Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der jüdische Friedhof an der heutigen Hooverstraße im Augsburger Norden hat eine sehr wechselvolle Geschichte, wie kaum ein anderer in Deutschland. Hier ruhen berühmte Gelehrte, Eisenbahnpioniere, Politiker und Bankiers, bis 1815 auch Hofagenten aus München, bis 1865 auch Augsburger. Gegründet wurde er zur Beginn des 30-jährigen Krieges in der damals österreichischen Markgrafschaft Burgau, von den Juden aus Pfersee, Kriegshaber und Steppach, just am selben Tag, als gleich daneben ein Feuerball in der Umgebung einschlug. Hundert Jahre später eskalierte der Bau eines Hauses am Friedhof beinahe zum Krieg zwischen Österreich und der benachbarten Reichstadt. Ein weiteres Jahrhundert später, übte das Militär des Königreichs Bayern neben dem Friedhof den Umgang mit Kanonenkugeln, wobei immer wieder Trauernde, Passanten und Gräber getroffen wurden. Die Nazis schändeten 1942 den Friedhof als Vergeltung für einen alliierten Bombenangriff auf die MAN-Werke am Vortag. Als nach den Zweiten Weltkrieg um den Friedhof herum eine Wohnsiedlung für US-Soldaten entstand, bildete der Friedhof eine exterritoriale Enklave, für deren Erhalt sich General Eisenhower einsetzte, der bald darauf Präsident der USA wurde. Nun steht dem lange vernachlässigten Friedhof eine russische Zukunft, als letzte Ruhestätte aus der ehemaligen Sowjetunion zugewanderter Juden, bevor. Die um hundert Seiten erweiterte Neuauflage des Buches bietet eine Auswahl an Grabsteinen und Inschriften nebst dem (fast) vollständig rekonstruierten Grabregister. Mit Vorworten von Dr. Arthur Obermayer, Boston (Obermayer Foundation) und Botschafter Peter R. Rosenblatt, Washington DC.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 379
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
verbesserte und erweiterte Neuauflage
mit Friedhofsregister
mit Vorworten von
Dr. Arthur Obermayer, Boston
(Obermayer Foundation) und
Botschafter Peter R. Rosenblatt
Zum Gelingen des Buches haben viele in ihrer ganz besonderen Weise beigetragen, durch Hilfen bei den Druckkosten, durch Korrekturen, Beiträge zur Bibliographie, für Kaffee, Bier oder säumigen Stromrechnungen, mit der scheinbar endlosen Besprechung zahlloser Details und Zusammenhänge. Nicht minder wesentlich war das dankenswerte Vertrauen viele originale Dokumente zur Verfügung zu stellen und Zugang zu meist wenig oder unbekannten Archivbeständen und Literatur zu ermöglichen. Letztlich war jeder kleine Aspekt wichtig und maßgeblich für das Einzelne, das Besondere und Ganze.
Mein Dank gilt in alphabetischer Folge
Gil Ashkenazi, Ruven Avraham, Elena Asnis, Naftali Bennet, Ruth Czaczkes, Tamar Eshel, R. Yaakov Eitan, Peter Felber, R. David Goldberg, Andrea Häuer, Rolf Hofmann, Boas Hutterer, Dr. Christian Kreikle, Zack Loeb, Henry Leiber, R. Marmon, Joshua Mayer, Franz Josef Merkl, Dr. Arthur S. Obermayer, Naomi Harris Rosenblatt, Peter R. Rosenblatt, Jakob Rafael Samojlowitsch, Agnes Maria Schilling, Bud Schwarz, Vladislav Shaykhit, Herbert Spoenk, Nir Tal, R. Reuven Unger, Dani Wertheimer, Leonid Zamskoy, …
und besonders Margit Hummel und Chana Tausendfels, sowie einige andere, die aus unterschiedlichen Gründen ausdrücklich nicht namentlich genannt werden wollen, aber wissen, dass sie gemeint sind.
In vielerlei Hinsicht hilfreich war auch der Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben vertreten durch den Vorsitzenden Alexander Mazo und den Friedhofsbeauftragten Alexander Baron für die gute, freundschaftliche Zusammenarbeit über Jahre hinweg, wie auch der Obermayer Foundation und Dr. Arthur Obermayer für anhaltenden Support, viele, meist kluge Ratschläge und bis zuletzt stetige Ermutigung.
Dr. Obermayer verfasste im Frühjahr 2015 für die Neuausgabe dieses Buches eigens ein Vorwort und beauftragte parallel dazu eine Übersetzung der Erstausgabe ins Englische, ehe seine Krankheit und schließlich sein Ableben im Januar 2016 die Ausführung des gemeinsamen Projektes verhinderten.
Nennenswert als unentbehrliche Hilfe waren Google Books und Hebrew Books, die viele, sonst unzugängliche, in ihrer Existenz kaum ermittelbare Werke zugänglich machen und somit freie Forschung im Wortsinn erst ermöglichen. Sollte Google im Gegenzug nun wissen, dass ich viele alte hebräische Bücher und Traktate lese, okay.
Yehuda Shenef, Pfersee, achare suckot 5777
Haus der drei Sterne
von Dr. Arthur S. Obermayer1
Wir haben das Glück, dass dieses Buch von der einen Person verfasst wurde, die über die einzigartige Fähigkeit und Erfahrung verfügt, dies zu tun. Yehuda Shenef wurde in den USA geboren, wurde dann Bürger Israels und kam 1999 nach Augsburg. Er ist ein orthodoxer Jude, beherrscht fließend Hebräisch, ist vollständig vertraut mit dem jüdisch-deutschen Brauchtum und Traditionen der vergangenen Jahrhunderte und sammelte zudem auch praktische archäologische Erfahrungen in Israel.
Vor 1800 wurden die vollständigsten Aufzeichnungen über Juden in Deutschland von jüdischen Einrichtungen in hebräischen Buchstaben verfasst. Viele dieser Unterlagen wurden während des Holocausts vernichtet, doch waren erhaltene Grabsteininschriften, insbesondere aus Kriegshaber eine wertvolle Quelle für Shenef. Doch darüber hinaus ist er ein bemerkenswerter Forscher der neue Informationen aus weniger beachteten Quellen extrahiert.
Der Kriegshaber Friedhof ist beinahe 400 Jahre alt und wurde von Juden der Gemeinden Pfersee, Kriegshaber und Steppach benutzt, die allesamt vor etwa hundert Jahren nach Augsburg eingemeindet wurden.2 Zahlreiche bedeutsame Rabbiner und andere jüdische Führer haben auf diesem Friedhof ihren letzten Ruheplatz. Mehr noch, sind viele der Bestatteten des Friedhofs Nachkommen jener Juden die 1499 aus Ulm verdrängt wurden und mit dem Namenszusatz Ulmo weiterlebten, um ihre Herkunft anzuzeigen, deren Familienwappen aus drei Sternen in einer Reihe basiert.
Yehuda Shenef‘s besonderes Interesse an diesem speziellen Friedhof erwuchs aus dem Umstand, dass er die einzigen irdischen Überreste der bedeutsamen Rabbiner des Hauses Ulmo und auch seiner eigenen Ulmo-Vorfahren beinhaltet. Er ist ein direkter Nachfahre von Rabbi Shimon Salman ben Sanwil Ulmo, dessen Grabstein im Buch zu sehen ist. Aus weiteren Quellen erschloss sich die weitere Jahrhunderte zurück reichende Abkunft von allbekannten jüdischen Gemeindeführern und Rabbinern wie etwa dem Maharal von Prag.3
Mein eigener Hintergrund ist der eines in den USA geborenen Wissenschaftlers, dessen sämtliche vier Großeltern aus Bayern und Baden-Württemberg stammen. Seit vielen Jahrzehnten habe ich mich aktiv damit beschäftigt, meine deutschen Vorfahren aufzuspüren. Im Laufe dieser Forschung gründete ich das jüdische Museum von Creglingen in der Stadt in welche meine mütterlichen Großeltern geboren waren.
Ich initiierte auch eine Auszeichnung die zusammen mit dem Berliner Senat jährlich an fünf nichtjüdische Deutsche vergeben wird, die außerordentliche Beiträge zur Bewahrung von Überresten jüdischer Geschichte in ihren Gemeinden leisteten.
Mein väterlicher Großvater wurde in Kriegshaber geboren und seine Vorfahren in Kriegshaber begraben. Es gelang mir meine Kriegshaber Vorfahren bis ins 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen, doch dann verloren sich die Spuren. Im Jahr 2008 lernte ich einen weiteren amerikanischen Juden kennen, Botschafter Peter Rosenblatt, der gleichfalls Wurzeln in Kriegshaber hatte.
Ich kam auch in Kontakt mit Yehuda Shenef, der sich lebhaft darum bemühte den Kriegshaber Friedhof vor weiterem Zerfall zu bewahren, als seine Weise, das Andenken der berühmten Gelehrten zu würdigen, deren einzige irdischen Überreste hier begraben waren.
In den folgenden paar Jahren tauschten Shenef und ich eine Menge von Informationen aus über die jüdischen Familien die in den Augsburger Vororten gelebt hatten. Dann, im Jahr 2010 entdeckte Shenef das fehlende Bindeglied, welches aufzeigte, dass ich mit Botschafter Rosenblatt durch einen gemeinsamen Vorvater verbunden war, Meir ben Sanwil Ulmo, der im Jahr 1655 geboren wurde. Überdies wurde klar, dass Shenef selbst ein Nachkomme von Meirs Bruder Schimon Salman ben Sanwil Ulmo war. Diese Entdeckung eröffnete weitere genealogische Schätze, da Shenef in der Lage war, unsere gemeinsamen Vorfahren noch weitere Jahrhunderte zurückzuverfolgen.
Moderne Gentechnologie bietet nun allerdings eine alternative Methode, sich der Genauigkeit von Grabstein und archivalischer Aufzeichnungen zu vergewissern. Männer weisen grundsätzlich die gleichen Y-DNA-Muster auf wie ihre Väter, Großväter, usw.
In meinem Fall war Meir ben Sanwil Ulmo mein väterlicher Vorfahr durch seinen Sohn Isaak ben Meir Ulmo und dessen weiteren männlichen Nachkommen, weshalb wir im Grunde alle die selbe Y-DNA haben müssten. Auf Rosenblatt traf dies hingegen nicht zu, da sich in seiner Abstammungskette weibliche Vorfahren ebenso finden wie männliche. Allerdings wusste Rosenblatt von einem näherem Verwandten, Daniel Untermayer, der eine rein väterliche Abkunft von Shimon ben Meir Ulmo haben musste, einem weiteren Sohn von Meir ben Sanwil Ulmo. Als nun Daniel Untermayers Y-DNA mit der meinigen verglichen wurde, erwiesen sich als grundsätzlich übereinstimmend, woraus sich ergab, dass wir vor wenigen Jahrhunderten einen gemeinsamen männlichen Vorfahren haben mussten. Das Ergebnis bestätigt somit unabhängig mit beinahe vollständiger Sicherheit, dass die genealogischen Daten wenigstens bis zum Jahr 1655 korrekt sind.
Die Ähnlichkeit der Namen Obermayer und Unterm(a)yer ist ebenfalls nicht zufällig. Im Jahr 1789 gab es zwei benachbarte jüdische Metzger namens Isaak ben Meir in Kriegshaber. Um sie weiter unterscheiden zu können und um der gesetzlichen Vorgabe der Regierung zu entsprechen, Familiennamen anzunehmen, wurde nun aus dem einen Obermayer, aus dem anderen Untermayer.
Das vorliegende Buch präsentiert eine Epoche schwäbisch jüdischer Geschichte, die durch übliche Archive nicht erfasst werden, aber durch Yehuda Shenef‘s Erforschung hebräischer Grabsteininschriften und Aufzeichnungen ans Licht kamen. Viele Generationen umfassende rabbinische Familien sind wohlbekannt. Sie waren stets stolz darauf bedacht, auf ihren Grabsteinen ihre vornehme Abkunft (in Hebräisch „jichus“) aufzuzeigen.
Shenef hat eine meisterhafte Arbeit geleistet, indem er Historikern und Genealogen mit neuen wertvollen Informationen versorgte, die nicht nur auf Grabsteininschriften basieren, sondern auch Aufzeichnungen und Zusammenhänge aufzeigten, die innige Kenntnisse jüdisch deutscher religiöser Bräuche und Traditionen erforderten.
Boston, Massachusetts 17. Mai 2015
1 Arthur Obermayer ist am 13. Januar 2016 im Alter von 83 Jahren verstorben
2 Pfersee kam 1912 nach Augsburg und Kriegshaber 1916, nicht jedoch Steppach, dass seit 1972 zum direkt angrenzenden Neusäß gehört.
3 Jehuda Bezalel von Prag, allgemein bekannt durch die Legende des Prager Golem.
Haus der drei Sterne
von Botschafter Peter R. Rosenblatt
Ich verspüre eine starke Bindung zum Kriegshaber Friedhof und den verbliebenen Bauten von dem, was einst das jüdische Kriegshaber ausmachte, das nun ein Teil Augsburgs ist. Mein Urgroßvater Isidor Untermayer (die Schreibweise des Namens veränderte sich in Amerika zu Untermyer, wohin 1841 ausgewandert war) wurde hier 1811 geboren, wie über Jahrhunderte hinweg bereits seine Vorfahren. Seine Frau, meine Urgroßmutter, wurde 1825 als Therese Landauer in Hürben (heute ein Teil von Krumbach) geboren.
Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und dem Fortgang von sechs Generationen verbleiben Kriegshaber, Hürben und Hamburg als Herkunftsorte meiner mütterlichen Familie und so sorge ich mich sehr um den Erhalt der geringen Überreste des historischen Judentums in Deutschland. An dieser Stelle richtet sich meine Aufmerksamkeit deshalb auf den Unwillen der zuständigen Stellen, das im Buch erwähnte „Denkmal“ wenigstens soweit zu zerlegen, um die Entnahme von Grabsteinen zu ermöglichen, die zu Grabplätzen gehören, die jetzt ohne Kennzeichnung sind, wie das Grab meines Ururgroßvaters Isaak Untermayer, dessen Grabinschrift im sog. „Denkmal“ verbaut wurde.
Die Nachkommen von Isidor und Therese Untermayer leisteten Großartiges für ihr neues Heimatland. Es genügt an dieser Stelle nur zwei Beispiele aus der Reihe der zahlreichen Anwälte, Richter, Unternehmer, politischen Führer, Künstler und anderer zu nennen: zum einem ihr Sohn Samuel Untermyer, ein sehr bedeutender Jurist und Führungspersönlichkeit seines Berufes wie auch des amerikanischen Judentums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zum anderen ihr Enkel Laurence A. Steinhardt, auch er ein bedeutender Jurist, war Botschafter der USA in Schweden, Peru, der Sowjetunion, der Türkei, der Tschechoslowakei und Kanadas bis zu seinem Tod bei einem Flugzeugabsturz im Jahre 1950.
Wir alle verdanken der Gelehrsamkeit, der Beharrlichkeit und der Selbstaufopferung Yehuda Shenef‘s sehr viel. Wir schulden ihm Dank für seinen Einsatz zur bislang errichten Instandsetzung des Kriegshaber Friedhofs. Weit mehr muss aber noch in Zukunft geleistet werden. Und so hoffen wir, dass die Herausgabe dieses Buches die Aufmerksamkeit auf die enorme historische Bedeutung, auf den religiösen wie auch emotionalen Stellenwert des Friedhofs des Friedhofs lenken wird, um die anhaltende Notwendigkeit seiner Sanierung und Aufrechterhaltung zu gewährleisten.
Peter R. Rosenblatt
Washington DC, 24. Oktober 2016
Vorwort Arthur Obermayer
Vorwort Peter Rosenblatt
Vorbemerkungen
Zeittafel
Einführung
Die Lage
Die Selbstauskunft
Das unsichtbare Exil
Das historische Umfeld
Die Frühgeschichte des Friedhofs
Besuch aus dem Heiligen Land
Familiengeschichte(n)
Die Kriegshaber Weltverschwörung
Der magische Würfel
Das Mosaik
Geheime Schätze ..?
Grabregister
Glossar
Literatur
Anmerkungen
Impressum
Obwohl heute zwar allgemein vom „Jüdischen Friedhof Kriegshaber“ gesprochen wird, wurde er zu Beginn des 30jährigen Krieges von den Juden aus Pfersee gegründet, auf einem Gelände, das zu keinem Ort gehörte, sich aber zu Österreich gehörte. Zur Zeit der Napoleonischen Kriege wurde die Umgebung bayerisch und nach dem 1870er Krieg schließlich auch deutsch. Nach der Niederlage der Nazis entstanden um den Friedhof herum Wohnungen für US-amerikanische Soldaten, die erst 1998 aufgegeben wurden und in den letzten Jahren für eine private Nutzung konvertiert wurden. Schon anhand der kurzen Skizze kann man ersehen, dass der Friedhof immer schon in sehr wechselhafte äußere Rahmenbedingungen eingebettet war. Das führte immer wieder zu Verwechslungen und Verwirrungen und ganz sicher kann man sagen, dass jedes erklärende Detail letztlich viele weitere Fragen aufwirft. Die Geschichte des Friedhofs an der Hooverstraße1 und seines Umfeld objektiv und linear zu beschreiben ist wegen der Vielfalt an Regimen, Orten, Interessen und Protagonisten nicht oder nur auf sehr oberflächliche Weise möglich. Die vielfach ineinander verschachtelten Zusammenhänge können aber in einigen wenigen Hauptsträngen auf- und entschlüsselt werden, auch wenn man invol-vierten Personen und Ereignissen, auf diese Weise nicht gerecht werden kann (doch kann man ihnen Biographien widmen).
Es mag zunächst etwas überraschen, aber trotz einiger weniger Ansätze, gibt es bis heute keine aktuelle Geschichte Kriegshabers.2 Wer aber nach Literatur zu Kriegshaber sucht, stößt früher oder später auf den Heimatforscher Louis Dürrwanger (1878-1959), der sich auch mit der Geschichte Kriegshabers und der seiner Juden befasste und dazu eine Dissertation anstrebte. Die Qualität seiner Arbeit entsprach aber nicht ganz den (zugegeben etwas schwankenden) Ansprüchen seiner Zeitgenossen, weshalb sein Werk, von ein paar Zeitungsartikeln abgesehen, in Entwürfen stecken, bzw. unveröffentlicht blieb.3
Worin auch immer die Ursachen dafür liegen mögen,4 einen Mangel an Quellen gibt es nicht. Sie sind in geradezu enzyklopädischem Umfang vorhanden, doch wurden sie bislang nur sporadisch beachtet und noch seltener einbezogen. Eines der Probleme scheint darin zu bestehen, dass die Mehrzahl der noch erhaltenen Inschriften des Friedhofs in hebräischer Sprache verfasst wurde. Glücklicherweise sind auch eine Reihe handschriftlicher Aufzeichnungen erhalten, die den Wortlaut und Hintergründe inzwischen zerstörter Inschriften wie-dergeben und erläutern. Auch sie sind überwiegend Hebräisch und umfassen je nach dem fünfzig Seiten oder eben 300. Sie befinden sich in staatlichen und privaten Archiven in Jerusalem und sind nur in kleinen Auszügen mal studiert aber nie abgetippt worden. Aber stellen Sie sich den Aufwand vor, den es bedeutet, mehrere hundert Seiten an hebräischer Handschrift zu dechiffrieren, die einige Jahrzehnte vor der Gründung des modernen Staates Israels verfasst wurden, und deshalb in vielen Fällen nicht ahnen konnten, was israelische Bildungspolitiker sich nach und nach an „verbindlichen“ Rechtschreibregeln würden einfallen lassen. Die Ergebnisse jedenfalls müssen abgeglichen werden mit „amtlichen“ Einträgen, die in alten Kanzleischriften und den vielen Vorläufern der Sütterlin-Schrift5 meist beiläufig notiert wurden und in aller Regel „deutsche“ statt „hebräische“ Namen und „christliche“ statt „jüdischer“ Datierungen verwendeten. Im Idealfall könnten aber auch Reste noch nicht vollständig zerbröckelter Grabsteininschriften oder Fragmente, bzw. alte Photographien hilfreich sein. Umso überraschender, dass diese Primärquellen wissenschaftlich noch nicht aufbereitet sind, obwohl oder vielleicht aber auch weil schon für weit anspruchslosere Einzelarbeiten Doktortitel vergeben wurden.
Zu den überlieferten Quellen zählt aber auch ein großformatiges, etwa plakatgroße 700 Druckseiten umfassendes Werk aus dem 18. Jahrhundert, das auch gebildete Zeitgenossen schon nicht lesen konnten (oder wollten), aber eine enorme Fülle an Informationen enthält. Vor etwa hundert Jahren hat ein geneigter Wissenschaftler ein paar Seiten (offensichtlich nur) durchblättert und eine Zusammenfassung darüber verfasst.6 Diese wiederum wird seitdem in neueren Bezugnahmen zum Friedhof, fast als eine Art „Primärquelle“ zitiert, mal ausführlich, mal weniger. Der Aufwand, sich mit den verfügbaren Quellen zu befassen, ist sehr hoch, keine Frage. Schon für eine Umschrift hätte man einige tausend Seiten zu abzutippen, lateinische und hebräische Passagen bedürften wohl einer Übersetzung, die meisten genannten Personen und Zusammenhänge nach drei-, oder einhundert Jahren bräuchten, falls ermittelbar, Erläuterungen und sehr viel Recherche.
Aus all dem dürfte klar sein, dass es sich bei dem vorliegenden Buch um keine akademische Arbeit handeln kann und dass sie auch keine entsprechenden Ansprüche erheben will. Es fehlte auch an Equipment, logistischer oder substantieller Unterstützung, von Mitarbeitern ganz zu schweigen. Darüber muss aber niemand traurig sein, da sich ja auch so ein paar hundert Fußnoten am Ende des Buches angesammelt haben und alle ermittelbaren Quellen genannt werden. Was nun aber möglich sein soll und der Verfasser, hofft, dass es ihm gelungen ist, wäre sozusagen Appetit zu wecken und möglichst viele Interessierte hervorzurufen, am besten intelligente und gut organisierte Leute, die sich eventuell auf den Weg machen, noch Fehlendes zu ergänzen und Falsches zu korrigieren.
Soweit eine theoretische Einführung, jedoch gibt es den Friedhof noch auf einer anderen Ebene – als reales Objekt nämlich.
* * *
Deshalb also nochmal anders:
Als der Friedhof in den frühen Jahren des 30jährigen Krieges von den Mitgliedern der Pferseer Familie Ulmo angelegt wurde (wozu es des Kaufs eines Grundstücks beim vorderösterreichischen Vogt bedurfte), befand sich dieser inmitten der sog. „Unebene“, einem in früherer Zeit dicht bewaldeten Gebiet, das um 1590 fast komplett abgeholzt und hernach, d.h. bis in die späten 1940er Jahre als Heuwiesen (sog. Rindermahd) genutzt wurde. Die Unebene, wie man sich denken kann, wurde so genannt, weil sie insgesamt eher etwas hügelig war und nach dem Kahlschlag zunächst niemandem etwas Gescheiteres einfiel, was man damit anfangen könnte. Das Gebiet lag zwischen den Dörfern Kriegshaber, Pfersee und Bergen (heute: Stadtbergen) und gehörte (größtenteils, nicht vollständig) territorial zu Österreich, bzw. ihrer Markgrafschaft Burgau, weshalb es immer „Diskussionsbedarf“ gab, sobald sich irgendjemand bewegte oder eine Idee in den Sinn kam. Zur Zeit der napoleonischen Kriege wurde Augsburg, bis dato Reichsstadt, mitsamt seiner westlichen schwäbisch-österreichischen Nachbarschaft von Napoleon den Bayern geschenkt, die zudem auch noch Franken erhielten und sich groß genug wähnten, um ein Königreich zu gründen.
Von Kriegshaber aus wurde ein fester Weg zum jüdischen Friedhof angelegt, den die christlichen Dörfler nun „Judenweg“ nannten. Als kaum ein halbes Jahrhundert später Bayern dem Deutschen Reich beitrat, hieß der Weg von Kriegshaber dann offiziell „Israelitische Friedhofsstraße“, und als Kriegshaber sich 1916 Augsburg anschloss (Pfersee tat dies 1911), wurden eine ganze Reihe von Straßennamen im Ort verändert. Die alte Hauptstraße, an deren Beginn sich die Synagoge befand, hieß nun offiziell Ulmer Straße und die Straße nach Süden zum Friedhof erhielt den Namen Hummelstraße.7 Um 1951 entstand um den Friedhof die amerikanische Siedlung „Cramerton“ mit ihren noch erhaltenen kartonartigen Gebäuden, und unmittelbar an die West- und Ostmauern des Friedhofs angrenzenden Baseball- und Kinderspielplätzen. Der jüdische Friedhof, für dessen Erhalt sich der damalige Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte und spätere US-Präsident Dwight Eisenhower (1890-1969) persönlich vor Ort ausgesprochen hatte,8 wurde nun aber eine Enklave innerhalb amerikanischen Hoheitsgebietes9 mit der Adresse Hooverstraße10, in welches sich nur wenige Deutsche trauten. In den Jahren nach dem Abzug der US-Streitkräfte aus im Juni 199811 wurden die ehemaligen Kasernen für die Augsburger Wohnbevölkerung erschlossen. Strittig mag nun allenfalls noch sein, ob der jüdische Friedhof nun tatsächlich zu Kriegshaber zu rechnen ist, wie das meistens geschieht, oder aber zu Pfersee.12 In der direkten Nachbarschaft entwickelte sich ein ziviles Wohnviertel, dem freilich Geschäfte fehlen. Die Anwohner sehen den Friedhof angesichts der ansonsten eher trostlos wirkenden Umgebung verständlicherweise als ihre „grüne Lunge“ an, ohne zu bemerken, dass die Mehrzahl der größeren Bäume marode ist und vom Efeu längst erstickt wurde.13 Kein Wunder also, dass es schon Politiker gab, die anregten, den Friedhof in eine öffentlich zugängliche Parkanlage zu verwandeln.14 Nachdem die Pflegerfamilie, die von 1927 bis 2005 am Friedhof lebte, sich nicht mehr um den Friedhof kümmern konnte, verwilderte das Gelände sehr rasch und statt eines Parks entstand ein Dschungel und ein Müllabladeplatz und es bedurfte ganz erheblicher Anstrengungen, daran zumindest kurzfristig etwas zu ändern.
Mangels anderer eingeräumter Perspektiven seitens der Stadtregierung ist die Israelitische Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg (IKG) – als rechtlicher Eigentümer des Friedhof - jedoch schon recht bald dazu gezwungen, noch freie Flächen des formell seit 1951 „geschlossenen“ Friedhofs zu belegen und so nach über 60 Jahren wieder Bestattungen vorzunehmen. Angesichts der ansonsten sehr misslichen und widrigen Umstände ist die kontinuierlich erforderliche Pflege des Friedhofs und seiner denkmalgeschützten Monumente, anderweitig leider nicht zu gewährleisten. Die zukünftige Nutzung des Friedhofs ist unbedingt zu befürworten, zumal der Begräbnisplatz damit auch in das Bewusstsein der meist aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten Juden rücken wird und die Verantwortlichen sich der Bedeutung und des Umgangs mit der historischen Perspektive kurzfristigen Handelns bewusster werden könnten. Auch der Austausch mit der angesiedelten, teilweise problematischen Wohnbevölkerung in der Nachbarschaft des Friedhofs könnte für alle Seiten hilfreich sein,
Von der sog. „Dependance“ des „Jüdischen Kultusmuseums“, die im Frühsommer 2014 im Gebäude der ehemaligen Kriegshaber Synagoge öffnete, erwarten wir wichtige Beiträge, um die so lange verschmähte jüdische Vergangenheit vor Ort und in der Region für eine hoffentlich bessere Zukunft vorzubereiten.
In der ersten Auflage endete die Vorbemerkung zur Geschichte des Friedhofs bei anhaltenden Zerstörungen mit dem dringlichen Appell, bitte darauf zu achten, das historische Erbe zu schützen. Inzwischen sind dem Autoren dieses Buches jedoch die dafür erforderliche, zu viel Kraft raubende Zuversicht abhanden gekommen. Positiv zu vermerken ist freilich, dass bald drei Jahre nachdem tausende Euros zur Sanierung der bröckeligen Südmauer des Friedhofs - durch Bemühungen von Mitgliedern des JHVA (Dr. Kreikle) an Spenden gesammelt wurden, es Anstalten gibt, dass diese auch für ihren Zweck verwendet werden könnten.
Augsburg-Pfersee, Suckot (Hüttenfest) 5777, Mitte Oktober 2016
1420 erste Nachrichten über Juden Pfersee und Oberhausen
1438 Juli: Beschluss zur Ausweisung der Juden aus Augsburg in zwei Jahren.
1446 letzte datierbare Beerdigungen am Augsburger „Judenkirchhof“.
1525 erste bekannte Nachweise über jüdische Gemeinde in Pfersee.
1540 Gemeinde in Oberhausen an der Wertach.
1565 jüdischer Gemeindebund Pfersee, Kriegshaber und Steppach.
1623 Einsetzung des jüdischen Friedhofs auf der Uneybrach.
1648 Mai: Nach der sog. „Schlacht von Zusmarshausen“, die sich fast bis nach Augsburg hinzog, richten schwedische Soldaten am alten Grabplatz mutwillig schwere Schäden an.
1695 Erweiterung des Friedhofs nach Osten.
1722 Aufbau und Abriss des Friedhofshauses, dabei werden auch die ältesten (westlich des heutigen Areals gelegenen) Teile des Friedhofs, zerstört.
1724 Wiederaufbau des Hauses und Erweiterung des Geländes
1803 Erweiterung des Friedhofshauses nach Westen.
1805 Kurzbesuch Napoleons auf dem Weg nach Augsburg.
1807 Errichtung eines Kugelfangs direkt am Friedhof durch den bayrischen General Wrede.
1825 Erweiterung des Friedhofs auf seine heutigen Maße, sowie Ummauerung durch den Pferseer Gemeindevorsitzenden Ber Ulmo.
1867 Erst nach jahrelangen Protesten werden die Schießübungen beim Friedhof eingestellt. Der Kugelfang selbst wird erst 1950 beseitigt, und diente bis dahin den Kindern zum Rodeln, Malern, Photographen und sonstigen Neugierigen als Aussichtsplattform in den Friedhof und auf die Umgebung.
1871 Erneuerung der teilweise zerschossenen Friedhofsmauer.
1902 Sanierung des Hauses mit Anbringung der Widmungstafel.
1942 Schändung des Friedhofs durch deutsche Soldaten der nahen Flak-Kaserne. Auch die Tafel über dem Hauseingang wird zerstört.
1946 Errichtung eines „magischen Würfels“ durch Handwerker der schwäbischen Bildhauer- und Steinmetzinnung am Tor des Friedhofs.
1951/2 Seitens der US Armee entstand um den Friedhof herum eine sog. „housing area“. Direkt an den Mauern entstehen ein Baseballfeld und zwei Kinderspielplätze.
1956 Auf Anregung des Kriegshaber Heimatforschers Dürrwanger wurden am zuvor faktisch baumfreien Friedhof systematisch Bäume angepflanzt, was im Laufe der Jahrzehnte zu erheblichen Schäden an den Grabsteinen führen sollte.
1980 Konvertierung Hauses in ein ausschließliches Wohnhaus.
1981 wurden auf Grabplätzen nach Absprache mit der damaligen Kultusgemeinde (Senator Julius Spokojny) eine Blech- und eine größere Holzhütte südlich und westlich vom Haus errichtet.
2005 Mit dem Tod der Friedhofspflegerin Maria Felber steht das Haus leer und der Friedhof liegt brach und verwildert.
2007 Oktober: Der Jüdisch-Historische Verein Augsburg (JHVA) beginnt damit, Müllberge und Wildwuchs am Friedhof zu beseitigen, Gräber zu säubern, Grabsteine zu dokumentieren und abbröckelnde Inschriften zu sichern, in der Regel eher gegen Widerstände, seltener durch Mitarbeit anderer.
2008 August: Nach Bitten des JHVA an das Innenministerium: Anbringung eines amtlichen Hinweisschildes am Friedhof, welches Anwohner und Passanten darüber informiert, dass es sich um einen Friedhof handelt: „Beschädigungen, Zerstörungen und jeder beschimpfende Unfug werden strafrechtlich verfolgt“.
2009 Spätherbst: Das Nutzungskonzept „Bait Schwaben“ basierend auf der Idee, das Friedhofshaus mit Projektinitiativen schrittweise zu sanieren und hernach als öffentlich zugängliche Informations- und Pflegestätte zu nutzen, wird vom JHVA vorgestellt.
2010 Frühjahr: Auf Empfehlung des Gemeinderabbiners Dr. h.c. Henry G. Brandt wird das Haus neu langfristig vermietet. Umgehend finden erheblich bauliche Veränderungen im Haus statt, wobei im Dachboden eine Anzahl Genisa-Funde gemacht wurden. Der JHVA informiert die Denkmalschutzbehörden und distanziert sich vom Friedhof. An der Ostseite des Hauses entsteht in der Folgezeit ein „Jacuzzi“ Vergnügungsbad auf den Gräbern überregional bedeutender Rabbiner.
2011 September: Enthüllung der Informationstafel des „Netzwerks Historische Synagogenorte in Bayerisch-Schwaben“ am Eingang des Friedhofs unter Mitwirkung des Augsburger Bürgermeisters Peter Grab, Dr. Benigna Schönhagen, Dr. h.c. Henry Brandt und Prof. Rolf Kießling mit kurzen Vorträgen von Gernot Römer zur Familie Felber, Dr. Franz Josef Merkl zu Carl von Obermayer und Yehuda Shenef zu Wolf Schimon Wertheimer.
2012 eine Reihe alter Grabsteine werden nach langem Drängen durch Mittel des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden restauriert. Auf Bitten der IKG stand der JHVA zur „Auswahl“ der Steine beratend zur Seite. Leider konnten nicht alle „Wünsche“ erfüllt werden.
2013 Der JHVA untersuchte im Auftrag der IKG die Möglichkeit zur weiteren Nutzung des Friedhofs an der Hooverstraße als künftigen Grabplatz der Augsburger IKG-Gemeinde und bejaht dies prinzipiell im Rahmen eines exakt bestimmten Teils im Nordosten des Geländes. Zugleich wurde in Zusammenarbeit mit Fraktionen des Augsburger Stadtrats eine Initiative zur dringend erforderlichen Instandsetzung, der teilweise einsturzgefährdeten Mauer auf den Weg gestartet.
2017 Voraussichtlicher Beginn der weiteren Nutzung des Friedhofs
Die Lage des Friedhofs:
Im Augsburger Norden, nahe Dayton Ring, Bgm-Ackermannstraße. 1623 gegründet, 1951 zuletzt benutzt, künftig wieder ab ca. 2016. Die heutige Grabfläche beträgt etwa einen Hektar. Von ehemals 1500 Begräbnissen sind noch etwa 500 Grabsteine und Fragmente erhalten, unbeschadet geblieben ist davon eigentlich keiner. Einige wenige wurden in den letzten Jahrzehnten und Jahren versuchsweise, oft eher laienhaft restauriert.
Im Augsburger Ratsbuch findet sich ein auf das Jahr 1438 datierter „Der Juden Uszryben“15 überschriebener Eintrag.16 Am Montag nach dem St. Ulrich-Tag,17 demnach also am 7. Juli 1438,18 so heißt es, habe der kleine und große Rat19 der Stadt einhellig entschieden, dass man die Juden nicht länger in der Stadt (wohnen) lassen wolle, als von nun an für zwei Jahre. Wenn diese nun (also im Juli 1440) vorüber seien, sollten „beide“, jung und alt, „kainer uszgenommen noch hindan gesetzt“ … hinaus fahren und kommen20 … „on all Gnade“.21 Gnadenlosigkeit muss damals wohl eine positiv besetzte Eigenschaft gewesen sein, wenn sich der Rat der Stadt in amtlicher Notiz damit ausdrücklich rühmt. Die weitere Ausführung versucht dem Beschluss die noch fehlende Begründungen nachzuliefern, ist aber angesichts der „Tragweite“ der Entscheidung recht schwammig formuliert: „und das von manigerley ursach wegen“, heißt es da zunächst diffus, sodann auch nur um eine Nuance genauer: „und sonderlich ob des Willens, dass man an den Kanzeln öffentlich von ihnen (den Juden) predigt wie viel Übel daraus käme … und dass sie der Stadt ungehorsam gewesen seien.“ Ohne auch nur einen konkreten Vorwurf zu nennen, sich nur auf bloßes Hörensagen berufend, klingt das doch überraschend vage und erweckt zumindest den Anschein, als sei der städtische Schreiber über die tatsächlichen Abläufe nicht so recht im Bilde gewesen. Gut möglich, dass der Abstand der Abfassung zum Geschehen vielleicht doch größer war, als man gemeinhin vermutet und dass der Eintrag in anderer Zeit verfasst, sowieso anderen Zwecken diente.
Wie dem auch sei, lautete bis vor wenigen Jahren noch die geläufige Ansicht, dass mit der als relativ „human“ befristeten Aufforderung an die Juden, die Stadt in zwei Jahren zu verlassen, ihre Geschichte in Augsburg ihr vorläufiges Ende fand.22 Erst 1803, als einigen wenigen Bankierfamilien aus Kriegshaber gestattet wurde, dauerhaft in der Stadt zu wohnen, habe es Ansätze zur neueren Geschichte gegeben.
In der Zwischenzeit, mit Elias Holl, den Fuggern, Welsern, Holbeins und Mozarts – also während der eigentlichen Blüte der Augsburger Geschichte, blieben „die Juden“ außen vor, am Stadtrand sozusagen, in kleinen Dörfern. Nur ab und an durfte von ihnen mal einer und zwar auch nur unter der Aufsicht strenger Soldaten als billige Händler tagsüber in die mächtige Weltstadt, um ein paar, womöglich auch wieder nur krumme Geschäfte zu machen. In den nachfolgenden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spielten die Juden im dann bayerischen Augsburg, trotz einiger geschäftlicher Erfolge als Händler, Bankiers oder Fabrikanten - vernachlässigbare, unbedeutende Rollen, ehe sie in der Zeit der ansonsten dunklen Naziherrschaft ins Rampenlicht der Öffentlichkeit treten konnten, freilich nur als Opfer von Enteignungen und Verfolgungen, für deren Details sich heute vor allem Schulklassen interessieren sollen. Nicht zuletzt deshalb besteht auch für frühere Epochen das Interesse der Fachforschung offenbar vorwiegend darin, anhand meist fiskalischer, monetärer oder sonstiger Urkunden „die Verhältnisse“ „der Juden“ zu ergründen, leider aber um stereotype bürokratische Außenansichten zu generalisieren. Die so gewollt oder ungewollt gepflegten Klischees über „Landjuden“, „Hof-“, „Bettel-„ und sonstige Juden-„Typisierungen“ gehen heute natürlich nicht mit bekannten antisemitischen Abwertungen konform. Sie bestätigen sie aber in der apologetischen Wiederaufbereitung allzu oft.23
Immerhin drei erhaltene, datierbare Fragmente von Grabsteinen des mittelalterlichen „Judenkirchhofs“ in Augsburg aus den Jahren nach 1440 legen jedoch Zeugnis davon ab,24 dass der Friedhof nach dem in seiner Wirkung offenbar überschätzten Ausweisungsbeschluss benutzt wurde.25 Es erscheint nicht sehr plausibel, dass Juden, die eben aus Augsburg ausgewiesen wurden, sogleich wieder herkamen, um in der Stadt weiterhin ihre Toten zu begraben, später noch einmal, um einen durchaus kostbaren Grabstein aufzustellen, während sie ansonsten wohl deren Gräber nicht mehr besuchen durften. Man wird also aus dem Sachverhalt folgern dürfen, dass es wenigstens bis Ende 1445 weiterhin ausreichend viele Juden in Augsburg gegeben haben muss, wahrscheinlich aber auch noch lange darüber hinaus.26
Vor etwa zweihundert Jahren bewies bereits Stetten,27 dass nach der Ausweisung von 1438/40 von einer Abwesenheit der Juden in den folgenden Jahrhunderten eigentlich keine Rede sein kann. Aufgeführt ist dort beispielsweise die 1452 durch Bischof Peter von Schaumburg erwirkte Anordnung, dass Juden in Augsburg einen gelben Ring an ihrer Kleidung tragen sollten, um eben als Juden erkannt zu werden. Eine ähnliche Bestimmung gab es aber bereits im Jahr 1434, also vier Jahre vor dem Ausweisungsbeschluss. Das Dekret im Jahr 1452 setzt die Anwesenheit von Juden in Augsburg voraus. Diese war entweder permanent oder falls es sich um Tagesaufenthalte handelte, um Juden aus der direkten Nachbarschaft zu Augsburg.
Augsburger Stadtansicht aus dem Jahr 1514 mit wohl jüdischem Händler, der aus dem Klinkertor kommend Richtung Pfersee oder Kriegshaber unterwegs ist.28
Eine Geschichte aus dem mittelalterlichen Augsburg berichtet davon, dass der in Wellenburg wohnende Raubritter Hartmann Onsorg29 sich 1395 auf der Flucht vor Augsburger Stadtsoldaten am Judenberg im Haus des „Rabbi Ben Aharon“30 versteckte. Einige Jahrzehnte vorher, so die Erzählung, als im Spätherbst 1348 die Juden überfallen und „viele“ getötet wurden, hatte auch der Rabbi bei Onsorg Unterschlupf gefunden. Da diesem von 1330 an auch das Pferseer Burgschloss gehörte, ist es denkbar, dass sich dort schon damals zeitweilig Juden für ein paar Jahre aufhielten. Nun ist es aber auch nicht so, dass es aus den Dörfern vor den Toren der Reichsstadt vor der Mitte des 16. Jahrhunderts allzu viel zu berichten gab und ausgerechnet über „die Juden“ geschwiegen wurde. Nur ab und an, oft nur im Abstand von einigen Jahren ist mal von einem neuen Dorfherrn die Rede. Sollte hier also schon früh eine kleine jüdische Gemeinschaft oder auch nur die Ansiedlung einzelner Familien bestanden haben, dann hat dies sicher kaum jemanden gekümmert. Andererseits scheint es für die heutige Forschung durchaus relevant zu sein, warum sich erst mehr als hundert Jahre nach der Ausweisung von 1438 sichere Belege über den Aufenthalt von Juden in den drei Gemeinden Pfersee, Kriegshaber und Steppach finden lassen. In der christlichen Geschichtsschreibung tauchen diese nämlich erst etwa die Zeit der 1560er Jahre auf. Die so entstandene historische Lücke von über hundert Jahren ist dann auch tatsächlich recht groß und steht im eigentümlichen Kontrast zur unmittelbaren räumlichen Nähe. Von den beiden Stadttoren nach Westen, dem Klinker und Gögginger Tor31 waren es nur etwa zwei Kilometer Fußweg nach Pfersee. Wenn die Wertach nicht gerade über ihre Ufer getreten war,32 war dies keine große Sache.33
Zeitzeugen zu fragen, ermöglicht oft einen unmittelbaren Zugang, den auch die tüchtigsten Aktenschlepper, die Stapel aus den Archiven hervorbringen und systematisch vom Staub der Zeit befreien wollen, nicht ersetzen können. Es versteht sich von selbst, dass es aus der bald vierhundertjährigen Geschichte des Friedhofs nur noch wenige Zeitzeugen gibt und es sich zumeist um Selbstzeugnisse in schriftlicher Form handelt.
Ein solches Selbstzeugnis wäre auch die Inschrift über dem Eingang des Friedhofshauses an der Hooverstraße, die bis zur vom „Netzwerk Historischer Synagogenorte in Schwaben“ dankenswerterweise34 bereits am Eingangstor angebrachte Infotafel für die meisten Besucher auch die einzige Auskunft war. Die alte zumal von außen nur schlecht lesbare, eckig eingefasste, rötliche Inschrift, wollte jedoch in Kürze über den Ort und seine Geschichte informieren.
Die Inschrift beginnt mit einem hebräischen Zitat aus dem biblischen Buch Daniel35
Heißt: „Und Du gehst bis zum Ende und ruhst, und stehst für dein Los, zum Ende der Tage".
Der weitere Text besagt, dass der Friedhof 1636 „eröffnet“ und 1802 das Friedhofshaus erbaut worden sei und 1871 die Umfassungsmauer des Friedhofs „neu aufgeführt“. Keine dieser Daten ist zutreffend, auch handelt es sich bei der Inschrift nicht um die Originalinschrift, sondern um eine aus dem Gedächtnis rekonstruierte Neufassung. Ganz so als wollte man einen Anklang an die biblische Geschichte selbst nehmen, wurde die erste Fassung der Tafel – wohl im Frühjahr 1942 – zerbrochen, und nach dem Krieg eben wieder rekonstruiert. Wann genau die Inschrift erneuert wurde, ist nicht bekannt. Einen Festakt gab es offenbar nicht, noch nicht mal profane Berichte dazu. Auch das Archiv der jüdischen Gemeinde schweigt dazu, obwohl aus der Zeit nach dem Naziregime Aufzeichnungen vorhanden sind. Gäbe es nun keine Notizen von Zeitzeugen, wüssten wir auch nicht, dass es zuvor eine andere – stilistisch ähnliche – Inschrift gab:36
1802
Der leidenden Menschheit jüdischer
Nation dieses Haus erbauet und gewid.
Von Pfersee, Steppach und Kriegshaber
1871
Die Umfassungsmauer neu aufgeführt
1902
Das Haus vollständig neu renoviert
Das hebräische Zitat37 stammt aus dem Buch „“ (wörtlich: „Buch des Lebens“, einem Andachtsbuch aus dem Jahr 1824),38 was übersetzt in etwa heißt: „Alles was den Staub bedeckt, bedeckt er mit dem Fleisch, denn sie (die Toten) sind zum Ruhen (hier) und wir (die Lebenden) seufzen in Trauer“.
Die etwas sonderbare Formulierung von „der leidenden Menschheit jüdischer Nation“ war für das Jahr 1902, als die erste Tafel angebracht wurde sehr zeittypisch vom frühen Zionismus geprägt.39 Das mag ein wenig verwundern, weil es sich bei der Kriegshaber Gemeinde um eine Art „Austrittsgemeinde“ handelte, in welcher sich sog. „orthodoxe“, also traditionelle Juden sammelten, die die „uferlose Verwässerung“ der altehrwürdigen Gottesgebote und des Brauchtums in den städtischen Reformgemeinden eher ratlos zurück ließ.
* * *
Zeitzeugen des Friedhofs waren auch seine Pfleger, die wie niemand sonst zumindest den physischen Zustand beschreiben können. Wie wir aus der Überlieferung wissen, wurden die jüdischen Gemeinden von Beginn von manchen Predigern verdächtigt, dass das Friedhofshaus auch als eine Art Hotel oder Krankenhaus, usw. benutzt wurde. Da wir die Anhaltspunkte nicht kennen und auch vermuten dürfen, dass unsere Vorstellungen zu diesen Begriffen mit denen vor dreihundert Jahren nicht zwangsläufig übereinstimmen müssen, lassen wir es dahingestellt. Fest steht jedoch, dass im Haus von Beginn an Wächter wohnten und man die gesamte Geschichte auch aus dieser Perspektive schildern könnte, zumal es diesbezüglich eine erstaunliche Anzahl an Beschreibungen und Überbleibseln gibt. Begnügen wir uns an dieser Stelle aber damit, dass bis ins frühe 20. Jahrhundert die Wächter und Pfleger des Hauses Juden waren.40 Ihnen folgte im Februar 1927 die schwäbische Familie Felber, die bis zum Frühjahr 2005 den Friedhof pflegte und bewachte. Der Begründer der „Dynastie“ war Hermann Felber Sen. (1894–1956).41 Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit reiste Theo Harburger im Frühjahr 1927 im Auftrag des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden mehrfach zum Friedhof. Harburgers Bilder, die sich in der Regel natürlich mehr einzelnen Grabsteinen widmen, geben dennoch einen guten Eindruck vom sehr gepflegten Zustand des praktisch baumfreien Geländes zu dieser Zeit. Die Felbers lebten auch während der Nazizeit am Friedhof, über welche in der Familie später nur wenig gesprochen wurde. Der 1921 geborene Sohn Hermann Felber Jun. (1921 – 1980) wurde zum Kriegseinsatz eingezogen. Einem Bericht seiner Mutter Therese Felber (1896 -1985) der Ehefrau von Hermann Felber Sen., gegenüber einer städtischen Kommission in der Nachkriegszeit gemäß, drangen am 19. April 1942 deutsche Soldaten aus den in der Nachbarschaft entstandenen Kasernen in den Friedhof ein und zerschlugen zahlreiche Grabsteine und warfen eine Reihe anderer um. Wohl am selben Tag, vielleicht bei einer anderen Gelegenheit erstellte Hermann Felber Sen. eine Grabliste für den sog. neueren Teil des Friedhofs im nordwestlichen Teil des Geländes, insofern diese entzifferbare Inschriften in lateinischen Buchstaben aufwiesen. Das Dokument, das sich durch eine Reihe von Abschrift- oder Lesefehlern von den Registern der Jüdischen Gemeinde unterscheidet, landete unter der Signatur RSA J 1758 im Berliner Reichssippenamt. Die übergroße Mehrzahl der nur hebräischen Inschriften des Friedhofs wurde nicht erfasst und von der „Forschung“ nicht berücksichtigt. Hermann Felber Jun. geriet in Kriegsge-fangenschaft, und wurde in Kanada und Wales interniert. Seine dort erworbenen Englisch-Kenntnisse sollten ihm später hilfreich sein im Kontakt mit den zahlreichen Nachkommen von Juden die auf „seinem“ Friedhof bestattet waren und nun aus Israel, den USA oder aus anderen Ländern anreisten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1951 wurden am Friedhof (durchaus im Wortsinn) noch eine Reihe von Leuten bestattet, die im inzwischen in der Wissenschaft einbür-gerten Fachjargon sog. „Displaced Persons“ waren, wörtlich also „Personen am falschen Platz“, d.h. vor allem aus Osteuropa entführte Zivilisten, die als Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden, ihre Befreiung aber noch einige Wochen, Monate oder Jahre überlebten. Aus den erhaltenen Unterlagen der Friedhofspfleger ergab sich, dass weitere Beisetzungen stattfanden, ohne dass den Verstorbenen Grabsteine gesetzt wurden. Da alle Bestattungen auf Weisung der Augsburger Gemeinde, die sich ebenfalls im wesentlichen aus Flüchtlingen zusam-mensetzte, zustande kamen, kann nur gemutmaßt werden darüber, ob es nur an finanziellen Mitteln und Nachkommen mangelte, um ein würdiges Begräbnis oder Gedenken zu gewährleisten. Aber auch die 1961 in Wiedergeltingen exhumierte, und als bislang letzte in Kriegs-haber beigesetzte, Sophie Sonntag blieb ohne ein Gedenkmal. 1948 wurde Hermann Junior aus der Gefangenschaft entlassen und heiratete die aus Pfersee stammende Maria Hörtrich, mit der er drei Töchter und einen Sohn hatte. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1956 übernahm er die Friedhofsaufsicht unter einem neuen, zeitgemäßen Vertrag, der ihn u.a. verpflichtete, für „peinliche Ordnung“ zu sorgen und bei allen Begräbnissen hilfreich zu sein, aber erlaubte Hühner zu halten und ein Gartenbeet anzulegen.
Therese Felber mit Schafen, Hund und Hühnern bei der Friedhofspflege42
Die letzte Pflegerin Maria Felber am Friedhof (2002)43
Wie zuvor wurde von der Familie nur das obere Stockwerk bewohnt. Die gesamte untere Etage diente nach wie vor als Tahara-Haus, wurde aber seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt. In einem Raum war bis 1942 der Leichenwagen, im anderen nahm man die Leichenwäsche vor. In den beiden anderen Zimmern wurden die Toten aufgebahrt und die Angehörigen saßen daneben und beteten. Während der Amtszeit Hermann Felber Jun. wurde der Friedhof in Kriegshaber nicht mehr regulär benutzt und galt fortan als „aufgelassener“ Begräbnisplatz. Er wurde nur von sporadisch von einigen Angehörigen aus dem Ausland oder von Inspekteuren des Landesverbandes besucht. Haus und Garten waren alles andere als ein toter Ort, sondern Heim der vielköpfigen Felber-Familie. Sie lebten auf dem jüdischen Friedhof, umgeben von der Army-Siedlung. Eine Enklave in der Enklave …
Nach dem unerwarteten Tod Hermann Felber Jun. im Jahre 1980 stellte sich wiederum die Frage nach einem neuen Friedhofspfleger. Peter Felber, der einzige Sohn Hermann und Marias war bereit, die Pflege zu übernehmen, jedoch wohnte er außerhalb des Friedhofs und war schon verheiratet. Im Obergeschoss des Hauses lebten aber bereits seine Großmutter und Mutter, die Witwen von Hermann Sen. und Hermann Jun., während andererseits die gesamte untere Etage frei stand, obwohl sie seit nunmehr drei Jahrzehnten nicht mehr für Trauer- und Beerdigungszwecke benutzt wurde. Mit dem damaligen Präsidenten der IKG, Senator Julius Spokojny, konnte sich Peter Felber jedoch darauf verständigen, die fast leer stehenden Räume für private Wohnzwecke umzugestalten, was Peter Felber als nunmehr dritter Friedhofswärter aus der gleichen Familie in Eigenleistung unternahm. Das Platzproblem war somit gelöst. Da für die jetzt ausgelagerten Gartengeräte nun andere Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden mussten, baute Felber nach Absprache mit der Gemeinde zwei weitere Hütten die dicht an das Haus grenzten, sich aber mit belegten Gräbern „überschnitten“. Eine dritte, wesentlich ältere, aber kleinere Hütte, die zunächst als eine Art Gartenlaube diente, wurde bereits von Peter Felbers Großvater Hermann Jun. ca. 1950 errichtet. Aus privaten Gründen zog Felber, dessen Vertag ihn verpflichtete an Beerdigungen am jüdischen Friedhof im Augsburger Stadtteil Hochfeld mitzuwirken, im Jahre 1992 aus, weshalb bis zu ihrem Tod Maria Felber die Aufsicht des Friedhofs übernahm, natür-lich unter Mithilfe ihrer vier Kinder und acht Enkel.
Für heutige Augsburger, ist es nur schwer vorstellbar, dass der eher beschaulich durch die nördlichen Stadtteile Oberhausen und Pfersee fließende Hetten- bzw. Mühlbach einst mal die Staatsgrenze zwischen Augsburger und vorderösterreichischem Gebiet verkörperte. Ähnlich wird es jenen ergehen, die vom Augsburger Hauptbahnhof vorbei an der Riegele Brauerei durch den bunten Bahntunnel kommen und nach wenigen hundert Metern die Wertachbrücke nach Pfersee überqueren. Ganz so streng gehandhabt wurde es mit der Grenze zwar nicht, aber man brauchte schon Passierscheine, um von einem ins andere Gebiet zu kommen, musste Zurückweisungen, Verzögerungen, Befragungen hinnehmen. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass Augsburger manches Stück Land oder Haus auf der anderen Seite besaßen oder kaiserliche Lieferanten der Zugang zur Reichsstadt offen stehen sollte. In der Regel kam man doch eher gut miteinander aus. Komplizierter denkt man sich alles natürlich, wenn es mit Juden zu tun hat, obgleich es auch sie betreffend nicht wirkliche viele Belege im Laufe der Jahrhunderte gibt, die auf Komplikationen schließen lassen. Selbst wenn man die Ausweisung aus Augsburg nicht strikt versteht, ist es doch schon eher so, dass man sich den Grenzverkehr nach, wie auch den Aufenthalt von Juden in Augsburg schwierig und streng reglementiert vorstellt.
Richard Grünfeld, von 1910-1928 Rabbiner in Augsburg schrieb zur Einweihung der Synagoge in der Halderstraße in seinem oft zitierten „Gang durch die Geschichte der Juden in Augsburg“: „Die meisten der im Jahre 1438 aus ihrer Heimat vertriebenen Juden siedelten sich in der Umgebung Augsburgs an und bildeten in Steppach, Kriegshaber, Pfersee (seit 1569), Oberhausen (seit 1555), später auch in Göggingen und Lechhausen, selbständige Gemeinden.“
Hans K. Hirsch hingegen schreibt im Augsburger Stadtlexikon: „Die Ausgewiesenen wanderten in andere Städte in Schwaben, Franken und am Mittelrhein ab und zogen nach Polen und Oberitalien, den Zielgebieten jüdischer Emigration im Laufe des späten 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts. Gegen eine Niederlassung in den nahe Augsburg gelegenen Orten Pfersee, Kriegshaber, Steppach und Fischach sprechen die eindeutigen Formulierungen des Vertreibungsbeschlusses.“ Etwas später schränkt er jedoch ein: „Zu dem vor allem vom Klerus geforderten vollkommenen Ausschluss kam es in der Folgezeit allerdings nicht. Vereinzelt hielten sich Händler und Hausierer in der Stadt auf, doch eine jüdische Gemeinde durfte und konnte sich bis zum 19. Jahrhundert nicht entwickeln.“ 44
Dem Vernehmen nach scheint es klar, dass es in der Zeit zwischen 1440 und 1800 durchaus einzelne Juden in Augsburg gab. Dabei handelte es sich aber eher um „zufällige“ oder zumindest kurzfristige Aufenthalte. Beispiele dafür sind etwa der jüdische Drucker Chaim Schwarz, der über Jahre hinweg bedeutende hebräische Bücher in Augsburg druckte, oder aber Händler, die nur tagsüber in die Stadt durften und neben einem „Begleitzettel“ auch einen Stadtsoldaten als Wächter bei sich haben mussten. Ausnahmen davon bedurften dann schon eines Krieges, währenddessen man Juden – gegen Bezahlung – duldete. Das klingt in der Summe eher nach Randgeschehen, letztlich doch vernachlässigbar, weil zu unzusammenhängend und jeweils zu kurzfristig, um eine zumindest ansonsten durchgängige Abstinenz von Juden in Augsburg zu bestreiten.
Ganz so sporadisch waren die Aufenthalte von Juden in Augsburg dann aber doch nicht, wie sich aus dem bereits erwähnten Buch von Stetten/Hoscher ergibt. Im Jahre 1803 sollte die eigens zu diesem Zweck verfasste Schrift zur damaligen Streitfrage Stellung nehmen, ob Juden – gemeint waren jedoch nur sehr vermögende Bankiers, andere waren natürlich überhaupt kein Thema – in der Stadt Häuser kaufen und dafür übertrieben hohe Steuern zahlen durften. Stetten, bzw. Hoscher, denen die finanziellen Miseren der faktisch bankrotten Reichsstadt bestens bekannt waren befürworteten dies ausdrücklich. Ihre Schrift führte den Lesern, deren „Vorurteile“45 sie aufheben wollte, zunächst die lange jüdische Geschichte in der Stadt vor Augen, ehe im zweiten und dritten Teil der immerhin stolze 77 Seiten umfassenden Abhandlung der eigentliche Streitgegenstand und das Für und Wider behandelt wurde. Demgemäß sahen die Augsburger Stadtherren schon recht bald nach 1438/40, dass sie die Juden nicht dauerhaft aus der Stadt halten konnten (oder aus finanziellen Gründen nicht wollten) und fanden eine Regelung, auf die sie in der Folgezeit immer wieder zurückgriffen. Diese sah vor, Handel treibenden Juden46tagsüber in Begleitung eines (gebührenpflichtigen) Stadtdieners den Zutritt zu gewähren. Bereits aus dem Jahr 1452 ist die schon erwähnte Anweisung des Augsburger Bischofs (Peter von Schaumberg, im Amt von 1424 bis 1469), dass Juden „einen runden Lappen von gelbem Tuch auf der Brust tragen“ sollten.
Warum die folgende Notiz erst aus dem Jahre 1544 stammt ist unklar, freilich ist unstrittig, dass der jüdische Drucker Chaim Schwarz im Jahrzehnt zuvor mit seiner Familie und Schwiegersöhnen in der Stadt lebte und eine Reihe von Buchwerken druckte. Berichten nach wohnte er in einem Haus beim Gögginger Tor, beim heutigen Königsplatz. Das westliche Haupttor galt in der Folgezeit ohnehin als das einzige, durch welche Juden Eintritt in die Stadt gewährt wurde. Ob dies, wie heute noch angenommen, wirklich eine zusätzlich Schikane war, ist als eher unsachlich zu bezweifeln, wenn man berücksichtigt, dass die heute vom Königsplatz nach Westen, Richtung Hauptbahnhof, führende Straße bis ins 19. Jahrhundert den Beinamen „Pferseer Weg“ hatte, aus dem Grund weil es eben der kürzeste Weg nach Pfersee war. Warum hätten die Juden vom Westen kommend, auch zuerst die Stadt umrunden, um dann durchs Vogeltor in die Stadt gelangen wollen?
Am 14. Juni 1544, so berichten Stetten/Hoscher, wurde Juden der Eingang in die Stadt verwehrt, außer wenn sie einen Gerichtstermin wahrnehmen mussten. Aus derselben Zeit wissen wir, dass Rabbi Josef von Rosheim47, selbst Nachkomme Augsburger Juden, in der Stadt weilte. Im Jahr darauf soll auch der Drucker Chaim Schwarz die Stadt verlassen haben. Bereits im Folgejahr 1546 wurde die vorherige Beschränkung aber wieder modifiziert und der Zutritt erlaubt, insofern nun die „Handlung“ des Juden „von Nutzen für die Stadt und die Bürgerschaft“ sein sollte. Für diese Vermutung müssen wohl aus-reichend viele entsprechende Gründe vorgelegen haben. Stetten führt aus, welche Gründe für dieses Wechselspiel vorlagen. Die Juden nämlich waren in die „nächsten Dörfer“ gezogen und wurden dort von ihren neuen Landesherren unterstützt. Die nämlichen nächsten Dörfer waren österreichisch und gehörten zur Marktgrafschaft Burgau. 1574 wurden die in Oberhausen an der Wertach ansässigen Juden vom Augsburger Bischof Johann Eglof von Knörigen