gestalt. Vorsichtig strich sie über den dunklen Einband eines Buches, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Die Ahnung, dass es zurückkehrte, hatte sie schon seit einigen Tagen befallen. Über die Jahre hatte sich ihre Wahrnehmung darauf sensibilisiert, die kleinsten Zeichen richtig zu deuten. Gewissheit hatte ihr aber erst ein besonderer Gegenstand gegeben, den sie noch in der Innentasche ihres Jacketts verborgen hielt.
In dem kleinen Büro hatte sich eine fast schon tropische Hitze angestaut. Der abgestandene Zigarettenqualm tat sein Übriges dafür, dass die Luft für einen Menschen kaum zu atmen war. Aber das war auch nicht nötig. Denn die Gestalt, die hinter dem Tisch saß, war kein Mensch, sondern ein Dämon ...
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Seitenzahl: 160
Cover
Impressum
Was bisher geschah
Verlorene Seelen
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4305-2
www.bastei-entertainment.de
Johnny Conolly hat seine Mutter verloren. Sie wurde von einem Dämon brutal ermordet. Als dieser Dämon durch ein Dimensionstor fliehen will, jagt Johnny ihm zwei Silberkugeln hinterher. Er trifft den Dämon! Eine der Kugeln pflügt eine tiefe Furche in den grässlichen Schnabel des Dämons. Doch sie kann ihn nicht aufhalten. Also springt auch Johnny durch das Tor und folgt dem Mörder seiner Mutter.
Kurz darauf wird das Tor für immer zerstört, sodass es für Johnny keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt. Das Dimensionstor spuckt ihn schließlich wieder aus – in einer anderen Welt. Johnny ist in Dark Land gelandet, genauer gesagt in Twilight City, einer Stadt voller Geheimnisse – und voller Gefahren.
Die Fährte des Mörders führt ihn in einen Nachtclub, wo er allerdings herausfinden muss, dass es nicht nur einen Schnabeldämon gibt, sondern viele. Und beinahe tötet er den Falschen. Der Manager des Clubs überwältigt ihn jedoch vorher.
Die Polizei holt ihn ab, und ein Richter, ebenfalls ein Schnabeldämon, verurteilt ihn aufgrund der Geringfügigkeit seines Vergehens zu einer Geldstrafe – die er allerdings mangels hiesiger Mittel nicht begleichen kann. Daraufhin wird aus dem Bußgeld eine Haftstrafe: Fünfzig Jahre soll er einsitzen!
Er ist schon fast auf dem Weg ins Gefängnis, als ihn einer der Polizisten, die er kennengelernt hat, aus dem Transporter holt, um ihn woanders hinzubringen. Wohin und warum, das verrät ihm der unheimliche Panthermann nicht.
Auf dem Weg zu dem unbekannten Ziel kommt es zu einem Unfall. Und zwar zu einem, der absichtlich verursacht wird!
Wynn Blakeston, wie Johnny sich in dieser Welt inzwischen nennt – für den Fall, dass irgendjemand in Twilight City mit seinem Namen John Gerald William Conolly etwas anfangen kann und ihm möglicherweise Übles will –, hat gesehen, wie der andere Wagen auf sie zusteuerte. Allein am direkten Kurs des Fahrzeugs war zu erkennen, dass der Fahrer sie rammen wollte – aber mehr noch hat es sein Gesicht verraten, das Wynn in seinem letzten wachen Augenblick ganz deutlich gesehen hat: das Gesicht nicht irgendeines Dämons, sondern eines Schnabeldämons – und nicht irgendeines Schnabeldämons, sondern das Gesicht des Mörders seiner Mutter!
Er hat es eindeutig wiedererkannt an der Furche, die seine Silberkugel in dem langen Schnabel des Dämons hinterlassen hatte!
Als er nach dem Unfall erwacht, findet er sich im Haus von Sir Roger Baldwin-Fitzroy wieder, in dem auch dessen Tochter Abby und der dämonische Diener Esrath, ein sogenannter Naturalis, leben.
Sir Roger hat Wynn aus dem Gefängnis freigekauft – warum, das weiß Wynn nicht.
Doch im Moment ist auch etwas anderes für ihn wichtiger: Er will Rache am Mörder seiner Mutter!
Zusammen mit Abby begibt er sich auf die Suche nach dem Schnabeldämon. Inzwischen hat er rausgefunden, dass dieser Norek heißt und skrupelloser und gefährlicher ist als alle seine Artgenossen.
Auch Sir Roger und Esrath sind auf der Suche nach Norek, denn Sir Roger hat noch eine Rechnung mit dem Dämon offen.
Davon ahnt Wynn nichts. Er setzt die gefährliche Suche nach Norek fort. Dabei weicht ihm Abby inzwischen nicht mehr von der Seite – sehr zum Ärger von Sir Roger …
Verlorene Seelen
von Rafael Marques
»Es geht wieder los«, murmelte die Gestalt. Vorsichtig strich sie über den dunklen Einband eines Buches, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Die Ahnung, dass es zurückkehrte, hatte sie schon seit einigen Tagen befallen. Über die Jahre hatte sich ihre Wahrnehmung darauf sensibilisiert, die kleinsten Zeichen richtig zu deuten. Gewissheit hatte ihr aber erst ein besonderer Gegenstand gegeben, den sie noch in der Innentasche ihres Jacketts verborgen hielt.
In dem kleinen Büro hatte sich eine fast schon tropische Hitze angestaut. Der abgestandene Zigarettenqualm tat sein Übriges dafür, dass die Luft für einen Menschen kaum zu atmen war. Aber das war auch nicht nötig. Denn die Gestalt, die hinter dem Tisch saß, war kein Mensch, sondern ein Dämon …
Es gab kein Fenster, auch die Tür war geschlossen. Die einzige Lichtquelle war eine matte Deckenleuchte, deren Licht gerade ausreichte, die an den hellbraun tapezierten Wänden hängenden, gerahmten Fotos aus dem Zwielicht zu reißen. Sie waren Zeugnisse längst vergangener Zeiten, als Twilight City noch eine andere Stadt gewesen war und andere Menschen und Dämonen sie geprägt hatten.
Die meisten von ihnen waren längst tot, trotz all ihrer Macht. Nur Rakk, der Dämon, lebte noch. Auf einigen der Fotos war er selbst abgebildet. Er erkannte sich kaum wieder, so viel Zeit war seit damals vergangen. Außer den Fotos und den Erinnerungen war ihm davon nichts mehr geblieben.
Geistesabwesend ließ Rakk seinen Blick über die Einrichtung des Büros schweifen. Außer dem Schreibtisch gab es noch zwei Schränke und einen Lederstuhl, der ungenutzt in der Ecke verstaubte. Die Umgebung wirkte mehr als karg, aber das war dem Dämon egal. Er war kein Mensch. Deshalb dachte er auch in anderen Maßstäben.
Aus dem gläsernen Aschenbecher vor ihm stieg ein dünner Rauchfaden empor. Die dicke, selbst gerollte Zigarette war fast abgebrannt. Daneben befanden sich auf dem Tisch noch zwei Aktenordner, ein Schreibblock und das Buch mit ledernem, zerschlissenem Einband.
Mit einer müde wirkenden Bewegung zog der Dämon eine der Schubladen des Schreibtischs auf und griff nach der kleinen Metallflasche, die er darin versteckt hatte. Ebenso ruhig setzte er sie mit seiner schuppigen Klaue an seine Lippen und trank einen Schluck. Das Blut rann ihm wie Honig die Kehle herunter. Jeder einzelne Tropfen gab ihm neue Energien.
Am liebsten hätte er die ganze Flasche ausgetrunken, doch er wollte sich noch etwas aufheben. Die Dealer verlangten selbst für diese kleine Menge einen horrenden Preis. Besonders, weil es sich nicht um gemischtes Blut handelte, sondern um den reinen Lebenssaft von Dämonen.
Ein leises Stöhnen entwich seinem Maul, als er die Flasche absetzte, sie verschloss und wieder in der Schublade verschwinden ließ. Kurz dachte er daran, dass einige Abnehmer des Blutes bereits seltsame Nebenwirkungen offenbart hatten. Bei ihm war das bisher nicht der Fall gewesen.
Er schob die Gedanken daran wieder beiseite. Andere Dinge waren im Moment wichtiger, wie etwa das Buch mit dem dunklen Einband. Er kannte es nur zu gut und wusste eigentlich in- und auswendig, was darin stand. Dennoch wollte er es noch einmal durchblättern, um sich auf seine Aufgabe zu fokussieren.
Die schuppenbewehrten Klauen strichen über den Einband. Dann schlug der Dämon das Buch auf. Was vor ihm lag, war eine Collage aus Fotos und Zeitungsausschnitten, die auf schwarzes Papier geklebt worden waren. Einige der Bilder und Artikel waren neueren Datums, andere schon Jahrzehnte alt. Eines hatten sie jedoch gemeinsam: Sie zeigten seltsame Gebilde am Himmel über Twilight City.
Richtig scharfe Fotos des unheimlichen Phänomens gab es nur wenige. Weder Menschen noch Dämonen wagten es, auf den Straßen zu bleiben, wenn es erschien. Jeder wusste, dass es ihr Todesurteil sein konnte.
Eines der Bilder zeigte die Hochhäuser der Innenstadt, über die sich eine Art dunkle Wolke geschoben hatte. Die Szenerie wirkte, als wäre das Foto einige Male zerrissen worden. Tatsächlich aber hatten mehrere Blitze dafür gesorgt, dass das Bild unscharf geworden war.
Ein zweites Foto war noch verschwommener. Zu sehen war nur ein grauer Hintergrund mit einem seltsamen schwarzen Fleck in der Mitte. Aufgenommen hatte es einer der Verlorenen, bevor er mitgenommen worden war.
Neben dem Foto klebte ein Zeitungsartikel. Leise las er ihn vor: »DAS GRAUEN IST ZURÜCK – 9 TOTE: Wieder ist es in allen Bezirken zu mehreren Todesfällen gekommen. Das Schiff der Toten – wie das Phänomen seit Langem von der Bevölkerung betitelt wird – hat eine Fährte des Schreckens in Twilight City hinterlassen, als es wie aus dem Nichts über die Stadt hergezogen ist. Zwei Menschen und sieben Dämonen fielen ihm diesmal zum Opfer. Wie immer hat die Polizei keine Anhaltspunkte, was mit den Entführten passiert ist. Doch selbst die Angehörigen hegen keine Hoffnung mehr, ihre Lieben noch einmal lebend wiederzusehen.«
Der Dämon ließ seine spitzen Fingernägel über das wolkenartige Gebilde fahren. Nicht einmal er wusste, was es damit auf sich hatte. Und genau wie jeder andere Einwohner von Twilight City war auch er nicht vor seiner Macht gefeit.
Rakk zog seine Hand wieder zurück und blätterte eine Seite weiter. Diesmal blickte er auf ein Foto, das einen in sich zusammengesunkenen Mann zeigte, der ein Bild seiner Frau in der Hand hielt. Daneben klebte ein Teil eines Briefs – eines Abschiedsbriefs, den der Mann kurz vor seinem Selbstmord verfasst hatte.
»Ich gehe in dem Wissen, dass ich nur im Tod mit Sarah wieder vereint sein kann«, las der Dämon vor. »Sie wird niemals zurückkehren, das wissen wir alle. Doch ich kann das einfach nicht akzeptieren. Jede Minute sehe ich ihr Gesicht vor mir, als Sarah mir aus den Händen gerissen wird. Ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Ihre Schreie, während sie emporgerissen wird und schließlich ganz verschwindet, rauben mir den Schlaf. Sie ist tot. Jedes Mal hoffe ich, dass das Schiff der Toten doch Erbarmen hat und auch mich zu sich holt. Erfolglos. Jetzt gehe ich den letzten Schritt und …«
An dieser Stelle brach der Brief ab. Jemand hatte ihn entzweigerissen. Was mit der anderen Hälfte geschehen war, wusste Rakk nicht mehr.
Noch einmal blätterte der Dämon weiter. Diesmal fiel sein Blick auf das Foto eines dunkelhaarigen Mädchens. Es wirkte, als wäre es schon im Teenageralter, doch der Dämon wusste, dass sie erst elf gewesen war, als das Bild aufgenommen worden war. Diese Augen …
Plötzlich schlug Rakk das Buch zu. Er hatte genug gesehen. Jedes Mal, wenn es zurückkehrte, brachen Grauen und Zerstörung über die Stadt herein. Nicht im materiellen Sinne, sondern mehr in der Psyche der Bewohner. Wer keinen Angehörigen verlor, ging schon nach kurzer Zeit wieder zur Tagesordnung über. Und doch hatte sich die nackte Angst längst in den Köpfen der Menschen und Dämonen festgesetzt. Die Unsicherheit war beinahe greifbar. Nicht einmal die Stärksten und Mächtigsten unter ihnen waren vor diesem Schicksal gefeit.
Rakk dachte wieder an seinen Auftrag. Er war gefährlich, sicher, aber das war es wert. Zudem besaß er etwas, von dem er wusste, dass es etwas mit dem Phänomen zu tun hatte. Wieder zog er eine der Schubladen seines Schreibtisches auf. In einer silbernen, etwa kinderfaustgroßen Schatulle befand sich etwas, das er schon sehr lange besaß.
Vorsichtig klappte er die Schatulle auf. Auf braunem Samt gebettet lag eine rote Revolverkugel. Auf den ersten Blick wirkte sie unscheinbar und nichtig, doch wer sie länger betrachtete, erkannte, dass in ihr mehr steckte. Vielleicht sogar so etwas wie Leben. Ein schwaches Licht pulsierte tief in ihr. Selbst Rakk konnte es nur erkennen, wenn er mehrere Minuten lang auf das Kleinod starrte. Fast wirkte das Leuchten wie das manifestierte Schlagen eines Herzens.
Der Dämon legte die Schatulle auf der Schreibtischplatte ab und griff in seinen Anzug. Seine Echsenfinger zogen einen silbern glänzenden, großkalibrigen Revolver hervor. Seine Munition war so verheerend, dass einem Menschen bei einem direkten Treffer fast der halbe Kopf weggeschossen werden konnte. Oder einem Dämon. Rakk konnte da aus Erfahrung sprechen.
Mit geübtem Blick überprüfte er, ob auch alle neun Schuss in dem Revolver steckten. Zur Not hatte er noch etwas Ersatzmunition eingesteckt, aber wenn alles normal lief, brauchte er sie sowieso nicht. Gegen die Gegner, gegen die er antreten würde, halfen keine Kugeln – abgesehen möglicherweise von der rot leuchtenden.
Nachdem er die Waffe wieder weggesteckt hatte, griff er noch ein letztes Mal in seinen Schreibtisch und zog ein mit seltsamen Zeichen verziertes Messer hervor und verstaute es ebenfalls in seiner Jacke. Schließlich nahm er auch die rote Kugel. In seiner Hand strahlte sie für einen kurzen Moment heller auf als normal. Der Dämon kannte diese Reaktion. Sie trat jedes Mal auf, kurz bevor das Phänomen zurückkehrte.
Da wusste Rakk, dass es an der Zeit war, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Schweigend erhob er sich von seinem Stuhl, nahm den grauen Hut von dem Kleiderständer und verließ das Büro.
***
Mit offenen Augen lag Wynn Blakeston auf dem Bett. Auf seinem Bett. In seinem Zimmer. In dem Haus, das seine Heimat geworden war, obwohl es noch immer so viele Geheimnisse vor ihm verbarg.
Sein Leben hatte sich in den letzten Monaten von Grund auf verändert. Wieder und wieder sah er die Szenen vor sich, als Norek, der Schnabeldämon, eiskalt seine Mutter getötet hatte. Hätte ihn jemand gefragt, hätte er sogar zugegeben, dass er von dem Gedanken daran besessen war, den Tod seiner Mutter zu rächen. Es war nun einmal so. Trotz allem, was geschehen war, konnte er den Gedanken daran nicht unterdrücken. Fast jeder Tag in dieser Welt begann damit, dass er dieses eine Ereignis wieder und wieder Revue passieren ließ.
Mehrmals war er schon kurz davor gewesen, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Zunächst in dem U-Bahn-Tunnel kurz nach seiner Ankunft in dieser Welt, später im Ripp Tide, als Norek versucht hatte, Abby zu töten, dann in Sinatown und schließlich auf der Escape, diesem Dämonen-Schiff, das von einem monströsen Kraken in die Tiefe gezogen worden war.
Gerade da war er seinem Ziel so nahe gekommen. Doch stattdessen hatte er gemeinsam mit seinem Todfeind und Abby ums Überleben kämpfen müssen. Letztendlich war dem Kraak, wie die Schnabeldämonen eigentlich genannt wurden, erneut die Flucht gelungen. Er hatte sich in die Fluten des Hafens gestürzt. Auch Lieutenant Bella Tosh und ihr Partner Kajahn hatten ihn nicht aufhalten können.
Das alles lag erst etwa einen halben Tag zurück. Wynn dachte daran, dass noch so viele Fragen offengeblieben waren. Fragen, die nicht einmal seine neue Freundin beantworten konnte. Zum Beispiel, warum Twilight City von dieser undurchdringlichen Nebelbank umschlossen wurde. Oder warum jemand um jeden Preis verhindern wollte, dass die Escape sie durchschiffte – oder das Dimensionstor, das sich dort draußen befunden haben sollte. Denn dass es jemand verhindern wollte, da war er sich sicher. Dieser Riesenkrake hatte bestimmt nicht zufällig dort gelauert.
Wynns Ziel war klar: Er musste einfach noch einmal zum Hafen zurückkehren und dort weiter nach Spuren suchen. Vielleicht fand er ja auf Largos Schiff noch etwas, das ihn zu Norek führte. Oder er traf auf jemanden, der mehr über die Gruppe der Dämonen wusste, die den Durchbruch durch den Nebel gewagt hatte.
Largo selbst war von den Verschwörern ermordet worden und seine Leiche mit der Escape im Meer versunken. Aber sein Boot, die Molly Monroe, existierte noch.
Um dorthin zu gelangen, brauchte er jedoch eine Waffe. Abby und er hatten am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich das Hafenviertel war. Die Beretta mit den Silberkugeln war für immer verloren. Außerdem hatte sie im Vergleich zu den großkalibrigen, klobigen Pistolen, die die Einwohner von Twilight City besaßen, klein und schwach gewirkt. Sofort dachte er an die seltsame Waffe, die Sir Roger besaß und mit der er so etwas wie Feuerwolken verschießen konnte.
Allein würde er diesen Plan wohl kaum durchziehen können. Er brauchte Abby ja schon dafür, das Haus verlassen zu können. Obwohl er sie dabei beobachtet hatte, wusste er noch immer nicht genau, wie sie die Augen Togoths auf ihre und seine Lider zeichnen konnte. Nur mit ihnen war er in der Lage, die von Sir Roger aufgestellten Fallen zu umgehen.
Abby – sie war ebenfalls noch ein großes Rätsel für ihn. Die letzten Abenteuer hatten sie zusammengeschweißt. Da musste er nur an den Kuss denken. Um ihm Glück zu wünschen, hatte Abby gesagt. Aber war da nicht doch mehr?
Doch all das Nachdenken brachte ihn nicht weiter. Er wollte und musste etwas tun. Etwas zu schwungvoll stieß er sich vom Bett ab und sprang auf. Sein Puls ging plötzlich schneller, beruhigte sich aber nach kurzer Zeit wieder. Bei den Kämpfen der vergangenen Stunden hatte er einiges abbekommen.
Der Weg zur Tür war nicht weit. Dennoch blieb er auf der Hut. Seine Schritte wurden von dem Teppichboden so weit abgefedert, dass er sie selbst nicht hören konnte. Aber möglicherweise ein Dämon. Wynn wusste nicht, ob Esrath noch im Haus war. Er hatte lediglich gehört, wie vor einiger Zeit der Motor von Sir Rogers Wagen angelassen worden war. Außerdem konnte es gut sein, dass sich außer dem Naturalis noch mehr Wesen in dem Haus aufhielten.
Leise klickte die Tür, als er sie aufzog. Ebenso lautlos huschte er hindurch – und zuckte zusammen. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand eine Gestalt im Gang. Es war Abby!
***
»Abby«, stieß Wynn aus. »Was … machst du hier?«
Die junge Frau mit dem silberblonden Haar lächelte. Täuschte er sich, oder verbarg sich in ihrem Gesichtsausdruck auch eine Spur Unsicherheit?
»Dasselbe wie du, schätze ich«, gab sie zurück. »Nachdenken. Eigentlich wollte ich zu dir kommen, aber das kann ich mir ja jetzt sparen.«
Wynn atmete tief durch. Dem kurzen Schock war mittlerweile Erleichterung gewichen. Hätte statt Abby Esrath auf dem Gang gestanden, hätte er sich den Ausflug abschminken können.
»Worüber denkst du nach?«, fragte er schließlich.
Abbys Lächeln wurde schmaler. In ihre Augen legte sich ein leicht entrückter Ausdruck. »Über alles. Dich, meinen Vater, meine Mutter, Norek und diesen Nebel. Seit du in unsere Welt gekommen bist, habe ich das Gefühl, als hätte sich alles verändert. Ich denke über Dinge nach, die mir zuvor nicht einmal ansatzweise wichtig erschienen sind. Ist das nicht unheimlich? Ich habe schon mein ganzes Leben in Twilight City verbracht und nie einen Gedanken daran verschwendet, wie es außerhalb der Stadt aussieht. Oder, dass sie vielleicht niemand verlassen kann.«
»Oder, dass bestimmte Kräfte genau das verhindern wollen …«, fügte Wynn noch hinzu.
»Genau.«
Abby atmete tief durch und fuhr sich durch ihr silbernes Haar. Ihre rechte Hand hielt sie hinter ihrem Rücken verborgen. Wynn ahnte schon, dass das etwas zu bedeuten hatte.
»Und was hast du jetzt vor?«, fragte sie.
»Ich will noch mal zum Hafen. Vielleicht finde ich ja noch irgendeine Spur.«
»Allein?«
Wynn sah ihr tief in die Augen. »Nein«, erwiderte er. »Aber ich will dich zu nichts zwingen.«
»Das musst du auch nicht. Wir hatten doch eine Abmachung, nicht wahr? Außerdem hatte ich denselben Gedanken.«
Plötzlich lächelte Abby wieder und zog ihre rechte Hand hervor. In ihr hielt sie etwas, an das auch Wynn schon vor mehreren Minuten gedacht hatte. Sir Rogers Waffe!
»Ich dachte mir, das könnten wir gebrauchen«, sagte sie leise.
Auch Wynn lächelte jetzt. »Da hatten wir wohl denselben Gedanken. Ist Esrath noch im Haus?«
»Nein, er ist mit meinem Vater weggefahren.«
»Dann müssen wir nur noch einen Weg aus dem Haus finden.«
Abby hob die Schultern. »Du weißt doch, das ist für mich kein Problem«, entgegnete sie und zwinkerte ihm zu.
Das gelbliche Auge des Togoth, das auf ihrem Lid schimmerte, war Antwort genug.
***
Auch Wynn besaß mittlerweile eine gewisse Übung darin, die magischen Fallen des Hauses mit der Magie dieses Togoth zu umgehen. Obwohl er sich schönere Dinge vorstellen konnte, als mit einem Gelbfilter vor den geschlossenen Augen durch den Vorgarten des Anwesens zu schleichen.