DAS GEDANKENNETZ - Herbert W. Franke - E-Book

DAS GEDANKENNETZ E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

»Und dann kamen sie auf ihn zu, die Rauch- und Nebelgestalten, die wirbelnden Schleierfetzen, die Dunstfahnen, die Staubarme, das Wogen und Wiegen tanzender Gase, die Schatten von Regenbögen, manchmal umfingen sie ihn dicht, manchmal zogen sie sich vor ihm zurück und zeigten ihre Abgründe, die sich unter die schartig aufgeblätterte Gesteinsdecke des Planeten fortsetzten und im Gebräu kochender Lava endeten.« Eine Formation von Raumschiffen fliegt wie ein Vogelschwarm durch den Weltraum. Die Wissenschaftler, die sich an Bord eines dieser Schiffe befinden, versuchen mit ihrem Computer, die Intelligenz unbekannter Wesen eines fremden Planeten zu prüfen. Aber das Experiment wirkt sich verhängnisvoll aus. Die Vergangenheit wird lebendig, und die fremden Wesen ergreifen die Initiative – sie zwingen die Besatzung, das Raumschiff zu verlassen. Diese dramatische Ausgangssituation bildet den Rahmen für eine abenteuerliche, zum Nachdenken anregende Geschichte, in der einige Menschen einen verzweifelten Kampf gegen die psychotechnischen Eingriffe einer alles nivellierenden Staatsmacht führen. »Das Gedankennetz« ist jener Roman Frankes, mit dem alles begann – der erste einer Reihe bemerkenswerter Science-Fiction-Romane, in denen Franke auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen Illusion und Wirklichkeit, Simulation und wahre Realität, manipulativen Eingriff und echtes Erleben fast unentwirrbar vermischt, um der alten Auffassung vom Leben als Prüfung neuen Sinn zu geben. Grundlegende Fragen – wie: Was ist Wahrheit? Was ist Realität? – beantwortet der Autor in beklemmend stimmigen Denkspielen.

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Herbert W. Franke

DAS GEDANKENNETZ

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 2

hrsg. von Hans Esselborn & und Susanne Päch

Herbert W. Franke

DAS GEDANKENNETZ

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 2

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 1961, im Wilhelm Goldmann Verlag erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN978 3 911629 01 0

1 – Erwachen

Das Radiofon schlug an. Vries hatte darauf gewartet und ließ die Leertaste sofort hinunter schnellen.

»Wir haben etwas«, schnarrte es aus dem Lautsprecher.

»Wo?«, fragte Vries.

»Das Leitfeld ist eingestellt.«

»Wir kommen«, sagte Vries und winkte seinem Assistenten.

Sie traten auf den Gang hinaus und folgten seiner sanften Krümmung bis zur nächsten Hohlstrebe des Ringschiffes. Ein Lift hob sie gegen die Fliehkraft zur schwerelosen Achse empor und schob sie in das Boot. Sie setzten sich, Vries vorn und Ebb dahinter. Die Türöffnung schloss sich – es glich dem Zubeißen zweier Kiefer, als sich die von oben und die von unten kommenden Schiebeflächen berührten.

Wie ein Torpedo löste sich das Lanzett des Bootes aus dem Hohlzylinder des Schiffszentrums. Es flog geradewegs in der Verlängerung der Radachse aus dem Verband hinaus, dann wurde es vom Leitfeld erfasst. Langsam drehte es sich auf den Planeten zu – einen silbernen Ball in der Leere des Raums.

»Ob sie ein intelligentes Wesen gefunden haben?«, fragte Ebb.

»Kaum anzunehmen«, antwortete Vries.

Der Kader der Raumschiffe zog wie ein Vogelschwarm über sie hinweg, bald kamen sie aus dem Flackern von wechselndem Licht und Schatten hinaus und badeten im Schein der fremden weißen Sonne wie die fünfhundertzwölf schillernden Punkte, die das regelmäßige Raumgitter eines Rhomboeders bildeten. Fünfhundertzwölf Schiffe, acht Schichten von je vierundsechzig Schiffen, in der regelmäßigen Anordnung eines Kristalls. Alle Ringachsen standen parallel, das zwischen den Streben gespannte Geflecht der Ionisierungsbatterien war der Sonne zugewandt, um möglichst viel der Leben spendenden Energie einzusaugen. Jede untere Schicht von Schiffen war ein wenig gegen die obere verschoben, damit alle an dem Strahlensegen teilhaben konnten.

Das Boot näherte sich in einer locker gewundenen Spirale rasch dem Planeten. Vries war schon auf vielen Himmelskörpern gelandet, auf mindestens zwei Dutzend als selbstständiger Leiter der Anthropologischen Station, aber immer wieder empfand er das Fluidum des Unbekannten beglückend und anfeuernd. Aufmerksam spähte er durch das Frontfenster.

Der Anblick war grandios. Rings um das Boot hingen weiße Fäden aus kondensiertem Wasserstoff, der in Form von flüssigem Plasma die Patronen füllte, bevor er als Gas aus den Düsen schoss – Fäden, die den angesteuerten Planeten an die Schiffe zu knüpfen schienen. Sie stammten von Erkundungsbooten, die kurz vor ihnen gestartet waren.

»Eigenartig«, sagte Ebb. »Ist schon bekannt, wie es zu diesem Aussehen kam?«

Der Anblick, den der Planet bot, war tatsächlich höchst eigenartig. Ein Großteil seiner Oberfläche war von Wasser überzogen, es gab aber auch Kontinente mit lang gestreckten Faltengebirgen, und alle Kontinente waren eintönig grau – bis auf eine Ausnahme, eine grüne Insel, die wie ein Auge zu ihnen herauf sah. Felder von Wolken lagen wie Watteflocken auf der Kugel verstreut.

Fasziniert blickte Vries in das grüne Auge hinein. »Eine Trillion Tonnen Wasser«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Assistenten. »Bis auf die Zwillingsplaneten im Schwan haben wir noch nirgends soviel Wasser gefunden.« Er drehte sich kurz zu Ebb um. »Das Rätsel war nicht schwer zu lösen. Der Planet besaß früher zwei Eiskappen auf den Polen, und bis auf diese Polgebiete waren seine Kontinente mit riesigen, ununterbrochenen Städten überzogen. Sie sind heute längst zerfallen. Inzwischen ist die Drehachse gewandert, das unbebaute Polgebiet kam in eine äquatornahe Zone – so kam der pflanzenbewachsene Fleck zustande. Die Polkappen sind von hier aus nicht zu sehen, doch die nördliche wird gleich ins Blickfeld kommen.«

Sie waren inzwischen so tief gesunken, dass der Planet schon fast die ganze untere Hälfte desGesichtsfeldes einnahm. Der Schatten schnitt ihn in zwei annähernd gleich große Teile, die Gebirge an der Randzone warfen lange, spitze Schatten, und nun blitzte und gleißte es am Horizont, ein hell schimmernder Kreis wanderte majestätisch um den Rand der Planetenkugel.

Nach einer halben Stunde setzten sie zur Landung an. Die Kondensationsfäden waren längst abgerissen, die graue Staubfläche eines Kontinents dehnte sich endlos und öd unter ihnen. Das Leitfeld zog sie zu einer künstlich eingeebneten Fläche, auf der sie zwanzig bis dreißig vor ihnen gelandete Boote erkennen konnten.

Vries schob den Sitz in die Versenkung, um sich Spielraum zu schaffen, und begann das mühsame Geschäft, den Raumanzug überzuziehen. Ebb folgte ächzend seinem Beispiel. Obwohl er der Jüngere war, waren ihm körperliche Anstrengungen ein Gräuel.

»Gottlob, dass wenigstens die Gravitation geringer ist als die unsere.«

Sie setzten gut auf, ließen die Türflächen auseinandergleiten und stiegen aus. Drei Männer kamen auf sie zu.

»Was habt ihr gefunden?«, fragte Vries.

»Schau dir’s an!«, tönte es aus seinen beiden Lautsprechern. Jedes von ihnen war mit einer eigenen Antenne verbunden, eine Verzögerungsschaltung sorgte dafür, dass zwischen dem Anklingen der Lautsprecher millionenfach soviel Zeit verstrich wie zwischen dem Eintreffen der elektromagnetischen Signale in den Antennen. Auf diese Weise wurde normales stereofonisches Hören erreicht. Die Stimme kam von links. Vries kannte sie – sie gehörte Koute, der den naturwissenschaftlichen Aufbereitungstrupp führte.

»Ich weiß nicht, ob ihr was damit anfangen könnt«, fuhr Koute fort. »Es scheint sich um präparierte Gliedmaßen der Organismen zu handeln.«

»Lebend präpariert?«, fragte Ebb interessiert.

»Soviel ich beurteilen kann: tot.«

Grauer Staub stieg in zwei klumpigen Wolken um sie empor. Koute wandte sich zu einer Einstiegsröhre, mit der ein frisch gebohrter Schacht abgesichert war. Er stelzte über den Rand und kletterte die Leiter hinab. Vries folgte ihm mit raschen geschickten Bewegungen. Ebb stieg brummend hinterher.

Die Innenwand der Röhre war mit Luminescal präpariert, das einen angenehmen grünen Schein verbreitete. Der Schacht mündete in einen Gang.

»Nur wenig Gebäude sind intakt geblieben«, sagte Koute. »Der größte Teil der Stadt ist zu Staub zerfallen. Über unseren Köpfen ist eine dreißig Meter dicke Schicht mehliger Überreste.«

Ebb schaute sich misstrauisch um. An den Wänden des Ganges schillerte eine Reihe hellgrüner Flecken – der Vortrupp hatte für Licht gesorgt, aber der leuchtende Stoff konnte das Dunkel nicht ganz vertreiben.

»Vielleicht haben sich hier noch einige am Leben erhalten«, mutmaßte Ebb.

Koute wandte sich in den Gang hinein. »Wir haben keine Spur gefunden«, erwiderte er. »Die Staubschicht war überall unberührt.«

Tatsächlich lag auch hier ein Hauch von Staub wie Spinngewebe über allen Dingen.

Sie folgten dem lichtmarkierten Weg, wanderten durch den Gang, einige Treppen hinunter und wieder einen Gang entlang.

Vries gab sich dem Gefühl der Erwartung hin, in Ebb aber gewann das Missbehagen die Oberhand. In der Dämmerung erschien alles unbestimmt und schreckhaft verzerrt, die dicke drucksichere Hülle des Anzugs ließ den Schall von draußen kaum eindringen, nur die Geräusche seiner eigenen Schritte verstärkten sich zu unangenehmem Knirschen und Poltern. Ebb hasste diesen Anzug – er hing zäh an den Gliedern, erschwerte das Atmen und legte sich als Hindernis für jedes sinnenhafte Wahrnehmen zwischen ihn und die Außenwelt. Böse starrte er in die zahllosen schwarzen Mündungen von Gangabzweigungen und Fenstern. Jeden Augenblick erwartete er, ein abstoßendes Geschöpf auftauchen zu sehen.

Um wenigstens den wohltuenden Kontakt mit seinen Kameraden aufrechtzuerhalten, stellte er eine Frage: »Wie alt sind diese Häuser?«

»Wir haben die Radiokohlenstoffaktivität einer Kalkmörtelschicht gemessen«, antwortete Koute. »Sie ist unmessbar klein. Die Häuser müssen also älter als zwei Millionen Jahre sein – das ist heute die Grenze der Messbarkeit.«

»Nach den geologischen Anzeichen, der Wanderung des Pols und so weiter, müssen sie noch erheblich älter sein«, meinte Vries.

Erst als Ebb allmählich zu verzweifeln begann, betrat Koute wieder einen Gang und führte sie in eine lang gestreckte Halle. Es schien eine Art Labor zu sein, rechts und links an der Wand waren Kojen abgeteilt, die offenbar als Arbeitsplätze anzusehen waren – es gab Sitzgelegenheiten und Tische, Fächer und Regale, Instrumente, deren Zweck teilweise sogar zu erraten war – zum Beispiel eine Vorrichtung, um dünne Schnitte auszuführen, eine Apparatur, die einer Heizplatte ähnlich sah, Mikroskope … Ebb zog eines zu sich heran und versuchte, so gut das trotz seines Helmes ging, hindurchzusehen. Mit einem enttäuschten Laut schob er es beiseite.

»Sie hatten andere Augen als wir«, erklärte Vries.

»Wo sind die Präparate?«, fragte Ebb.

Koute trat an ein Regal und öffnete die Flügeltür. »Das waren die einzigen Dinge organischen Ursprungs, die wir gefunden haben.«

In vier Fächern standen je fünf Gefäße. Sie waren mit einer rotbraunen Flüssigkeit gefüllt, darin schwammen weißgelbe Massen, wulstreiche kappenartige Gebilde, die plötzlich, von irgendeinem unmerklichen Stoß angeregt, zu gespenstischem Leben erwachten, schaukelten, pulsierten, aufstiegen und absanken.

»Sind sie schon chemisch analysiert?«, fragte Vries.

»Sie enthalten vor allem Kohlenstoff und Wasserstoff, weiter Sauerstoff, Stickstoff, etwas Phosphor und geringe Mengen anderer Elemente.«

»Wir sehen uns hier ein wenig um«, entschied Vries. »Wie lange haben wir noch Zeit?«

Koute stellte auf Chronometerdurchsage um: »… dreißig, siebzehn einunddreißig, siebzehn zweiunddreißig …«

»Um zweiundzwanzig Uhr starten wir«, sagte Koute. »Wir haben ergiebige Lager von Erdalkaliverbindungen gefunden, und Wasser ist hier überhaupt kein Problem. Die Landekommandos sind bald fertig. Ich gehe inzwischen zurück.«

»Was hältst du davon?«, fragte Ebb.

»Vielleicht sind es Meerestiere – Schwämme oder Quallen.« Vries hatte ein Gefäß aus dem Fach gehoben und betrachtete das schwankende, lockere Gebilde.

»Oder sollte es das herauspräparierte Organ eines jener Wesen sein, die diese Häuser bauten?«, bohrte Ebb weiter.

Das Gefäß war mit einem Deckel aus durchsichtigem, biegsamem Material verschlossen, ein Metallring presste ihn luftdicht an den Rand der weiten, quadratischen Öffnung. Vries löste eine Spange und hob ihn vorsichtig auf. Seiner Brusttasche entnahm er einen flachen Löffel und eine Pinzette, tauchte sie langsam in die Flüssigkeit, bis sie die Präparate berührte, und tastete über die Oberfläche hinweg. Manchmal übte er einen leisen Druck aus, um die Konsistenz zu prüfen, war aber stets auf der Hut, die nachgiebige Masse nicht zu beschädigen.

Plötzlich stutzte er. Mit der Pinzette setzte er an einer Stelle an, mit dem Löffel an der anderen, er kratzte und zerrte ein wenig … Da klaffte eine schmale Öffnung mit glatten Rändern, ein haardünner, schnurgerader Spalt. – »Eine Mundöffnung?« fragte Ebb.

»Nein«, antwortete Vries, »nichts Natürliches … ein Schnitt … von einem scharfen Instrument …«

»Vielleicht wurde das Wesen durch einen Eingriff getötet?«

Vries musste Ebbs Vermutung erst verdauen. Er blickte kurz auf und senkte dann den Kopf wieder zu seinen Händen, zu dem kubischen Gefäß, zu den fremdartigen, zitternden Dingen, die aussahen, als atmeten sie.

»Getötet? Vielleicht. Vielleicht auch geheilt. Wer weiß.«

»Wir werden das zerschnittene Gewebe vereinigen müssen – wenn wir es reaktivieren wollen.«

»Ja. Gewiss«, murmelte Vries. Noch immer befand sich sein helmbewehrter Kopf dicht vor dem Behälter, und es schienen die kreisförmigen Sichtscheiben der Maske selbst zu sein, die auf die schwammige Masse hinunterstarrten.

»Es erinnert mich an etwas, was ich einmal auf Ramses sieben sah«, ertönten dann die Lautsprecher an Ebbs Ohren. »Ich glaube, wir haben Glück, und sie stammen wirklich von den intelligenten Bewohnern dieser Welt – es sind präparierte Gehirne.«

Der Kader schwang sich hinaus in den Raum, als sei er ein einheitlicher, fester Körper. Die Stabilisierungsfelder hielten jeden Ring in festem Abstand zu den anderen, alle kreisten langsam, um in den Wohn- und Arbeitsräumen die gewohnte Schwerkraft vorzutäuschen, alle waren der Sonne zugewandt, bis diese in den Schwarm der hunderttausend Lichtpünktchen zurücksank – ein Stern unter Sternen –, und selbst dann noch behielten sie ihre Richtung bei, bis eine andere Sonne zu einer feurigen Scheibe anwuchs, bis sie in den Gürtel der hochfrequenten Ausstrahlungen eindrangen, und dann drehten sie sich wie wiegende Kreisel herum und stellten sich der neuen Energiequelle entgegen. Aber das dauerte oft Wochen, oft auch Monate und Jahre.

Vries hatte inzwischen die Unterlagen der anderen wissenschaftlichen Abteilungen bekommen, aber sie gaben ihm nur wenig Aufschluss. Leider war es noch nicht gelungen, die Zeichen zu enträtseln, die die winzigen Filmblättchen enthielten. Auch die flüchtige Untersuchung der naturwissenschaftlichen Kommandos hatte nichts für ihn Wichtiges ergeben. In der verfallenen Stadt gab es kein Anzeichen von Leben. Der grüne Kontinent dagegen wies üppigen Pflanzenwuchs auf, auch eine ganze Sammlung von Tieren wurde zum Studium mitgenommen, aber die wenigen Säugetierarten waren primitiv, und von Insekten gab es nur kleine, mit festen Panzern versehene Formen.

Vries setzte alle Hoffnung in die Gehirnpräparate. Er hatte drei mitgebracht, eines verwendete er zur Analyse, zwei bewahrte er für einen Reaktivierungsversuch auf.

Die mikroskopische Analyse hatte ergeben, dass die eigenartigen Schnitte viele feinste Stränge aus Eiweißsubstanzen trennten. Ebb hatte sie in mühevoller Kleinarbeit alle wieder miteinander verbunden.

Nachdem sie alles getan hatten, um einen Erfolg wahrscheinlich zu machen, suchte Vries im Befehlsstand seines Schiffs darum an, die elektronische Zentralanlage verwenden zu dürfen. Das wurde ihm gewährt.

Vries hatte seine Vorbereitungen in aller Stille getroffen, und doch hatte sich seine Absicht herumgesprochen. Vor der Tür seines Labors drängten sich die Neugierigen – sie störten ihn wenig, denn er brauchte sie nicht hereinzulassen; jedoch konnte er nichts dagegen tun, als der Kommodore und der Sicherheitsoffizier an dem Experiment teilzunehmen wünschten.

»Bevor du beginnst –«, sagte Orch, der Chef der Sicherungs- und Kampftruppen, »besteht keine Gefahr für unsere Gemeinschaft?«

Rety, der Befehlshaber des Schiffes, nickte. »Eine sehr berechtigte Frage!«

Vries stand vor dem Resonanzstrahler. Er hantierte nervös an der Koordinationseinrichtung des Abtasters. Er ärgerte sich über diese unerwünschte Verzögerung.

»Die Städtekultur, die wir vorgefunden haben, besaß kein hohes Niveau. Sie war ziemlich am Anfang ihrer Entwicklung in einem völlig durchorganisierten Stadium stecken geblieben. Eine solche Kultur bringt keine hohen Intelligenzen hervor. Und auch die naturwissenschaftlich-technischen Kenntnisse dieser Leute waren gering. Was sollte also für eine Gefahr bestehen?«

»Du erinnerst dich doch an den Kurzschluss im Crabnebel?«, fragte Orch mit einem hämischen Unterton.

Das musste ja kommen, dachte Vries wütend.

Laut sagte er: »Der Kurzschluss im Elektronenhirn kam nicht durch hohe Intelligenz, sondern durch Inferiorität zustande. Wir erwischten ein wahnsinniges Individuum. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich dieses Pech wiederholt, ist unvorstellbar gering.«

Orch wollte widersprechen, doch Rety winkte ab.

»Wozu dient das Experiment, wenn wir weder kulturelle noch technische Information erwarten dürfen?«

»Der Frage nach dem Ursprung der intelligenten Rassen im Weltraum«, sagte Vries. »Soll ich beginnen?«

»… eine Frage von höchst praktischer Bedeutung«, sagte Orch ironisch.

Der Kommandant trat zurück und setzte sich. »Fang an!«

Vries überzeugte sich, dass die Optik richtig justiert war, dann schaltete er ein. Die Röhren begannen leise zu summen, wenn man genau hinsah, konnte man den Rahmen, der den Wachsblock mit dem Präparat umschloss, im Schneckentempo vorwärtswandern sehen. Das war alles.

»Hm«, machte Rety, »was geschieht jetzt?«

Vries seufzte.

»Die Gedächtnisstruktur ist ein Netz blasser, weißer Fasern, den Nervenfäden, das an einigen nach außen führenden dicken Strängen entspringt und sich im Innern in zahlreiche winzige Fäden teilt. Diese Leitungen bestehen aus phosphorhaltigen Eiweißketten. Die Übertragung der Reize von Molekül zu Molekül erfolgt durch Wasserstoffbrücken. An jedem Leitvorgang sind etwa tausend Moleküle gleichzeitig und in gleicher Weise beteiligt – offenbar, um unberechenbare Quanteneinflüsse auszuschalten …«

Rety brummte wieder.

»Lässt sich das nicht ein wenig einfacher – ich meine, etwas anschaulicher …«

Vries begann, sich in sein Schicksal zu ergeben. Er warf einen Blick auf Ebb und konstatierte befriedigt, dass sich dieser nicht stören ließ, die über die Skalen tanzenden Zeiger aufmerksam zu beobachten, da und dort einen Hebel verstellte und manchmal Zahlen auf seinen Block schrieb.

»Eine automatische Telefonzentrale, Meldungen, die ankommen, Verbindungen, die hergestellt werden, Meldungen, die abgehen, und ein Gedächtnisspeicher für alle Routinefragen – das ist ein Gehirn. Was es leisten kann, hängt von seinem Schaltplan ab, was es wissen kann, von der Kapazität seines Speichers.

Der Resonanzabtaster verrät uns den Schaltplan. Er gibt seine Ergebnisse an das Elektronengehirn weiter und aktiviert dort ein System von Stromwegen, das sozusagen eine Abbildung desNervennetzes ist.«

»So bekommst du also den Mechanismus«, sagte Rety. »Und wie erhältst du den Erinnerungsschatz?«

Vries ließ Ebb nicht aus den Augen. Eben schob dieser den zweiten Behälter unter den Rahmen.

»Jede Erinnerung ist durch ein Muster festgehalten – ein Muster aus angeregten Molekülen. Den Grad dieser Anregung stellt der Abtaster fest und überträgt so das Muster in den Speicher unseres elektronischen Automaten. Dazwischen ist ein Verstärker geschaltet, da die Intensität der angeregten Schwingungen im Lauf der Zeit abklingt.«

»Wozu brauchst du dann die Schaltung? Genügt nicht das Gedächtnismuster?«

»Es lässt sich von der Schaltanordnung nicht trennen«, antwortete Vries müde.

Sie schwiegen eine Weile. Endlich konnte Vries an seine Apparate treten. Es gab nicht viel zu tun. Der Rahmen durchmaß das Gehirnvolumen von Elementarlänge zu Elementarlänge.

»Hatten diese Leute auch elektronische Automaten?«, fragte Orch und wies auf die beiden gelben Massen in den Behältern.

»Transistorgeräte«, antwortete Vries. »Kristallgitterleitung kannten sie noch nicht.«

Nach zehn Minuten glitt auch das zweite Gefäß aus dem Rahmen heraus. Als seien die beiden der Vergangenheit entrissenen Organe mit einem Mal uninteressant geworden, wandten sich die vier Personen wie auf einen Befehl zur elektronischen Anlage, in deren unterkühlten Eiskristallblöcken nun fremdes Denken und Wissen schlummerte.

»Jetzt können wir wohl Fragen stellen«, meinte Orch.

»Jetzt kommt erst der schwierigste Teil unseres Versuchs«, sagte Vries. »Wir müssen die Zuleitungen unter Strom setzen.«

Er trat zum Armaturenbrett, drückte Hebel nieder, schraubte an Drehknöpfen und beobachtete dabei ein Mikroamperemeter. Auf jedes Ausschlagen der Zeiger reagierte er fast unverzüglich, es sah aus, als führte er unverständliche Befehle aus. Er beantwortete keine Frage mehr.

»Was geschieht jetzt?«, fragte Orch ungeduldig.

»Normalerweise reagiert ein Gehirn auf äußere Reize«, sagte Ebb mit gedämpfter Stimme, als habe er Ehrfurcht vor einer sakralen Handlung. »Sie kommen als Energiefluss durch die Zuleitungen. Je nachdem, um welche Zuleitung es sich handelt, empfindet der Organismus Licht, Schall, Geruch und so weiter. Leider wissen wir nicht, zu welchen Sinneswerkzeugen die Zuleitungen führen, wir wissen nicht einmal, welche davon nicht dem Empfang, sondern dem Aussenden dienen. Das muss nun ausgetestet werden.« Er wies auf die Instrumententafel. »Jedes Mikroamperemeter verfolgt die Stromstärke einer der Zu- oder Ableitungen.«

Vries hantierte noch immer an den Schaltern.

»Es muss doch an den leeren Leitungen liegen«, murmelte er.

»Was meint er?«, fragte Rety.

»Wir haben festgestellt, dass einige der Nerven in Büscheln von Eiweißmolekülen blind enden – weder gibt es eine Weiterleitung, noch kommen Nervensträhnen so nahe, dass sie diese Enden beeinflussen können – und doch führen sie in die Gehirnmasse hinein, als ob es sich um einflussreiche Sinneszuleitungen handle.«

»Na, und?«, fragte Orch.

»Das sind die einzigen Schaltelemente, wofür wir in unserem Elektronengehirn nichts Entsprechendes besitzen. Wir haben sie einfach fortgelassen – wir wussten nicht, ob sie wichtig sind. Anscheinend sind sie es doch.«

»Was haben sie für eine Bedeutung?«

»Es sieht so aus, als sollten sie einen irrationalen Faktor in das System bringen, etwas Nichtkausales, Unbestimmtes, Unvorhergesehenes – sozusagen eine Portion Zufall.«

»Könnt ihr so etwas nicht einbauen?«

»Wir haben eine Serie solcher Schaltungen vorbereitet, es sind Szintillationszähler, die auf die Höhenstrahlung ansprechen. Die Impulse fallen in einer völlig zufälligen Aufeinanderfolge ein. Diese Zähler treten an die Stelle der Molekülbüschel. Über Verstärker werden sie an das Hauptsystem angeschlossen – genauso, wie wir das in den Präparaten vorgefunden haben.«

»Na, zum Donnerwetter«, rief Orch, »dann schaltet doch diese Dinger endlich an!«

Vries hatte dem letzten Teil des Gesprächs gelauscht, es sah aus, als wollte er etwas erklären, aber auf die ungeduldige Aufforderung Orchs hin wechselte er einen Blick mit seinem Assistenten. Wir tun es, hieß dieser Blick, und wenn sich daraufhin die Hölle auftut – wir tun es.

Ebb trug ein Chassis an den Automaten heran, hob einen Teil der Wandverkleidung hoch und setzte die Apparatur auf einem Sockel ab. Dann beschäftigte er sich einige Minuten damit, einen der heraushängenden Drähte nach dem andern an hierfür vorgesehenen Klemmschrauben zu befestigen. Noch bevor er den Deckel wieder an die Wand der Maschine gelegt hatte, begann der Lochstreifen zu laufen.

Alle vier griffen danach, aber Vries erwischte ihn zuerst. Er ließ ihn so durch die Hand gleiten, dass alle lesen konnten: ›WAS WOLLT IHR VON MIR?‹

Rety fasste sich zuerst. »War das so beabsichtigt?«

»Normalerweise stellen wir die Fragen«, sagte Vries.

»Das ist ein verflucht gefährliches Experiment«, sagte Orch. »Ich werde mich darum kümmern, dass Derartiges künftig unterbleibt. Ich bin dafür, dass wir sofort abschalten.«

»Gebt Antwort«, befahl Rety, zu Vries und Ebb gewandt. Ebb setzte sich an die Schreibmaschine.

»Was soll ich antworten?«

»Etwas Harmloses«, riet Rety.

»Also schreib:«, sagte Vries. »Wir haben einige wissenschaftliche Fragen und bitten um Auskunft. Ist dein Erinnerungsvermögen intakt?« – Die Tasten der Schreibmaschine tickten.

»Lächerliches Theater!«, murrte Orch.

Nach einer erwartungsvollen Pause ruckte der Lochstreifen wieder an: ›ERINNERUNG – GLAUBE ICH – INTAKT – WAS WOLLT IHR WISSEN?‹

»Schreib:«, befahl Vries. »Stammt deine Rasse von jenem Planeten, auf dem wir dich gefunden haben?«

Ebb begann zu tippen, aber Orch unterbrach ihn: »Das ist mehr als Sturheit! Wenn ihr unserem Automaten schon einen fremden Willen eingeimpft habt, dann stellt doch schleunigst fest, ob er nicht schon Macht über das elektronische System besitzt, statt läppische Fragen zu stellen!«

»Orch hat recht«, sagte Rety.

»Und wie sollen wir das tun?«, fragte Ebb.

»Vries!«, forderte Rety.

Der Anthropologe wanderte unruhig auf und ab.

Jetzt blieb er stehen: »Es gibt ein einfaches Mittel.«

»Und das wäre?«

Der Lochstreifen fing wieder zu laufen an: ›FRAGE UNVOLLSTÄNDIG EINGETROFFEN. BITTE WIEDERHOLEN.‹

»Das wäre – ausschalten«, sagte Vries.

»Woran sollen wir dann …«, fing Rety an.

»Verflucht«, sagte Ebb.

»So schalt doch schon aus!«, schrie Orch.

»Warum tust du es nicht selbst?«, fragte Rety.

Orch ging einen Schritt vor und zögerte, blickte über die Schulter zurück.

»Hat sich dieses Ding nicht bewegt?«, fragte er und zeigte auf eines der Werkzeugwägelchen, die, vom Elektronengehirn über Funk gesteuert, automatisch alle mechanischen Defekte im Schiff reparierten.

»Unsinn«, sagte Rety.

»Doch, es hat sich tatsächlich bewegt«, meinte Ebb. »Ich glaube, wir sollten wirklich ausschalten!« Er streckte die Hand aus …

»Halt«, rief Orch. »Ich befehle dir: halt! Du hast doch gehört, dass es gefährlich ist!«

Ebb ließ die Hand wieder sinken – und sprang zurück: Der Werkzeugwagen schob sich zwischen ihn und die Vorderfront der elektronischen Anlage.

Ebb zitterte vor Wut. »Das war die letzte Gelegenheit! Wir haben sie verpasst – wegen deiner Unentschlossenheit!«

»Was erlaubst du dir!«, schrie Orch. »Ich werde –«

Mit einem Krach ließ Rety die Hand auf den Tisch fallen. »Schluss jetzt! Schluss, sage ich. Die Lage ist zu ernst! Vries, was meinst du – sollen wir es mit Gewalt versuchen, oder haben wir dann eine gefährliche Reaktion zu erwarten?«

»Gefährlich?«, fragte Vries. »Ich glaube, Ebb hat recht gehabt – es ist einfach zu spät.«

Mit einer ruhigen, beherrschten Bewegung streckte er die Hand zum Schalter aus … Da schlängelte sich wieder ein dreißig Zentimeter langer Lochstreifen aus dem Apparat. Rety haschte danach.

›BITTE NICHT ABSCHALTEN‹, las er vor.

»Ha! Er bittet!«, stieß Orch hervor.

Vries ließ sich nicht beirren, seine Hand näherte sich dem Schalter … Ein zangenversehener Metallarm entfaltete sich und stellte sich Einhalt gebietend in den Weg.

»So sagt doch etwas!«, forderte Rety mit belegter Stimme. »Was hat das zu bedeuten?«

»Die fremden Intelligenzen sind erwacht«, antwortete Vries. »Und zwar nicht nur die Erinnerung, sondern auch die Initiative in einem Ausmaß von Aktivität, die ich bisher noch nicht beobachtet habe. Ich kann es nicht erklären – aber es scheint mit dem Zufallsaggregat zusammenzuhängen. Die unberechenbare –«

»Du bist in keinem Hörsaal«, schrie Orch. »Spar dir deinen Vortrag, wir interessieren –«

»Die Situation ist klar«, sagte Ebb, ohne auf Orchs Gezeter zu achten. »Die Intelligenzen sind zur Aktivität erwacht – das ist Tatsache und keine wissenschaftliche These.« Er blickte Orch, der jetzt endlich schwieg, von oben herab an. »Sie sind mit unserem elektronischen Automaten zusammengeschaltet und kontrollieren ihn. Das ist alles.«

»Und diese Wägelchen da?«, erkundigte sich Rety.

»… unterliegen auch der Kontrolle – über Funk, ferngesteuert.« Ebb wies auf einige parallel gespannte Drähte links neben der Schalttafel. »Das ist die Sendeantenne.«

»Vries!«, sagte der Kommodore sehr ernst. »Du hast uns diese Suppe eingebrockt – nun sorge dafür, dass der Spuk vorbeigeht. Schalte aus, ganz gleich wie – aber schnell!«

Vries wagte noch einen Versuch, jählings stürzte er vor, auf den Schalter zu … doch die Greifzange fing seinen Arm auf, hebelte ihn kraftvoll herum – Vries wurde herumgerissen und landete mit einem Krach auf dem Boden.

Rety lief zur Tür, rüttelte an der senkrecht stehenden Klinke – die magnetische Sperrvorrichtung war geschlossen. Er lief zur Führerkanzel und nahm den Radiofonhörer von der Gabel – die Leitung war tot. Er schlug mit der geballten Hand auf den Knopf der Alarmklingel …

»Sinnlos«, sagte Ebb. »Alle Leitungen laufen über den Automaten. Er hat uns unter –«

Er verstummte: Zwei Arme der Reparaturmaschine hatten sich erhoben, die Zangenkiefer schnappten zu, ein in einem Schraubenschlüssel endender Finger drehte sich … Der Schalter kollerte zu Boden. Die einfachste Möglichkeit, den Automaten auszuschalten, war unterbunden. Der Apparat hatte seine Arbeit noch nicht beendet. Er rollte zum Tischchen, an dem Vries vorher seine Tests vorgenommen hatte, das gestielte Rohr des Schneidbrenners schwenkte in waagrechte Position, ein weißblauer Funkenbogen sprühte, es roch nach versengtem Isoliermaterial … Ein großes, schwarzumrandetes Loch klaffte in der Seitenwand, die Schaltung war zerstört.

Orch lief zu Vries, packte das braunschuppige Gewebe von dessen Schürze und schüttelte ihn. »Ihr Wissenschaftler mit euren verrückten Ideen!«

Rety riss ihn zurück. »Die Schuldfrage werden wir später prüfen. Jedenfalls ist es die Aufgabe von Vries, aber auch von dir, eine Lösung zu finden!«

Orch zog einen Liegesitz heran und warf sich darauf. Er schwieg beleidigt.

»Wir müssen uns mit ihm einigen«, sagte Ebb.

»Kommt nicht in Frage«, entgegnete Rety. »So weit sind wir noch lange nicht. Auf den anderen Schiffen wird man bald bemerken, dass hier etwas nicht stimmt. Wir sind ja schließlich nicht allein!«

Da lief der Streifen wieder: ›ICH STELLE MEINE BEDINGUNGEN: IHR HABT …‹

Rety stieß einen heiseren Laut der Wut und der Beschämung aus. Er zerknüllte das Papierband, bevor sie es lesen konnten. Außer sich vor Zorn trommelte er mit den Fäusten auf die Metallwand der elektronischen Anlage: »Das interessiert uns nicht! Hörst du! Deine Bedingungen interessieren uns nicht!«

»Er hört dich doch nicht!«, sagte Orch überlegen.

Rety trat beschämt zurück.

»Er hört sehr gut«, bemerkte Ebb. »Er hört und er sieht – mit dem Mikrofon und dem Fernsehauge des Reparaturwagens. Aber er kümmert sich nicht darum.«

»Warum hast du dann deine Fragen in die Maschine geschrieben?«, fragte Rety.

Ebb hob die Schultern. »Er hört – aber vielleicht versteht er nicht.«

Vries konnte den Blick nicht von seinem zerstörten Testgerät lösen. »Das wäre eine Möglichkeit gewesen … einige starke Impulse und …«

»Das ist eine Möglichkeit!«, brüllte Orch – und dann schoss er. Er musste die Ionenschleuder schon in der Tasche auf volle Intensität gestellt haben, denn der Hitzestrahl brachte die Luft zur Weißglut. Orch hatte auf die Wand gezielt, hinter der die Schaltblöcke lagen, doch ein Werkzeugwagen war herangeflitzt und hatte seine Hand beiseite gestoßen. So traf der Strahl nicht das Zentrum, sondern einen Teil der Steueranlage …

Plötzlich schlingerte das Schiff wie ein gestoßener Kreisel – und dann fiel es aus den Reihen der übrigen Ringschiffe heraus. Die Fliehkräfte wogten in Wellen über sie hinweg, als das Schiff von den Stabilisationsfeldern wie ein Ball hin und her geschleudert wurde, dann verloren sie den Kader hinter sich und rasten in den Raum hinaus, auf einen dunklen Nebel zu.

Vries erholte sich zuerst aus der Betäubung. Sein erster Blick fiel auf die Zange des Reparaturwagens: Sie hielt ihm Orchs Ionenschleuder entgegen, eine zweite kleinere, fast zerbrechlich wirkende Zange lag am Abzug. Er wagte nicht, sich zu bewegen, erst allmählich schöpfte er wieder Mut. Sein Körper schmerzte an mehreren Stellen, aber er schien sich nichts gebrochen zu haben. Er kroch auf Rety zu und untersuchte ihn flüchtig. Der Kommodore kam bald zu sich, und auch Ebb erhob sich und tastete stöhnend seinen Körper ab. Orch dagegen rührte sich nicht – sie fanden eine große Beule an seinem Kopf.

Vries starrte durch eine Luke. Der Dunkelnebel blähte sich merklich auf.

»Was will er nur dort?«, murmelte er.

»Dort ist er vor Verfolgung sicher«, antwortete Ebb. »Kommen unsere anderen Schiffe nach?«

Vries trat an die andere Luke. »Nein, noch nichts zu sehen.«

»Was können wir tun?«, fragte Rety.

»Wir müssen es mit List versuchen«, schlug Ebb vor. »Verstehst du – scheinbar auf seine Wünsche einzugehen.«

Er setzte sich an die Schreibmaschine und schrieb: ›Wir bedauern die unüberlegte Handlung Orchs. Wir nehmen deine Bedingungen an. Bring uns zu unserer Flotte zurück!‹

Der Lochstreifen lief an: ›KXLKXL KXLKXL XXLXXK KLXKLX.‹

Sie starrten auf die unerklärlichen Lochmuster.

›Nicht verstanden‹, schrieb Ebb.

Wieder spie der Apparat eine Papierschlange aus: ›XKLXKL XKXKLL XXXKKK KXLKXL.‹

»Der Automat funktioniert nicht mehr!«, rief Ebb.

»Vielleicht sind die Sperren aufgehoben«, hoffte Rety. Er riss an der Türklinke – die Tür sprang auf.

Aufgeregt drehte er sich um. »Schnell, montiert die Zufallsschaltung ab, die das Unheil verursacht hat!«

Vries streckte die Hand aus, aber der Reparaturwägen rollte heran, ein gestieltes Rohr hob sich, und vor dem Schneidbrenner zischte ein blauer Entladungsbogen. Vries ging weiter zu jener Wandstelle, die Orchs Ionenschleuder aufgebrannt hatte, dabei schielte er nach dem Reparaturwagen; doch der bewegte sich nun nicht mehr. Ebb verstand die Absicht seines Chefs und holte einen Lötkolben, Draht und eine Schachtel mit Transistoren, Widerständen, Kondensatoren und anderem notwendigen Kleinkram.

Rety sah ihnen misstrauisch zu. »Was macht ihr da?«

»Wir reparieren die beschädigte Steuerung«, erklärte Ebb. »Dann stellen wir auf Handbetrieb und kehren zu unserer Flotte zurück.«

Rety wartete ungeduldig. Irgendetwas Ungewohntes störte ihn – zusätzlich zu allem Ungewöhnlichen, was diese Situation mit sich brachte. Er schaute umher – dann merkte er es: Die Sterne waren verschwunden. Die beiden Fernsehschirme über dem Kommandositz, von denen jeder eine Hälfte der Himmelskugel zeigte, waren schwarz. Es sah aus, als hätte jemand einen Vorhang zugezogen.

»Dauert es noch lange?«, fragte er besorgt.

Er bekam keine Antwort. Zu jeder anderen Stunde hätte er nun aufbegehrt, aber jetzt schluckte er es hinunter. Bin ich noch Kommandant?, fragte er sich plötzlich. Er lachte bitter auf – Kommandant eines steuerlosen Schiffs, das von einem Elektronengehirn verschleppt wird. Plötzlich verstand er die unüberlegte Handlung Orchs. Er bückte sich zu ihm und versuchte ihn zu wecken.

Nach einer halben Stunde richtete sich Vries auf. »Versuchen wir es!«

Er näherte sich langsam dem Führersitz – der Roboter reagierte nicht. Mit einer hastigen Bewegung drückte er den Schalthebel hinab: von ›Automatische Steuerung‹ auf ›Handsteuerung‹. Dann ließ er den Ring hundertachtzig Grad um eine seiner Speichen schwenken. – »Vries!«, brüllte Ebb.

Der Roboterwagen rollte heran, auf Vries zu … Vries stand wie versteinert. Sanft drückte ihn ein Metallarm beiseite … Eine Zange erfasste den Hebel und legte ihn wieder hinauf. Dann zischte der Schneidbrenner – der Hebel fiel zu Boden.

Ein Relais klickte. Ebb sah sich um, auch Vries erwachte aus seiner Erstarrung. Der Papierstreifen lief an und blieb gleich wieder stehen. Ebb riss ihn hastig ab. Sie lasen. Nur ein Wort stand darauf. ›DANKE!‹

»Er hat uns betrogen«, flüsterte Vries tonlos.

Rety war jetzt ganz ruhig. »Die Situation ist außergewöhnlich«, sagte er. »Sie hat uns überrascht. Wir haben planlos gehandelt. Jetzt Schluss mit dem Improvisieren …«

Der Papierstreifen floss wieder aus der Lochstanze: ›ICH STELLE MEINE BEDINGUNGEN: IHR HABT ZWANZIG MINUTEN ZEIT, UM DAS SCHIFF ZU VERLASSEN.‹

»Wir können doch nicht … hier … in der Wolke …!«, stöhnte Orch mit matter Stimme.

Der Streifen lief: ›ICH VERHANDLE NICHT.‹

»Er versteht«, sagte Vries.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte Rety. »Es ist nötig, logisch zu denken. Was wir als Nächstes unternehmen, muss gelingen. Es muss gut überlegt sein. Nein«, er hob abwehrend die Hand, als Ebb etwas sagen wollte, »nicht sprechen – er hört mit. Gut überlegen, und dann sofort handeln.«

Er hat recht, dachte Ebb, überlegen, handeln. Aber das legt schwere Verantwortung auf …

Rety blickte von einem zum andern. – Alle schwiegen.

So müsste es gehen, dachte Ebb. Er ließ seine Idee im Kopf herumgehen, wie man ein Bonbon im Mund hin und her schiebt. Aber was weiß ich von ihm? Er starrte auf die Schaltwand mit den Instrumenten, den Skalen, Zeigern, Lämpchen, Hebeln, Schaltern. Er sah das, was dahinter steckte, oder richtiger: Er empfand es. Er empfand die Anwesenheit von etwas Fremdem, Unheimlichem, Gefährlichem – etwas Unberechenbarem. Einige theoretische Zusammenhänge zwischen Tatkraft und Zufall erschlossen sich ihm, aber er verscheuchte diese Ideen – später, wenn es ein Später gab. Jetzt müsste ich wissen, wie er denkt, wie er handelt, aber ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, meine Kollegen wissen es nicht – wahrscheinlich wusste er das nicht einmal selbst. Das war die irrationale Komponente. Und so hatte er nicht nur gegen eine hohe Intelligenz und gegen einen überlegenen Willen zu kämpfen, sondern auch gegen etwas, worüber es prinzipiell keine Sicherheit gab, höchstens eine Wahrscheinlichkeit: gegen den Zufall.