John Sinclair 2048 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2048 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Sarah Henderson schrie so laut wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie zuckte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinab. Die harten Schläge schüttelten sie durch und rissen sie in eine Welt, die nur aus Schmerzen zu bestehen schien.
Irgendwann war es vorbei. Wie ein weggeworfenes Bündel Müll blieb sie vor den Stufen liegen. Sie schloss die Augen und wünschte sich tausende Meilen weit weg. Natürlich wurde sie nicht erhört.

Dafür drang ein Geräusch an ihre Ohren - das Knarren der Stufen ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Die schlafende Armee

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Timo Wuerz

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-5336-5

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die schlafende Armee

von Rafael Marques

»Ich schlafe gleich ein. Wenn wir noch etwas zusammen gucken sollen, dann beeil dich!«

Sarah Henderson verdrehte die Augen. »Ich bin ja bald da, Suzy. Ich kann doch auch nichts dafür, wenn mein Chef mir Überstunden aufbrummt.«

»Überstunden?«, erklang erneut die Stimme ihrer besten Freundin. »Du wolltest doch bestimmt nur ein bisschen mehr Zeit mit deinem Robert verbringen.«

»Nein!«, fuhr sie Suzy an. »In fünf Minuten kannst du was erleben!«

Mit einem kurzen Tastendruck beendete Sarah das Telefonat. Ihr Ärger verflog schnell. Sie wusste ja, dass Suzy es nicht ernst meinte. Dennoch, so weit lag sie gar nicht von der Wahrheit entfernt. Nur hatte Robert Clay, der Leiter des Reisebüros ihre Annäherungsversuche entweder fehlinterpretiert oder absichtlich ignoriert.

Die Vierundzwanzigjährige schüttelte kurz den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Fahrt. Erneut wurde ihr Fiat von einer heftigen Windböe getroffen. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Kleinwagen auf der Straße zu halten.

Vor ihr bewegten sich die mächtigen Tannen im Wind hin und her. Sarah hasste es, bei solchem Wetter durch den Wald zu fahren, noch dazu am späten Abend …

Andererseits blieb der jungen Frau auch nicht viel anderes übrig. Ihre Eltern hatten nun einmal die brillante Idee gehabt, ihr Landhaus mitten in den tiefen Wäldern der Isle of Wight zu errichten. Porchfield, den letzten größeren Ort, hatte sie schon vor einigen Minuten durchfahren.

Dave und Erica Henderson waren inzwischen beide tot. Es versetzte Sarah jedes Mal einen Stich, wenn sie daran dachte. Erst hatte ihr Vater einen tödlichen Schlaganfall erlitten, dann hatte der Lungenkrebs ihre Mutter dahingerafft. Das alles lag gerade mal drei Jahre zurück.

Seit damals lebte sie mit ihrer besten Freundin unter einem Dach. Suzy hatte sich damals gerade von ihrem Freund getrennt und sich dazu bereit erklärt, vorübergehend bei Sarah einzuziehen. Mittlerweile konnte sie sich den Alltag gar nicht mehr ohne sie vorstellen.

Sarah hatte ihr ganzes Leben auf der Insel verbracht – mit Ausnahme ihres dreijährigen Studiums in Southampton. Dennoch fürchtete sie sich jedes Mal davor, bei Nacht über die engen Landstraßen zu fahren. Zumindest regnete es nicht, aber das war nur ein schwacher Trost.

Eisern klammerten sie die Finger um das Lenkrad. Einzelne Äste, die der Wind von den Bäumen gerissen hatte, schlugen gegen die Windschutzscheibe. Mittlerweile wünschte sie sich, doch in Newport geblieben zu sein. Nicht in dem Reisebüro, eher bei einem Bekannten.

»Jetzt reiß dich mal zusammen, Sarah!«, sprach sie sich selbst leise Mut zu.

Kein einziger Wagen kam ihr entgegen. Ihre Eltern hatten es geliebt, so entlegen zu wohnen. Sie dagegen verfluchte diese Einsamkeit, und das nicht zum ersten Mal.

Nach einer schier endlosen Fahrt entdeckte sie endlich den schmalen Feldweg, der nach rechts von der Straße abbog. Von hier aus war es nur noch knapp eine Meile bis zum Haus.

Doch sie kam nicht weit. Nach etwa einhundert Metern lag eine mächtige Tanne quer auf der Fahrbahn. Der Sturm musste sie entwurzelt haben.

Sarah fluchte. »Verdammt, nein!«, murmelte sie und schlug wütend auf das Lenkrad. Sie konnte den Baum nicht umfahren. Dafür standen die Tannen hier einfach zu eng. Damit blieb ihr nur noch eine Möglichkeit: Sie musste zu Fuß bis zum Haus.

Sie schloss die Augen und atmete kurz durch. Dann stellte sie den Motor ab und griff nach ihrer Jacke. Nachdem sie auch die Taschenlampe vom Rücksitz genommen hatte, verließ sie den Wagen.

Sofort wünschte sie sich, es nicht getan zu haben. Sie hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Der kalte Wind drang in jede Pore ihres Körpers. Ihre Zähne schlugen ganz automatisch aufeinander.

Ein Zurück gab es für Sarah trotzdem nicht mehr. Sie konnte schließlich nicht im Auto übernachten. Nervös fuhr sie sich durch die langen Haare, bevor sie die Lampe einschaltete.

Der Lichtkegel wanderte über die alte Tanne, die dem Sturm nicht standgehalten hatte. Ihr Stamm war dick, aber nicht so mächtig, dass sie nicht über ihn hinübersteigen konnte.

Sie wollte gerade losgehen, als erneut eine Windböe durch den Wald fegte. Nur mit Mühe konnte sie sich auf den Beinen halten. Etwas knackte in ihrer unmittelbaren Umgebung. Einige der Tannen schwankten so stark, dass sie glaubte, sie könnten ebenfalls im nächsten Moment umknicken.

Dann lief sie los. Der querliegende Stamm rückte immer näher. Vorsichtig legte sie einen Fuß auf einen abstehenden Ast und kletterte über das natürliche Hindernis hinweg.

Sarah lachte kurz, als sie die andere Seite erreichte. Für einige Sekunden fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen, das zum Spielen in den Wald hinausgelaufen war.

Ein lautes Rascheln holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Hastig ließ sie das Licht der Taschenlampe über ihre Umgebung gleiten. Doch es war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte der Wind nur ein paar Blätter aufgewirbelt.

Als ein Rabe plötzlich zu krächzen begann, schrie Sarah überrascht auf und zuckte zusammen. Der Vogel stieß sich von einem der Bäume ab, rauschte über ihren Kopf hinweg und verschwand in der Dunkelheit.

Mittlerweile ärgerte sie sich über ihr eigenes Verhalten. Sie war doch kein Kind mehr! Trotz der Dunkelheit gab es nichts, wovor sie sich fürchten musste. Bestimmt schlichen in der Nähe ein paar Rehe durch den Wald. Und die hatten mit Sicherheit mehr Angst vor ihr als sie vor ihnen. Vom dem Raben ganz zu schweigen.

Kopfschüttelnd lief sie weiter. Eigentlich musste sie nur geradeaus und ein wenig den Hügel hinauf. Noch ein paar Minuten, dann würde sie den Lichtschein sehen können, der aus den Fenstern des Landhauses fiel. Aber noch umgab sie nichts als Finsternis.

Immer wieder sanken ihre Schuhe in dem schlammigen Untergrund ein. Wenn sie nach Hause kam, konnte sie sie gleich in die Mülltonne werfen. Aber besser so als im Freien übernachten.

Wieder hörte sie das Rascheln, diesmal noch lauter. Abrupt blieb Sarah stehen. Noch einmal ließ sie den Lichtkegel über die Bäume wandern, die neben dem Feldweg in die Höhe wuchsen. Täuschte sie sich oder war dort tatsächlich ein Schatten, der zwischen den Stämmen hindurchhuschte?

Plötzlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ihr Verstand versuchte ihr einzureden, dass das nur ein Tier gewesen sein konnte. Oder doch nicht? Wurde sie verfolgt?

Im Fernsehen und Radio hörte man immer mal wieder von Psychopathen, die nachts durch die Wälder schlichen und einsamen Frauen auflauerten. Aber doch nicht hier, auf der Isle of Wight! Trotz der verhältnismäßig hohen Bevölkerungsrate auf der Insel waren die Menschen hier doch etwas familiärer geblieben als auf dem Festland.

All diese Gedanken konnten ihre eigene Nervosität jedoch nicht verdrängen. »Ist da jemand?«, rief sie in den Wald hinein.

Natürlich antwortete niemand. Sie kam sich selbst so lächerlich vor. Hatte sie tatsächlich erwartet, dass ihr jemand antwortete?

Irgendwann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie musste weiter, auch wenn es ihr noch so schwerfiel. Der Wind peitschte weiter durch den Wald. Ihre Kapuze aufzusetzen brachte überhaupt nichts. Sie ärgerte sich nur, dass sie ihren Schal im Auto gelassen hatte.

Ohne Probleme erreichte sie die Anhöhe. Als sie den Boden anleuchtete, entdeckte sie einzelne Tierspuren. Diese Entdeckung gab ihr ein gutes Gefühl. Eine gewisse Paranoia blieb jedoch in ihrem Hinterkopf haften.

Nach etwa einer halben Minute sah sie den ersten Lichtschein. Suzy wartete mit Sicherheit bereits sehnsüchtig auf sie. Falls sie nicht wirklich eingeschlafen war, wie sie bereits angekündigt hatte. Aber bei dem Wetter konnte sich Sarah das kaum vorstellen.

Wenige Meter entfernt wuchs ihr zweistöckiges Elternhaus in die Höhe. Ein wenig wirkte es wie eine verwunschene Räuberhütte, von innen war der Bau allerdings modern eingerichtet.

In der Küche im Erdgeschoss brannte kein Licht mehr, dafür aber in Suzys Schlaf- und dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters, die beide im ersten Stock lagen. Im obersten Geschoss, dem Speicher, bewahrte sie fast nur die Sachen ihrer Eltern auf, die sie sich nie wegzuwerfen getraut hatte.

Noch einmal beschleunigte sie ihre Schritte. Einen Verfolger hatte sie immer noch nicht gesehen, und doch wollte sie nur noch ins Haus. Der Wald, den sie früher noch so geliebt hatte, kam ihr plötzlich wie ein feindlicher Organismus vor.

Verwundert blickte sie in die Höhe. Ohne es richtig zu merken, hatte sie bereits die Tür erreicht. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Im Stand drehte sie sich um und ließ den Lichtkegel über die Umgebung schweifen. Nichts zu sehen. Dennoch beruhigte sich Sarah nicht.

Sie wandte sich wieder der Tür zu und zog den Schlüssel aus der Hosentasche. Zum Glück hatte sie ihn nicht im Auto vergessen. Ein zweites Mal hin und zurück durch den Wald zu laufen hätte sie wohl in den Wahnsinn getrieben.

Mit zitternden Fingern schob sie den Schlüssel ins Schloss. Ein leises Knacken erklang, dann konnte sie die Tür aufziehen. So schnell sie konnte huschte sie ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Schwer atmend presste sie sich mit dem Rücken gegen das Holz, schloss die Augen und ließ sich zu Boden sinken.

Wie lange sie so dasaß, wusste sie selbst nicht. Es konnten Minuten gewesen sein, aber auch eine halbe Stunde. Irgendwie war es ihr auch egal. Sie war nur froh, endlich in Sicherheit zu sein.

Ein kühler Luftzug holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sofort bildete sich auf ihrer Haut eine leichte Gänsehaut. Sie fröstelte. Vorsichtig öffnete sie die Augen wieder.

Nur langsam gewöhnten sich Sarahs Pupillen an die neuen Lichtverhältnisse. Durch die Fenster sickerte kaum Licht. Allerdings schimmerte vom Ende der Treppe, die wenige Meter neben ihr nach oben führte, ein fahler Schein.

»Suzy?«, fragte sie, so leise, dass sie selbst es kaum hören konnte.

Natürlich antwortete ihr niemand. Sehr langsam erhob sie sich wieder. Die Lampe ließ sie neben der Tür liegen. Ihr Lichtschein reichte auch so aus, um ihr den Weg zu weisen.

Warum hatte sie nur so furchtbare Angst? Es gab keinen sichtbaren Verfolger, keine Gefahr, keinen Angriff. Sie war den Weg schon tausendmal gegangen, ohne dass sie sich jemals so gefürchtet hatte. Und jetzt, wo sie endlich zu Hause war, wich die Angst noch immer nicht.

Wenn doch nur Suzy endlich antwortete. Normalerweise hätte sie sie längst hören müssen. »Suzy?«, rief sie noch einmal, diesmal deutlich lauter. Doch wieder geschah nichts.

Sarahs Herzschlag beschleunigte sich wieder. Tränen traten ihr in die Augen. Mit einem schnellen Handgriff wischte sie sie weg. Instinktiv zog sie die Schuhe aus, um keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Ein Gefühl sagte ihr, dass sie nicht allein in ihrem Haus war. Nur war sie sich nicht mehr sicher, ob das nur Suzy betraf.

Sie war nur noch wenige Schritte von den ersten Stufen entfernt, als sie über sich, am Ende der Treppe, etwas entdeckte. Ein Schatten. Das Licht, das ihr entgegensickerte, war zu schwach, um ihn vollständig aus der Dunkelheit zu reißen. Mit etwas Fantasie hatte er sogar die Form eines liegenden Menschen.

Suzy!

Sarah blieb fast das Herz stehen, als sie daran dachte. Grausame Bilder schossen ihr durch den Kopf. Sie sah ihre Freundin, wie sie blutüberströmt, mit aufgeschnittener Kehle oder eingeschlagenem Schädel vor ihr lag. Und ihr Mörder war vielleicht noch im Haus!

Stöhnend presste sie sich eine Hand gegen den Mund. Mit der anderen stützte sie sich an der Wand ab. Direkt neben den Fingern befand sich ein Lichtschalter. Trotz ihrer Ängste wagte sie nicht, ihn zu drücken. Auf keinen Fall wollte sie sich verraten.

»Reiß dich zusammen!«, flüsterte sie. »Du weißt doch gar nicht, ob es Suzy ist. Und wenn, brauchst sie deine Hilfe.«

Sarahs eigene Worte sorgten dafür, dass sie wieder nach oben sah. Der Schatten hatte sich nicht bewegt. Endlich nahm sie allen Mut zusammen und ging den nächsten Schritt.

Als sie das erste Mal einen Fuß auf die Treppe setzte, zuckte sie sofort zusammen. Das Knarren der hölzernen Stufe war so laut, dass es selbst Tote aufgeweckt hätte. Wenn sie bisher noch niemand bemerkt hatte, war es spätestens jetzt so weit.

Trotzdem setzte sie ihren Weg fort. Sie musste es einfach tun, auch wenn es dumm war. Sie konnte Suzy einfach nicht im Stich lassen. Jetzt ärgerte sie sich, ihre Taschenlampe unten liegen gelassen zu haben. Zurück wollte sie aber auch nicht mehr.

Stufe um Stufe ließ sie hinter sich. Noch nie in ihrem Leben war ihr der Aufstieg so lang und anstrengend vorgekommen. Einzelne Schweißperlen flossen über ihre Stirn. Unter der Jacke war sie bereits komplett verschwitzt.

Nach gefühlten Stunden erreichte sie den Schatten. Sarahs Herz pochte so schnell, dass sie glaubte, kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. Sehr langsam ging sie in die Knie. Da sah sie es – es war Suzy!

»Oh Gott!«, stieß sie hervor, als sie die kurzen schwarzen Haare ihrer Freundin und den von ihr so geliebten grauen Pyjama erkannte.

Und noch etwas sah sie jetzt: Aus einer furchtbaren Wunde an ihrem Hals tropfte Blut. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich also bewahrheitet.

Sarah wollte sich gerade einfach umdrehen und so weit wie möglich weglaufen, als ein Zucken durch den leblosen Körper lief. Vor ihren Augen drehte sich der Kopf leicht zur Seite.

»Mein Gott, Suzy, du lebst«, rief Sarah ihrer tot geglaubten Freundin zu. »Ich dachte, du … du …«

Sofort ging sie wieder in die Knie und legte ihre Hände um Suzys Kopf. Plötzlich erstarrte ihr Körper wieder. Vorsichtig drehte Sarah das Gesicht ihrer Freundin in ihre Richtung. Suzy hatte die Augen geöffnet. Doch ihr Blick war so starr. Dafür bewegten sich ihre Lippen, ohne dass Sarah auch nur ein Wort hören konnte.

Sie beugte sich herunter und brachte ihr Ohr so nah, wie es ging, an Suzys Mund. Und endlich konnte sie verstehen, was sie ihr sagen wollte: »Blut … Dein Blut … Ich will es …«

Ein Schauer lief über Sarahs gesamten Körper. Plötzlich war ihr nicht mehr heiß, sondern eiskalt. Mit geweiteten Augen blickte sie auf ihre Freundin hinab. Sie konnte Suzys Kopf nicht mehr halten. Dumpf schlug er auf dem Teppichboden auf.

Über ihr geriet der Lichtschein in Bewegung. Jemand hatte hinter Suzy eine Tür geöffnet. Sarah sah hoch – und glaubte, von einem Albtraum in den nächsten geraten zu sein.

Ja, es befand sich noch jemand im Haus. Doch derjenige war kein Mensch, sondern ein grün leuchtendes Skelett mit Vampirzähnen!

***

Sarah Henderson schrie so laut wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie zuckte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinab. Die harten Schläge schüttelten sie durch und rissen sie in eine Welt, die nur aus Schmerzen zu bestehen schien. Ihr Glück war, dass die Stufen mit einem weichen Teppich überzogen waren und die Treppe längst nicht so lang war, wie es sich während des Aufstiegs angefühlt hatte.

Irgendwann war es vorbei. Wie ein weggeworfenes Bündel Müll blieb sie vor den Stufen liegen. Sie schloss die Augen und wünschte sich tausende Meilen weit weg. Natürlich wurde sie nicht erhört. Dafür drang ein Geräusch an ihre Ohren – das Knarren der Stufen.

Der Gedanke daran stachelte sie noch einmal an. Die Schmerzen waren gar nicht mal so stark, wie sie gedacht hatte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, gerade von einer wilden Horde verprügelt worden zu sein. Sehr langsam richtete sie sich wieder auf.

Das Knarren kam näher und näher. Sarah wagte nicht, sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. So schnell sie noch konnte lief sie in Richtung Tür. Vor wenigen Minuten hatte sie da draußen noch Todesängste durchgemacht, jetzt aber war der Wald ihre einzige Rettung.

Stöhnend warf sie sich gegen die Tür und riss sie auf. Kalter Wind peitschte ihr entgegen. Mit zwei Schritten huschte sie durch den Spalt und schlug die Tür hinter sich zu. Dann lief sie los.

Schon nach wenigen Metern verfluchte sie sich selbst, dass sie die Schuhe ausgezogen hatte. Die Pflanzen und kleinen Äste schnitten ihr in die Füße. Doch irgendwie gelang es ihr, die Schmerzen zu überwinden.

Sie konnte selbst kaum fassen, dass sie noch so normal denken konnte. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, was sie da eigentlich im Haus gesehen hatte: ein Monstrum, das es nicht geben durfte. Einen skelettierten Vampir mit grün leuchtenden Knochen. Sie hörte sich selbst hart lachen. Ihre Knie gaben langsam nach. Nach etwa hundert Metern ließ sie sich gegen den Stamm einer mächtigen Tanne fallen und atmete durch.

Ihr Blick wanderte zur Haustür. Diese war geschlossen, aber das musste nichts bedeuten. Für ein Wesen wie dieses Skelett waren Türen sicher keine Hindernisse.

Ihr Atem ging nur noch stoßweise. Sarah wusste nicht, ob sie es überhaupt noch bis zum Auto zurückschaffen würde. Ihr gesamter Körper bebte. Irgendwann presste sie beide Hände gegen den Kopf und versuchte, sich ein letztes Mal zu sammeln.

Das Handy!

Der Gedanke war wie ein Blitz, der durch ihren Kopf schoss. Sie zögerte keine Sekunde und setzte ihn in die Tat um. Erst als sie bereits die Nummer der Polizei wählte, wurde ihr klar, dass ihr niemand glauben würde. Was sollte sie denn sagen? Dass ein Skelett-Vampir ihre Freundin in eine Blutsaugerin verwandelt hatte und das Monstrum jetzt auch hinter ihr her war?

Dennoch ließ sie es klingeln.

»Polizeinotruf Newport, was möchten Sie melden?«, erklang eine freundliche Männerstimme.

»Sarah Henderson hier«, begann sie. Zumindest ihren Namen hatte sie in einigermaßen normalem Tonfall herausgebracht. Danach geriet sie aber bereits ins Stocken.

»Okay, Miss Henderson, was kann ich für Sie tun.«

»Ich …« Sie stockte erneut. Schließlich gab sie sich einen Ruck. Plötzlich sprudelte es aus ihr hervor. »Ich bin gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Ein Baum hat die Zufahrt versperrt. Dann, dann … hat mich jemand durch den Wald verfolgt. Als ich dann nach Hause gekommen bin, habe ich meine Freundin Suzy gefunden. Tot. Oder auch nicht. Ich … da war dieses grüne Skelett. Es hat ihr das Blut ausgesaugt …«

Etwas knackte. Sarah zuckte so stark zusammen, dass ihr das Handy aus der Hand glitt. Mit einem dumpfen Laut fiel es ins Gras.

»Hallo, Miss?«, hörte sie die leise Stimme des Polizisten. »Wenn das ein Scherz sein soll, kann das für Sie einigen Ärger bedeuten!«

»Nein, das ist kein Scherz!«, schrie sie und suchte nach dem Handy.

Da knackte es erneut. Sarah erstarrte. Ihr Blick wanderte durch den dunklen Wald. Das Skelett konnte sie längst unbemerkt erreicht haben. Oder war es Suzy, die sich auf die Jagd nach ihr gemacht hatte?

Vor ihr schälte sich etwas aus der Dunkelheit. Ein grün leuchtendes Skelett! Sarah wollte schreien, doch mehr als ein Stöhnen brachte sie nicht hervor. Denn das Skelett war nicht allein. Vier weitere lebende Gerippe traten ihr entgegen. Jetzt erkannte sie, dass die Knochen durch eine zähflüssige, undefinierbare Masse zusammengehalten wurden.

Nur eines der Skelette hatte Vampirzähne, die anderen nicht. Doch dieses Detail war ihr egal. Sie wollte leben. Trotzdem blieb sie wie angewurzelt stehen. »Bitte … bitte nicht …«, war das Einzige, was sie hervorbrachte.

Die Knochengestalt mit den überlangen Eckzähnen übernahm die Führung. Sarah hatte das Gefühl, von der Ausstrahlung des Wesens gebannt zu werden. Die Angst war wie weggefegt und machte einer seltsamen Leichtigkeit Platz. Sie lächelte sogar, als das Skelett nach ihr griff und ihren Kopf leicht zur Seite drückte.

Ein Stöhnen drang aus ihrem Mund, als der Vampir seine Zähne in ihren Hals rammte.

***

Es war Nacht. Dunkelheit. Ein dichtes Wolkenband hatte sich vor den Mond gezogen und seinen kalten Schein verdeckt. Die Wälder, die einsamen Dörfer und auch die leeren Straßen verliefen in fast vollständiger Finsternis. Um diese Zeit wagte es kaum jemand, die Sicherheit zu verlassen, die das eigene Haus einem bot. Nicht einmal die Tiere zeigten sich. Vielleicht ahnten sie, dass diese Nacht doch nicht so ruhig verlaufen würde, wie es den Anschein hatte.