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Sina lag am Boden und war starr vor Schmerzen. Die Welt um sie herum war nur noch ein verschwommener Fleck. Sie spürte mit jeder Faser, wie langsam das Leben aus ihrem Körper rann.
"Sina! Sina!"
Wie aus weiter Ferne drangen die Rufe an ihre Ohren. Die junge Frau stöhnte. Ein Gesicht geriet in ihr Blickfeld. Es gehörte einem Mann, etwa in ihrem Alter. Nur langsam klärte sich ihre Sicht. Sina wollte etwas sagen, doch ihr Kopf war so leer. Die Schmerzen waren einfach unerträglich.
Mit aller Kraft hob sie ihre Arme an. Die Haut war über und über mit Blut besudelt. Die junge Frau glaubte, in Flammen zu stehen, so sehr wühlten sich die Schmerzen durch ihr Innerstes. Drei Kugeln hatten sie getroffen. Wenn kein Wunder mehr geschah, würde sie die nächsten Minuten nicht überstehen ...
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Seitenzahl: 141
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Cover
Impressum
Blut und Feuer
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Pujolar/S.I.-Europe
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5335-8
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Blut und Feuer
von Rafael Marques
Sina lag am Boden und war starr vor Schmerzen. Die Welt um sie herum war nur noch ein verschwommener Fleck. Sie spürte mit jeder Faser, wie langsam das Leben aus ihrem Körper rann.
»Sina! Sina!«
Wie aus weiter Ferne drangen die Rufe an ihre Ohren. Die junge Frau stöhnte. Ein Gesicht geriet in ihr Blickfeld. Es gehörte einem Mann, etwa in ihrem Alter. Nur langsam klärte sich ihre Sicht. Sina wollte etwas sagen, doch ihr Kopf war so leer. Die Schmerzen waren einfach unerträglich.
Mit aller Kraft hob sie ihre Arme an. Die Haut war über und über mit Blut besudelt. Die junge Frau glaubte, in Flammen zu stehen, so sehr wühlten sich die Schmerzen durch ihr Innerstes. Drei Kugeln hatten sie getroffen. Wenn kein Wunder mehr geschah, würde sie die nächsten Minuten nicht überstehen …
Über Sina tobte ein Kampf um Leben und Tod. John, der Mann mit dem Kreuz, setzte alles auf eine Karte. Ein hässliches Zischen drang an ihre Ohren, gefolgt von dem Gestank nach verbranntem Fleisch. Einer der Angreifer brach zusammen und zerfiel langsam zu Staub. Nur noch die beiden spitzen Hauer in seiner Fratze erinnerten daran, was er einmal gewesen war.
Wieder ertönte ein lautes Brüllen. Ein Schuss erklang. Kurz darauf stürzte ein zweiter Blutsauger zu Boden. Verzweifelt kämpfte die dämonische Gestalt gegen ihre Vernichtung an. Sina sah, wie sich der Umriss eines Kreuzes in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht des Vampirs einbrannte.
Ein dumpfer Laut erklang. Plötzlich brach auch John Sinclair zusammen. Stöhnend wand er sich auf dem Boden, während sich über ihm ein dritter Blutsauger aufbaute und ein blitzendes Messer zum entscheidenden Stich erhob.
Gerade als sich die Blutbestie auf John Sinclair stürzen wollte, wurde sie mit voller Wucht am Rücken getroffen. Etwas explodierte. Von einem Moment zum nächsten stand sie lichterloh in Flammen. Während der Vampir wie irre zu schreien begann und langsam in die Knie brach, flog ein zweiter Brandsatz in ihre Richtung.
Rasend schnell breiteten sich die Flammen aus. Als sich der Inhalt des zweiten Brandsatzes mit dem in Flammen stehenden Vampir verband, kam es sogar zu einer zweiten Explosion. Noch im Knien fand der Blutsauger sein Ende. Teile seines Schädels wirbelten durch die Luft und sorgten dafür, dass sich das Feuer noch weiter ausweitete.
Direkt vor ihr lag John Sinclair. Immer wieder versuchte er, sich noch einmal aufzurichten. Doch seine Bewegungen wurden schwächer und schwächer. Sein Blick war gläsern. Er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Gleichzeitig fauchten die Flammen immer näher heran.
Sina bekam davon kaum noch etwas mit. Eine unnatürliche Kälte kroch durch ihren Körper, während dunkle Schleier ihre Sicht vernebelten. Oder war es der Rauch, den das nahe Feuer erzeugte? Am Ende war es egal. John, ihr Begleiter und sie würden so oder so sterben …
***
4 Stunden zuvor
»Ich glaube, ich kann nicht mehr laufen.«
Suko grinste mir feist ins Gesicht. »Soll ich Ihnen einen Rollstuhl holen, Herr Geisterjäger?«
»Keine schlechte Idee, Kato … ähm, Suko natürlich.«
»Wie meinen?«
Ich winkte ab. Den Hinweis auf eine gewisse Comicserie aus den 40er-Jahren hätte nicht einmal ich verstanden, wenn ich nicht am vergangenen Abend einen Film mit der Superhelden-Figur in der Glotze gesehen hätte.
Stöhnend erhob ich mich von meinem Platz und winkte Luigi, dem Wirt, zum Abschied zu. In der letzten Stunde hatten wir es uns wie Gott in Frankreich gehen lassen. Na ja, zumindest ich. Während Suko nur einen italienischen Salat mit Hähnchenbruststreifen gegessen hatte, hatte ich mir ein Rindercarpaccio, Spaghetti Carbonara und am Ende noch eine Portion Panna Cotta einverleibt.
Welcher Teufel mich geritten hatte, mich derart vollzustopfen, wusste ich immer noch nicht. Immerhin war ich so umsichtig gewesen, des Dienstes wegen auf einen Absacker zu verzichten. Mein Verdauungstrakt war darüber allerdings nicht so begeistert.
Vielleicht lag mein Verhalten darin begründet, dass wir in den letzten Tagen außer Büroarbeit nicht viel zu tun bekommen hatten. Die Mächte der Finsternis gönnten uns eine kurze Verschnaufpause, was leider nicht allzu oft vorkam. Solche Tage musste man eigentlich ausnutzen. Aber man sollte es auch nicht übertreiben, so wie ich es gerade tat.
Außerdem zeigte sich das Wetter wieder einmal von seiner Schokoladenseite. Wir hatten Temperaturen von knapp unter dreißig Grad. Einige helle Wolken sorgten dafür, dass die Sonne hin und wieder verdeckt wurde und wir so die drückende Schwüle, die an vielen Orten in London herrschte, kaum zu spüren bekamen. Tief sog ich die halbwegs klare Luft ein, als ein schwacher, erfrischender Windstoß durch die Straße fegte.
»Weißt du, nach was das riecht?«, fragte Suko.
»Nach einem Absacker bei Sir James?«
»Nein, nach einer zusätzlichen Trainingseinheit. Zeit zum Abspecken, Herr Geisterjäger.«
»Abspeck …?«, wollte ich gerade fragen, als sich mein Bauch mit einem eindeutigen Brummen zu Wort meldete. »Vielleicht keine so schlechte Idee«, gab ich nach. »Aber erst nach dem Verdauungsspaziergang.«
»Aha, schon das erste ›Aber‹.«
»Ich habe ja nicht Nein gesagt.«
Bevor Suko noch einmal nachhaken konnte, meldete sich mein Handy. Bei dem geheimnisvollen Anrufer handelte es sich um niemand anderen als Sir James. Ich wusste sofort, dass er nicht nur anrief, um mir eine gesunde Verdauung zu wünschen. Das roch nach Arbeit.
»Sir?«, meldete ich mich mit professioneller Höflichkeit.
»Es tut mir ja leid, Sie bei ihrem Dolce Vita zu stören«, meldete sich unser Chef mit einem Hauch Ironie, »aber es gibt Arbeit. Gerade habe ich einen Anruf von einem gewissen Inspektor Sherman erhalten. Anscheinend wurde im Richmond Park eine Leiche gefunden.«
Bevor Sir James mit seinem Bericht fortfuhr, atmete ich einmal tief durch und wechselte einen kurzen Blick mit meinem Partner. Das war es dann also mit unserer Ruhe …
***
Der Richmond Park, gelegen im gleichnamigen Stadtteil Richmond upon Thames, war das größte aller Londoner Grünflächenareale. Deshalb war er wohl auch der naturbelassenste Park der englischen Hauptstadt. Er zeichnete sich vor allem durch große Waldflächen aus, aber auch durch ein Gebiet, in dem seltene Pflanzenarten einen Rückzugsort gefunden hatten. Die Hauptattraktion, etwa 700 Hirsche, zog jedes Jahr mehrere tausend Touristen an.
Ich kannte den Park recht gut, nicht nur, weil ich dort schon einige Male ermittelt hatte. Man konnte in ihm gut abschalten und einfach mal die Natur genießen, was in meinem Job leider oft zu kurz kam.
An diesem Tag würden Suko und ich uns sicher nicht mit der malerischen Umgebung beschäftigen können. Was es genau mit der weiblichen Toten auf sich hatte, darüber hatte sich Sir James ausgeschwiegen. Laut des ermittelnden Beamten sollten wir uns selbst erst mal ein Bild von der Lage machen.
Der Tatort lag eher am Rand des sich über knapp zehn Quadratkilometer ausbreitenden Parks, was uns die Anfahrt deutlich erleichterte. Nach einer gefühlt elend langen Fahrt durch den üblichen Londoner Mittagsverkehr atmete ich schon leicht auf, als ich in einiger Entfernung – direkt am Beginn eines kleinen Waldgebiets – mehrere Streifenwagen parken sah. Einige Uniformierte sorgten dafür, dass der Verkehr seinen normalen Gang nahm und die wenigen Schaulustigen nicht auf die Idee kamen, die Absperrbänder zu überspringen.
Als die Beamten das ausgeschaltete Blaulicht hinter der Windschutzscheibe erkannten, winkten sie uns zu und hoben das Absperrband an. So stellte Suko den Rover neben den beiden Streifenwagen ab.
»Na dann los …«, murmelte Suko und stieg aus.
Ich folgte ihm, wobei ich noch einen kurzen Blick in den Himmel warf. Das Wetter zeigte sich weiterhin von seiner besten Seite. Zu gerne hätte ich es noch ein bisschen länger genossen, aber damit war es wohl wirklich vorbei.
»Inspektor Sherman erwartet Sie bereits«, rief mir ein junger Beamter zu und wies auf einen Trampelpfad, der tiefer in den Wald hineinführte.
Ich bedankte mich und folgte Suko. Als ich zwischen die alten Eichen trat, hatte ich das Gefühl, eine unsichtbare Grenze zu überwinden. Plötzlich waren der Verkehrslärm und der Trubel der Großstadt kilometerweit weg. Für einen Moment genoss ich das Zwitschern der Vögel und den Geruch, den die Pflanzen um mich herum abgaben.
Nach wenigen Sekunden hatte mich die Wirklichkeit wieder. Der schmale Pfad führte in kleinen Kurven tiefer in den Wald hinein. Nach etwa fünfzig Metern entdeckte ich die ersten ganz in Weiß gekleideten Mitglieder der Spurensicherung. Sie machten Fotos und untersuchten die Büsche nach etwaigen Hinterlassenschaften.
Die Tote selbst lag in knapp zwanzig Metern Entfernung. An einem steinernen Brunnen war ein weißes Leichentuch ausgebreitet worden, das den größten Teil des Leichnams verhüllte. Nur eine zierliche Frauenhand war nicht überdeckt worden.
Direkt neben der Toten stand ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel, der sich eine Krawatte um den Hals gebunden hatte. Der grauschwarze Bart und die stechenden blauen Augen hoben den Beamten deutlich aus der Masse der Uniformierten heraus. Ich war mir sicher, Inspektor Sherman vor mir zu sehen.
»Sinclair!«, begrüßte er mich etwas schroff und scheuchte seine Leute zur Seite, bevor er mir die Hand gab. »Jack Sherman, Metropolitan Police. Aber das wissen Sie sicher schon. Und Sie müssen Suko sein«, sprach er meinen Partner an.
»Genau«, erwiderte Suko und lächelte schmal.
»Bisher habe ich nur von Ihnen beiden gehört, aber ehrlich gesagt war ich auch nicht unbedingt erpicht darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Sie mögen Fachleute auf Ihrem Gebiet sein, aber Übersinnliches ist nicht mein Ding. Andererseits besteht bei uns Ermittlern nun einmal die Arbeitsanweisung, alle, sagen wir … ungewöhnlichen Todesfälle an Ihre Abteilung zu melden.«
»Und das ist hier der Fall?«, fragte ich, ohne auf Shermans Andeutungen einzugehen.
»Zumindest scheint es mir so. Wie ich Ihrem Chef schon gesagt habe, sollten Sie sich die Tote am besten selbst ansehen. Deshalb habe ich sie noch so liegen gelassen, wie der Typ, der eigentlich nur mit seinem Hund Gassi gesehen wollte, sie gefunden hat. Angelehnt an den alten Brunnen.«
Ich nickte dem Inspektor zu und schob mich wie Suko an ihm vorbei. Vorsichtig ging ich in die Knie, hob das Laken an und warf es zur Seite. Die blondhaarige Tote bot wirklich einen schauerlichen Anblick, denn sie war nicht nur nackt, sondern auch komplett ausgeblutet. Überall an ihrem Körper zeichneten sich tiefe Schnitte ab, die für sich genommen schon zum Verbluten hätten führen können.
Dem Mörder hatte das offensichtlich nicht gereicht. Er hatte sein Opfer einer regelrechten Folter unterzogen. Die Lippen der Toten waren blass, auch die Pupillen wirkten hell und glasig. Fetzen ihrer Kleidung lagen noch um den Körper verstreut.
Was jedoch fehlte, war Blut. Nicht einen Tropfen entdeckte ich auf der Haut der Toten. Jemand hatte den gesamten Lebenssaft der Frau verschwinden lassen.
»Halbvampire«, murmelte mein Partner, der direkt neben mir in die Hocke gegangen war.
Ich nickte. Der Gedanke an diese besonderen Blutsauger war mir auch schon gekommen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der wir mehrfach innerhalb kürzester Zeit gegen die letzte dämonische Kreation eines Will Mallmann gekämpft hatten. Erst gemeinsam mit Justine Cavallo, später gegen sie.
Irgendwann waren die Begegnungen mit den Halbvampiren – die keine langen Zähne hatten und ihre Opfer mit scharfen Gegenständen anritzten, um an ihr Blut zu gelangen – immer seltener geworden. Inzwischen konnte ich mich nicht einmal mehr genau erinnern, wann wir es das letzte Mal mit ihnen zu tun bekommen hatten. Dafür war in letzter Zeit einfach zu viel passiert.
Sollten sie jetzt zurückgekehrt sein? Der Gedanke lag auf der Hand, aber es gab noch Dutzende andere Möglichkeiten.
»Was denkst du, John?«, fragte Suko. »Ein Hinweis auf Justine Cavallo?«
»Keine Ahnung, ehrlich. Es kann, muss aber nicht sein. Es könnte sich auch um einen normalen Mörder handeln, der sein Opfer erst ausbluten ließ und dann hier abgelegt hat.«
»Genau da hapert es leider«, mischte sich nun auch Sherman in unser Gespräch ein. »Der Leichenbeschauer ist sich sicher, dass die Frau – deren Identität uns leider unbekannt ist – genau an diesem Ort auch umgebracht wurde. Darauf weisen vor allem einige Schürfwunden hin, die sie sich an dem Brunnen zugezogen hat. An den Steinen konnten noch einige Hautfetzen festgestellt werden.«
»Weiß man denn schon, wie lange die Frau tot ist?«, fragte ich.
»Etwa sieben bis acht Stunden. Es war wohl noch dunkel, als es sie erwischt hat. Eigentlich ist es unvorstellbar, dass sie so lange hier unbemerkt gelegen hat.«
Ich verzog das Gesicht. Leider hatten es sich viele Leute angewöhnt, statt die Polizei zu rufen, lieber das Weite zu suchen, um nicht selbst in Verdacht zu geraten.
Ich streifte mir die Kette mit dem Kreuz über den Kopf. Suko schien nur auf diese Aktion gewartet zu haben. Mit sanftem Druck schob er Sherman einige Meter zurück, um mir etwas Platz zu schaffen. Der Kreuztest war für mich so etwas wie das ultimative Mittel, um an Personen, Gegenständen und sogar Pflanzen eine Restmagie festzustellen. Natürlich funktionierte er nicht immer, besonders bei Magien, die meinem Talisman fremd waren.
Wenn die Frau wirklich von Halbvampiren überfallen und getötet worden war, würde das Kreuz keine Reaktion zeigen. Diese Art der Blutsauger war nicht in der Lage, sich selbst zu vermehren. Somit erwachten ihre Opfer auch nicht zu untotem Leben. Aber noch wusste ich nicht genau, ob ich es tatsächlich mit diesen Wesen zu tun hatte.
Bevor ich das Kreuz auf den Körper fallen ließ, strich ich kurz mit den Fingern über das Metall. Ich spürte sofort, dass sich mein Talisman leicht erwärmt hatte. Mit dem Opfer eines Halbvampirs hatte ich es bei der Frau also nicht zu tun.
Sehr langsam ließ ich das Kreuz heruntergleiten, bis es die Stirn der Toten erreichte. Ich hatte schon mit einer Reaktion gerechnet, doch was nun tatsächlich geschah, ließ mir einen Schauer über den Rücken rinnen.
In die Luft um die Tote kam Bewegung. Kleine, gelbliche Blitze zuckten in die Höhe, verbanden sich miteinander und bildeten eine Art filigranes Drahtgestell, das sich schließlich zu einer besonderen Form zusammensetzte. Ausgehend vom Rücken der Frau hatten sich zwei Flügel gebildet!
***
Ich musste schlucken, als mir klar wurde, wer oder vielmehr was da wirklich vor mir lag: ein Engel. Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Die Tote war kein Mensch, sondern ein offensichtlich gefallener Himmelsbote. Und irgendjemand war in der Lage gewesen, dieses Geschöpf komplett ausbluten zu lassen.
Sofort stieg in mir die Frage auf, ob die Frau die Engelsflügel schon zu Lebzeiten offen getragen hatte oder sie tatsächlich erst durch mein Kreuz eine Form bekommen hatten. Eine Antwort darauf fand ich nicht.
Irgendwie kam mir das ganze Szenario bekannt vor. Ein Engel, dem man das Blut entnommen und den man einfach so liegen gelassen hatte. Tief in meinem Hinterkopf baute sich da eine Erinnerung auf. Noch war ich allerdings nicht in der Lage, sie auch in Worte zu fassen.
Mit äußerster Vorsicht hob ich das Kreuz wieder an und ließ es von der Stirn der Toten gleiten. Es geschah genau das, womit ich schon gerechnet hatte. Als hätte jemand einen Schalter betätigt, erloschen die gelb leuchtenden Engelsflügel. Ich fühlte noch einmal dorthin, wo ich sie eben noch gesehen hatte, doch da war nichts mehr.
Ich blickte zu Suko herüber, weil ich erwartete, dass mein Partner einen Kommentar zu dem Geschehen abgeben würde. Doch im Gegensatz zu Inspektor Sherman, dessen Blick noch immer starr auf die Tote gerichtet war, starrte Suko an mir vorbei.
»Hey!«, rief er plötzlich und richtete sich auf.
»Was …?«, begann ich, doch Suko beachtete mich gar nicht.
»Hey, bleib stehen!«, schrie er – und rannte los …
***
Das Schauspiel, das Johns Kreuz beim Kontakt mit der Toten ausgelöst hatte, war zugleich schaurig wie auch faszinierend gewesen. Gebannt hatte Suko mitverfolgt, wie aus einer normalen Toten ein Engel geworden war.
Im Gegensatz zu seinem Partner ließ er dabei jedoch nicht seine Umgebung aus den Augen. Noch während John damit begann, das Kreuz wieder anzuheben, fiel ihm zwischen den Bäumen eine Bewegung auf. Eine menschliche Gestalt trat hinter einem der dicken Stämme hervor. Keiner der Beamten oder Spurensicherer schien sie zu bemerken. Suko hingegen hatte das Gefühl, direkt von dem Fremden angestarrt zu werden.
»Hey!«, stieß er hervor und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan. Die Gestalt zuckte zusammen, zögerte für einen Moment, nur um plötzlich im Stand herumzuwirbeln und davonzulaufen.
»Hey, bleib stehen!«, rief er ihr hinterher. Natürlich ohne Erfolg.
Doch so einfach gab Suko nicht auf. Das Geschehen um ihn herum hatte für ihn jegliche Bedeutung verloren. Mit weiten Sätzen jagte er zwischen den irritiert wirkenden Beamten hindurch. In der Nähe der Bäume wuchs das Gras deutlich höher als am Rand des Trampelpfads. So konnte er gut die Bewegungen der Halme nachvollziehen.