SANFT FLÜSTERT DER TOD - John Cassells - E-Book

SANFT FLÜSTERT DER TOD E-Book

John Cassells

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Beschreibung

Der erste »Verkehrsunfall« sah ziemlich echt aus: gestohlenes Fahrzeug, Fahrerflucht - das ist heutzutage keine Seltenheit.

Beim zweiten »Unfall« wurde Inspektor Tilling stutzig. Schließlich waren die Opfer miteinander befreundet. Und einer von ihnen hatte irgendwo 70.000 Pfund versteckt - die Beute aus einem Bankraub...

 

Der Roman Sanft flüstert der Tod aus der Feder des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969 (unter dem Titel Kein Fall für Amateure).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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JOHN CASSELLS

 

 

Sanft flüstert der Tod

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

SANFT FLÜSTERT DER TOD 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Der erste »Verkehrsunfall« sah ziemlich echt aus: gestohlenes Fahrzeug, Fahrerflucht - das ist heutzutage keine Seltenheit.

Beim zweiten »Unfall« wurde Inspektor Tilling stutzig. Schließlich waren die Opfer miteinander befreundet. Und einer von ihnen hatte irgendwo 70.000 Pfund versteckt - die Beute aus einem Bankraub...

 

Der Roman Sanft flüstert der Tod aus der Feder des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969 (unter dem Titel Kein Fall für Amateure).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  SANFT FLÜSTERT DER TOD

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die Heizkörper, die das Klassenzimmer mit Wärme versorgten, waren an der Wand vor den hohen, schmalen Fenstern installiert. Es kam häufig vor, dass sich Carling während des Unterrichts gegen einen der Heizkörper lehnte. Während des Krieges war er an der Hüfte verwundet worden; im Laufe der Jahre waren rheumatische Beschwerden hinzugekommen. So litt er gelegentlich unter heftigen Schmerzen, die von der Wärme ein wenig gelindert wurden. Die Schmerzen plagten ihn hauptsächlich in den Wintermonaten.

Und jetzt war es Winter – Anfang Dezember – im unfreundlichen Nordosten mit seinen kalten, schneidenden Stürmen, die vom Kontinent kamen, und den vom Himmel stürzenden Wassermassen, die der Sturm in graue Stahlnadeln verwandelte. Der Regen trommelte an die Fensterscheibe hinter Carlings Rücken. Er musste seine dünne, leicht schnarrende Stimme ein wenig heben, um von seinen Schülern verstanden zu werden.

»Verfallen Sie nicht dem Irrtum, Larkins«, sagte er, »dass die Geschichte eines Landes immer nur Vergangenheit ist. In Wirklichkeit ist sie es nie. Glauben Sie nur nicht, dass alle Epochen, die wir behandeln, schon so lange zurückliegen, dass sie bedeutungslos geworden sind.« Er blickte herum, ein schwaches Lächeln in seinen sanftblauen Augen. »Ich wurde 1910 geboren, bin also noch gar nicht so alt. Und als ich geboren wurde, gab es in England noch alte Leute, die – als es zur Seeschlacht bei Trafalgar kam – kleine Kinder waren. Ein Jahrhundert davor lebten Männer und Frauen, die sich an die Große Pest im Jahre 1665 und die Feuersbrunst in London im Jahre 1666 erinnern konnten. Einige von ihnen hörten als kleine Kinder ihre Väter von der Hinrichtung Karls I. erzählen – und zu jenem Zeitpunkt gab es wieder alte Leute, die noch die Leuchtfeuer entlang der englischen Küste gesehen hatten, als die spanische Armada im Kanal aufkreuzte.«

Das Schrillen der elektrischen Klingel ließ ihn seine Ausführungen beenden. Ein paar unruhige Geister begannen auf ihren Plätzen herumzurutschen.

Carling richtete sich auf und sagte: »Das wär’s für heute. Auf Wiedersehen.«

Die Schüler verließen geräuschvoll das Klassenzimmer.

Carling blickte hinter ihnen her und kehrte langsam zu seinem Pult zurück. Er hatte Hüftschmerzen und atmete auf bei dem Gedanken, dass heute Freitag war. Er ermüdete in letzter Zeit leicht und dachte verdrießlich: Ich werde alt. Nun, man konnte die Jahre nicht ewig übersehen, dennoch war es ihm – bis vor kurzem – ziemlich gut gelungen.

Vor allem waren es diese Schmerzen in der Hüfte, die ihm zu schaffen machten; er fürchtete auch, sein Rheumatismus könne chronisch werden. Der Arzt hatte ihm vorgeschlagen, zwecks Ruhe und Behandlung für einige Zeit das Krankenhaus aufzusuchen, aber das ließ sich nicht so einfach in die Wege leiten. Nicht wenn man Englisch- und Geschichtslehrer in einem Gymnasium war, das unter Personalmangel litt, und wo eine ganze Anzahl Sorgenkinder und beunruhigter Eltern von einem abhängig waren.

Carling hatte sich mit dem Hinweis herausgeredet: Vielleicht im Sommer, wenn das Abitur vorbei ist... So ungefähr. Aber er würde auch dann kaum ins Krankenhaus gehen. Er hatte noch eine Menge anderer Dinge zu tun, zu viele andere Angelegenheiten, um die er sich während der Sommermonate kümmern musste.

Das Klassenzimmer war jetzt völlig leer. Wie ein Leichentuch schien sich die Kälte des Wochenendes darin auszubreiten.

Carling griff nach einem Stapel Aufsatzhefte, streifte ein Gummiband herum und machte daraus ein rechteckiges Päckchen. Er streckte seine steif gewordenen dünnen Beine aus und entspannte sich einen Augenblick.

Ein rundes Stück Kreide rollte, von den Aufsatzheften in Bewegung gesetzt, übers Pult. Er beobachtete es und wollte zugreifen, aber da zersplitterte es schon auf dem Fußboden. Carling überlegte einen Moment, ob er die Kreidefragmente auflesen solle. Er war von Natur aus ein ordnungsliebender Mann, doch er war zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch müde und beschloss, diese Arbeit den Putzfrauen zu überlassen. Er lehnte sich zurück und betrachtete den gegen das Fenster trommelnden Regen.

Es war ein Jammer, dass es regnete, zumal er heute abends noch nach Cadby musste. Er schob seine Finger in die innere Jackettasche, brachte einen billigen weißen Umschlag zum Vorschein und entnahm ihm ein einzelnes Blatt liniertes Briefpapier. Er faltete es auseinander und las:

 

Lieber Mr. Carling,

 

vielen Dank für Ihren Brief bezüglich der Nachlassregelung für den armen Tommy. Es war eine schreckliche Tragödie, über die ich noch immer nicht hinweggekommen bin. Ja, es ist mir angenehm, dass Sie am Freitagabend gegen acht Uhr in meine Wohnung kommen wollen, um in Tommys Zimmer nach dem Rechten zu sehen. Ich selbst möchte einstweilen nichts anrühren und bin froh, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben.

 

Ihre ergebene

Martha Wetherall.

Er faltete das Blatt zusammen, steckte es wieder in den Umschlag und den Umschlag in seine Tasche.

Armer Tommy!

Er saß auf dem unbequemen Stuhl und dachte beiläufig an den verstorbenen Tommy Strutt. Er hatte ihn in den ersten Kriegstagen kennengelernt. Das war in einem Armeelager an der Ostküste Schottlands gewesen. Carling war damals Leutnant, sehr flott und unternehmungslustig, eben von einem Offiziersanwärterlehrgang im Süden gekommen. Er war kaum eine Woche bei seiner neuen Einheit, als Soldat Strutt sich zum Rapport melden musste und wegen eines Vergehens von Captain Smithers, dem Kompanieführer, zu sieben Tagen Arrest verdonnert wurde.

Als Strutt das Arrestlokal verlassen durfte, hatte Smithers müde gesagt: »Einer der Unverbesserlichen, Carling. Verbringt den größten Teil seiner Freizeit in Kneipen und so weiter. Ich kann nicht viel mit ihm anfangen.«

»Wer ist das, Sir?«

Smithers rieb seine ziemlich lange Nase bei den Worten: »Strutt – Tommy Strutt. Trotzdem würde er gar nicht mal so schlecht sein, wenn wir ihn nüchtern halten könnten. – Wo kommt Strutt eigentlich her?«, fragte er den Feldwebel.

Der Feldwebel sagte es ihm.

»Ich auch«, murmelte Carling betroffen.

»Wirklich?« Smithers dachte nach. »Nun, vielleicht wäre es keine schlechte Idee, wenn Sie mit ihm reden würden. Möglich, dass Sie etwas erreichen, obwohl ich es bezweifle.«

»Ich werde mit ihm sprechen, Sir«, sagte Carling.

Das tat er zwei Tage später vor dem Green Flag in der Widnor Street, als Strutt auf den Eingang zuschwankte mit dem Vorsatz, seine Kehle mit Bier anzufeuchten. Carling sah ihn und blieb stehen.

»Sie heißen Strutt, nicht wahr?«

Strutt nahm stramme Haltung an. »Ja, Sir. Strutt. Reserveregiment Nummer 197...«

»Schon gut«, sagte Carling. »Man erzählte mir, dass Sie und ich aus derselben Stadt sind. – Welche Gegend?«

»Cadby, Sir.«

Carling musterte ihn. Was er sah, war ein blasser, irgendwie traurig wirkender Mann, der zu Fettansatz neigte, ein fleischiges Gesicht und mausgraues Haar hatte. Anscheinend hatte er versucht, seine Ginfahne mit Pfefferminz zu tarnen, aber ansonsten hatte der Alkohol bereits seine Schuldigkeit getan.

»Verheiratet?«

Strutt blinzelte. »Nein, Sir. Wer will mich schon haben?« Er grinste beim Sprechen. »Ich wurde im Institutskrankenhaus in der Mentcave Street geboren.«

Carling nickte. Dieses Krankenhaus hatte, wie jeder wusste, eine Entbindungsstation für ledige Mütter. »Auch Sir Henry Flack wurde dort geboren«, sagte er.

Strutt schien ein wenig überrascht zu sein.

»Kennen Sie ihn, Strutt?«, fragte Carling.

»Ja, Sir. Ein großer Geschäftsmann, nicht wahr?«

»Einer der größten«, ergänzte Carling. Er betrachtete mit seinen klugen blauen Augen den jüngeren Mann und traf eine rasche Entscheidung. »Mr. Rigby und ich suchen einen Burschen. Er hat es mir überlassen, den geeigneten Mann zu finden. Wollen Sie diesen Posten übernehmen?«

Strutts Gestalt straffte sich. »Ich, Sir? Ich -«

»Gut«, sagte Carling. »Dann stellen Sie sich um sieben Uhr bei mir vor – nüchtern!« Er ging weiter.

So begann dieses Arbeitsverhältnis. Es dauerte, bis Strutt bei der Invasion in der Normandie verwundet wurde. Es war nicht allzu schlimm gewesen – eine zerschmetterte Kniescheibe –, doch für ihn war der Krieg beendet.

Carling hatte ihn danach nie wiedergesehen. Zwar hatte er ein- oder zweimal an Strutt geschrieben, doch weil er nie Antwort bekam, wusste er nicht, ob Strutt die Briefe erhalten hatte. Jahre später, als er in Manchester arbeitete, hatte er einen Sergeanten von seiner alten Kompanie getroffen, der ihm erzählte, dass Strutt eine Gefängnisstrafe abgesessen und sich anschließend nach Süden abgesetzt habe. Jemand war ihm in einer Kneipe in Fulham begegnet, ein anderer hatte ihn in einem Wagen in der Nähe des Leicester Square gesehen.

Carling war in seine Geburtsstadt zurückgekehrt und in seiner alten Schule Englisch- und Geschichtslehrer mit erweitertem Aufgabenbereich geworden. Er hatte nie geheiratet. Viele Leute fragten sich, woran das lag. Manchmal fragte er sich das selbst, und manchmal glaubte er, den Grund zu wissen.

In seinem Leben hatte es einmal ein Mädchen gegeben: Anne Kane, Sergeant beim weiblichen Hilfskorps. Sie war seiner Einheit zugeteilt worden. Vielleicht hätte etwas daraus werden können, doch Anne war eine Woche vor Kriegsende bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er besaß noch ein kleines Foto von ihr, das er in einem Plastiketui in einem Fach seiner Brieftasche aufbewahrte. Gelegentlich betrachtete er das Foto und fragte sich, was für eine Wendung sein Leben wohl genommen hätte, wenn Anne nicht so früh gestorben wäre.

Auch Tommy Strutt war in seine Heimatstadt zurückgekehrt.

Carling hatte das erst gewusst, als er vor einigen Tagen in der Lokalzeitung auf eine kurze Meldung stieß, die folgenden Wortlaut hatte:

Thomas Strutt, 54, wohnhaft Ryle Terrace 27, der gestern Nacht in der Benton Lane von einem noch flüchtigen Autofahrer schwer verletzt wurde, starb im Ambulanzwagen auf dem Weg zum Wilton-Krankenhaus. Die Polizei bittet um Hinweise bezüglich des Unfalls, der am Freitag gegen 23.30 Uhr stattfand. Personen, die mit zweckdienlichen Angaben die Ermittlungsarbeit der Polizei unterstützen können, wollen sich bei Inspektor Tilling im Präsidium melden.

Das war alles gewesen.

Carling hatte sich darüber seine Gedanken gemacht und war dann zur Ryle Terrace 27 gefahren. Ein graues, recht baufällig aussehendes Haus im Werftviertel. Ein fleckenlos poliertes Messingschild an der morschen Tür trug die Aufschrift J. Wetherall, doch die Fenster waren dunkel, und ein gefälliger Nachbar hatte ihm gesagt, dass Mrs. Wetherall ausgegangen sei.

Mrs. Wetherall, eine ältere Frau, war Witwe. Strutt hatte zwei oder drei Jahre bei ihr gewohnt. Die Trauerfeier fand am Donnerstagnachmittag im Aufbahrungsraum des Beerdigungsunternehmens statt.

Carling hatte an der Trauerfeier teilgenommen und war dem Sarg zum grauen, sturmumtosten Friedhof gefolgt. Als die sterblichen Überreste Tommy Strutts zur letzten Ruhe gebettet waren und die wenigen Leidtragenden wieder auf das große Eisentor zugingen, hörte er hinter sich eine Stimme sagen: »Verzeihen Sie, spreche ich mit Major Carling?«

Carling drehte sich um.

Ein kleiner, untersetzter Mann, in feierliches Schwarz gekleidet, blickte zu ihm auf.

Carling lächelte. »Ich war Major Carling... vor langer Zeit.«

Der kleine Mann streckte seine plumpe, weiche Hand aus. »Das dachte ich mir, das dachte ich mir... Ich habe Sie bei einigen Versammlungen der Philosophischen Gesellschaft gesehen. Gilder ist mein Name – Adrian Gilder von Hawley, Brent und Gilder.«

Carling erkannte ihn. Hawley, Brent und Gilder war eine Anwaltsfirma, die am anderen Ende der Stadt praktizierte, obwohl er zu wissen glaubte, dass Mr. Gilder das einzige verbliebene Mitglied dieses Dreigestirns war. »Ja, natürlich, Sir. Jetzt kenne ich Sie.« Er fragte sich beiläufig, was ein Anwalt mit der Beerdigung Tommy Strutts zu tun haben könne.

Gilder lächelte ebenfalls. »Selbstverständlich kennen Sie mich«, sagte er selbstgefällig, »und sicher wundern Sie sich auch, weshalb ich hier bin.« Er lächelte breiter. »Tatsache ist, dass ich Ihnen bereits geschrieben habe. Wahrscheinlich werden Sie mein Schreiben in Ihrem Briefkasten vorfinden. Ich bitte Sie darin, sich baldmöglichst mit mir in Verbindung zu setzen. Es handelt sich um die Erblassenschaft des verstorbenen Thomas Strutt.«

»Erblassenschaft?«, fragte Carling hölzern.

Gilders Augen zwinkerten in ihren runden Fetthöhlen. »Mr. Strutt hinterließ auf seinem Sparkonto ungefähr sechsundzwanzig Pfund. Das und noch einigen persönlichen Besitz, den ich bereits gesehen habe. Nichts von Wert und Bedeutung. Ein paar Fotos aus seiner Armeezeit, ein paar Kleidungsstücke, die meisten davon in vernachlässigtem Zustand. Dann gibt es auch noch einen Koffer, dessen Inhalt genauso wertlos ist...« Er spreizte die Hände. »Nichts von Wert, tut mir leid. Wenn Sie mich morgen in meinem Büro aufsuchen, könnten wir es vielleicht so einrichten, dass Sie zu seiner Wirtin gehen und sich mit ihr über die Weiterverwendung dieser Utensilien unterhalten. Soviel ich weiß, will sie alles so rasch wie möglich loswerden.«

Carling war gegangen. An jenem Abend hatte er einen kurzen Brief mit einer Erklärung an Mrs. Wetherall geschrieben und ihr mitgeteilt, dass er sie heute Abend aufsuchen würde, falls es ihr angenehm sei.

Der Regen trommelte noch immer gegen die Fensterscheibe.

Carling seufzte, erhob sich steif und ging, ein wenig müde wirkend, zum Lehrerzimmer. Alle waren schon weg – bis auf Morrow, den Literaturgeschichtslehrer, der seine Schuhe gegen ein Paar Stiefel vertauschte, die er im Winter auf dem Nachhauseweg zu tragen pflegte.

Er war ein großer, hagerer Mann, der sich dem sechzigsten Lebensjahr näherte. Eben streckte er einen Fuß aus, und Carling konnte sehen, dass die Ferse seines Strumpfes fein säuberlich gestopft worden war. Er nickte Carling zu und sagte: »Wieder eine Woche hinter uns gebracht. Bald ist Weihnachten, wie? Nun, mir soll’s recht sein. Ich habe während dieses Quartals wahrhaftig geleistet, was ein Mensch nur leisten kann. Gar nicht so leicht, eine Horde Jungen zum Arbeiten zu bringen, wenn die Burschen gegen die Arbeit eine Abneigung haben.«

»Sicher haben Sie recht, Morrow.«

Dieser schloss seine Aktenmappe und schlug mit der Handfläche darauf. »Wie wäre es, Carling, wenn Sie mich nach Hause begleiten und mit uns essen würden?«

Carling errötete leicht. Morrow war ein freundlicher Mann, und seine Frau, eine hilfsbereite Seele, war fest davon überzeugt, dass Carling als Junggeselle nur von Konservensuppen, Bohnen und gekochten Eiern lebte. »Ich danke Ihnen«, sagte er, »aber vielleicht begleite ich Sie ein andermal. Unglücklicherweise habe ich heute Abend noch eine Verabredung einzuhalten.« Er zögerte einen Moment. »Ein Bekannter kam bei einem Unfall ums Leben. Er wohnte möbliert, und ich habe mit seiner Wirtin noch eine Nachlassangelegenheit zu regeln. Doch wie gesagt, ich komme auf Ihre Einladung gern zurück.«

»Gut, dann ein andermal«, sagte Morrow und schwenkte seinen Hut. »Auf Wiedersehen, Carling. Wir sehen uns am Montag.« Er ging hinaus.

Carling blickte hinter ihm her und verließ fünf Minuten später ebenfalls das Gebäude.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Bramley Place war eine Reihe von im späten viktorianischen Stil gebauten Einfamilienhäusern. Nach dem Krieg waren einige von ihnen in Mietwohnungen verwandelt worden. Carling wohnte in Nummer 14. Es war eine Dreizimmerwohnung mit Bad und Kochnische. Mrs. Amber, eine Witwe mittleren Alters, räumte dreimal in der Woche bei Carling auf und kochte auch für ihn.

Es war so üblich, dass sie eine Kasserolle mit einer vorbereiteten Mahlzeit auf die Herdplatte stellte, bevor sie die Wohnung verließ, sodass das Essen, wenn er nach Hause kam, gewöhnlich fertig war.

So war es auch an jenem Abend. Es gab Suppe und ein in der Kasserolle geschmortes Steak. In einem kleinen Topf waren drei Pellkartoffeln. Carling wärmte das Essen auf, aß dann und spülte anschließend in seiner pedantisch gründlichen Art das Geschirr. Er zündete sich nach getaner Arbeit eine Zigarette an, griff nach der Abendzeitung und nahm vor dem elektrischen Ofen Platz wie immer. Er blätterte flüchtig in der Zeitung und entdeckte auf einem Innenblatt ein Füllsel am Fuß eines Artikels, der sich mit einem gesellschaftlichen Scheidungsprozess beschäftigte. Polizei sucht Mordfahrzeug lautete die Überschrift. Dann: Kriminalbeamte bemühen sich, den flüchtigen Fahrer zu finden, dessen Wagen Thomas Strutt, Ryle Terrace 27, tödlich überfuhr. Die bisherigen Ermittlungen blieben ergebnislos. Augenzeugen werden gebeten, sich umgehend im Polizeipräsidium zu melden. 

Carling zündete sich eine neue Zigarette an und legte die Zeitung zur Seite. Merkwürdig, dachte er, dass ein Mann, der den Krieg überstanden hat, in seine Heimatstadt zurückkehrt und dann vor einen fahrenden Wagen läuft. Nun ja, so war das Leben nun einmal. Carling hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass so etwas passieren konnte. Und wenn so etwas passierte, musste man sich damit abfinden.

Es war halb acht, als er aufstand, einen schweren Mantel anzog und einen alten Filzhut aufsetzte. Wenig später ging er durch den kalten, mit Graupeln vermischten Regen zur nächsten Straßenecke. Als der Bus kam, stieg er ein. An der Haltestelle West stieg er in einen Bus nach Cadby um. Es war kurz vor acht, als er vor der Tür des Hauses Ryle Terrace 27 stand. Drinnen war das Radio angeschaltet, und Carling lauschte kurz, ehe er auf den Klingelknopf drückte.

Das Radio verstummte schlagartig, und er hörte sich der Tür nähernde Schritte. Die Tür wurde geöffnet.

Carling sah eine magere, verdrießlich dreinblickende Frau vor sich stehen und nahm seinen Hut ab. »Guten Abend. Mein Name ist Carling. Mrs. Wetherall, wenn ich mich nicht irre?«

»Ja.« Sie öffnete die Tür etwas weiter. »Ich bin Mrs. Wetherall. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Carling. Tommy hat häufig von Ihnen gesprochen.« Sie reichte ihm ihre schlaffe Hand, schloss hinter ihm die Tür und führte ihn in einen kleinen, muffigen Raum, in dem ein großes Kaminfeuer prasselte. »Nehmen Sie Platz, setzen Sie sich nur. Und ziehen Sie den Mantel aus, sonst frieren Sie, wenn Sie wieder hinausgehen.« Sie nahm ihm den Mantel ab und deutete auf einen unbequem aussehenden Sessel. Als er saß, nahm sie ihm gegenüber Platz und starrte ihn einen Augenblick an. »Es war alles sehr traurig, nicht wahr?«

Carling nickte. »Der Tod ist immer eine traurige Angelegenheit, Mrs. Wetherall, und je plötzlicher er zuschlägt, umso größer der Schock für die meisten von uns.«

»Und in diesem Fall kam der Tod wohl sehr plötzlich«, murmelte sie.

»Haben Sie irgendwelche Einzelheiten gehört?«, erkundigte er sich.

»Nicht viele. Ein Polizeibeamter war hier, aber er stellte nur Fragen. Ich konnte ihm nicht viel erzählen, nur, dass Tommy gegen neun Uhr das Haus verließ. Das machte er ziemlich oft. Er ging dann meistens in eine Kneipe in der Bartlett Street. Vielleicht war er auch in jener Nacht dort Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«

»Hat er stark getrunken?«

Sie zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Manchmal schien er allerdings schwer getankt zu haben, doch deswegen fiel er mir nie zur Last. Dieser Typ war er nicht. Er wurde nur lustig.«

Carling sagte: »Ich erinnere mich, Mrs. Wetherall. Damals in der Armee war er oft betrunken und dann stets guter Laune.«

»Das stimmt«, erwiderte sie. »Manchmal sagte eine Nachbarin zu mir: Vor einem Mieter, der trinkt, sollten Sie sich in Acht nehmen, Mrs. Wetherall. In den Zeitungen liest man so allerlei darüber. Aber ich machte mir keine Sorgen und antwortete nur: Tommy ist ganz in Ordnung. Betrunken oder nüchtern, er ist anständiger zu mir als Ihr eigener Mann zu ihnen.« Sie sah ihn an. »Genau das sagte ich.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Er blickte unschlüssig nach der Uhr. »Nun, ich möchte Sie nicht allzu lange aufhalten, Mrs. Wetherall. Wenn Sie mir jetzt Tommys Zimmer zeigen wollen...«

»Sehr gern.« Sie stand auf und führte ihn zu einem kleinen Zimmer. Sie blieb einen Augenblick stehen, die Hand auf der Türklinke. »Der Anwalt war schon hier und hat sich alles angesehen. Er sagte, Sie können die Sachen mitnehmen, wann immer Sie Zeit dazu haben.«

Carling nickte. »Das hat er mir auch gesagt.«

Sie öffnete die Tür und knipste das Licht an. »Das ist es. Er fühlte sich hier wohl, glaube ich sagen zu können. Es ist kein großartiges Zimmer, wie Sie sehen, aber...«

Großartig war das Zimmer ganz und gar nicht. Ein kleiner, öde wirkender Raum mit einer Schlafcouch, zwei Stühlen, einem ausgefransten Teppich und einem Gasofen. In der einen Ecke stand ein billiger Sperrholzschrank, und auf einem Hocker neben der Couch fiel ein fast neues Transistorradio auf.

Mrs. Wetherall deutete mit einer Kopfbewegung auf den Apparat und sagte: »Tommy kaufte sich dieses Ding erst vor einem Monat. Er schaltete es oft an. Während des letzten Monats blieb er ziemlich oft zu Hause.«

»Wo arbeitete er?«

»In Ponds Garage.«

»Arbeitete er dort bis zu seinem Tod?«

Sie blickte ihn leicht verblüfft an. »Nein – ungefähr einen Monat vor seinem Tod arbeitete er überhaupt nicht mehr. Er hatte seinen Job aufgegeben – oder er bekam die Papiere, eins von beiden. Ich weiß es jedenfalls nicht. Er war nicht der Mann, der gern über sich selber zu sprechen pflegte.«

Carling war überrascht. »Gut, ich werde mich einmal umsehen, Mrs. Wetherall. Übrigens sagte Mr. Gilder etwas von einem Koffer.«

»Der ist hier.« Sie öffnete eine Schranktür, und Carling sah einen billigen Holzkoffer. »Er ist nicht schwer.« Sie zog den Koffer heraus.

Carling war ihr dabei behilflich. »Er ist deshalb nicht schwer, weil nicht viel drin ist.«

»Nicht viel«, gab sie zu.

Sie zogen den Koffer in die Mitte des Zimmers unter den altmodischen Fransenschirm der Lampe. Es war ein simpler Holzkoffer, dunkelgrün und mit Stahlbändern beschlagen. Auf beiden Seiten waren die Initialen T. S. zu lesen. Der Schlüssel steckte im Schloss. Carling drehte ihn herum, aber es war nicht abgeschlossen. Er klappte den Deckel auf.

Es gab wenig zu sehen – ein, zwei Kleidungsstücke, ein paar Zeitschriften, ein halbes Dutzend alter Taschenbücher und eine Tweedjacke.

»Mr. Gilder hat schon alles durchgesehen. Er und ein junger Mann.« Sie sah Carling an. »Das ist alles – und dann noch das Zeug im Schrank.« Sie öffnete die andere Schranktür, und Carling sah zwei Anzüge auf breiten Bügeln hängen. »Das wäre endgültig alles, Mr. Carling. Er hatte nicht viel.«

Carling lächelte kaum merklich. »Ja, das sehe ich.« Er blickte in die Runde und betrachtete noch einmal Tommy Strutts Habseligkeiten. »Wirklich nicht viel – ja.«

»Was Sie sehen und dann noch ein bisschen Geld auf der Bank.«

»Sechsundzwanzig Pfund«, sagte Carling nachdenklich. Impulsiv traf er eine Entscheidung. »Sehen Sie, Mrs. Wetherall, Strutt lebte seit zwei, drei Jahren bei Ihnen, und ich bin sicher, dass Sie stets gut zu ihm waren.«

»Ich habe mich bemüht.«

»Und ich denke, das sollte berücksichtigt werden. Er hat nur diesen Koffer und ein wenig Geld hinterlassen. Ich werde Mr. Gilder den Vorschlag unterbreiten, dass das Geld in Ihren Besitz übergeht.«

»Aber Sie sollten es doch bekommen, Mr. Carling.«

»Ich werde den Koffer behalten. Darin kann man eine Menge Bücher aufbewahren. Die Sachen können Sie Ihren Nachbarn geben. Auch die Sachen im Schrank. Zweifellos kann jemand etwas davon verwenden.«

Sie schien sehr froh darüber und sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Carling. Ich kann das Geld gebrauchen. Ich bekomme nämlich nicht viel, das ist eine Tatsache. Und ich kenne auch ein paar Leute, die für die Kleidungsstücke Verwendung haben. Ich danke Ihnen aufrichtig, Mr. Carling.«

Er winkte ab. »Überlegen wir zunächst einmal, wie wir diesen Koffer in meine Wohnung schaffen können.« Er dachte kurz nach. »Ich schicke morgen eine Gepäckkarre zu Ihnen, Mrs. Wetherall. Ginge es nachmittags?«

»Ich werde zu Hause sein, Sir.«

»In Ordnung. Morgen unterhalte ich mich mit Mr. Gilder. Wir werden alles so rasch wie möglich klären.« Er ging in die Diele.

Sie folgte ihm. »Da brauchen Sie sich gar nicht zu beeilen, Mr. Carling. Kommen Sie, wann es Ihnen passt; morgen am Sonnabend arbeite ich nicht, deswegen -«

»An den übrigen Wochentagen arbeiten Sie?«

»Bei Blair und Tempel, Sir. Ich bin dort in der Küche beschäftigt. Aber morgen bin ich zu Hause. Keine Sorge, Sie können den Mann ruhig schicken. Am Nachmittag, am besten ab zwei Uhr.«

»Ich hoffe, morgen Vormittag alles in die Wege zu leiten«, sagte Carling und streckte die Hand aus. »Wir sind uns also einig. Gute Nacht, Mrs. Wetherall.«

»Gute Nacht, Sir.« Sie öffnete die Haustür.

Carling stieg die vier Treppenstufen zum Bürgersteig hin unter und knöpfte im Gehen seinen Mantel zu.

Es regnete noch immer, und über den Dächern der Häuser pfiff ein eisiger Wind. Ein plötzlicher Windstoß erfasste Carling und klappte seinen Mantel zurück, sodass er durch den dünnen Hosenstoff auf seinen Knien die winzigen, spitzen Regennadeln spüren konnte.

Er ging bis zum Ende der Straße, dachte über Tommy Strutt nach und fragte sich, weshalb ausgerechnet er mit der Verwaltung des spärlichen Nachlasses betraut worden war Und warum war Strutt zu einem Anwalt gegangen? Aber Tatsachen waren nun einmal Tatsachen. Strutt hatte sich eben diese Mühe gemacht.

Er trat auf die Straße und bereute, sich bei Mrs. Wetherall nicht genauer nach dem Mann erkundigt zu haben. Sie hatte Tommy Strutt sympathisch gefunden und hätte zweifellos mehr über ihn zu erzählen gewusst, würde Carling ihr entsprechende Fragen gestellt haben.

Er grübelte darüber nach, hörte plötzlich den Motor eines Wagens aufheulen und blickte in der ersten Verwirrung nach rechts.

Aber der Wagen kam von links.

Er schoss durch die Dunkelheit, groß, schwarz und raubtierhaft drohend. Die Scheinwerfer brannten nicht und flammten dann jäh auf, als der Wagen ihn erreicht hatte. Geblendet und vor Schreck wie erstarrt rührte Carling sich nicht von der Stelle.