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Der Revolver wurde an einer ziemlich flachen Stelle aus dem Bach gefischt. Es war tatsächlich die Mordwaffe. Jedermann war von Peter Cannings Schuld überzeugt. Selbst die Polizei...
Nun zog der Privatdetektiv Solo Malcolm aus, um die Unterwelt der Stadt das Fürchten zu lehren...
Der Roman Das dünne Eis um den Privatdetektiv Solo Malcolm aus der Feder des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965 (unter dem Titel Auf dünnem Eis).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
JOHN CASSELLS
Das dünne Eis
Ein Fall für Solo Malcolm
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS DÜNNE EIS
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Der Revolver wurde an einer ziemlich flachen Stelle aus dem Bach gefischt. Es war tatsächlich die Mordwaffe. Jedermann war von Peter Cannings Schuld überzeugt. Selbst die Polizei...
Nun zog der Privatdetektiv Solo Malcolm aus, um die Unterwelt der Stadt das Fürchten zu lehren...
Der Roman Das dünne Eis um den Privatdetektiv Solo Malcolm aus der Feder des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965 (unter dem Titel Auf dünnem Eis).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
Die Stadt lag in Mittelengland. Sie war grau, geschäftig und monoton. Meine Erinnerung an sie ging bis in die Tage der Vorkriegszeit zurück, und ich hegte die nebelhafte Vorstellung, dass sie damals anders gewesen war. In jenen Tagen hatte ich einmal ein Wochenende dort verbracht. Da war sie stiller, in sich abgeschlossener und dem Land näher gewesen.
Als Landstädtchen hatte sie mir besser gefallen, so dass ich mich nun mit einem kurzen Rundgang begnügte, bevor ich wieder zum Zentrum zurückkehrte, und wünschte, es wäre Zeit, mich mit Greenling zu treffen. Aber ich war erst um 19 Uhr mit Greenling verabredet. Er arbeitete in einer der neuen Fabriken, die am Stadtrand hochgeschossen waren. Sein Dienst ging um halb sechs zu Ende, weshalb er nicht früher kommen konnte.
Jedenfalls fühlte ich mich gelangweilt und deprimiert und ärgerte mich, dass ich so früh eingetroffen war, denn die Stadt glich in nichts mehr dem Bild meiner Erinnerung an sie.
Sie war seither beträchtlich angewachsen, lärmender und ziemlich protzig. Der Verkehr staute sich in den engen Straßen. Massenhaff kleine Wagen. Sie wurden in der großen Fabrik am Ausgang der Stadt hergestellt, und es sah aus, als besitze jeder auf der Wählerliste registrierte Einwohner mindestens zwei von diesen Dingern. Ich blieb vor einem Herrenmodegeschäft stehen, starrte in die Auslagen und wunderte mich, wer in aller Welt wohl dieses hässliche rote Ding, das mit Fernseh-Jackett bezeichnet war, tragen oder gar kaufen würde. Dort stand ich, als ich das Mädchen bemerkte.
Sie war groß und blond und trug ein grünes Tweedkostüm mit irgendetwas Gelbem um den Hals. Der winzige Hut auf ihrem Hinterkopf passte zum Kostüm. Sie stand vielleicht fünfzig oder sechzig Meter weiter die Straße hinunter, dort, wo eine kleine Seitenstraße einmündete. Sie schien aufgeregt zu sein. Das war das erste, was mir an ihr auffiel. Das und der Umstand, dass sie einen Mann angehalten und mit ihm gesprochen hatte, der gleich darauf schnell weiterging.
Ich beobachtete sie. In einem Beruf wir dem meinen gewöhnt man sich ziemlich schnell an Mädchen, die Männer auf der Straße anhalten - aber sie sah eigentlich nicht nach dieser Sorte aus.
Jetzt näherte sich ihr ein anderer Mann. Ein untersetzter, stämmiger Kerl, Mitte Dreißig etwa. Er schritt zielbewusst in ihrer Richtung dahin; dann sah ich, wie sie ihn anhielt und zu ihm redete. Sie hob die Hand und zeigte auf die Seitenstraße.
Der Mann musterte sie, folgte der Richtung ihres ausgestreckten Fingers mit den Augen und schüttelte dann den Kopf. Er drängte sich an ihr vorbei und ging schnell weiter.
Das Mädchen stand ganz still, ihre Finger am Kragen ihres Kostüms, ohne die geringste Bewegung.
Aber ich setzte mich in Bewegung. Als ich näher kam, sah ich, dass sie so hübsch war, wie sie aus der Entfernung auf mich gewirkt hatte - und auch so aufgeregt. Ihre Lippen brannten erstaunlich rot in dem sehr blassen Gesicht, aber das Interessanteste an ihr waren ihre Augen. Sie blitzten vor Zorn. Sie rührte sich immer noch nicht, beobachtete nur, wie ich auf sie zukam.
Ich wusste, dass sie mich ansprechen würde, und sie tat es auch. Als ich sie schon fast erreicht hatte, kam sie über den Bürgersteig auf mich zu und blieb vor mir stehen. »Bitte«, begann sie. »Wollen Sie mir helfen? Ich brauche dringend Hilfe und...«
»Wieviel?«, fragte ich.
Sie errötete. »Nicht diese Hilfe! Es ist wegen meines Bruders. Er ist in diese Straße hinein und zu einem von Lidgetts Clubs gegangen.«
»Wer ist Lidgett? Ich bin fremd hier.«
Sie zögerte. »Lidgett. eben. Er ist Besitzer von Kneipen und sonst allem Möglichen. Kein sehr erfreulicher Mensch. Wie auch immer, Peter ist in den Parkway hineingegangen. Ich möchte ihn von dort herausholen.« Ihre Stimme klang plötzlich erstaunlich entschieden. »Gehen Sie doch mit mir dorthin - bitte!«
»Warum nicht?«, sagte ich und folgte ihr in die kurze, enge Straße hinein. »Erzählen Sie mir, worum es geht, Miss. Ich kaufe eigentlich nicht gerne die Katze im Sack.«
Wir gingen auf dem schmalen Streifen des Bürgersteigs nebeneinander her. An einem Wohnhaus war ein reichlich verwittertes Straßenschild angebracht. Pell Lane stand darauf. Ich las es, und als ich mich halb nach ihr umwandte, sah ich diese drei aufgeschossenen Halbstarken in Blue Jeans und glänzenden Lederjacken ein paar Meter hinter mir. Ich schaute sie mir gut an und wandte mich dann an das Mädchen. »Schön, da wir nun mal so weit gekommen sind, lassen Sie mich hören, was los ist.«
Ihr Atem ging ein wenig schneller jetzt. »Peter ist mein Bruder«, erklärte sie mir. »Manchmal trinkt er mehr, als gut ist. Sie spielen Karten und was weiß ich noch, und wenn Peter ein bisschen angetrunken ist, verliert er den Kopf, und dann gibt es Ärger. Das ist es, was ich fürchte. Ich - ich kann jetzt nicht anfangen, Ihnen zu erzählen, was passierte. Jedenfalls will ich, dass er mit mir nach Hause kommt.«
»Und Sie wissen genau, dass Ihr Bruder dort ist?«
»Ja, ich sah ihn hineingehen. Ich folgte ihm bis zur Tür, aber man ließ mich nicht hinein. Als ich bat, Peter etwas von mir auszurichten, lachten sie mich einfach aus und schickten mich heim.«
»Sie sind aber nicht heimgegangen, nicht wahr? Sie gingen bis zum Ende der Straße und sahen sich nach jemand um, der Ihnen helfen würde?«
»Ja. Ich hoffte einen Polizeibeamten zu finden, aber da war keiner. Dann hielt ich zwei oder drei Männer an und bat sie, mir zu helfen; doch keiner tat es. Bis Sie kamen.«
Zu beiden Seiten der Pell Lane befanden sich zahlreiche Geschäfte. Kleine Geschäfte von der Art, wie man sie in einer solchen Straße zu finden erwartet. Mir schien die Gegend nicht gerade nach einem Pfuhl des Lasters auszusehen, aber das Mädchen hatte wirklich Angst. Ich versagte es mir, weitere Fragen zu stellen. Schließlich konnte man nicht erwarten, dass jemand einem vollkommen Fremden sein Herz ausschüttete; auch dann nicht, wenn man einen Gefallen von ihm erbat.
»Nun, Miss, was möchten Sie, das ich tue?«, fragte ich.
»Kommen Sie nur bis zur Tür mit mir. Die wollten mich nicht hineinlassen, als ich allein hineinging. Ich weiß, dass Peter dort drinnen ist. Ich will ihn sehen. Wenn ich mit ihm sprechen kann, bringe ich ihn so weit, dass er weggeht. Er kommt bestimmt mit mir. Die Schwierigkeit besteht darin, erst einmal hineinzukommen. Sie sagen...«
»Wer sind sie?«
»Zwei Männer. Sie standen unter der Tür. Sie sagten mir, ich soll nach Hause gehen. Als ich mich weigerte, nahm mich einer bei den Schultern und schob mich hinaus.«
»Verstehe.« Ich überlegte mir die Sache. »Sie sind sich natürlich darüber klar, was Sie tun? Sie können sich nicht einfach an jedem Ort, wo es Ihnen passt, gewaltsam Eintritt verschaffen.«
»Ich muss ihn dort herausholen und nach Hause bringen«, erklärte sie entschlossen. »Wenn Sie bloß mit mir zur Tür kommen wollen - ich bitte Sie nur um das, sonst nichts. Sie brauchen sonst nichts mit der Sache zu tun zu haben. Bestimmt nicht.« Sie sah mich an. »Haben Sie Angst?«
Ich lachte. »Es braucht ein bisschen mehr, bis ich mich fürchte.« Ich hörte nun ganz dicht hinter mir Schritte. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass die drei Halbstarken es ziemlich eilig hatten, heranzukommen. Der vorderste war anscheinend der kräftigere von den dreien. Er hatte ein langes, hageres Gesicht, Kaninchenzähne und ein Kinn, geformt wie ein Holzmeißel. Der spärliche Rest Haare von seinem Bürstenschnitt war schwarz. Ich schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre und noch reichlich feucht hinter den Ohren.
Einen Augenblick später hatten wir einen breiten Eingang erreicht. Die Tür stand halb offen, und dahinter waren die staubigen Stufen einer Treppe zu erkennen. Über der Tür hing ein handgemaltes Schild, auf dem stand: The Parkway.
Das Mädchen war stehengeblieben. »Hier ist es.« Sie sah mich an. »Wollen Sie, bitte, mit mir hinaufkommen?«
»Warum nicht?«, sagte ich wieder. »Gehen Sie voran.« Ich trat beiseite und ließ sie an mir vorbei. In diesem Moment spürte ich Finger auf meiner Schulter. Lange, magere, stahlharte Finger, die fest Zugriffen. Ich schnellte herum und sah mich diesem hochgeschossenen Burschen mit seinen zwei Spießgesellen, die ihm den Rücken deckten, gegenüber.
»Willst du dort hinauf, Opa?« Seine Augen waren dunkel und unangenehm. »Ich würde das an deiner Stelle lieber bleibenlassen. Vor allem mit der Kleinen da.«
Das fing an, recht interessant zu werden. Interessant genug, um noch ein bisschen weiterzumachen.
»Warum nicht?«
»Es könnte dir etwas zustoßen.«
»Da hast du vermutlich recht, aber selbst wenn dem so ist, halte ich das für keinen besonders guten Grund.«
Lange weiße Zähne grinsten mich an. »Das glaubst du bloß, Opa. Ich denke, es ist Grund genug für dich, weshalb ich dir helfen will.« Er wandte sich an das Mädchen. »Warum bringen Sie den alten Herrn nicht weg, bevor ihm etwas passiert, Lady?«
»Was soll mir passieren?«, fragte ich.
»Das zum Beispiel«, grinste der Kerl. Seine Finger begannen mein Schlüsselbein zu umklammern.
Ich schlug ihm meine linke Faust in den Magen. Als der Junge sich zusammenkrümmte, schlug ich ihm mit der Kante meiner rechten Hand hart über die Lippen.
Er fiel auf sein Gesicht und begann sich auf den Bürgersteig zu erbrechen. Seine Lippen waren aufgeplatzt und bluteten.
Ich schaute auf das Blut auf meinen Fingern; dann bückte ich mich und wischte sie am Hemd des Burschen ab. Dann richtete ich mich auf und ging durch die Tür. Keiner von den beiden andern versuchte mich zurückzuhalten. Am Fuß der Treppe blieb ich stehen und sah zu dem Mädchen zurück. »Kommen Sie. Wir wollen es hinter uns bringen.« Ich drehte mich um und ging die Treppe hinauf voran.
Zweites Kapitel
Die Treppe war breit und schmutzig. Dicke Gummimatten lagen auf den ausgetretenen Stufen. An ihrem Ende befand sich eine gläserne Schwingtür. Ich stieß sie auf und ließ das Mädchen eintreten. Wir gelangten in einen engen Flur, der rechts und links weiterführte. Direkt gegenüber der Schwingtür gab es einen kleinen Raum mit einem Schreibtisch, hinter dem ein großer und starker Kerl saß. Er sah richtig bärenhaft aus.
Er unterzog erst mich einer genauen Musterung, dann das Mädchen. Ohne sich zu beeilen, stand er auf und kam zur Tür. »Wünschen Sie etwas, Sir?«
»Ja. Die junge Dame hier sagt, dass sich ihr Bruder hier befindet. Sie erzählte mir, sie war bereits da oben, aber Sie ließen sie nicht hinein.«
Der Bär seufzte. »Das stimmt. Befehl vom Chef. Keine Frauen. Zu keiner Tages- oder Nachtzeit. Also kann sie nicht rein.«
»Macht der Chef immer seine eigenen Regeln?«
»Genau. Mr. Lidgett weiß, was er will. Was mich betrifft - ich tue nur, was man mir sagt. Auf diese Weise ersparen wir jedermann eine Menge Ärger.«
»Das sehe ich ein«, stimmte ich zu. »Fangen Sie gleich damit an, mir einigen Ärger zu ersparen. Wie wäre es, wenn Sie hineingingen und diesem Peter...« Ich blickte das Mädchen an. »Wie ist sein Familienname?«
»Canning.«
»Wenn Sie diesem Peter Canning mitteilten, dass jemand auf ihn im Flur wartet? Auf diese Weise gibt es für keinen Aufregung, nicht wahr?«
Der Mann lächelte. Er hatte ein großflächiges Gesicht und wässrig glitzernde, blassblaue Augen. Er schüttelte den Kopf. »Nicht zu machen. Machen Sie mit der kleinen Dame einen Spaziergang irgendwohin. Einen langen, ausgiebigen Spaziergang - und kommen Sie nicht zurück. Verstehen Sie, was ich meine?« Er streckte die Hand aus und packte mich bei der Schulter. »Raus!«
Ich entglitt seinem Griff, sah, wie seine Faust zum Schlag ausholte und wich gerade noch rechtzeitig aus. Mit der Kante meiner rechten Hand schlug ich ihn zweimal hintereinander ins Genick. Er fiel bewusstlos in eine Ecke.
»Haben Sie eine Ahnung, wohin wir nun gehen müssen?«, fragte ich das Mädchen.
»Ja. Rechts den Flur hinunter.« Sie ging auf eine breite Tür am Ende des Flurs zu.
Ich stieß sie auf und trat ein. Ein halbes Dutzend Billardtische standen dort herum, aber nur zwei davon waren besetzt. In der einen Ecke des langen Raumes saßen ein alter Bursche, der Bier trank, und zwei jüngere Männer, die Zeitungen lasen. In der anderen, entfernten Ecke gab es eine Tür. Ich öffnete sie, und wir durchschritten wieder einen Flur. An seinem Ende stand eine Tür offen. Das Flackern eines Kaminfeuers war zu sehen. Wir vernahmen eine Männerstimme. Eine ruhige, beherrschte Stimme, aber mit einem unangenehmen Unterton.
»Hundert«, sagte die Stimme, »auf Vorauszahlung.«
Jemand antwortete: »Im Augenblick ist es my unmöglich, Prinn.«
Das Mädchen ging an mir vorbei in das Zimmer hinein.
Ich folgte ihr. Es war ein großer Raum und recht behaglich eingerichtet. Im Kamin loderte ein Kohlenfeuer; der kleine Schreibtisch war sorgfältig poliert, und die Sessel sahen bequem aus. In einer Ecke stand ein Fernsehgerät, und jemand stand davor. Ich besah ihn mir. Ein Mann, ungefähr Anfang Vierzig. Sein Haar war graumeliert und seine Haut blass. Der marineblaue Anzug, den er trug, musste von einem guten Schneider stammen. Der junge Canning stand ihm direkt gegenüber.
»Peter!«, sagte das Mädchen.
Er fuhr herum. Ich bemerkte, dass er nicht sehr viel größer als seine Schwester war. 1,72 Meter vielleicht. Der Mund in dem schmalen, blassen Gesicht wirkte ausgesprochen weich. Er starrte sie an. »Jane! Wie kommst du hierher?«
»Ich ging dir nach. Komm nach Hause mit mir, Peter.«
Die Röte in seinen Wangen vertiefte sich. »Ich werde, verdammt noch mal, nicht mit dir Weggehen!«
Zum ersten Male sagte Prinn etwas. »Wie kamen Sie herein, Miss Canning?«
»Dieser Gentleman begleitete mich.« Sie sah mich an. »Ihre Leute versuchten mich zurückzuhalten.«
»Dafür werden sie bezahlt«, erklärte Prinn knapp.
Canning stand stirnrunzelnd dort. »Verdammt, Jane, ich gehe selbstverständlich nicht mit dir! Du hast kein Recht, mich wie ein Kind zu behandeln und...«
»Es ist besser, wenn Sie tun, was die junge Dame wünscht, Canning«, unterbrach ihn Prinn ruhig. »Wir können uns später sehen. Vielleicht morgen.«
Nur einen kurzen Moment lang zögerte Canning, dann nickte er. »Vielleicht haben Sie recht, Mr. Prinn. Ich komme morgen zurück. Guten Tag.« Ohne dem Mädchen oder mir einen Blick zu gönnen, verließ er schnell das Zimmer, und wir folgten ihm durch den Flur bis zum Treppenhaus.
Der bärenhafte Kerl stand unter der Tür zu dem kleinen Vorzimmer. Der hochgeschossene Halbwüchsige war bei ihm. Sie unterhielten sich, hörten aber abrupt auf, als sie uns kommen sahen, und starrten mich an.
Ich zog es vor, sie nicht anzusprechen, sondern ging weiter auf die Straße hinaus. Es war grauer, kälter und trübsinniger denn je dort draußen. Das Mädchen hatte den Arm ihres Bruders genommen, und die beiden gingen ein kleines Stück vor mir her. Sie redete auf ihn ein, während sie auf die Hauptstraße zuliefen. Etwa auf halbem Weg dorthin, drehte sie sich nach mir um.
»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Wirklich! Sie haben selbst gesehen, wie es dort oben zugeht. Kein Zweifel, ich wäre niemals hineingekommen. Sie haben sich großartig benommen.«
»Danke«, sagte ich.
»Es ist mir ernst damit.« Sie blickte mich einen Moment lang fest an. »Jedenfalls, Sie wissen nun, wer ich bin. Jane Canning. Sie wohnen nicht hier?«
»London. Denken Sie, dass Sie nun allein zurechtkommen?«
»Ja, ich glaube schon. Ich habe meinen Wagen dort drüben bei Cook geparkt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir noch einen letzten, kleinen Gefallen zu tun? Wollen Sie hier mit Peter warten, bis ich den Wagen geholt habe?«
»Gehen Sie nur.«
Sie ging schnell weg.
Peter Canning sah ihr nach. Sie war schon fast aus unserem Blickfeld verschwunden, als er verdrießlich fragte: »Wo hat sie Sie aufgelesen?«
»Auf der Straße«, antwortete ich. »Sie befand sich in einer etwas schwierigen Lage. Sie hatte schon ein oder zwei andere Männer angehalten und gebeten, mit ihr zu kommen. Aber keiner hatte Lust dazu.«
»Deshalb mussten also Sie Ihre Nase in die Sache stechen, wie?«
»Ganz richtig.«
Peter Canning musterte mich ausführlich. »Sie hätten beträchtlich in Schwierigkeiten geraten können, trotz Ihrer Boxerfigur.«
»Möglich. Ich bin an Schwierigkeiten gewöhnt. - Wer war dieser Prinn?«
»Ein Freund von mir!«
»So viel konnte ich hören. Er wollte hundert Pfund von Ihnen kassieren. Er ist ein Buchmacher, nicht wahr?«
Der Junge befeuchtete seine Lippen. »Ja. Ich bin da in eine dumme Geschichte geraten, aber ich werde mich schon wieder herauswinden. Es wird alles in Ordnung kommen - wenigstens solange Jane sich nicht einmischt.« Das Geräusch eines langsam heranfahrenden Wagens war zu hören. Der Junge sah sich um. »Hier kommt sie.«
Der Wagen, ein Triumph Herald, zweifarbig, blassgrün und grau, hielt neben uns, und das Mädchen machte eine Tür auf. Ich sagte zu dem Jungen: »Das Beste ist, Sie fahren nun mit ihr, Canning. Ich hoffe, es gelingt Ihnen, Ihre Differenzen mit Prinn beizulegen.«
»Das geht in Ordnung«, erklärte Canning zuversichtlich, bevor er in den Wagen einstieg. Das Mädchen drehte das Fenster herunter und beugte sich ein wenig heraus. »Nochmals, vielen Dank, Mr....?«
»Malcolm«, sagte ich.
»Danke, Mr. Malcolm.« Sie zögerte, als würde sie mir gerne noch mehr gesagt haben, aber ich ermutigte sie nicht dazu.
Ich tippte an meine Hutkrempe. »Nicht der Rede wert, Miss. Guten Tag.«
»Guten Tag«, sagte sie schließlich und nahm den Fuß von der Kupplung. Der Wagen rollte an, verschwand bald aus meinem Blickfeld, und ich fuhr fort, mir die Zeit zu vertreiben. Eine Weile spazierte ich noch ziellos herum, trank irgendwo ein Glas Bier und ging dann um 19 Uhr zum Embassy, um mich mit Greenling zu treffen.
Drittes Kapitel
Dieser Frank Greenling arbeitete als Werkdetektiv. Wir hatten uns während seiner Soldatenzeit kennengelernt. Seither liefen wir uns eigentlich so alle ein oder zwei Jahre einmal in die Arme. Greenling hatte Gelegenheit gehabt, eine ganze Menge Erfahrungen zu sammeln. Nach dem Krieg war er eine Weile bei der Polizei gewesen und war dann nach Liverpool gegangen. Schließlich hatte er seinen Dienst bei der Polizei aufgegeben und als Privatdetektiv gearbeitet. Es folgten mehrere Stellungen bei verschiedenen Londoner Detektivbüros, ein paar Jahre eine in Montreal, und Anfang der sechziger Jahre war er nach England zurückgekehrt, hatte sich hier in dieser Stadt niedergelassen, geheiratet und eine Dauerstellung bei Bradlings angenommen.
Die Stellung gefiel ihm, erzählte er mir. Gut bezahlt und noch mehr Geld in Aussicht.
»Alles, was ich hier zu tun habe«, meinte er, »ist, keine Fehler zu machen und nett zu sein mit den richtigen Leuten; dann kann nichts schiefgehen. Mein Arbeitsfeld erweitert sich immer mehr, Solo. Bradlings vergrößert sich jedes Jahr. Hast du keine Lust, hierherzukommen und für mich zu arbeiten?«
»Nicht zu machen.«
»Du könntest an die zweitausend Pfund im Jahr in dieser Stellung verdienen, die ich jetzt habe, Solo. Sie ist pensionsfähig - und es gibt Nebeneinkünfte. Bezahlter Urlaub und jede Menge kleinere Vorteile.«
»Für einen verheirateten Mann ist das eine gute Sache, Frank«, stimmte ich ihm zu. »Sicherheit und alles, was dazu gehört. Was mich betrifft - ich bin ein einsamer Wolf. Ich kann es mir erlauben, wählerisch zu sein. Für jede Art von Routinearbeit bin ich untauglich. Ich hielte es einfach nicht aus.«
Greenling seufzte. »Du musst es wissen.«
»Ich weiß es, Frank«, sagte ich. »Lass uns jetzt zum geschäftlichen Teil kommen.«
»Du möchtest über Ike Hein reden.«
»Ja, genau über den.« Ich hatte mich eigentlich mit Greenling nur verabredet, weil mir daran lag, ein bisschen mehr über Ike Hein herauszufinden.
Hein besaß eine Strafliste, die lang genug war, um die meisten Polizeibeamten, Werkdetektive und solche Leute zu interessieren. Sein Fach waren Lagerhauseinbrüche. Vor drei Jahren war Hein aus dem Zuchthaus entlassen worden. Seither hatte er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. Er hatte bei Bradlings eine Stellung angenommen, ein ansässiges Mädchen geheiratet und es fertiggebracht, sich ein kleines Haus und Zwillinge anzuschaffen, so dass er ziemlich fest an der Kette zu liegen schien.
»Bevor wir uns näher über ihn unterhalten, Solo«, begann Greenling, »dieser Hein ist ein ziemlich patenter Bursche. Ich habe mich über ihn erkundigt. Persönlich kenne ich ihn nicht, aber die paar Leute, die es tun, sagen, er ist in Ordnung. Was soll er diesmal angestellt haben?«
»Lagerhauseinbrüche. Bei Cavan und Schuster, die Tilley Company und Strauss und Lee. Drei davon in kurzen Abständen hintereinander. Ich arbeite für Cavan und Schuster. Aus einer relativ glaubwürdigen Quelle hörte ich etwas läuten, dass Ike Hein wieder an der Arbeit sein soll. Nun, Hein war immer ein außerordentlich geschickter Mann gewesen. Ich kenne jeden Handgriff von Ike. Wie die Sache aussieht, könnte es Hein gewesen sein, weshalb ich mir dachte, ich würde mal mit dir darüber reden.«
Greenling nickte. »Verstehe. Aber weißt du, das Komische ist, dass Hein zur Nachtschicht eingeteilt ist. Ich habe das bereits überprüft. Seit sieben Monaten arbeitet er in der Nachtschicht nun - und fehlte nie, ausgenommen in einer Nacht, als seine Frau krank war. Aber wir werden das noch einmal genau überprüfen, nur um ganz sicherzugehen. Ich bin selber daran interessiert, hier keine solchen Dinge einreißen zu lassen. Wir haben genug eigene Probleme, ohne welche von außen zu importieren.«
»Das kann ich mir denken«, bemerkte ich. »Überall gibt es Probleme. Wie ist die Situation hier?«
»Schlecht«, sagte Greenling ohne Umschweife. »Du weißt selbst mehr oder weniger, wie es seit dem Krieg ist, Solo. Es wird immer schlimmer. Wenn zufällig ein guter, fähiger Polizeidirektor vorhanden ist, der etwas von seinem Beruf versteht und seine Leute hinter sich stehen hat - dann kommt man gut zurecht. Aber mit einem alten, der vielleicht nur noch ein oder zwei Jährchen vor seiner Pensionierung steht und deshalb jedem Widerspruch ausweicht, ist wirklich nicht viel anzufangen.«
»So steht es also hier?«
»Nicht ganz so. Der Polizeidirektor ist ein Mann namens Brady. Er ist noch nicht so alt. Vierundvierzig vielleicht. Er hat noch genug Zeit vor sich. Zwanzig Jahre, wenn sie ihm nicht dahinterkommen.«
»Trinkt er?«
Greenling lachte. »Nein, nichts dieser Art. Bloß beschränkt. Er ist ein Schulterklopfer. Wo immer du auf ihn triffst, ist er die Seele jeder Party. Alle die Leute, die hier etwas zu sagen haben, mögen ihn gern - oder tun wenigstens so. Ich selbst habe meine Zweifel. Ich bin ziemlich oft mit ihm zusammen gewesen. Glatt, geschmeidig und freundlich.« Er hob seine breiten Schultern. »Aber ich möchte nicht klatschen. Mir gefällt es hier - und ich bin kein Polizeibeamter. Wenn ich einer wäre, würde ich nicht unter ihm arbeiten wollen.« Er beugte sich vor. »Warum fragst du eigentlich?«
»Ohne besonderen Grund«, erklärte ich. »Mir ist heute etwas Merkwürdiges passiert. Kennst du einen gewissen Prinn?«
»Mittelsmann von Eli Lidgett«, sagte Greenling.
»Wer ist Lidgett?«
Greenling lachte. »Ein ansässiger Geschäftsmann. Buchmacher, Besitzer von zwei Möbelhäusern, einem Kaufhaus und zwei oder drei Tanzlokalen. Er ist an einem halben Dutzend neuer Fabriken draußen in Carlin beteiligt. Das ist der Stadtteil, auf dem sich die meisten der neu errichteten Industriegebäude befinden. Die meisten beliefern Bradlings. Zündkerzenteile, Elektrobedarf, sogar Fußbodenbretter. Lauter solches Zeug. Lidgett hat überall die Finger drinnen - tief. Überall, wo Geld zu holen ist. Nenne nur eines, und du kannst sicher sein, dass er auf die eine oder andere Weise damit zu tun hat. Er ist der einheimische Junge, der es zu etwas gebracht hat. Wie bist du auf ihn gestoßen?«
Ich erzählte es ihm.
Greenling saß unbeweglich still und hörte mir zu. Nachdem ich geendet hatte, zündete er sich eine neue Zigarette an. »Der bärenhafte Bursche, von dem du redest, ist Gall - Pat Gail. Wer der Halbwüchsige ist, weiß ich nicht. Aber von dieser Sorte kannst du hundert für Sixpence auflesen, Solo. Du hast dich da mit einer wirklich feschen Gesellschaft eingelassen.
Die Cannings sind bekannte Leute. Tom Canning war vor ein paar Jahren hier Bürgermeister. Er starb im vergangenen Jahr. Er war Witwer - mit einem Sohn und einer Tochter. Der alte Canning war so rechtschaffen, wie man es sich nur denken kann, und stand seit Jahren auf dem Kriegsfuß mit Lidgett. Ich kannte ihn ziemlich gut - und mochte ihn.«
»Und die Kinder?«
»Kenne ich ebenfalls. Jane ist ein prima Mädel. Peter hat nicht halb den Schneid, den sie hat. Du kannst dich glücklich schätzen, so leicht davongekommen zu sein, Solo. Lidgett pflegt eine Menge harter Burschen in seinen Betrieben für sich arbeiten zu lassen. Sie sind nicht zimperlich in der Wahl ihrer Methoden. Ich hörte, dass Peter Canning zu wetten anfing. Solcher Klatsch macht in einer Stadt dieser Größe schnell die Runde. Ich schätze, Lidgett ermutigt ihn bis zu einem gewissen Grad dazu.«
»Warum sollte er?«
Greenling seufzte. »Lidgett hasste Tom Canning. Canning hat eine Reihe von großen Prozessen gegen ihn geführt. Einer davon betraf das große Einkaufszentrum am Market Square. Er lief fast an die drei Jahre. Muss Lidgett einen Haufen Geld gekostet haben. Jedenfalls war die Sache die, dass der alte Markt abgebrochen werden musste und dadurch ungefähr zwei Morgen Bauland mitten im Zentrum frei wurden. Eine Planungsgesellschaft wollte den Grund erwerben. Tom Canning aber erklärte, zum Teufel damit. Sie planten, ein großes Einkaufszentrum zu bauen, das so an eine Millionen Pfund kosten sollte, keinen Cent weniger. Canning kämpfte mit Zähnen und Krallen dagegen an. Er bestand darauf, dass ein Park und ein Spielplatz für die Kinder des Stadtviertels Covington viel wichtiger seien. Am Ende setzte er seinen Willen durch. Gerade um Haaresbreite. Die alten Marktgebäude wurden abgerissen, und die Arbeiten am neuen Park haben bereits begonnen. Schade, dass der alte Mann nicht lange genug lebte, um es zu sehen.«
»Was passierte dann?«
»Herzinfarkt während einer Stadtratssitzung. Ich glaube, das hat damals die Wahl zu seinen Gunsten entschieden. Aber nachher konnte er sich nie mehr davon erholen. Sechs Monate später starb er im Mercy Hospital. Wie auch immer, er hatte Lidgett einen schweren Schlag versetzt.«
»Und das nahm Lidgett übel.«
»Klar. Lidgett nimmt alles übel, was sich Lidgett in den Weg stellt. Besonders etwas, über das alle Leute Bescheid wissen. Es stand in den Zeitungen; die Leute redeten an den Straßenecken darüber; ja, es fanden sogar öffentliche Versammlungen deswegen statt. Nein, es gefiel Lidgett ganz und gar nicht. Und Eli Lidgett ist nicht der Mann, der jemand vergessen würde, der sich ihm entgegenstellt.«
»Deshalb nimmst du an, dass er nun seinen Ärger an dem jungen Canning auslässt?«
Greenling lachte wieder. »Ich rede nur von dem Eindruck, den ich in dieser Sache gewinne - aber ich kenne Lidgett. Ich habe ganz andere Dinge über ihn gehört.- Er hat einen Sohn, auf den er große Stücke hält. Der alte Canning verpasste ihm einmal einen Denkzettel.
Canning war Besitzer einer Büchsenmacherei. Jedermann kannte ihn; jedenfalls jeder, der zählte. Da war ein Mädchen, das in seinem Büro arbeitete. Sie bekam ein Kind, und Old Tom machte Sidney Lidgett die Hölle heiß, als der versuchte, sich von seiner Verpflichtung zu drücken. Er setzte seinen eigenen Rechtsanwalt in dieser Angelegenheit ein. Am Ende nahm Eli Lidgett die Sache in die Hand und legte sie bei. Das hat die gegenseitigen Beziehungen natürlich auch nicht verbessert...
»Das ist interessant«, sagte ich. »Nun muss ich aber gehen. Mein Zug geht um 21.27 Uhr.«
»Ich fahre dich zum Bahnhof«, erbot sich Greenling. Fünf Minuten später standen wir auf dem Bahnsteig, wo der Zug zur Abfahrt bereitstand.
»War nett, dich wieder einmal zu sehen, Frank«, sagte ich. »Wenn du das nächste Mal nach London kommst, ruf mich an. Vergiss es nicht. Es wäre besser, wenn du mir ein oder zwei Tage vorher Bescheid gibst, für den Fall, dass ich gerade mitten in einem Fall stecke.«
»Mache ich«, versprach Greenling. »Aber vor Ostern wird es wohl nicht mehr klappen. Ich stecke bis über den Ohren in Arbeit, und außerdem erwarten wir im Januar wieder ein Baby.«
Das Summen der Diesellok verstärkte sich. Greenling warf einen Blich auf die Bahnhofsuhr und streckte mir die Hand entgegen. »Es ist Zeit für dich, Solo. Bis bald.«