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"Sergeant Rakk, könnte ich Sie kurz sprechen?"
"Natürlich, Sir." Der Dämon drückte die halb heruntergebrannte Zigarette im Aschenbecher aus, erhob sich von seinem Platz und strich über seinen schwarzen Anzug. Harold Jameson, der Bürgermeister von Twilight City, hatte sich bereits wieder in sein Büro zurückgezogen.
Ausnahmsweise war Rakk an diesem Tag allein für die Sicherheit des mächtigsten Mannes der Stadt zuständig. Seine Kollegen Joseph und Willard waren zu einem anderen Auftrag abberufen worden. Ohne Ersatz. Rakk war dieser Umstand von Anfang an merkwürdig vorgekommen. Schließlich hatte er in den letzten Monaten am eigenen Leib erfahren, wie viele Bewohner von Twilight City dem Bürgermeister nach dem Leben trachteten.
Kriminelle, dämonische Banden und Psychopathen - eigentlich waren sie noch die harmlosesten Gegner. Viel gefährlicher waren die Feinde, die sich als solche nicht zu erkennen gaben ...
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Seitenzahl: 163
Cover
Impressum
Was bisher geschah
Götterdämmerung
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
»Geisterjäger«, »John Sinclair« und »Geisterjäger John Sinclair« sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-5102-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Johnny Conolly hat seine Mutter verloren. Sie wurde von einem Schnabeldämon brutal ermordet. Als dieser Dämon durch ein Dimensionstor flieht, folgt Johnny ihm.
Kurz darauf wird das Tor für immer zerstört, sodass es für Johnny keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt. Das Dimensionstor spuckt ihn schließlich wieder aus – in einer anderen Welt. Er ist in Dark Land gelandet, genauer gesagt in Twilight City, einer Stadt voller Geheimnisse.
Menschen und Dämonen leben hier mehr oder weniger friedlich zusammen, und doch ist Twilight City voller Gefahren. Die Stadt ist zudem von einem dichten Nebelring umgeben, den kein Einwohner jemals durchbrochen hat. Niemand weiß, was hinter den Grenzen der Stadt lauert …
In dieser unheimlichen Umgebung nennt sich Johnny ab sofort Wynn Blakeston – für den Fall, dass irgendjemand in Twilight City mit seinem Namen John Gerald William Conolly etwas anfangen kann und ihm möglicherweise Übles will. Schließlich wimmelt es hier von Dämonen aller Art – und die hat Wynn in seiner Heimat immer bekämpft.
Wynn findet heraus, dass der Schnabeldämon Norek heißt und skrupelloser und gefährlicher ist als alle seine Artgenossen, die sogenannten Kraak.
Noreks Fährte führt ihn in einen Nachtclub, wo er mit der Polizei aneinandergerät. Er wird abgeführt und zu einer Geldstrafe verurteilt – die er allerdings mangels hiesiger Mittel nicht begleichen kann. Daraufhin wird aus dem Bußgeld eine Haftstrafe: Fünfzig Jahre soll er einsitzen!
Doch der geheimnisvolle Sir Roger Baldwin-Fitzroy zahlt das Bußgeld für Wynn und nimmt ihn in bei sich auf – warum, das weiß Wynn nicht.
Er lernt Sir Rogers Tochter Abby und seinen Diener Esrath kennen, die auch in Sir Rogers Villa leben. Er freundet sich mit Abby an, sie wird schon bald zu seiner engsten Vertrauten in dieser mysteriösen Welt. Abby hilft Wynn bei der Suche nach Norek, und so wird sie immer wieder in Wynns gefährliche Abenteuer mit hineingezogen.
Doch auch Sir Roger und Esrath sind auf der Suche nach Norek, denn Sir Roger hat noch eine Rechnung mit dem Dämon offen.
Als es Sir Roger schließlich gelingt, Norek zu schnappen, verrät er Wynn davon nichts. Er sperrt Norek in eine Zelle tief verborgen in der geheimnisvollen Villa, wo niemand ihn jemals finden soll.
Denn Sir Roger weiß: Wenn Wynn zu seiner Rache an Norek kommt, gibt es keinen Grund mehr für ihn, in Twilight City zu bleiben. Er wird einen Weg zurück in seine Welt suchen, und das will Sir Roger um jeden Preis verhindern. Er braucht Wynn noch …
Als es Norek jedoch fast gelingt, zu fliehen, weiß Sir Roger, dass er handeln muss. Er liefert den Kraak dem Wissenschaftler Dr. Shelley aus, der gleichzeitig Leiter des Sanatoriums Dead End Asylum im Deepmoor ist. Dieser verpflanzt Noreks Gehirn in einen anderen Körper und sperrt Norek in seinem Sanatorium ein.
Sir Roger aber präsentiert Wynn Noreks toten Körper, sodass der glaubt, der Kraak wäre für immer besiegt.
Doch einen Ausweg aus Dark Land scheint immer noch in weiter Ferne, und Wynn muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sein Aufenthalt in dieser Welt wohl noch länger andauern wird. Mit Abbys Hilfe hat er inzwischen einen Job beim Twilight Evening Star ergattert, der größten Zeitung von TC. Als man dort erkennt, dass er für Größeres bestimmt ist, steigt er vom Archivar zum Reporter auf.
Und schon bald stellt Wynn fest, dass noch ganz andere Aufgaben in TC auf ihn warten …
Währenddessen ist Abby dem Geheimnis ihrer verstorbenen Mutter ein Stück näher gekommen. Offenbar war diese eine Hexe, und Sir Roger scheint eine düstere Vergangenheit zu haben. Nun fragt Abby sich, ob das Erbe ihrer Mutter auch in ihr schlummert …
Götterdämmerung
von Rafael Marques
»Sergeant Rakk, könnte ich Sie kurz einmal sprechen?«
»Natürlich, Sir.«
Der Dämon drückte die halb heruntergebrannte Zigarette im Aschenbecher aus, erhob sich von seinem Platz und strich über seinen schwarzen Anzug. Harold Jameson, der Bürgermeister von Twilight City, hatte sich bereits wieder in sein Büro zurückgezogen.
Ausnahmsweise war er an diesem Tag allein für die Sicherheit des mächtigsten Mannes der Stadt zuständig. Seine Kollegen Joseph und Willard waren zu einem anderen Auftrag abberufen worden. Ohne Ersatz. Selbst Clarissa, seine ehemalige Partnerin bei der Abteilung Delta, hatte ihm keinen Grund dafür nennen können.
Rakk war dieser Umstand von Anfang an merkwürdig vorgekommen. Schließlich hatte er in den letzten Monaten am eigenen Leib erfahren, wie viele Bewohner von Twilight City dem Bürgermeister nach dem Leben trachteten.
Kriminelle, dämonische Banden und Psychopathen – eigentlich waren sie noch die harmlosesten Gegner. Viel gefährlicher waren die Feinde, die sich als solche nicht zu erkennen gaben …
Dass zahlreiche Politiker und Uniformträger korrupt waren oder einfach nicht davor zurückschreckten, ihre persönlichen Ziele nötigenfalls mit Gewalt durchzusetzen, war ein offenes Geheimnis. Erst vergangene Woche hatte der Echsendämon zwei Attentäter unschädlich gemacht, die es irgendwie geschafft hatten, in Jamesons Villa einzudringen. Für ihn bestand kein Zweifel, dass sie dafür Informationen aus einer internen Quelle bezogen hatten.
Und jetzt das. Rakk schätzte sich selbst als guten Polizisten und verlässlichen Leibwächter ein. Doch jede Gefahr konnte er nicht abwehren, schon gar nicht allein. Offiziell sollten Joseph und Willard einen anderen Auftrag bearbeiten, aber wer immer diesen Befehl gegeben hatte, musste wissen, dass der Bürgermeister nun quasi schutzlos war.
Rakk schob die Gedanken daran beiseite. Er musste sich um das Hier und Jetzt kümmern. Und das hieß zunächst einmal, in Jamesons Büro zu gehen.
Das Vorzimmer bestand aus vier Tischen, von denen im Moment keiner besetzt war. Selbst die Sekretärin hatte sich krankgemeldet. An den Wänden hingen Porträts der früheren Bürgermeister und Fotos, die Jameson und seine Vorgänger bei offiziellen Anlässen mit wichtigen Würdenträgern zeigten.
Unter der Uniform spürte Rakk den Druck seines Revolvers. Er hoffte, ihn heute nicht einsetzen zu müssen. Eine innere Stimme sagte ihm jedoch, dass das wohl ein frommer Wunsch bleiben würde.
Der Dämon schob sich durch die halb offen stehende Tür. In Jamesons Büro sah es aus wie immer. Die drei länglichen, hohen Fenster waren mit roten Gardinen verhüllt. Hinter einem breiten, geschwungenen Edelholzschreibtisch saß der Bürgermeister von Twilight City. Der hohe, schwarze Ledersessel erinnerte schon an einen Thron.
Sicher um Ehrfurcht zu erzeugen, aber das war bei Harold Jameson gar nicht nötig. Der gut zwei Meter große, muskulös gebaute Mann verschaffte sich allein schon durch seine Statur großen Respekt. Seine Taten standen dem in nichts nach. Er war jemand, der in der Stadt aufräumen wollte. Dass er sich damit quasi im Minutentakt neue Feinde machte, war selbstredend.
»Bitte, setzten Sie sich, Sergeant«, sprach ihn der fast sechzig Jahre alte Mann mit den schwarzen, leicht angegrauten Schläfen an. Die dicke Zigarre, die langsam in dem gläsernen Aschenbecher herunterbrannte, würdigte er keines Blickes mehr.
Rakk nickte. »Ist etwas passiert?«, fragte er, während er sich auf dem braunen Ledersessel niederließ.
In Jamesons Augen lag ein Ausdruck, den der Dämon in den letzten Tagen und Wochen schon mehrmals bei ihm wahrgenommen hatte. Er passte so gar nicht zu seiner Persönlichkeit. Sein Blick wirkte geistesabwesend. Als wäre er nicht klar bei Sinnen. Gleichzeitig zeigten das Schimmern in seinen Pupillen und der Anflug eines Lächelns auf seinem Mund, dass er von etwas besonders fasziniert sein musste.
»Eigentlich nicht, Sergeant«, erwiderte Jameson. Eigentlich war es nicht seine Art, so um den heißen Brei herumzureden. Normalerweise sprach er prägnant und sachlich.
»Weshalb haben Sie mich dann gerufen, Sir?«
»Ich habe einen Auftrag für sie. Im Prinzip ist es etwas, das ich schon länger geplant habe, doch ich wollte es aus naheliegenden Gründen geheim halten. Es geht um ein Treffen, das heute Mittag über die Bühne gehen soll. In Blackpool. Jetzt werden Sie auch verstehen, warum ich darüber nicht gerne offen spreche.«
»Blackpool?«, fragte Rakk überrascht.
Der Dämon konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was der Bürgermeister in diesem Stadtviertel wollte. Normalerweise mied die Elite von Twilight City dieses Gebiet. Nicht allein, weil dort die meisten Industriebetriebe ansässig waren und das Gebiet daher eine niederschmetternde Tristesse ausstrahlte. Es war dort einfach gefährlich. Und das nicht erst, seit vor einiger Zeit dort eine Fabrik explodiert war und sich ein Kratersee gebildet hatte, in dem sich zahlreiche mysteriöse Wesen herumtrieben.
Jameson legte beide Arme auf den Tisch und faltete seine Hände zusammen. Wieder nahmen seine Augen diesen geistesabwesenden, trüben Ausdruck an. »Ich weiß, was Sie gerade denken, Sergeant. Aber Sie können sich sicher sein, es ist ein außerordentlich wichtiges Treffen. Und da ich Ihnen von all Ihren Kollegen am meisten vertraue, möchte ich, dass Sie mich zu dem Treffen fahren. Ich kann doch auf Sie zählen, oder?«
Rakk sog tief die Luft ein. Ja, hätte er normalerweise sofort geantwortet. Doch so, wie sich Jameson ihm gegenüber gab, war es offensichtlich, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Und das nicht erst seit heute. Der Sergeant hatte schon in den letzten Wochen mehrfach über das Verhalten des Bürgermeisters nachgedacht. So frappierend wie in diesem Moment war Harold Jamesons … Beeinflussung – ein anderes Wort fiel ihm dafür nicht ein – noch nie gewesen. Als hätte das, was in ihm arbeitete, eine neue Stufe erreicht.
»Sie zögern?«, fragte Jameson. In seiner Stimme schwang ein Hauch Enttäuschung mit.
Rakks Kiefer mahlten aufeinander. Er wusste, dass von dem, was er als Nächstes sagen würde, viel abhing.
»Warum Blackpool, Sir?«, fragte er schließlich. »Ich möchte nicht indiskret sein, aber ich würde schon gern wissen, warum Sie dieses Risiko eingehen wollen.«
Der Dämon erwartete ein Machtwort. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Jameson starrte ihn direkt an. Er sprach es nicht aus, aber Rakk hatte das Gefühl, als würde er ihn mit seinen Blicken anflehen, ihm einfach seine Bitte zu erfüllen.
»Ich kann Ihnen nicht viel dazu sagen«, erwiderte der Bürgermeister. »Nur, dass mein Vorhaben für die Stadt von großer Bedeutung ist. Sie wollen doch nicht, dass mein Treffen platzt und das auf sie zurückfällt.«
Da war er wieder, der echte Harold Jameson. Der Mann, von dem jeder wusste, dass er all seine Drohungen ernst meinte. Todernst. Der nie davor zurückschreckte, eine solche auszusprechen. Nicht einmal bei Leuten, die selbst ihm gefährlich werden konnten.
Einerseits trafen Rakk die Worte seines Gegenübers, andererseits gaben sie ihm auch ein gutes Gefühl. Vielleicht hatte er sich ja getäuscht, und es gab für Jamesons Verhalten eine völlig natürliche Erklärung. Und vielleicht war das Treffen wirklich so wichtig, wie er behauptete.
»Also gut«, gab der Dämon nach.
Jameson lächelte zufrieden. »Danke. Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen.«
Rakk nickte ihm zu. Insgeheim fragte er sich jedoch, ob er nicht gerade den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.
***
Der Fuhrpark des Bürgermeisters bestand aus einem halben Dutzend Fahrzeugen, allesamt Limousinen. Rakk hatte sich für die unauffälligste unter ihnen entschieden. Selbst an dem schwarzen, leicht glänzenden Viertürer konnte man erkennen, dass der Besitzer ein vermögender Mann war. Zumindest sorgten die abgedunkelten Fenster dafür, dass niemand der zahlreichen Passanten erkannte, wer da wirklich an ihnen vorbeifuhr.
Von der Tiefgarage der Stadtverwaltung aus lenkte der Dämon den Wagen durch die abendlich beleuchtete Innenstadt. Mittlerweile hatten sie bereits die Außenbezirke erreicht. Die nüchtern aneinandergereihten, rotbraunen Backsteinbauten waren nichts weiter als dreißigstöckige Mietskasernen, in denen zumeist die Unterschicht der Bevölkerung darum kämpfte, nicht völlig in die Armut abzurutschen. Oder unter die Erde, was so ziemlich dasselbe war. Wer hier lebte, für den gab es zumeist keine Perspektive mehr.
Rakk bildete da eine Ausnahme. Er hatte sich durchgekämpft, was hin und wieder auch bedeutet hatte, Gesetze zu übertreten. In seinem Fall gab es eigentlich fast keines, das er nicht gebrochen hatte. Und doch war er stolz auf das, was er erreicht hatte. Während sein Erzeuger weiterhin in einem der tristen Backsteinbauten dort unten versauerte und jetzt vielleicht einsah, was für ein mieser Vater er gewesen war, hatte Rakk sich durch die Ränge der Polizei nach oben gearbeitet.
Für einen Augenblick dachte er an Clarissa, seine ehemalige Partnerin, als er noch direkt im Twilight City Police Department gearbeitet hatte. Sie waren zwar immer noch Partner, aber eben nur noch auf jener Ebene, auf die in Twilight City offiziell harte Strafen standen. Nicht für Rakk, schließlich war seine Lebensspanne als Echsendämon deutlich länger als die eines Menschen. Für Clarissa schon eher.
Der Dämon schloss kurz die Augen und vertrieb die Gedanken daran. Er wusste selbst nicht, warum ihm so vieles durch den Kopf schoss, während sie langsam in die ersten Ausläufer von Blackpool eindrangen.
Man konnte dieses Viertel nicht per se als lebensfeindlich bezeichnen, schließlich arbeitete hier ein Großteil der Bevölkerung von Twilight City. Die dunklen Fabriken, Industrieanlagen und Lagerhallen boten jedoch neben der Tristesse auch perfekten Unterschlupf für Kriminelle, Serienmörder und niedere Dämonen. Und natürlich gab es da noch Darkwater, ein Gebiet, das von Dämonen wie Menschen tunlichst gemieden wurde.
Jamesons Ziel lag mitten in einem Teil Blackpools, der meist nur als »Tote Zone« bezeichnet wurde. Die Fabriken und Hallen, die in diesem Bereich lagen, waren allesamt geschlossen worden. Statt Arbeiter trieb sich dort allerhand zwielichtiges Gesindel herum.
Während der gesamten Fahrt hatte Harold Jameson nicht einen Ton von sich gegeben. Der Bürgermeister saß einfach nur da und starrte zum Fenster hinaus. Rakk war nicht in der Lage, etwas aus seiner Mimik herauszulesen.
Erst als sie langsam auf den Gebäudekomplex zurollten, in dem sich Jameson mit wem auch immer treffen wollte, kam wieder Leben in den Bürgermeister. Noch immer starrte er stumm zum Fenster hinaus, jetzt aber mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.
Mit wem wollte er sich hier treffen? Seiner heimlichen Geliebten? Rakk glaubte, Jameson besser zu kennen. Aber mittlerweile war er sich selbst in diesem Punkt nicht mehr sicher. Immerhin, einen Verfolger hatte es während der Fahrt nicht gegeben.
Die Anlage lag recht einsam. Auf der sie umgebenden Brachfläche zeichneten sich nur einige Holzverschläge ab. Viel konnte man in dem langsam aufziehenden Nebel so oder so nicht erkennen.
Als Jameson seine linke Hand hob, drosselte Rakk die Geschwindigkeit. Mit knapp zwanzig Meilen pro Stunde näherten sie sich der Fabrik. Die schwarzen Fassaden mit den kleinen, rußgeschwärzten Fenstern trugen ihr Übriges zur Atmosphäre dieses Ortes bei.
Einst war hier Holzkohle hergestellt worden. Rakk konnte sich noch dunkel erinnern, dass Tausende Menschen und Dämonen ihre Arbeit verloren hatten, als die Fabrik geschlossen worden war. Es hatte sogar Straßenschlachten zwischen ihnen und der Polizei gegeben. Bis es niemanden mehr gegeben hatte, der sich zu einem Protest auf die Straße getraut hatte.
Die gut hundert Meter hohe Außenfassade rückte immer näher. Gleichzeitig hatte Rakk das Gefühl, als würde sich der Nebel von Sekunde zu Sekunde verdichten. Tief sog er die durch die halb heruntergefahrenen Fenster einströmende Luft ein. Seine Sinne sagten ihm, dass sie hier nicht mehr allein waren. Und das, obwohl er weder Menschen noch Dämonen wahrnahm.
»Stopp!«
Jamesons Ausruf traf den Dämon völlig unvorbereitet. Rakk trat auf die Bremse und würgte dabei vor Überraschung den Motor ab. Er wagte jedoch nicht, ihn wieder anzulassen. Stattdessen sah er in den Rückspiegel und wartete darauf, dass der Bürgermeister etwas tat.
Harold Jameson saß steif auf seinem Platz. Wie bei den meisten seiner privaten Fahrten trug er einen knielangen, schwarzen Ledermantel, einen dunklen Hut und ein Monokel, das aus einer der Außentaschen heraushing. Seine Augen wanderten fast hektisch von links nach rechts, als erwartete er jeden Moment, dass etwas aus dem Nebel auftauchte.
Nichts geschah. Jedenfalls nichts, was man als direkte Gefahr einstufen konnte. Abgesehen von dem Nebel, der die Limousine nun vollends im Griff hatte. Normaler Dunst war das sicher nicht. Selbst am Hafen sanken die Sichtweiten nie unter einen Meter. Hier aber sah sich Rakk von einer schier undurchdringlichen Masse umgeben.
»Ich bin da«, flüsterte Jameson und lächelte. Sein Blick war noch entrückter als zuvor.
Rakk fluchte leise. »Was geschieht hier?«, fragte er. Dabei verfluchte er sich innerlich, seinem Vorgesetzten nachgegeben zu haben. Er hatte doch von Anfang an gewusst, dass bei der Sache etwas faul war.
Jameson schüttelte nur den Kopf. Der Dämon gab sich damit nicht zufrieden. Mit einer schnellen Bewegung zog er seinen Revolver. Die Mündung auf den Bürgermeister zu richten, wagte er zwar nicht, seine Gestik war jedoch eindeutig. »Was ist hier los?«, fragte er erneut, diesmal mit mehr Nachdruck. »Verdammt noch mal, Sie …«
»Sie sind da«, murmelte der sonst so starke und respekteinflößende Mann. Der Klang seiner Stimme erinnerte jedoch mehr an ein kleines Kind. Hatte er ihn überhaupt gehört?
Rakk richtete seinen Blick wieder nach vorne – und zuckte zusammen. Jameson hatte recht gehabt. Sie waren da. Zehn, vielleicht auch zwanzig menschengroße Schatten zeichneten sich innerhalb des Nebels ab. Es gab keine Konturen. Selbst bei so schlechter Sicht musste sich eigentlich etwas von den Körpern der Gestalten abzeichnen. Doch da war nichts. Nur eine tiefe Schwärze.
Seine Finger zitterten leicht, als der Dämon seine Waffe auf eines der Schattenwesen richtete. Da sah er, wie etwas durch den Nebel zuckte. Eine grelle Erscheinung, vielleicht sogar ein Blitz. Rasend schnell jagte er durch den Dunst, traf den Wagen und durchdrang die Windschutzscheibe, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Rakk erhielt keine Möglichkeit, darüber nachzudenken. Nur ein erstickter Schrei drang aus seiner Kehle, als der Blitz seinen Kopf traf und augenblicklich sein Bewusstsein auslöschte.
***
Ein leises Lachen holte ihn wieder in die Realität zurück. Nur langsam stieg sein Bewusstsein aus der schweren, unendlich erscheinenden Schwärze hervor. An seinen Augenlidern schienen Zentnerlasten zu hängen. Nur mit außerordentlicher Willensstärke gelang es ihm schließlich, sie anzuheben.
Zunächst war sein Blickfeld nicht mehr als ein grauer, verschwommener Fleck. Mit der Zeit klärte sich seine Sicht wieder so weit, dass er zumindest erkennen konnte, wo er sich befand. Eigentlich hatte sich nichts verändert. Er saß noch immer auf dem Fahrersitz der Limousine, die von der undurchdringlichen Nebeldecke umgeben wurde. Rakk hatte jedoch den Eindruck, als wäre sie nicht mehr so dicht wie zu dem Zeitpunkt, als ihn der Blitz getroffen hatte.
Was war das bloß gewesen? Der dämonische Polizist war nicht in der Lage, wirklich darüber nachzudenken. Eine seltsame Trägheit hatte seinen Körper befallen und machte nicht einmal vor seinem Gehirn halt. Nur zu einem leisen Stöhnen war er in der Lage.
Er fühlte sich wie betäubt. Fast beiläufig nahm er den leeren Fond wahr. Harold Jameson war verschwunden, ebenso wie die Schatten. Und doch war er nicht allein.
Wieder hörte er das Lachen. Es musste von einem Mädchen stammen, das sich irgendwo in dem Nebel aufhielt. Konnte das wirklich sein? Ein kleines Mädchen in dieser furchtbaren Gegend? Erneut hatte er das Gefühl, als würde sein Geist an eine unsichtbare Grenze stoßen. Er war einfach nicht in der Lage, die Ereignisse richtig einzuordnen.
Innerhalb des Nebels zeichnete sich eine dunkelgraue Silhouette ab. Etwas kam näher. Eine Gestalt, die schon im nächsten Moment aus dem Dunst trat. Es war wirklich ein Mädchen, allerhöchstens zwölf Jahre alt. Die Kleine trug ein rotes Kleid, aber das war im Moment unwichtig. Rakk konnte nicht anders, als ihr direkt in die Augen zu sehen. Dieser Blick – er war einfach nur hypnotisch. Er spürte, wie die letzten Reste seines freien Willens langsam dahinschwammen.
»Und vergiss Soraja nicht …«, drang eine männliche Flüsterstimme aus dem Nebel.