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Das Mädchen saß in einer Ecke des kleinen Lokals, das Gesicht der Bar zugewandt, doch ohne den Vorgängen dort mehr als nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war eines jener weiblichen Wesen, nach denen man sich zweimal umsieht, ganz gleich, wo man ihnen begegnet: groß, schlank und mit einer Figur gesegnet, die einem Mann im ersten Moment die Sinne vernebelt, um ihn im nächsten desto heftiger in die Wirklichkeit zurückzureißen...
Der Roman Der Goldfisch beißt an - Band 5 der fünfbändigen Reihe um den Londoner Privatdetektiv Donny 'Sugar' Kane - des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
JOHN CASSELLS
Der Goldfisch beißt an
Ein Fall für Sugar Kane
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER GOLDFISCH BEISST AN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Das Mädchen saß in einer Ecke des kleinen Lokals, das Gesicht der Bar zugewandt, doch ohne den Vorgängen dort mehr als nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war eines jener weiblichen Wesen, nach denen man sich zweimal umsieht, ganz gleich, wo man ihnen begegnet: groß, schlank und mit einer Figur gesegnet, die einem Mann im ersten Moment die Sinne vernebelt, um ihn im nächsten desto heftiger in die Wirklichkeit zurückzureißen...
Der Roman Der Goldfisch beißt an - Band 5 der fünfbändigen Reihe um den Londoner Privatdetektiv Donny 'Sugar' Kane - des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das Mädchen saß in einer Ecke des kleinen Lokals, das Gesicht der Bar zugewandt, doch ohne den Vorgängen dort mehr als nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war eines jener weiblichen Wesen, nach denen man sich zweimal umsieht, ganz gleich, wo man ihnen begegnet: groß, schlank und mit einer Figur gesegnet, die einem Mann im ersten Moment die Sinne vernebelt, um ihn im nächsten desto heftiger in die Wirklichkeit zurückzureißen. Sie trug ein Pelzcape lose um die Schultern gelegt, über das ihr honigfarbenes Haar in goldenen Wellen herabfiel.
Kane bemerkte sie, kaum, dass er den Fuß in Johnny Antrades Restaurant gesetzt hatte, nicht weil sie sein besonderes Interesse erweckte, sondern einfach, weil sie nicht zu übersehen war, und vor allen Dingen deshalb, weil sie hier eine Neuerscheinung war. Kane, der selbst regelmäßig herkam, wusste sofort, dass sie noch nie zuvor dieses Lokal besucht hatte. Sie war auch gar nicht der Typ Mädchen, den man bei Antrade traf. Eher hätte man sie sich in einem exklusiven Modemagazin abgebildet denken können, im sportlichen Kostüm auf einem Jagdstuhl sitzend, während neben ihr Lord Soundso Rebhühner schoss oder zuschaute, wie rassige Pferde über Hürden hinwegsetzten. Und eben weil sie so wenig in diese Umgebung passte, fiel sie Kane auf, genauso, wie ihm im umgekehrten Fall eine Bardame bei einem Geländejagdrennen aufgefallen wäre.
Es war ein Uhr. Kane kam stets um eins zu Johnny Antrade, trank zuerst etwas und ließ sich dann an einem der kleinen Tische nieder, um zu lunchen. Jetzt hatte er sich einen Dry Martini bestellt, schwenkte ihn im Glas und lehnte sich über die Theke. Die Rückwand der Bar bestand aus einem großen Spiegel, auf dem jemand seinen Gin anpries. Kane betrachtete das Mädchen im Spiegel und hatte den Eindruck, dass sie sich für ihn interessierte. Aber vielleicht täuschte er sich. Schließlich musste sie irgendjemanden oder irgendetwas anblicken, und bei Antrade gab es nicht viel Sehenswertes. Er leerte gerade sein Glas, als sich Johnny selbst zu ihm gesellte. Johnny Antrade war ein. wohlbeleibter Mann, stets zum Lächeln bereit.
»Na, Mr. Kane«, redete er ihn an. »Wie geht’s, wie steht’s?«
»So lala«, antwortete Kane. »Könnte besser sein - könnte auch schlechter sein. Haben Sie Messinger kürzlich gesehen? Ernie Messinger?«
Anträge kratzte sich die Wange. »Gestern war er auf einen Sprung hier.«
»Machte er eine große Zeche?«
»Nur Bier«, erwiderte Antrade. »Er trank zwei Glas.«
Kane seufzte. »Dann ist es nicht der, den ich suche. Wenn Ernie Messinger Geld in der Tasche hat, juckt es ihn viel zu sehr. Dann kommt nur Whisky für ihn in Frage - oder Gin.« Er setzte sein Glas ab. »Wer ist denn die Puppe?«
Antrade schielte unauffällig an ihm vorbei zu dem Mädchen. »Ich weiß nicht. Sie kam vor einer halben Stunde und nippt seitdem an einem Martini. Wahrscheinlich wartet sie auf jemanden, das kann man nie genau sagen.«
»So etwas trifft man nicht oft hier.«
»Nicht oft«, bestätigte Antrade, »aber doch ab und zu. Vielleicht zum Lunch mit dem Gatten verabredet, hm? Oder vielleicht nicht mit dem eigenen, wer weiß?« Er lachte grunzend.
Kane Sah ihn an, ohne seine Belustigung zu teilen. An ihm vorbeiblickend konnte er das Mädchen beobachten, das jetzt den Kopf zur Tür drehte und ihm das Profil zuwandte. Eine merkwürdige Melancholie Umgab sie, als ob irgendetwas sie traurig stimmte - oder nervös. Oder als ob sie sich fürchtete. Während er sie noch betrachtete, wandte sie den Blick wieder zurück, ihre Augen trafen sich im Spiegel und hielten sich sekundenlang fest, dann senkte sie die Lider und sah vor sich auf die Tischplatte. In Kane tauchte flüchtiges Interesse auf, aber Antrade unterbrach ihn.
»Übrigens - wissen Sie, wer heute Morgen hier war und sich nach Ihnen erkundigte? Dieser junge Polizeiinspektor Gainham.«
»Ach, Bill Gainham«, erinnerte sich Kane. »Den habe ich seit sechs Monaten nicht gesehen. Was sagte er denn?«
»Nicht viel. Fragte nur, ob Sie hier gewesen seien, und ich erzählte ihm, dass Sie immer um eins kämen. Aber er ließ nichts davon verlauten, dass er später noch einmal hereinschauen würde. Er nickte nur, trank seine Flasche Bier und verschwand wieder.«
Jemand machte sich am anderen Ende der Bar durch Winken bemerkbar, und Antrade entfernte sich. Kane folgte ihm mit den Augen. Ein erbärmliches Leben musste das sein, dachte er, von morgens bis abends hinter einer Theke zu stehen und springen zu müssen, wenn ein Gast nur mit den Fingern schnippte. Antrade allerdings schien das nicht weiter zu bedrücken. Er verdiente ja auch großartig dabei, besaß ein Haus in Golders Green und fuhr einen cremefarbenen Wolseley, Kane begab sich an seinen Tisch, an dem er gewöhnlich saß, und nach wenigen Minuten eilte der Kellner mit seinem Essen herbei. Cibber war ein magerer, trübsinniger Mensch, obgleich er zu einer derartig sorgenvollen Einstellung wirklich keinerlei Ursache hatte, denn Antrade sorgte gut für seine Leute. Er setzte das Tablett vor Kane hin und fragte: »Sonst noch etwas, Mr. Kane?«
Es waren seine üblichen Worte, auf die Kane wie immer antwortete: »Heute nicht, Cibber.«
Cibber zog sich darauf zurück, und Kane widmete sich seinem Lunch. Er war nicht üppig. Tomatensuppe, dunkles Brot mit Butter und dänischem Käse und hinterher ein paar Biskuits, das Ganze mit einem Glas Bier hinuntergespült. Er war gerade beim Nachtisch angelangt, als er Gilly hereinkommen sah.
Gilly war groß, blond und wohlgenährt. Früher musste er einmal ein hübscher, strammer Bursche gewesen sein - vielleicht damals, als er noch ein junger Polizeibeamter gewesen war-, jetzt wirkte er nur noch aufgeschwemmt. Er blieb in der Tür stehen und schaute sich suchend um, bis sein Blick auf Kane fiel. Dann steuerte er mit breitem Grinsen auf ihn zu und streckte ihm die dicke, fleischige Pratze entgegen...
»Hallo, Donny. Lange nicht gesehen.«
Kane schüttelte ihm ohne allzu große Herzlichkeit die Hand. Er schätzte Gilly nicht sehr, hatte aber andererseits auch keine ausgesprochene Abneigung gegen ihn. »Mindestens drei Monate nicht.«
Gilly warf seinen Mantel ab und setzte sich. »Es kam mir viel länger vor.«
»Irrtum«, bemerkte Kane.
Gilly winkte Cibber zu sich. »Bringen Sie mir etwas zu trinken - Whisky. Und Sie, Donny?«
»Für mich nicht«, wehrte Kane ab. »Ich habe mein Bier, und außerdem mag ich keinen Whisky zu Biskuits.«
Gilly lachte. Er lachte viel, dieser behäbige, fette Mann, der so fidel aussah. »Ich trinke ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit«, sagte er, und ein listiges Schmunzeln überflog sein Gesicht. »Deswegen haben sie mir damals den Abschied gegeben - aber diese Geschichte kennen Sie sicher.«
Kane hatte eine ganze Menge Geschichten vernommen. »Sie erwähnten sie einmal«, antwortete er.
Cibber brachte ein Glas, stellte etwas Eiswasser dazu und entfernte sich wieder. Gilly schaute sich im Lokal um, als erwartete er, irgendein bekanntes Gesicht zu entdecken, und meinte nach einer Weile: »Früher kam ich sehr oft hierher. Komisch, wie schnell das Publikum wechselt. Die einzigen, die von damals übriggeblieben sind, scheinen Rushbrook und Solly Withers da drüben zu sein.«
Kane nickte. »Die trifft man überall.«
Gillys Blick wanderte weiter und verweilte kurz auf dem Mädchen. Einen Moment lang glaubte Kane, er würde eine Bemerkung machen, aber stattdessen zog er ein silbernes Etui hervor, bot Kane eine Zigarette an und nahm sich, als dieser ablehnte, selbst eine.
»Ich hätte nicht erwartet, Ihnen heute hier zu begegnen.«
»Warum nicht?«, fragte Kane. »Ich komme immer zu Antrade, wenn ich in der Stadt bin.«
»Vielleicht habe ich überhaupt nicht genauer darüber nachgedacht«, erwiderte Gilly und blies eine Rauchwolke zu Kane hinüber. »Aber es freut mich, dass ich Ihnen so unverhofft über den Weg lief. Wie geht’s geschäftlich?«
»Man hält sich über Wasser«, antwortete Kane.
Gilly lachte glucksend. »Das kann man anscheinend behaupten. Ich finde, Sie haben noch nie besser ausgesehen. Wie machen Sie es bloß, dass Sie so auf Draht bleiben? Gucken Sie mich dagegen an - meinen Wanst und meinen Nacken. Ich wog früher mal meine hundertfünfundsiebzig ohne Kleider. Jetzt habe ich die zweihundert erreicht.«
Kane schob seinen Teller zurück und begann seine Pfeife zu stopfen. »Weshalb tun Sie nichts dagegen?«
»Was denn?«, fragte Gilly. »Etwa Diät halten? Dass ich nicht lache! Einmal habe ich es versucht, aber der einzige Erfolg war, dass mir dauernd der Magen knurrte. Ich liebe das Essen viel zu sehr.«
»Und das Trinken auch«, ergänzte Kane.
»Freilich«, gab Gilly gutgelaunt zu. »Das bereitet mir auch großes Vergnügen. Ich genieße mein Leben. Die Ärzte sagen immer, dicke Leute sterben jung, aber glauben Sie nur solche Ammenmärchen nicht. Mein Alter Herr ist jetzt über Achtzig, und er hätte mir, als er in meinem Alter war, noch gut und gerne ein paar Pfündchen abgeben können.«
»Was beweist das?«, fragte Kane.
Gilly lachte. »Sie sind ein spitzfindiger Teufel, Donny.« Er rauchte einige Minuten schweigend, dann fing er wieder an: »Ich habe dieser Tage viel um die Ohren, Donny. Wissen Sie keinen guten Mann für mich?«
Kane runzelte nachdenklich die Stirn. »Billig?«
»Billig kriegt man keinen guten Mann«, erklärte Gilly wegwerfend. »Den Gedanken habe ich mir längst aus dem Kopf geschlagen. Er gleicht dem Aberglauben, dass alle Schotten karierte Röckchen tragen und alle Amerikaner Millionäre sind.«
»Wie war’s denn mit Eddie Lane?«
Gilly zog Eddie Lane in Betracht und tat ihn mit einer Handbewegung ab. »Nichts für mich. Auf Eddie ist kein Verlass, weil er nicht nüchtern bleiben kann. Sobald er etwas Geld in die Finger bekommt, faulenzt er, bis alles weg ist. Nein - Eddie will ich nicht.«
»Haben Sie einen speziellen Auftrag?«
»Möglicherweise«, meinte Gilly geheimnisvoll. »Es könnte schon sein.«
»Etwas so Besonderes, dass Sie es den offiziellen Detektiv-Agenturen nicht anvertrauen wollen?«
Gillys Lächeln wurde breit. »Vielleicht - vielleicht auch nicht. Sie wissen doch selbst, wie es ist, Donny. In unserem Beruf kriegt man nur äußerst selten mal eine lohnende Sache zu fassen. Wie wäre es denn mit Ihnen selbst?«
»Ich bin zu sehr beschäftigt«, wehrte Kane ab.
Gilly kniff ein Auge zu. »Hören Sie, Donny, ich weiß zufällig, dass Sie erst gestern Whitworths Auftrag abgelehnt haben. Sagt Ihnen das etwas?«
Kane fixierte ihn scharf und überlegte. »Ja. Dass Sie mit Whitworth darüber gesprochen haben.«
»Richtig«, hakte Gilly ein, »und ich will Ihnen ruhig verraten, dass Pete Whitworth gestern Abend damit zu mir kam. Er musste zugeben, dass er sich zuerst an Sie gewandt hatte.«
»Und Sie nahmen an?«
»Natürlich«, erwiderte Gilly beinahe entrüstet. »Für was halten Sie mich? Soll ich mir fünf- bis sechshundert Pfund durch die Lappen gehen lassen, nur weil Sie so zimperlich sind? Ich nahm selbstverständlich an, denn wenn ich es nicht getan hätte, wäre Whitworth zu Molesworth oder Fiddler oder irgendeiner anderen Agentur gegangen. Ich nehme alles, was ich kriegen kann.« Er deutete durch eine Geste an, dass das Thema für ihn erschöpft sei. »Jetzt lassen Sie uns mal vernünftig reden. Ich hätte für jemanden einen erstklassigen Job, und Sie könnten dieser Jemand sein.«
»Sie wissen, ich beiße mich lieber allein durch.«
»Sie haben doch schon bei mir gearbeitet.«
»Das war, bevor ich Sie kannte.«
Gilly stieß ein lautes Lachen aus, ein gurgelndes, dröhnendes Lachen. »Sie sind eine verflixte Kratzbürste, Donny. Das würde ich mir nicht von jedem bieten lassen, und sogar aus Ihrem Mund gefällt es mir nicht unbedingt. Aber lassen wir’s dabei bewenden. Diese Sache könnte sich als sehr rentabel erweisen, und. Sie braudien Arbeit. Vielleicht springt ein Tausender heraus - vielleicht. Das soll kein Versprechen sein, wohlgemerkt, sondern nur ein Anhaltspunkt, um Ihnen einen Begriff zu geben.«
Kane schüttelte den Kopf. »Ohne mich, Gilly. Ich möchte nicht für Sie arbeiten - weder für Sie noch für irgendjemand anders. Das soll nicht Sie persönlich treffen – Sie kennen mich ja, es ist einfach meine Einstellung.«
Gilly starrte auf sein leeres Glas. »Tausend Pfund sind eine hübsche Summe für einen Schlüssellochgucker.«
»Viel zu hübsch«, entgegnete Kane trocken. »Sie finden sicher reißend Abnehmer dafür.«
Gilly hob beschwörend die große, fette Hand. »Warten Sie einen Moment, Donny, und passen Sie auf, wenn ich Ihnen Näheres erzähle. Nur ein ganz klein wenig, hm? Sie werden doch nicht so ohne weiteres etwas abschlagen, bevor Sie Einzelheiten gehört haben. Das bringt Ihnen bestimmt keinen Gewinn ein.«
Kane winkte ab. »Darauf bin ich im Augenblick auch nicht wild. Einer der wenigen Vorteile, die ich als selbständiger Privatdetektiv genieße, ist die Freiheit, alles ablehnen zu können, was mir nicht gefällt, und in diesem Fall mache ich davon Gebrauch. Verstehen Sie mich jetzt?«
Auf Gillys schwerfällige Züge trat ein Ausdruck, der fast an Bewunderung grenzte. Er blieb einige Sekunden lang stumm, dann zuckte er die massigen Schultern. »Okay, Donny. Legen wir die Sache ad acta.« Er atmete tief auf. »Manchmal wünschte ich mir, ich könnte so sein wie Sie. Vielleicht haben Sie mir etwas voraus, dass Sie wählen und aussuchen dürfen. Aber wenn man, wie ich, einen ganzen Betrieb am Hals hat, kann man sich das nicht erlauben. Sechs Angestellte, die bezahlt sein wollen, die Abgaben, der Wagen für das Geschäft, eine Sekretärin - da muss man alles nehmen, was kommt. Also, nichts für ungut.« Er erhob sich. »Ich will jetzt lieber gehen, denn meine Zeit ist augenblicklich ziemlich knapp. Aber sollten Sie Ihre Meinung ändern, dann wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.«
»Ich werde sie nicht ändern«, sagte Kane.
Gilly warf den Stummel seiner Zigarette fort. »Das kann man oft nicht vorausbestimmen.« Er winkte verabschiedend mit der Hand, nickte zu Antrade hinüber und ging.
Das Mädchen saß immer noch da. Kane konnte sie ohne Anstrengung von seinem Platz aus sehen. Ab und zu warf er einen Blick zu ihr hin, doch sie schien mit ihrer Zigarette und ihrem Martini vollauf beschäftigt zu sein, so dass er sie nach einer Weile vergaß und anfing, über Gilly nachzudenken. Vielleicht war es nicht klug von ihm gewesen, Gilly so glatt abzuweisen, er hätte sich erst nähere Einzelheiten anhören sollen, denn in seiner Art war Gilly nicht übel. Er hatte schon früher für ihn gearbeitet und kannte bessere, aber auch schlechtere Auftraggeber. Komisch war nur, dass er heute plötzlich wie zufällig hier auftauchte, andererseits wieder, wenn man es recht überlegte, lag darin nichts besonders Merkwürdiges. Gilly brauchte eilig einen guten Mann, und Gilly wusste, dass er frei war.
Er klopfte seine Pfeife aus. Das Leben war schon ein Witz. Immer gab es irgendjemanden, der einen über den Haufen rannte, und ehe man es sich versah, kam ein anderer daher und half einem wieder auf die Beine. Er dachte über Gillys Angebot nach. Er hatte mit einem Tausender gewinkt, und das war viel Geld.
Kane streckte die Füße aus und rief Cibber, der eben vorbeikam, zu: »Noch ein Bier.«
Cibber brachte das Gewünschte. »Was ich Sie fragen wollte, Mr. Kane...« - er wischte umständlich den Schaum vom Glas - »...ich habe doch einen Jungen, Mr. Kane, und der möchte so gern Ihren Beruf ergreifen.«
Kane grinste. »Was fehlt ihm denn? Ist er als Kind zu heiß gebadet worden?«
»Man möchte es fast glauben«, sagte Cibber. »Ich habe schon mit allen Mitteln versucht, ihm die Flausen auszutreiben, aber es hat nichts genützt.«
»Wie alt ist er?«
»Siebzehn. Und ein guter, anständiger Junge. Wir geben uns alle Mühe, dass er es auch bleibt.«
»Und was soll ich dabei tun?«
Cibber wippte verlegen auf den Füßen. »Ich habe ihm versprochen, ein Wort mit Ihnen zu reden, aber ich weiß, er ist noch viel zu jung dafür. Was meinen Sie?«
»Unmöglich«, erklärte Kane sehr entschieden. »Wenn er zehn Jahre älter wäre, könnte man es in Betracht ziehen. Er wird noch zeitig genug seine Erfahrungen machen, auch ohne mit siebzehn schon an Schlüssellöchern zu spionieren.«
»Genau das gleiche habe ich ihm auch gesagt«, antwortete Cibber. »Aber es ist wie in den Wind gesprochen. Er ist einfach detektivbesessen, das kommt alles von diesen Kriminalschmökern. Na, ich kann jedenfalls nicht mehr tun, als ich getan habe. Falls Sie jemanden brauchen, der Ihnen das Büro sauber hält oder die Klienten empfängt, dann ist Mike der Richtige für Sie - und kosten wird er Sie auch nicht viel. Der arbeitet schon für die reinen Sozialabgaben, die Ihnen dadurch entstehen, so närrisch ist er.«
»In einem Jahr muss er ohnehin zum Militär.«
Cibbers Augen leuchteten auf. »Darauf setze ich ja meine ganze Hoffnung, Mr. Kane. Sie glauben gar nicht, wie ich den Tag herbeisehne. Dort werden sie ihn schon rannehmen, und wenn er das hinter sich hat, wird er vielleicht eine vernünftige Stellung als Omnibusfahrer oder bei der Post bekommen.«
»Oder bei der Polizei.«
Cibber schüttelte den Kopf. »Dazu wird’s bei ihm körperlich nie langen. Er hat zwar die erforderliche Größe, aber nicht das Gewicht. Ja, so steht die Sache, Mr. Kane. Ich versprach ihm, Ihren Rat einzuholen. Wie denken Sie nun darüber?«
Kane nahm einen langen Zug aus seinem Glas, tupfte ein Krümel Käse von seinem Teller auf und zerdrückte es auf der Zunge. »Ich denke, dass er ein verrückter Bengel ist«, sagte er. »Ich denke, dass er eines Tages damit in der Gosse landen wird, und wenn er mein Junge wäre, würde ich ihm den Hintern versohlen. Andererseits wieder denke ich, dass ihm das Leben nie langweilig werden wird, wenn er so weitermacht. Und ganz zum Schluss denke ich: Er sollte mich doch einmal besuchen.«
Cibber strahlte. »Vielen Dank, Mr. Kane. Wann?«
Kane überlegte einen Moment. »Na, sagen wir - morgen früh. Um zehn Uhr. Sie wissen ja die Adresse - Proud Lane vierundvierzig, zweiter Stock, links.«
»Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mr. Kane«, sagte Cibber und eilte erleichtert davon.
Kane schaute ihm nach und wunderte sich über sich selbst. Cibber war gewiss ein sehr netter Kerl, aber deswegen war er noch lange nicht verpflichtet, sich um Cibbers-Kinder zu kümmern. Er war doch sonst kein solcher Narr. Jetzt hatte er sich eine Verabredung mit einem Jungen aufgehalst, der eigentlich noch in die Schule gehörte und der stattdessen ausgerechnet Detektiv werden wollte. Er schimpfte leise vor sich hin, trank sein Bier aus und erhob sich.
Das Mädchen war fort. Er hatte sie über der Unterhaltung mit Cibber vollständig vergessen, und während sich seine Aufmerksamkeit darauf konzentrierte, war sie anscheinend aufgebrochen. Nicht, dass er sich darüber besonders Gedanken machte. Sie war zwar interessant gewesen - aber so interessant auch wieder nicht. Er schlenderte zur Theke, wo Antrade eben damit beschäftigt war, den Staub von einem Flaschenhals abzuwischen.
»Was ist dieser Mike Cibber für ein Junge, Johnny?«, fragte er.
Antrade sah leicht überrascht auf. »Mike? Ein netter Bursche. Ich habe ihn manchmal samstags hinten zur Aushilfe.«
»Das verstößt ja gegen das Gesetz«, sagte Kane.
»Stimmt«, gab Antrade zu. »Aber ich bezahle ihn gut dafür. Er schwärmt fortwährend nur von Polizeibeamten und Detektiven - warum, weiß ich nicht. Seinem Vater macht er damit verdammt das Leben schwer.« Das Lächeln verschwand von seinen runden Backen. »Mike ist in Ordnung. Darauf können Sie mein Wort nehmen, Mr. Kane.«
»So. Na, ich werde es mir überlegen«, meinte Kane, zahlte seine Zeche und verließ das Lokal. Auf der Straße war es rau und kalt. Nebelfetzen hingen um die Schornsteine und die grauvioletten Schieferdächer. Kane schlug den Mantelkragen hoch und schaute um sich. Im Januar kann man schließlich nichts Besseres erwarten, sagte er sich, und doch tauchte gleichzeitig in ihm der verlockende Gedanke auf, dass es herrlich sein müsste, jetzt Fahrkarten etwa nach Madeira in der Tasche zu haben - oder Tunis - oder vielleicht gar Kapstadt. Er zog die dicken, pelzgefütterten Handschuhe an und setzte sich langsam in Bewegung, während er sich insgeheim Vorwürfe darüber machte, Cibber ein halbes Versprechen gegeben zu haben; er zerbrach sich den Kopf, wie er sich wieder herauswinden könnte, ohne Cibber oder den Jungen zu verletzen.
Halbe Kinder konnte er jetzt am allerwenigsten brauchen, denn die Büroarbeit war nicht der Rede wert, und außerdem konnte er sich auch gar niemanden leisten. Ihm ging es wie allen anderen, er hatte gute Wochen und schlechte - vielleicht im Durchschnitt mehr schlechte als gute. Bis jetzt war es ihm immer noch gelungen, den Kopf über Wasser zu halten - aber eben nur mit knapper Mühe. Cibber hätte sich mit seinem Problem an jemanden wenden sollen, der Arbeitskräfte suchte - an jemanden wie Gilly zum Beispiel. So kehrten seine Gedanken zwangsläufig wieder zu Gilly zurück und zu der Frage, weshalb er ihm dieses Angebot gemacht hatte. Etwa, weil Whitworth zu ihm gekommen war und er daraus schloss, dass er, Kane, sozusagen in der Luft hing. Wenn man es von dieser Seite betrachtete, war Gillys Vorschlag leicht zu erklären, aber das tat Kane nun einmal nicht. Er betrachtete es nämlich, wie die meisten Dinge, von seinem ganz persönlichen Standpunkt aus.
Gilly und er waren keine großen Freunde, und trotzdem war Gilly ihm heute nicht von ungefähr über den Weg gelaufen. Der Zufall spielte oft eine bedeutende Rolle, niemand wusste das besser als Kane, aber dies war kein Zufall gewesen. Gilly hatte Antrades Lokal nur mit einer einzigen Absicht aufgesucht - mit der Absicht, ihn zu sprechen. Das Angebot klang echt. Er vermutete, dass Gilly sehr viel daran gelegen gewesen wäre, dass er angenommen hätte, trotzdem konnte er den eigentlichen Grund nicht begreifen. So herzlich standen sie nicht miteinander. Tausend Pfund waren ein schönes Stück Geld, und ein Auftrag dieser Art fiel einem nicht jeden Tag in den Schoß - nicht einmal, wenn man ein Charlie Gilly war. Und wenn, dann versuchte man ihn festzuhalten - man ging nicht damit hausieren.
Es begann kälter zu werden, und Kane spürte, dass sich strenger Frost ankündigte. Das bedeutete auch Nebel und alle seine unangenehmen Begleitumstände. Er überlegte, ob er nicht eventuell die Nacht über in seinem Büro kampieren sollte. Ein altes Feldbett war vorhanden, das er für alle Fälle im Schrank aufbewahrte und auch schon hin und wieder benutzt hatte, wenn die Arbeit drängte. Er ging die Straße entlang, bis ein Omnibus ihn überholte, setzte sich in Trab und erreichte gleichzeitig mit diesem die Haltestelle. Auf der oberen Plattform fand er einen Sitzplatz und zündete sich seine Pfeife an.
Seine Gedanken kreisten beharrlich um Gilly und dessen Angebot. Ein Tausender war eine Menge Geld, wiederholte er sich unausgesetzt. Was für ein Auftrag konnte das sein, der eine so große Summe abwarf? Gilly war nicht wählerisch, er nahm, was sich ihm bot. Ehescheidungen, Geschäftsauskünfte, Erpressungen, all das bedeutete Wasser auf Gillys Mühle. Zudem war er tüchtig in seinem Beruf und kümmerte sich selbst um jede Einzelheit. Wenn Gilly vor Gericht erschien, war alles aufs sorgfältigste ausgearbeitet, und niemals bestand auch nur der geringste Zweifel hinsichtlich eines Zeugen oder eines Beweisstückes. Alles klappte wie am Schnürchen.
Kane stieg am Ende der Proud Lane aus und legte die wenigen Schritte zu seinem Büro zurück, das sich in einem repräsentativen Geschäftsgebäude befand. Es gab nicht nur einen Portier, sondern sogar einen Lift. Allerdings musste man genügend Zeit mitbringen, um auf ihn zu warten, denn gewöhnlich, gerade wenn man es eilig hatte, war er entweder im Keller oder im Dachgeschoss. Kane benutzte daher grundsätzlich die Treppe. Er ging hinauf, betrat sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Durch einen schmalen Vorraum gelangte er in sein eigenes Zimmer. Er strich ein Zündholz an und hielt es an die Gasheizung, die sich an der Wand hinter seinem Schreibtisch befand. Es gab ein kleines, knallendes Geräusch, und schon nach wenigen Sekunden fing der Heizkörper über und über zu glühen an. Kane warf seinen Mantel ab, hängte ihn an den Haken hinter der Tür und stülpte seinen Hut obendrauf. Dann setzte er sich, breitete die Zeitung aus, die er mitgebracht hatte, und begann sie zu studieren. Manchmal entdeckte er bei dieser Lektüre sehr interessante Neuigkeiten, aber heute vermochte nichts seine Aufmerksamkeit besonders zu fesseln. Er las ungefähr zehn Minuten lang, ließ dann das Blatt in den Papierkorb fallen und legte sich in seinen Sessel zurück. Es war ein breiter, bequemer Sessel, mit roten Lederpolstern auf den Armlehnen, den er vor einem Jahr bei einer Auktion erworben hatte. Sicher kein typisches Büroeinrichtungsstück, dafür aber ganz seinem Geschmack entsprechend. Während er seine Pfeife stopfte, bereute er wieder, ein solcher Esel gewesen zu sein und nicht wenigstens Gilly ein paar Fragen gestellt zu haben. Über seinen Grübeleien war eine ganze Zeit verstrichen, als er plötzlich im Korridor Schritte vernahm. Gleich darauf klingelte es, dann öffnete und schloss sich die Tür. Kane beugte sich lauschend vor und murmelte erstaunt: »Wer, zum Teufel, kann denn das sein?«
Da näherten sich die Schritte schon seinem Zimmer, es klopfte leise, und er rieft »Herein!«
Die Tür ging auf, und herein kam tatsächlich jemand - nämlich das Mädchen, das er in Johnny Antrades Bar gesehen hatte.
Sie stand auf der Schwelle und blickte ihn an. Kane blieb einen Moment verblüfft sitzen, dann erhob er sich langsam. Erst als er sich vollends aufgerichtet hatte, sah er, dass sie ziemlich groß war - fast so groß wie er selbst - und dass sie keine blauen Augen hatte, wie er sich ursprünglich eingebildet hatte, sondern graue. Sie wirkte jetzt noch jünger, als er sie bei Antrade geschätzt hatte, und bot ohne Zweifel einen höchst erfreulichen Anblick, weshalb er die Gelegenheit wahrnahm und sie wohlgefällig betrachtete. Auch das Mädchen musterte ihn aufmerksam. Sie sah einen kaum mehr als mittelgroßen Mann, dessen dunkles Haar sich bereits zu lichten begann, mit ernsten Zügen, breiten Schultern und etwas zur Fülle neigendem Oberkörper vor sich. Der vertrauenserweckende und zuverlässige Eindruck, den er gleich zu Anfang bei Johnny Antrade auf sie gemacht hatte, verstärkte sich noch.
»Guten Tag«, sagte Kane. »Bitte, kommen Sie nur herein.«
Sie trat näher. »Sind Sie Mr. Kane?«
»Der bin ich«, antwortete er. »Und Sie?«
»Ich heiße Jean Knight.«
»Mrs. oder Miss?«
»Ich bin Mrs. Knight.« Sie warf einen Blick zu dem Stuhl, der am Fenster stand. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?«
»Aber nein«, versicherte Kane eilig. »Ich bitte Sie sogar darum.« Er deutete auf den großen Ledersessel. »Nehmen Sie diesen hier, er ist bequemer.« Er beobachtete ihre graziösen Bewegungen, mit denen sie sich niederließ, die Handschuhe auszog und die Tasche öffnete, die sie auf dem Schoß hielt. Sie brachte ein flaches silbernes Etui daraus zum Vorschein und entnahm ihm eine Zigarette. Kane zündete ein Streichholz an.
»Dankeschön«, sagte sie.
Kane holte sich den Stuhl vom Fenster und rückte ihn näher zur Gasheizung. »Nun«, begann er, »nachdem wir uns einigermaßen häuslich eingerichtet haben, darf ich Sie fragen, was Sie von mir wünschen?«
»Ich möchte Sie um Ihre Hilfe bitten«, erwiderte sie.
Kane sah sie unter halbgeschlossenen Lidern hervor an. »Also haben Sie mich bei Antrade erst einmal in Augenschein genommen?«
»Ja, ich ging nur hin, um Sie zu sehen, weil ich hörte, dass Sie dort immer anzutreffen seien.«
»Wer erzählte Ihnen das?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte es Ihnen nicht sagen, Mr. Kane, wenigstens jetzt noch nicht. Aber es hieß, Sie äßen stets bei Antrade, und deswegen besuchte ich das Lokal, denn ich konnte mir kein Urteil über Sie bilden, ohne einen persönlichen Eindruck gehabt zu haben.«
»So, und nachdem Sie nun einen Eindruck haben, was gedenken Sie jetzt zu tun?«
»Ich wollte Sie bitten, mir zu helfen.«
Kane zog einen Moment schweigend an seiner Pfeife, dann fragte er: »Warum gerade mich?«
»Weil ich hörte, dass Sie anständig und reell sind und zu einem Auftrag stehen, den Sie einmal angenommen haben. Ich brauche einen Menschen wie Sie.«
Kane legte den Kopf auf die Seite wie ein neugieriger Vogel. »Verzeihen Sie, Mrs. Knight, aber wir wollen doch von Anfang an die Dinge klarstellen. Sie befinden sich in Schwierigkeiten und möchten, dass ich Ihnen helfe, sie zu überwinden. Ich sehe Sie in meinem Stammlokal sitzen, und Sie geben zu, mich dort begutachtet zu haben. Bitte, wenn es Ihnen Spaß macht, ich kann es ertragen. Aber wenn Sie zu mir kommen und mich um meinen Beistand ersuchen, dann muss ich alles erfahren, was nötig ist. Zum ersten also: Durch wen sind Sie an mich empfohlen worden? Ich frage Sie, und schon weichen Sie mir aus.«
»Ich habe meine Gründe«, antwortete sie.
»Vielleicht habe ich die ebenfalls«, versetzte Kane.
Sie drehte den Griff ihrer Handtasche zwischen den Fingern. »Gut, ich will es Ihnen erzählen. Es hat auch weiter gar nichts auf sich, nur dass ich sozusagen ein Gespräch belauscht habe. Ich war vorgestern Abend im Cravendale-Club - da unterhielten sich zwei Herren über Sie, und sie saßen unmittelbar vor mir, so dass ich ihnen unwillkürlich zuhören musste. Einer von den beiden hatte sich offenbar einmal an Sie gewandt, denn er sagte, er sei in einer ziemlich verzweifelten Situation gewesen - und Ihnen sei es damals gelungen, ihm aus der Klemme zu helfen. Da ich mich nun selbst in einer, ähnlichen Lage befinde, blieb ich sitzen und verfolgte die Unterhaltung.«
»Wie sah derjenige aus, der das alles erzählte?«
»Er war ungefähr in Ihrem Alter«, erwiderte sie. »Etwas bleich, mit blondem Haar und einem kleinen Schnurrbart.« Sie überlegte einen Moment. »Seine Sprache klang, als ob er aus dem Norden stammte, er hatte einen Goldzahn und eine kleine, dunkle Narbe am Mund. Das ist alles, worauf ich mich jetzt besinnen kann.«
»In Ordnung«, nickte Kane. Der Mann, den sie beschrieb, war John Fielding gewesen, und ihn hatte er allerdings aus einer Menge Unannehmlichkeiten gerettet. Fielding war ein Mensch, dem er leicht zutraute, dass er versuchte, ihm einen kleinen Gegendienst zu erweisen, indem er in aller Öffentlichkeit seine Vorzüge pries.
»Und wie kam die Sprache auf Antrades Restaurant?«, fragte Kane weiter.
Jean Knight lächelte. »Davon war überhaupt nicht die Rede. Ich suchte mir Ihren Namen selbst aus dem Telefonbuch heraus und kam heute Morgen hierher. Das erste Mal war ich um zehn Uhr hier und dann noch einmal um zwölf. Ich erkundigte mich beim Portier nach Ihnen, und er gab mir den Tip mit Antrade. Er sagte, Sie äßen ständig dort zu Mittag, und wenn ich mich an Antrade selbst wendete, würde er mir sicher einen Hinweis geben. Ich nahm mir ein Taxi und war bereits da, bevor Sie kamen.«
»Aber Sie fragten Antrade nicht?«
»Nein, ich wollte Sie erst selbst sehen. Sie hätten mir doch unsympathisch sein können.«
»Und in dem Fall - kein Auftrag?«
»Nein«, antwortete sie.
Kane sah ihr forschend in die Augen, ein kleiner Trick, der ihm im Allgemeinen verriet, ob jemand die Wahrheit sprach. Vielleicht - nicht immer, aber im Durchschnitt erwies er sich als zuverlässig. Und diesmal glaubte er sich nicht zu täuschen. Aber sie fürchtete sich vor etwas. Ihre Angst stand deutlich darin geschrieben.
»Danke, das genügt mir, Mrs. Knight«, sagte er schließlich. »Sie wundern sich wohl, weshalb ich Sie so examiniere. Der Hauptgrund dafür mag sein, dass ich ein bisschen pedantisch bin. Wenn ich einen Auftrag annehme, dann bemühe ich mich auch, ihn zum guten Ende zu führen. Dazu aber muss ich das Gefühl haben, dass ich mich unbedingt auf den Klienten, für den ich arbeite, verlassen kann - das heißt, ich muss auch die Hintergründe kennen und alles, was damit zusammenhängt. Keine Vorbehalte oder Verschleierungen - oder dass Sie plötzlich kalte Füße bekommen und auf halbem Wege wieder aussteigen wollen.«
Sie sah ihn lange und offen an. »Nichts dergleichen liegt in meiner Absicht«, erwiderte sie dann. »Ich will Ihnen alles erzählen, was ich kann, und jede Unterstützung geben, soweit es mir möglich ist. Aber sogar unter diesen Voraussetzungen wird es nicht leicht sein.« Ihre Finger krampften sich um den Bügel ihrer Handtasche, und Kane sah die Knöchel weiß hervortreten.
»Gut«, sagte er. »Das ist alles, was ich erwarte.«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete sie. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte, und es wurde ihr offensichtlich nicht leicht, die richtigen Worte zu wählen. Endlich begann sie: »Es handelt sich eigentlich um meine Schwester.«
Kane schaute sie verblüfft an. »Weswegen Sie hier sind? Warum kommt sie nicht selbst?«
»Das würde sie nie tun.« Sie drückte hastig ihre Zigarette aus und griff sofort nach einer neuen. »Sie haben sicher schon von uns gehört«, fuhr sie fort. »Von unserer Familie, meine ich. Wir sind Bierbrauer. Mein Großvater gründete vor langer Zeit das Unternehmen und erwarb dabei ein Vermögen - vielleicht kein Riesenvermögen, aber als mein Vater starb, blieb für jeden von uns, nachdem alles abgewickelt war, immerhin eine Viertelmillion. Das war vor zwei Jahren.«
»Nur weiter«, ermunterte Kane.
Jean Knight wirkte plötzlich müde und erschöpft. »Ja, und damit fing das Unglück an. Myra und ich waren früher unzertrennlich, aber nachdem sie in den Genuss ihres Erbteils gekommen war, änderte sich das alles.«
»Wieso?«
Das Mädchen streifte ihn mit einem kurzen Blick und sah dann an ihm vorbei. »Myra ist zwei Jahre jünger als ich - gerade vierundzwanzig -, und sie war erst einundzwanzig, als Papa starb. Seither macht sie sich auf jede nur denkbare Weise lächerlich, und jetzt sitzt sie in einem so scheußlichen Dilemma, wie man es sich kaum vorstellen kann.«
Kane rauchte nachdenklich. Er äußerte sich zunächst gar nicht dazu, und sie saßen sich eine Weile gegenüber und schauten sich an. Endlich nahm er die Pfeife aus dem Mund.