Das Portrait - Rotraud Falke-Held - E-Book

Das Portrait E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die Karrierefrau Marion Berthold überfällt vor ihrem 49. Geburtstag Nostalgie. Deshalb lädt sie ihre alten Freundinnen aus der Jugendzeit ein, mit ihr eine Woche auf der holländischen Insel Texel zu verbringen: Karla Michels und Marlene Siedhoff nehmen die Einladung gerne an. Die drei Frauen treffen sich bei Verena Huisman, einer Malerin, die ebenfalls zu ihrem alten Quartett gehörte und heute mit ihrer Familie auf der Texel lebt. Die vier Frauen blicken in der Lebensmitte zurück und erkennen, dass sich viele Träume nicht erfüllt haben. Besonders Marlene steht vor den Trümmern ihres alten Lebens und muss von vorne anfangen. Auf Texel brechen Konflikte auf und neue Lebensentwürfe werden diskutiert. Außerdem macht ihnen die junge Isabella Kiefer Probleme, die nach einem Schiffbruch auf Texel gestrandet und nach ihrer Genesung geblieben ist. Verena hatte sich um die junge Frau gekümmert, doch inzwischen ist sie zunehmend genervt von Isabellas extremer Anhänglichkeit. Die Situation spitzt sich zu, als Kunstsammler aus Deutschland nach einem Portrait von Isabella fragen, die sie in einer Kunstzeitschrift gesehen haben. Unversehens sehen sich die Frauen größeren Problemen gegenüber, als sie jemals geglaubt haben. Welches dunkle Geheimnis umgibt Isabella? Wovor hat sie solche Angst und warum wird sie offenbar verfolgt?

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Seitenzahl: 394

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Besuchen Sie die Autorin im Internet:

www.rotraud-falke-held.de

Ein paar Worte vorweg:

Dieses Buch ist ein Roman, die ganze Geschichte ist frei erfunden. Nichts davon ist wirklich passiert.

Alle handelnden Personen sind ebenfalls erfunden.

Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

Auch den in der Geschichte erwähnte Shop „Fleurs“ und die genannten Kunstateliers gibt es nicht.

Nur das Pfannkuchenhaus gibt es wirklich auf Texel und natürlich die genannten Städte De Koog, Den Burg, De Cocksdorp, Den Helder sowie die Landschaften De Muy und De Slufter.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Mai 2018

Kapitel 1: Die Fremde

Teil

Kapitel 2: Marion

Kapitel 3: Verena

Kapitel 4: Marlene

Kapitel 5: Karla

Kapitel 6: Isabella

Luisa

Teil

Kapitel 7: Samstag, 08. September 2018

Kapitel 8: Sonntag, 09. September 2018

Kapitel 9: Montag, 10. September 2018

Kapitel 10: Dienstag, 11. September 2018

Luisa

Kapitel 11: Mittwoch, 12. September 2018

Luisa

Kapitel 12: Donnerstag, 13. September 2018

Luisa

Kapitel 13: Freitag, 14. September 2018

Teil

Kapitel 14: Die nächsten Monate

Epilog: März 2020

Die Karrierefrau Marion Berthold überfällt vor ihrem 49. Geburtstag Nostalgie. Deshalb lädt sie ihre alten Freundinnen aus der Jugendzeit ein, mit ihr eine Woche auf der holländischen Insel Texel zu verbringen: Karla Michels und Marlene Siedhoff nehmen die Einladung gerne an. Die drei Frauen treffen sich bei Verena Huisman, einer Malerin, die ebenfalls zu ihrem alten Quartett gehörte und heute mit ihrer Familie auf Texel lebt.

Die vier Frauen blicken in der Lebensmitte zurück und erkennen, dass sich viele Träume nicht erfüllt haben. Besonders Marlene steht vor den Trümmern ihres alten Lebens und muss von vorne anfangen. Auf Texel brechen Konflikte auf und neue Lebensentwürfe werden diskutiert.

Außerdem macht ihnen die junge Isabella Kiefer Probleme, die nach einem Schiffbruch auf Texel gestrandet und nach ihrer Genesung geblieben ist. Verena hatte sich um die junge Frau gekümmert, doch inzwischen ist sie zunehmend genervt von Isabellas extremer Anhänglichkeit.

Die Situation spitzt sich zu, als Kunstsammler aus Deutschland nach einem Portrait von Isabella fragen, das sie in einer Kunstzeitschrift gesehen haben.

Unvermittelt sehen sich die Frauen größeren Problemen gegenüber, als sie jemals geglaubt haben.

Welches dunkle Geheimnis umgibt Isabella? Wovor hat sie solche Angst und warum wird sie offenbar verfolgt?

Personen:

Marion Berthold

Karrierefrau und Single

Karla Michels

Hausfrau und Mutter

Verena Huisman

Künstlerin, lebt auf Texel

Marlene Siedhoff

Hausfrau und Mutter

Gustaaf Huismann

Verenas Ehemann

Luuk, Swantje

Verenas Kinder

Isabella Kiefer

junge Frau, auf Texel gestrandet

Joost Zumbrink

Besitzer des Texel-Atelier

Benthe Zumbrink

Joosts Ehefrau

Egmont de Bruin

Kutscher auf Texel

Joris van Dijk

Polizist auf Texel

Mathijs Verbeek

Polizist auf Texel

Florinda

Verenas Freundin, Inhaberin d.

Fleurs

Luisa Dahlke

Isabellas Freundin in Hamburg

Bettina Dahlke-Funk

Luisas Mutter

Kurt Funk

später Ehemann von Bettina

Bastian Marx

Luisas Freund

Hugo Winter

Eigentümer d, Bar Wunschbrunnen

Birgit Winter

Hugos Ehefrau

Manuel Urban

Eigentümer der Bar Desiderium

Sandy Mahler

Barmädchen im Wunschbrunnen

Antonio Fernandez

Türsteher im Desiderium

Tamara Herold

Geschäftsführerin im Desiderium

Lado

Türsteher im Desiderium

Luke, Steve

Türsteher im Wunschbrunnen

Hagen Grote

leitender Kommissar in Hamburg

Steffen Friedrichs

Polizist in Hamburg

Prolog:

Mai 2018

Kriminalkommissar Hagen Grote hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, als er die verlassene Pizzeria in der Nähe des Hamburger Hafens betrat. „Verdammt, wie lange liegen die Toten schon hier?“, fragte er leicht genervt.

Es war Samstag und er sah sein freies Wochenende dahinschwinden.

Der Mann von der Spurensicherung in sterilem weißem Anzug hob die Schulter. „Etwa zwei Wochen.“

„Zwei Wochen? Und niemand merkt was?“

„Nun ja, die Pizzeria ist schon lange verlassen und liegt sehr abgelegen. Hier kommt keiner hin.“

„Mmm“, brummte Grote. „Aber hat die beiden keiner vermisst?“

„Doch. Sie wurden ja als vermisst gemeldet. Von ihrem Sohn.

Der hat immer wieder versucht, sie telefonisch zu erreichen. Nach einigen Tagen hat er Nachbarn gebeten, in der Villa nachzusehen.

Als sie dort auch nicht anzutreffen waren, hat er sich an die Polizei gewandt. Seine Eltern hatten zwar erzählt, dass sie ein paar Tage verreisen wollten, aber zu dem Zeitpunkt hätten sie schon zurück sein müssen. Sie hatten sogar schon Termine platzen lassen. Kein Zweifel, dass diese Leute seine Eltern sind. Leonore und Gerhard Schilling. Die Fotos passen genau.“ Grotes junger Kollege Steffen Friedrichs las die Angaben von seinem Notizblock ab. „Sie zweiundfünfzig, wie du, Chef, wenn ich mich recht erinnere.“

Grote verzog den Mund. „Ja, ja.“ Er wurde nicht gerne an sein Alter erinnert und Steffen wusste das genau.

„Der Mann zwei Jahre älter. Beide erfolgreiche Anwälte, lebten in einer Villa in Blankenese.“

Grote stieß einen Pfiff aus. „Das nenne ich allerdings erfolgreich.

Wenn man sich dort eine Villa leisten kann.“

„Außerdem haben die in Kampen ein edles Ferienhaus. Geld haben die, darauf kannste dich verlassen.“

Verdammt. Grote kratzte sich an der Stirn. Nun war er schon über zwanzig Jahre lang bei der Kripo, aber immer noch nicht unerschütterlich. Morde an Kindern erschütterten ihn am meisten.

Aber auch das: Ein offenbar wohlhabendes Ehepaar lag tot in einer verlassenen Pizzeria auf dem schmutzigen Boden. Mäuse krabbelten drum herum und Fliegen hatten sich auf den Körpern niedergelassen.

„Würden wir auch erst so spät vermisst, Steffen?“, fragte er.

Der junge Kollege zuckte mit den Schultern. „Kommt mir gar nicht ungewöhnlich vor. Mal ehrlich, Chef: Wenn ich meine Eltern nicht erreiche, versuche ich es am nächsten Tag noch mal und am nächsten wieder. Dann fluche ich darüber, dass sie niemals zu Hause sind. Irgendwann kommt es mir dann komisch vor, aber ein paar Tage dauert das schon. So ging es dem Sohn dieser beiden auch. Außerdem fuhren die öfter mal nach Sylt.“

Grote nickte. „Ja, du hast recht. Trotzdem – die Vorstellung, tagelang irgendwo zu liegen und nicht mal vermisst zu werden…“

„In dem Fall hätten wir doch eine Vermisstenanzeige sowieso erst nach vierundzwanzig Stunden aufgenommen. Es bestand kein Grund, von einem Verbrechen auszugehen.“

Ja, das war alles richtig. Vielleicht wurde er sentimental. Er schüttelte sich. Über so was durfte er nicht nachdenken. Er musste seine professionelle Distanz behalten.

„Und, Doc, was kannst du mir sagen?“, fragte er den Gerichtsmediziner, der noch neben den beiden Leichen kniete.

Doktor Erich Berends erhob sich etwas schwerfällig. Seine Hüfte machte ihm zu schaffen. Lange konnte er diesen Job nicht mehr ausführen. Er sollte sich wirklich nach etwas weniger Aufreibendem umsehen. Vielleicht sollte er das Angebot, an der Uni zu unterrichten, das man ihm vor kurzem unterbreitet hatte, annehmen.

Jetzt wandte er sich an Grote: „Messerstiche in die Nieren. Die waren sofort tot. Kein Kampf. Die waren entweder völlig arglos oder vollkommen überrascht.“

„Wurden sie hier getötet? Oder sind sie hergeschafft worden?“

„Auf jeden Fall sind die hier abgelegt worden. Hier ist kaum Blut.

Das allein spricht schon dafür.“

Berends hob die Schultern. „Um eure Aufgabe beneide ich euch nicht. Also, den ausführlichen Bericht gibt’s morgen. Wie immer.“

Grote nickte gedankenverloren.

„Steffen!“, rief er und sein dreiunddreißigjähriger Assistent stand beinahe im selben Augenblick neben ihm, als hätte er nur darauf gewartet.

„Ja Chef?“

„Wir müssen den Sohn verständigen. Haben wir seine Adresse?“

Steffens nickte. „Der lebt mit seiner Freundin in Stuttgart.“

„Wir müssen in die Villa. Vielleicht finden wir irgendwelche Hinweise auf ein Motiv. An welchem Fall arbeiteten die beiden gerade? Haben sie private oder berufliche Feinde?“

Steffen sah seinen Chef überrascht an. „Sagen Ihnen die Namen wirklich nichts? Schilling?“

Grote wartete auf weitere Informationen, die aber nicht kamen.

„Müssten sie?“, fragte er schließlich.

„Sie sind die Anwälte von Manuel Urban.“

Grote bekam große Augen. Manuel Urban. Ja, den Namen kannte man, wenn man bei der Polizei war. Erfolgreicher Geschäftsmann, Hotels, Bars, Mietwohnungen. Ein reicher Mann, der seinen Reichtum sicher am Rande der Legalität erworben hatte.

Rücksichtslos, skrupellos. Aber niemals verurteilt. Und dieses ermordete Ehepaar waren seine Anwälte?

Nein, das hatte er nicht gewusst. Vermutlich, weil er nie einen Fall von Urban bearbeitet hatte.

Er pfiff durch die Zähne.

„Na, da haben wir doch was, wo wir ansetzen können.“

Kapitel 1: Die Fremde April 2018

Verena Huisman machte ihren morgendlichen Spaziergang in der Heidelandschaft De Slufter. Sie atmete tief die frische Luft ein.

Nun lebte sie schon seit fünfzehn Jahren auf Texel und noch immer konnte sie sich nicht satt sehen an dieser wundervollen Landschaft. Was für eine Weite tat sich hier auf. Dort hinten, wo die Heide zu Ende war, konnte man das Meer schon ahnen. Sie liebte es, so früh am Morgen hier spazierenzugehen, bevor die Feriengäste aufwachten und mit Fahrrädern die Gegend erkundeten. Verena liebte es, hier allein zu sein.

Sie liebte die Heide, sie liebte die Dünen und sie liebte das Meer.

Sie liebte diese grenzenlose Weite mehr als die Berge.

So früh am Morgen war es noch ziemlich kalt, aber die Helligkeit der Sonne kündigte bereits den nahen Frühling an. Verena mochte dieses Gefühl, wenn man trotz der Kälte die Wärme schon ahnen konnte.

Sie mochte den Frühling lieber als den Sommer. Aber noch lieber hatte sie den Herbst. Sie zog sich gerne dicke Pullover an und ging in Gummistiefeln hier spazieren. Sie liebte es, wenn die Sträucher sich im Wind bogen. Dann konnte man so richtig die Kraft der Natur spüren. Und die Ewigkeit. Nirgends sonst kam ihr das so zum Bewusstsein.

Ihr Hund Jasper begleitete sie. Fröhlich und ausgelassen rannte er neben ihr her. Sie beobachtete ihn schmunzelnd. Sie liebte dieses struppige Wollknäuel.

Groß war er nicht gerade, aber auch nicht winzig. Er war schon ein richtiger Hund, wie ihr Mann Gustaaf betonte.

Aber aus welchen Rassen er sich zusammensetzte, wusste niemand. Irgendeine bunte Promenadenmischung aus Cockerspaniel und Berner Sennenhund oder etwas ähnlichem. Es war auch gleichgültig.

Sie hatte ihn gefunden. Ausgesetzt in den Dünen. In einer Zeit, in der kaum Touristen hier waren.

Das Hündchen war noch ganz jung gewesen. Süß und wuschelig und hilflos hatte es angebunden zwischen den Sträuchern gelegen.

Fortgeworfen, als sei es ein überflüssiger Dekorationsgegenstand.

Es hatte gewinselt und Verena war es vorgekommen, als würde es weinen.

Sie hatte den jungen Rüden aufgehoben, er hatte sich an sie geschmiegt, als wüsste er, dass sie seine Rettung war. Natürlich hatte sie ihn mitgenommen und dann konnte sie sich nicht mehr von ihm trennen. Ihre Kinder Luuk und Swantje waren glücklich über den kleinen Hund gewesen und hatten ihm den Namen Jasper gegeben.

Jetzt war er bereits seit vier Jahren ihr treuer Begleiter.

Sie löste Jaspers Leine und ließ ihn laufen. Es war niemand hier.

Sie war ganz allein mit dem Hund. Außerdem hörte er ausgesprochen gut. Wenn sie ihn rief, vergaß er alles andere, was ihn gerade interessierte und düste zu ihr.

Es war friedlich und ruhig hier draußen.

Sie reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen.

Jeden Funken Wärme und jeden Lichtstrahl wollte sie in sich aufsaugen.

Plötzlich wurde Jasper unruhig.

Er rannte auf sie zu und bellte.

„Was hast du denn?“, fragte sie.

Jasper rannte wieder los.

Doch als er merkte, dass sie ihm nicht folgte, kam er zurück und kläffte.

Verena schüttelte den Kopf. Der Wind wehte durch ihr langes, dunkles Kraushaar. Sie hielt es mit der Hand zurück.

Jasper bellte und sprang an ihr hoch, er rannte ein Stück vorwärts, drehte sich um und bellte erneut.

Ist ja wie bei Lassie, dachte Verena. Sie verstand, dass sie ihm folgen sollte.

Jasper rannte vor. Verena wurde schneller. Sie begann zu rennen.

Was hatte der Hund nur?

Jetzt war er stehen geblieben.

Verena blieb ebenfalls stehen. Sie sah sich um.

Und dann entdeckte sie, was Jasper so aufregte.

Dort lag etwas. Oder besser: Jemand.

Verena lief hin.

Eine junge Frau lag dort. Wie hingeworfen.

Wie damals Jasper, dachte Verena. Nur, dass die Frau nicht festgebunden war.

Sie lag wie tot zwischen den Büschen. Verena ließ sich neben sie fallen. Sie tastete nach dem Puls der Frau, sie drückte ihr Ohr auf ihre Brust.

Die Frau lebte. Ganz schwach ging ihr Herz.

„Hallo! Wachen Sie auf!“, rief Verena.

Sie tastete in der Jackentasche nach ihrem Handy. Jetzt war sie froh, dass ihr Mann Gustaaf immer darauf bestanden hatte, dass sie es mitnahm.

Sie wählte die Nummer des Notarztes.

Sie tätschelte weiter die Wange der Frau.

„Aufwachen!“, rief sie.

Endlich regte sich die Frau.

Sie stöhnte ganz schwach und drehte ihren Kopf.

„Hallo! Da sind Sie ja wieder!“, sagte Verena. „Ich bin Verena Huisman. Und wer sind Sie?“

„Ich… ich heiße….“, sie verstummte.

„Ja?“, hakte Verena nach.

„Ich weiß es nicht“, hauchte die Fremde entsetzt.

Verena erschrak, aber sie zeigte es nicht. Sie blieb ganz ruhig.

„Das macht nichts. Machen Sie sich keine Sorgen. So etwas kommt vor.“ Verena wusste nicht, ob das stimmte. Sie hatte so etwas bisher nur gehört oder im Fernsehen gesehen.

„Was ist passiert?“ Die Fremde versuchte, sich aufzurichten. Sie stöhnte.

„Bleiben Sie liegen“, sagte Verena sanft. „Der Arzt kommt gleich.“

„Ich weiß nicht, was geschehen ist. Wie komme ich hier her?“,

jammerte die Fremde und hielt sich den Kopf.

“Hatten Sie einen Unfall? Sind Sie gestürzt?“, fragte Verena.

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

„Machen Sie hier Urlaub?“

Wieder schüttelte die Fremde den Kopf. „Ich weiß es nicht“, wimmerte sie.

Es muss ein furchtbares Gefühl sein, wenn man sich an nichts erinnern kann. Nicht einmal an seinen eigenen Namen, dachte Verena. Sie betrachtete die Fremde genauer.

Sie war nass und schmutzig vom feuchten Moosboden. Aber Verena erkannte doch, dass sie eine sehr schöne Frau war. Und eine sehr junge. Ihre langen, haselnussbraunen Haare lagen völlig zerzaust um ihren Kopf herum. Ihre dunklen Augen waren von schwarzem Kajalstift und Wimperntusche verschmiert.

Sie trug lange Hosen und Pullover. Sportlich geschnitten. Nicht so wie Verenas eigener Schlabberpullover, aber etwas Besonderes war es nicht.

Was war nur mit ihr passiert?

Die junge Frau krallte sich hilfesuchend an Verenas Arm.

„Ich weiß nicht, was passiert ist“, flüsterte sie und ihre Stimme klang ängstlich und verwirrt.

Verena griff nach ihrer Hand. „Keine Sorge, das kommt schon wieder in Ordnung“, tröstete sie hilflos.

Vom Meer näherte sich ein Rettungsboot.

„Der Arzt ist da“, sagte sie.

1. Teil

Kapitel 2: Marion

Marion Berthold schlug mit dem Fuß die Wohnungstür hinter sich zu, warf ihre Aktentasche samt Handtasche in die Ecke und kickte die hochhakigen Pumps von den Füßen.

Sie liebte ihren Beruf in der Einkaufsabteilung eines großen Modehauses. Aber jeden Freitag war sie froh, dass sie diesen Job für zwei Tage hinter sich lassen konnte. Oh, es war genau der Job, den sie machen wollte. Nichts anderes konnte sie sich vorstellen.

Sie ging regelrecht darin auf. Aber er war ebenso anstrengend wie verantwortungsvoll, ertragreich und erfüllend.

Sie ließ sich rückwärts in den Sessel fallen und breitete die Arme aus. Sie schloss die Augen und gab sich einen Moment dieser totalen Stille hin, die ihr Wochenende einleitete. Dieses Gefühl, die Verantwortung für zwei Tage ruhen lassen zu können… Sie würde sich ein Glas Wein einschenken und es genießen, während sie ihren Körper in heißem Badewasser entspannte.

Ihre Freitage waren immer gleich.

Was ist eigentlich mit mir passiert, fragte sie sich. Früher bin ich freitags und samstags auf Partys gegangen, in Diskotheken. Jetzt nehme ich ein heißes Bad und trinke Wein. Anschließend sehe ich mir einen Film im Fernsehen an – oder eine Comedy Serie.

Martina Hill oder so. Samstagabends gehe ich manchmal mit Freunden zum Essen. Und sonntags vielleicht in die Sauna. Was ist mit mir passiert? Ich werde langweilig, sehne mich nach Ruhe und Entspannung. Werde ich alt?

Sie lächelte, als sie an früher dachte. Damals, in der Schule, in ihrem Dorf… Sie waren eine eingeschworene Viererclique gewesen.

Oh Mann – sie sah die Mädels deutlich vor sich. Karla, Verena und Marlene. Sie selbst und Verena waren die ältesten, sie waren zusammen in eine Klasse gegangen. Karla und Marlene waren etwas jünger und einen Jahrgang unter ihnen. Marion merkte gar nicht, dass sie vor sich hin lächelte.

Jeder für sich war ein bisschen Einzelgänger gewesen. Sie selbst wollte immer schon Karriere machen. Sie stellte sich schon als Kind vor, irgendeinen leitenden Beruf auszuüben. So war sie als Streberin bekannt und nicht wirklich beliebt gewesen, außer, wenn man bei ihr abschreiben konnte.

Verena war eine Künstlerin. Sie konnte zeichnen wie keine andere und lebte in ihrer eigenen Welt.

Marlene und Karla waren eher die Stillen. Marlene war jemand, der nie den Mund auftat. Ein bisschen zu brav, ein bisschen zu angepasst. Karla dagegen war die Fürsorgliche, die für jeden eintrat, der ungerecht behandelt wurde.

Trotz ihrer unterschiedlichen Wesen - oder vielleicht gerade deshalb - waren sie Freundinnen geworden. Zusammen waren sie die unzertrennlichen Vier.

Mein Gott, wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Hier und da eine Ansichtskarte, vielleicht mal ein kurzes Mail, aber mehr nicht.

Verena lebte am weitesten entfernt. Es hatte sie auf die holländische Insel Texel verschlagen.

Karla lebte immer noch in dem kleinen Kaff ihrer Kindheit und hatte vier Kinder bekommen. Da war sie wieder - die magische Zahl Vier.

Marlene hatte neulich einen Brief geschrieben. Was hatte noch mal drin gestanden? Marion überlegte. Es konnte doch nicht sein, dass sie das vergessen hatte? Nein, es fiel ihr wieder ein. Marlene hatte zwei erwachsene Töchter, die jetzt aus dem Haus waren.

Und ihr Mann war ausgezogen. Kurz nach der Silberhochzeit.

„Freu dich“, sagte Marion zu der alten Freundin, die nicht da war.

„Hast noch mal die Chance, neu anzufangen, etwas zu erleben.“

Das Telefon schrillte. Marion zuckte zusammen, so sehr war sie in Gedanken versunken gewesen.

Sie erhob sich schwungvoll aus dem Sessel.

„Berthold!“, meldete sie sich.

„Hallo, hier ist Susanne. Kommst du morgen früh mit mir joggen?“

Marion seufzte. Susanne war eine gute Freundin. Sie lebte mit einem Mann zusammen, ohne Hochzeit, ohne Kinder, aber eben nicht ganz alleine.

Das war ihr Dilemma. So war es oft. Irgendwie waren sie alle gebunden. Und diejenigen, die getrennt oder geschieden waren, hatten zumindest Kinder. Sonntagsausflüge mit Paaren oder gar Familien? Das war nichts für Marion. Also verbrachte sie die Sonntage meist allein.

„Ja, ist in Ordnung. Aber nicht vor neun.“

„In Ordnung, um neun. Was machst du heute Abend?“

“Das übliche.“

Sie konnte förmlich sehen, wie Susanne grinste. Aber bei denen sah es auch nicht besser aus. Wein, gutes Essen, Fernsehen, Wochenendsex. Mehr war da auch nicht. Die Zeit der Diskos war eben zu Ende.

„Dann lass das Wasser nicht kalt werden. Bis morgen. Lust auf Frühstück danach? Im Petit Paris?“

Marion nickte. „Gerne.“

Sie drehte am Wasserhahn und stellte die richtige Temperatur für das Badewasser ein. Als das Wasser rauschte, ging sie in die Küche und öffnete eine Flasche Wein.

Mit dem Glas in der Hand machte sie sich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. Vor dem großen Standspiegel im Flur blieb sie stehen.

„Prost!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und hob ihm das Glas entgegen.

Sie betrachtete sich. Ihr schulterlanges, glattes Haar war immer noch dunkel, sie musste es noch nicht färben. Höchstens ein paar Strähnchen, das brachte etwas Lebendigkeit. Sie trug keinen Pony, ihre Stirn war frei, auch wenn ihr Gesicht erste feine Falten zeigte. Aber es sah nicht alt aus.

„Ausdrucksstark“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Ja, das war es.

Es war kein jugendliches Gesicht mehr. Es war das Gesicht einer reifen Frau. Oval, mit geschwungenen, schwarzen Augenbrauen über dunklen Augen.

Sie drehte sich vor dem Spiegel. Sie trug noch immer das gestreifte Geschäfts-Kostüm. Ihre Figur war in Ordnung. 1,70 Meter groß, zweiundsechzig Kilo. Keine Bauchrollen - oder zumindest nur ganz wenig - schlanke Beine. Sollte man nicht ab vierzig Jahren massiv zunehmen? Davon war noch nichts zu sehen.

„Scheiße, was ist nur mit mir los? Warum schwelge ich heute so in alten Zeiten?“, fragte sie ihr Spiegelbild.

„Du gehst auf deinen Geburtstag zu. Den letzten mit einer vier vorne“, antwortete das Spiegelbild.

„Neunundvierzig. Ich bin doch unmöglich neunundvierzig.“ Sie zog eine Grimasse.

„So siehst du vielleicht nicht aus, aber du bist es.“

„Und was ist daran so Besonderes? Warum sollte mich das so sentimental machen?“

Marion wandte sich ab. Sie wollte nichts mehr von ihrem Spiegelbild hören.

Neunundvierzig. Nichts Besonderes.

Die Zahl war ja nicht mal durch fünf teilbar.

Allerdings - danach änderte sich die Zahl vorn. Fünfzig – puh, das klang doch schon ganz anders. Vielleicht ist das so erschreckend?

Neunundvierzig. Die biologische Uhr hatte längst aufgehört zu ticken.

Marion war nicht der Meinung, dass man mit Ende Vierzig noch Kinder kriegen sollte. Nicht, dass sie jemals den Wunsch danach gehabt hätte.

„Was denkst du da eigentlich für einen Mist zusammen?“

Sie tigerte mit ihrem Wein ins Bad. Die Wanne war inzwischen voll.

Marion stellte das Glas auf den breiten Wannenrand ab, zog sich aus und ließ sich in das heiße Wasser mit den Schaumbergen gleiten. Sie nahm immer viel zu viel Schaum. Sie liebte es, in diesen weißen Wolken einzutauchen.

Sie lehnte ihren Kopf an das Kissen zurück und schloss die Augen.

Ich weiß, was ich tue, dachte sie. Ich werde die unzertrennlichen Vier einladen. An seinem Geburtstag darf man ruhig mal ein bisschen sentimental sein. Und es wäre schön, alle wieder zu sehen, mit ihnen allen zusammen zu sein. Sie können alle herkommen nach Hannover. Ich werde Zimmer für sie buchen und wir werden…. Sie stockte plötzlich, hielt in ihren Gedanken und ihrer Bewegung inne. Ihre Hand blieb auf dem Weg zum Weinglas für eine Sekunde in der Luft schweben.

Dann lächelte sie vor sich hin. „Nein“, sagte sie laut. „Nein, wir werden alle zu Verena nach Texel fahren. Mal sehen, an meinem Geburtstag sind keine Sommerferien mehr, vielleicht können wir in einer ihrer Ferienwohnungen unterkommen.“

Texel im September – das war wirklich eine verlockende Aussicht.

Das Wetter war bestimmt noch schön. Egal, ob man noch im Meer schwimmen konnte, die Landschaft dort war einfach traumhaft.

Die weite Dünenlandschaft, das Meer, die schönen Orte.

Vielleicht konnte sie sogar einen Ausritt machen.

Na ja, dort zu leben wäre nichts für Marion. Sie verstand auch nicht, wie Verena dort leben konnte. Auf dieser kleinen Insel, die irgendwie völlig abgeschnitten vom Rest des Landes war, weil man sie nur per Fähre erreichen konnte.

Marion selbst brauchte die Stadt. Sie brauchte den Trubel und Möglichkeiten auszugehen und zu Shoppen.

Na, jedem das Seine.

Für ihren Geburtstag war es jedenfalls eine wunderbare Idee.

Sie kam überhaupt nicht auf den Gedanken, dass jemand absagen könnte, dass die alten Freundinnen diese plötzliche Sehnsucht nicht teilten, die sie selbst ergriffen hatte.

Susanne und ihre Freunde hier in Hannover würden nicht böse sein. Wenn sie im Urlaub war, war sie eben einfach weg. Kein Problem.

Sie lächelte vor sich hin.

Mit diesem Gedanken konnte sie endlich entspannen. Irgendwie fühlte es sich richtig an.

Und gut.

Warum auch immer.

Kapitel 3: Verena

Verena hatte einen Anruf von Marion Berthold bekommen. Mein Gott, wie lange war das her. Sie konnte sich kaum an sie erinnern.

Und jetzt wollte Marion die alte Mädchenclique zusammentrommeln, um mit ihnen ihren Geburtstag feiern. Auf Texel.

Nostalgie - Verena lebte nun seit fünfzehn Jahren hier auf Texel und alles, was davor war, war für sie bedeutungslos. Nicht, dass sie alle Brücken abgebrochen hätte. Ihre Eltern lebten noch immer in Paderborn und sie besuchte sie auch mindestens einmal im Jahr. Und einmal kamen ihre Eltern für ein oder zwei Wochen her. Dann wohnten sie in der kleinen Ferienwohnung, die meistens für Verwandte oder Freunde aus ihrem früheren Leben bereit stand.

Aber Nostalgie, Sehnsucht nach Vergangenem plagten Verena nicht. Dazu war sie hier viel zu glücklich. In dieser wundervollen Landschaft, mit ihrer Arbeit als Malerin, mit ihrem Mann Gustaaf und ihren zwei Kindern, dem dreizehnjährigen Luuk und der elfjährigen Swantje.

Nein, Verena hatte überhaupt keinen Sinn und auch keine Zeit für Nostalgie. Aber freuen tat sie sich schon auf ein Wiedersehen mit ihren alten Freundinnen. Es würde sicher ganz lustig werden, sie alle wiederzusehen, zu erfahren, was aus ihnen geworden war.

Verena und ihre Familie hatten außer der Verwandten-Wohnung, wie sie es nannte, noch eine weitere Ferienwohnung, die sie regelmäßig vermieteten. Die machte nicht allzu viel Mühe, brachte aber etwas Geld ein. Sie hatte eine Reinigungsfrau, die es übernahm, die Wohnungen für neue Gäste herzurichten.

Aber im Grunde ihres Herzens war Verena durch und durch Künstlerin. Sie besaß ihr kleines Atelier - Verenas Kunststube - und malte immer wieder neue Motive. Sie zeichnete die mächtigen weitläufigen Sanddünen, das Meer, den Wald - im Sonnenschein oder im Nebel.

Sie zeichnete Menschen und Tiere. Sie übernahm Aufträge für Portraits, die sie nach Fotos zeichnete. Sie malte auf großer Leinwand oder auf Postkartengröße. Und sie verkaufte diese Dinge in ihrem kleinen Lädchen. Die Postkarten gingen sowieso weg wie warme Semmeln, aber auch die großen Bilder ließen sich gut verkaufen. Zusätzlich hatte sie begonnen, Schmuck zu entwerfen und ebenfalls zu verkaufen. Das kam bei den Gästen gut an.

Da ihr Lädchen neben ihrem Haus abseits der Städte lag, war sie froh, dass ihre Freundin Florinda, die den Souvenirshop Fleurs in De Koog betrieb, ebenfalls ihre Bilder ausstellte und verkaufte.

Aber oft fanden die Gäste auch den Weg zu ihr ins Atelier, um sich zeichnen zu lassen. Ihr Lädchen war inzwischen schon eine Art Geheimtipp geworden.

Das wiederum ärgerte offenbar den Inhaber des neuen Kunstateliers im Nachbarort. Das Texel-Kunstatelier. Verena hatte versucht, mit dem Besitzer zu reden. Der Name stieß übel auf, denn es war nicht das Texel-Kunstatelier. Das klang ja so, als ob es niemanden sonst auf der Insel gäbe. Sie hatte wirklich versucht, mit ihm in einen positiven Kontakt zu treten und ihm sogar angeboten, eine gemeinsame Ausstellung zu organisieren.

Aber der Joost Zumbrink, wie der Mann hieß, war nicht sehr freundlich gewesen. „An einer Zusammenarbeit ist mir nicht gelegen. Wir sind Konkurrenten, das sollte Ihnen klar sein“, hatte er kurz und bündig geantwortet.

Verena hatte laut nach Luft geschnappt. Zu so viel Snobismus gab es nicht viel zu sagen, aber dass sie sich vor Joost Zumbrink in Acht nehmen musste, war ihr von dem Moment an klar. Sie konnte sich nicht erklären, woher eine solche Feindschaft kam.

Ein anderes Geschäft, das bereits viele Jahre lang bestand, konnte ihn ja kaum so in Rage bringen. Er hatte doch davon gewusst, bevor er herkam.

Wieso hatte er dann überhaupt auf Texel ein Kunstatelier eröffnet?

Nun ja, vermutlich war er einfach ein Choleriker.

Trotzdem verlor Verena nicht ihren Optimismus. Zurzeit bestand auch kein Grund dazu. Ihre Quirligkeit und innere Zufriedenheit sah man Verena an. Sie war nicht sehr groß, schlank, mit strahlenden dunklen Augen und ebenso dunklen, immer etwas verwuselten Locken. Wenn sie sie bändigen wollte, band sie sie zu einem Zopf zusammen.

Im Augenblick beschäftigte sie aber noch etwas anderes. Vor fast zwei Wochen hatte sie in den Dünen diese junge Frau gefunden.

Irgendwie fühlte sie sich verantwortlich, obwohl das albern war.

Gustaaf fand, dass sie totalen Blödsinn redete. Das war ihr verdammter Idealismus, ihre Empathie für andere Menschen.

Andererseits gab es Kulturen, wo genau das der Fall war. Wenn man jemandem das Leben rettete, war man für ihn verantwortlich.

Und das Leben gerettet hatte sie der Frau zweifellos.

Die Fremde hatte zum Glück keine nennenswerten Verletzungen davon getragen. Ein paar Prellungen, einige Kratzer und eine offene Wunde am Bein. Aber sie war ziemlich unterkühlt gewesen und dehydriert. Nein, lange überlebt hätte sie nicht mehr, wenn sie niemand gefunden hätte.

Verena besuchte sie fast jeden Tag im Krankenhaus in Den Burg.

Das ließ sich gar nicht so leicht bewerkstelligen. Es war zwar nicht weit entfernt, aber immerhin hatte sie zwei schulpflichtige Kinder, einen Beruf, einen Haushalt und die beiden Ferienwohnungen.

Aber die junge Frau tat ihr zu leid, um das nicht zu tun. Sie lag dort ganz allein, hatte keine Verwandten oder Freunde, die sie besuchen konnten.

In ihrer Nähe hatte ihre Handtasche gelegen und darin hatte man Geld und einen Personalausweis gefunden. Ihr Name lautete Isabella Kiefer.

Glücklicherweise begannen sich bald erste Erinnerungen bei der jungen Frau zu regen. Sie lebte in Hamburg, also gar nicht sehr weit entfernt. Aber sie hatte keinerlei Erinnerung an das, was direkt vor ihrem Auffinden in den Dünen geschehen war, warum sie dort gestrandet war.

„Haben Sie Familie in Hamburg oder sonst wo? Ich könnte sie verständigen. Sicher würden Ihre Eltern kommen und sich um Sie kümmern“, schlug Verena ihr vor.

„Nein!“, rief Isabella aus. Fast ein bisschen erschreckt, was Verena doch sehr verwunderte. „Nein, meine Eltern sind tot und ich habe keine Geschwister.“

„Freunde?“

„Nein.“

„Aber Isabella, irgendjemanden muss es doch geben. Irgendjemanden hat doch jeder.“

Doch Isabella schüttelte beharrlich den Kopf. „Ich weiß zwar nicht, was genau geschehen ist, aber dass ich Hamburg verlassen habe und nicht mehr zurückkehren wollte, weiß ich schon.“

Verena zog die Augenbrauen hoch. Sie konnte das nicht verstehen. Selbst wenn Isabella die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, musste es doch irgendjemanden geben, der sich um sie sorgte. Der sich für sie interessierte. Irgendjemanden.

Aber sie fragte nicht weiter nach. Sie wusste, auch die Schwestern und Ärzte hier im Krankenhaus versuchten herauszufinden, wohin die junge Frau gehörte. Und die Polizei auch. Natürlich war die eingeschaltet worden, denn irgendetwas schien hier nicht zu stimmen. Niemand lag einfach so bewusstlos in den Dünen.

Verena sah auf die junge Frau im Krankenbett herab. Wie hilflos sie in dem schlichten Krankenhaushemd zwischen den weißen Laken aussah. Sie hatte ja nichts, aber auch gar nichts, was ihr gehörte.

„Ich werde Ihnen ein paar Sachen besorgen. Einen Schlafanzug, vielleicht eine Sporthose und ein T-Shirt? Das hätte ich längst tun sollen.“

„Aber…“ Isabella wollte ablehnen, aber dann nickte sie. Sie würde sich dann bestimmt wohler fühlen als in dieser Krankenhauskleidung.

Verena legte der jungen Frau die Hand auf den Arm. „Es wird schon alles wieder gut“, tröstete sie.

„Ach ja? Und wie?“

„Es wird sich zeigen. Glauben Sie einer alten Frau…“, Verena grinste, als sie das sagte. „Ich habe das immer wieder erlebt in meinem Leben. Es zeigen sich Lösungen auf, auch wenn man es sich nicht vorstellen kann.“

„Ach ja? Und Sie waren schon einmal in meiner Situation? Ohne Gedächtnis und ohne Zuhause?“

„Das war ich nicht, nein. Aber ich war schon in so manchen Situationen, in denen ich dachte, es geht nicht weiter. Das ist das Leben.“

Isabella sah sie irritiert an. Verena musste lachen.

„Schon klar, jetzt denkst du: Die hat gut reden.“ Sie ging automatisch zum vertrauten Du über. Isabella war so jung und so hilflos – sie wirkte viel jünger als dreiundzwanzig. Es kam Verena völlig dumm vor, sie immer noch zu siezen.

„Du bist noch sehr jung. Da kannst du ruhig einer alten Frau mit etwas mehr Lebenserfahrung glauben. Hast du wirklich keine Eltern mehr?“

Isabella dachte flüchtig an Luisa. Sie war eine gute Freundin gewesen. Aber nun gab es sie nicht mehr. Sie war tot.

Nachdrücklich schüttelte Isabella den Kopf. “Es gibt niemanden.“

Verena nickte. Irgendwann musste sie wieder auf eigenen Beinen stehen, selbständig sein. Aber jetzt war es erst mal wichtig, dass sie sich erholte.

„Was sagt die Polizei?“, fragte Verena.

„Es gibt nichts zu ermitteln. Ich war allein unterwegs. Offenbar mit einem Boot, denn ein kaputtes Boot wurde ein Stück draußen im offenen Meer gefunden. Eine Dummheit, wie ich jetzt weiß.

Aber es ist ja auch nicht allzu viel passiert.“

Nur dass du überhaupt nicht weißt, was passiert ist, dachte Verena.

„Du weißt noch immer nicht, wie es zu dem Unfall gekommen ist, oder?“, fragte sie zaghaft.

„Nein. Aber es gibt keine Hinweise auf Fremdeinwirkung.“ Bei den Worten verzog Isabella den Mund. Ein furchtbarer Begriff.

Fremdeinwirkung. Aber so hatte die Polizei es genannt.

„Ehrlich, Verena. Ich war allein, ich war wahrscheinlich mit einem Boot auf dem Meer, aber daran erinnere ich mich nicht. Es kann aber sein, dass ich etwas Abstand gewinnen wollte.“

„Wovon? Wovon musstest du Abstand gewinnen?“, fragte Verena.

„Von etwas, das in Hamburg passiert ist. An manche Dinge erinnere ich mich einfach nicht genau. Aber ich wollte vermutlich neu anfangen. Ich dachte, das ist nicht so schwierig. So was macht man doch in meinem Alter, oder nicht? Immer mal wieder neu anfangen.“

Verena wiegte den Kopf. „Ja, schon. Aber normalerweise hat man Wurzeln.“

„Ich nicht.“

Ja, das hatte sie inzwischen verstanden.

„Du kannst nicht ewig im Krankenhaus bleiben. Was hast du vor?“

Isabella hob die schmalen Schultern.

„Hast du Geld?“, fragte Vernea.

Isabella dachte an ihre Ersparnisse und an das Geld in ihrer Tasche. Es war noch da. Sie hatte nachgesehen. Diese Dinge hatte sie nicht vergessen.

„Ja. Ich habe ein Sparkonto. Und natürlich auch ein Girokonto, aber viel Geld besitze ich nicht“, erwiderte sie.

„Also hast du Geld verdient. Was ist dein Beruf?“

„Ich habe mal als Kellnerin gearbeitet und auch im Verkauf.“

Als Kellnerin. Und im Verkauf. Damit ließ sich doch etwas anfangen.

Verena lächelte vor sich hin.

„Pass auf, Isabella. Ich versuche, dir einen Job als Kellnerin zu besorgen. Oder vielleicht in einem Souvenirshop. Hier auf Texel.

Und ein Zimmer oder sogar eine kleine Wohnung. Was hältst du davon? Bis es soweit ist, kannst du in unserem Ferienhaus wohnen.“

„Hier? Ich weiß nicht…“

„Du willst lieber in eine Stadt, nicht wahr? Es wäre ja nur für den Übergang. Bis du wieder im Leben angekommen bist. Du kannst dich immer weiter umsehen. Wohin du möchtest, vielleicht rüber aufs Festland nach den Helder. Oder in eine deutsche Stadt? Dass du nicht zurück nach Hamburg möchtest, habe ich jedenfalls verstanden.“

Alles, nur das nicht, dachte Isabella. Ich bin ja nicht umsonst dort weggegangen.

Verena beobachtete sie genau. Sah, wie sich ihre Miene bei dem Gedanken an Hamburg verdüsterte. Kann es wirklich sein, dachte sie, dass Isabella an einzelne Begebenheiten in ihrem Leben keine Erinnerung hat? Sie weiß, dass sie in Hamburg gelebt hat, weiß, was sie gearbeitet hat, aber nicht, warum sie Hamburg verlassen hat.

Verena leuchtete ein, dass Isabella an die direkten Vorkommnisse vor ihrem Auffinden in den Dünen keine Erinnerung hatte, aber so partiell an das ein oder andere Ereignis aus ihrer Vergangenheit?

Na ja, vielleicht gab es tatsächlich irgendetwas Schreckliches, dass sie verdrängte. Das Gehirn war eine komplizierte Angelegenheit. Oder aber sie wollte einfach nicht drüber sprechen.

„Aber du kannst nicht darauf warten, bis diese Dinge wieder zu dir kommen. Du musst ja auch Geld verdienen. Aber ich kann dir helfen, kann mich umhören. Du wirst sicher bald entlassen? Dann musst du doch wissen, wo du hingehen willst.“

Isabella nickte. Ja, vielleicht sollte sie dieser netten Frau das überlassen. Fürs erste. Diese Verena war viel zu nett. So etwas hatte sie erst einmal erlebt, bei ihrer Freundin. Ihrer einzigen Freundin.

Sie hatte es gar nicht verdient, dass jemand so gut zu ihr war. Sie hatte schlechtes Karma. Aber jetzt hatte sie auch keine andere Wahl. Sie nickte matt.

Kapitel 4: Marlene

Marlene hockte auf ihrem Bett und starrte auf die kleine Packung in ihrer Hand. Schlaftabletten. Sie besaß sie seit Monaten. Seit ihre jüngere Tochter ausgezogen war.

Rebecca. Einundzwanzig war sie jetzt. Sie war für ein Jahr nach Amerika gegangen. Jetzt war sie bereits seit fünf Monaten fort.

Marlene war so stolz auf Rebecca. Sie würde ihren Weg machen.

Aber sie vermisste sie so sehr. Sie war doch ihre Kleine, ihr Baby.

Friederike war vor zwei Jahren ausgezogen. Inzwischen lebte die Vierundzwanzigjährige mit ihrem Freund zusammen, einem wirklich netten jungen Mann. Die beiden wohnten in Heidelberg, viele Kilometer von Marlene entfernt. Aber sie hatte ja immer gewusst, dass ihre Töchter nicht in dem Dorf bleiben würden, in dem sie aufgewachsen waren. Nicht mal als Kinder hatten sie wirklich gerne hier gelebt.

Auch sie selbst hatte sich hier nie wohl gefühlt. Sie und ihr Mann Bernd hatten nach Rebeccas Geburt das Haus in diesem kleinen Dorf in der Nähe von Bielefeld gebaut. Aber Marlene war hier nie heimisch geworden.

Bernd ging in den Schützenverein und engagierte sich im Heimatverein. Seit neustem spielte er sogar Golf.

Aber überall traf man die gleichen Leute, eine eingeschworene Clique, zu der Marlene keinen Zugang fand.

Anfangs hatte sie auf die meisten Feiern sowieso nicht mitgehen können, weil sie kein Kindermädchen fanden.

So wurde Marlene noch mehr isoliert.

Sie konnte sich an vielen Gesprächen nicht beteiligen, weil sie die Leute nicht kannte, über die ständig getratscht wurde.

Niemanden störte es, wenn sie nicht dort war. Niemand vermisste sie.

Sie zog sich immer mehr zurück. Als die Kinder größer wurden und sie kein Kindermädchen mehr gebraucht hätten, war sie bereits viel zu isoliert um noch den Anschluss finden zu können. Sie wollte es auch gar nicht mehr.

Gleichzeitig wurde Bernd immer aktiver. Er begann, sich politisch zu engagieren. Er lebte ein gesellschaftlich interessantes Leben ohne sie.

Ihr eigener Lebensmittelpunkt war immer ihre Familie gewesen.

Gut, ein paar Freunde hatte sie durch die Kinder schon gefunden.

Aber die Bekanntschaften waren zu oberflächlich und schliefen ein, als die Kinder erwachsen wurden.

Und jetzt war Bernd auch fort.

Auch das hatte sie schon lange gewusst. Sie hatte sich niemals Illusionen hingegeben. Sie war für ihn uninteressant geworden.

Nicht repräsentativ genug. Nicht gesellschaftsfähig.

Sie hatte dieses Leben gelebt, weil es eben so sein musste. Weil sie gebraucht wurde. Und weil sie ihre Familie über alles liebte.

Und jetzt war es eben vorbei, das Leben, das sie kannte.

Die Kinder waren fort.

Ihre Ehe war nach fünfundzwanzig Jahren gescheitert.

Sie merkte gar nicht, dass sie weinte.

Mein Gott, mit vierundzwanzig Jahren hatte sie selbst ihr erstes Kind bekommen - Friederike. Jetzt war sie doppelt so alt.

Ihren Geburtstag hatte sie allein gefeiert. Zum ersten Mal waren ihre Kinder nicht da gewesen. Und ihr Mann. Natürlich hatten ihre Eltern angerufen und Friederike aus Heidelberg. Rebecca hatte sie mitten in der Nacht erreicht – Sorry, ich habe gar nicht an die Zeitverschiebung gedacht.

Bernd hatte es nicht einmal nötig gehabt, ihr zu gratulieren.

Wahrscheinlich kam er sich sogar großmütig vor und redete sich ein, sie extra nicht anzurufen, um keine Erinnerungen an früher zu wecken und sie traurig zu stimmen. Aber so war er eben. Er konnte sich in jeder Situation einreden, dass er der Gutmensch war und alles zum Besten der anderen tat.

Ansonsten rief niemand an. Wer dachte schon an ihren Geburtstag.

Höchstens, wenn sie Leute einlud. Und dazu hatte sie einfach keine Lust gehabt. Sie wollte nicht feiern. Sie war einfach nicht in der Stimmung.

Und so hatte sie den Tag mit einer Flasche Wein vorm Fernseher verbracht.

Sie ließ die Jahre Revue passieren.

Immer war sie für die Familie da gewesen. Dabei hatte sie durchaus eine abgeschlossene Ausbildung und einen Beruf. Sie war Bürokauffrau. Aber sie hatte nur nebenbei die Buchhaltung für den Betrieb ihres Mannes Bernd erledigt.

Natürlich ohne Bezahlung. Wozu auch? Es blieb schließlich so oder so in der Familie. Sie hätte gerne wenigstens mal ein Dankeschön bekommen. Aber es war alles selbstverständlich.

Ihr ganzes Leben lang. Und jetzt war es vorbei.

Sie war ihm zu langweilig geworden, zu spießig. Jetzt lebte er mit einer Frau zusammen, die dreißig Jahre alt war und voll im Berufsleben stand.

Jetzt saß sie, Marlene, allein in diesem großen Haus. In einem Ort, in dem sie nicht sein wollte.

Das Haus war so still. So unheimlich still, dabei war es immer so voller Leben gewesen. Ihre Kinder hatten immer viele Freunde mitgebracht.

Und jetzt? Sie war doch immer noch keine alte Frau.

Mit achtundvierzig hatte sie das Gefühl, keine Zukunft mehr zu haben.

Sie blickte in den Spiegel in der Ecke.

Sie lachte etwas unwillig.

Gut sah sie gerade nicht aus.

Ihr blondes kurzes Haar war irgendwie verwuselt und aus der Form.

Ihre blauen Augen waren traurig und rot vom Weinen.

Natürlich hatte ihr Gesicht bereits Falten, ihr Hals war nicht mehr so straff wie früher. Aber alt?

Ihre Figur war nicht mehr so schlank und fest wie mit dreiundzwanzig. An den Beinen machte sich Orangenhaut breit, auch wenn man das jetzt in langen Jeans nicht sah.

Sie riss ihren Blick von dem Spiegel los. Sie starrte wieder auf die Tabletten. Starke Schlaftabletten. Ihr Hausarzt hatte sie ihr verschrieben, als Bernd ausgezogen war.

Sie hatte ihm davon erzählt und berichtet, dass sie nicht schlafen konnte.

„Sie müssen erst mal wieder zur Ruhe kommen“, hatte der Arzt gesagt. „Und dann suchen Sie sich einen Job, das wird Ihnen gut tun. Vielleicht neue Freunde?“

Sie hatte gelacht. In ihrem Alter ging man nicht mehr in eine Kneipe und fand im Handumdrehen neue Freunde. Die sozialen Kontakte standen und waren fest verwurzelt.

Und einen neuen Job? Nach so vielen Jahren, die sie nun aus dem Berufsleben heraus war?

„Vielleicht eine Gruppe“, hatte er vorgeschlagen. „Einen Volkshochschulkurs – einen Sprachkurs? Oder Sport? Irgendetwas gibt es sicher, das Sie schon immer mal machen wollten.“

Ja, es gab etwas. Aber sie hatte es immer wieder verschoben. Und jetzt war es irgendwie zu spät.

„Sie könnten einen Psychologen aufsuchen. Das ist nicht ungewöhnlich. Viele Frauen fallen in ein Loch, wenn die Kinder ausziehen. Hinzu kommen die Wechseljahre… Vielleicht hilft Ihnen eine Therapie?“, hatte der Arzt vorsichtig gefragt.

„Wenn ich erst wieder schlafen kann, komme ich schon klar“, hatte sie geantwortet und dabei gelächelt. „Es braucht nur etwas Zeit.“

„Natürlich. Ich könnte Ihnen wenigstens ein Mittel geben, dass Sie während der Hormonumstellung in den Wechseljahren ausgleicht.“

„Ich weiß nicht“, zögerte sie.

„Etwas Pflanzliches. Keine Hormone. Machen Sie sich das Leben nicht so schwer. Und melden Sie sich, wenn es trotzdem nicht geht. Haben Sie keine Scheu.“

„Ich komme klar!“, wiederholte sie stoisch.

Sie gab sich zuversichtlicher, als sie war. Aber sie wollte keine Hilfe. Sie hatte sich längst entschieden.

Sie hatte die Schlaftabletten nicht genommen, sondern weiterhin nachts wach gelegen und getrauert. Um die verlorene Familie.

Um das Leben, das nun vorbei war. Und sie hatte gewusst, dass nicht nur das Leben, wie sie es bisher kannte, vorbei war, sondern tatsächlich ihr Leben.

Sie hatte keine Zukunft mehr vor sich.

Deswegen wollte sie gehen.

Sie hatte einen anderen Arzt aufgesucht und weitere Schlaftabletten und sogar ein leichtes Antidepressivum verschrieben bekommen.

Sie wollte ganz sicher gehen. Sie wusste nicht, wie viele Tabletten sie brauchte. Und sie wollte keinen Hilfeschrei von sich geben. Sie wollte wirklich gehen.

In ein anderes Leben.

In eine andere Welt.

Sie griff nach dem Glas Wein auf dem Nachtkonsölchen.

Tabletten sollte man nie mit Alkohol nehmen. Komisch, dass ihr das jetzt durch den Kopf ging.

Sie lachte.

Aber das war jetzt wirklich egal. Sie wollte doch sowieso sterben.

Sie begann, die Tabletten aus der Packung herauszudrücken und auf einen kleinen Teller zu legen.

Sie hatte keine Angst.

Sie hatte nur noch Angst, weiterzuleben. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte.

Sie überlegte, wie sie die Tabletten nehmen sollte.

Alle auf einmal?

Aus der hohlen Hand in den Mund kippen oder einzeln?

Sie nahm zwei und spülte sie mit Wein herunter.

Dann drei. Ja, so war es in Ordnung. Nicht alle auf einmal. Es war ihre letzte Tat auf der Erde, die musste sie zelebrieren.

„Verzeih mir, Gott. Ich weiß, es ist Sünde.“

Aber sie war mit Gott im Reinen. Sie war gläubig erzogen worden und hatte ihren Glauben auch beibehalten. Trotzdem wollte sie gehen. Vielleicht war das widersinnig, aber gerade weil sie gläubig war, konnte sie gehen. Wenn sie nicht so fest an eine bessere Welt glauben würde, hätte sie niemals den Mut dazu aufgebracht.

Es klingelte.

Sie seufzte.

Sollte sie hingehen?

Sie sah auf die Tabletten.

Was machte es schon? Nur eine kleine Unterbrechung.

Sie stand auf und ging die Treppe hinunter. Die Post.

„Alles in Ordnung?“, fragte die Postbotin. Sie kannte Marlene Siedhoff schon lange. Und heute sah sie wirklich schlecht aus.

„Alles gut. Nur etwas erkältet“, erwiderte Marlene.

„Ich habe ein Päckchen für Sie.“

Marlene starrte darauf. „Das ist für meinen Mann, der wohnt nicht mehr hier.“

„Ja, ich weiß. Es tut mir leid. Nehmen Sie es trotzdem?“

„Nein. Soll er doch einen Nachsendeantrag stellen.“

Komisch, irgendwie tat es ihr gut, die Annahme dieses Päckchens zu verweigern.

Die Postbotin nickte. Ihr war es wirklich gleichgültig.

„Hier ist Ihre Post.“

Marlene nahm die Briefe entgegen. „Danke.“

Sie schloss die Tür wieder. Dann blätterte sie die Briefe durch.

Werbung, eine Rechnung, noch mehr Werbung. Aber da… Oh, das war ja ein Brief von Marion, wie der Absender verriet.

Marlene war überrascht. Sie hatte lange nichts von den alten Freundinnen gehört. Eine Nachricht aus einem alten Leben. Mal sehen, was sie wollte.

Marlene schmiss die anderen Briefe auf ein niedriges Garderobenschränkchen im Flur. Auch die Rechnung. Egal.

Morgen würde sie tot sein.

Wann sie wohl gefunden wurde? Ob es lange dauern würde, bis die Nachbarn sie vermissten? Oder schlugen ihre Töchter Alarm, wenn sie sie telefonisch nicht erreichen konnten?

Sie riss Marions Brief auf. Was die alte Freundin schrieb, wollte sie doch noch wissen.

Ihre Augen wurden groß, als sie eine Einladung nach Texel vorfand. Zu Marions Geburtstag.

Texel – Niederlande.

Zu Verena.

Sonne – Meer – Wind auf der Haut.

Verena und Marion wieder sehen. Vielleicht auch Karla?

Wie lange war das alles her?

Ein kleiner Funken begann in ihr zu glimmen.

Konnte es einen Grund geben, nicht zu fahren?

Sie gähnte. Sie wurde müde. Fünf Tabletten hatte sie genommen.

Daran würde sie nicht sterben. Nur schlafen. Wunderbar tief und lange schlafen.

Sterben konnte sie immer noch.

Kapitel 5: Karla

„Mama, wo ist meine blaue Bluse?“, tönte die Stimme der siebzehnjährigen Alice durch das Haus.

„Die Geblümte?“, fragte ihre Mutter Karla.

„Ja.“

„In der Wäsche!“

„Waaaas? Aber ich brauche sie! Sofort!“

„Ich kann nicht hexen. Sie ist in der Wäsche. So schnell geht das jetzt nicht.“

„Ich will sie heute Abend anziehen.“

„Alice – ich kann auch nicht immer alles auf einmal machen.“

„Aber…..“

„Kannst du nicht einfach eine Maschine voll anstellen und alles in den Trockner schmeißen? Dann müsste es doch bis heute Abend fertig sein“, erklang eine Männerstimme von der Tür.

„Jochen!“, entfuhr es Karla vorwurfsvoll.

Sie fasste ihren Mann beim Arm und zog ihn mit sich.

„Warum fällst du mir so in den Rücken?“, zischte sie.

„Wenn ihr soviel daran liegt? Ist doch nur wegen der Party bei ihrer Freundin.“

„Ja, dieses Mal. Sie hat immer einen Grund. Eine Party, ein Eis essen, ein Date. Ich bin doch nicht nur auf der Welt, um eure Wünsche zu erfüllen. Ich komme mir vor wie euer Dienstmädchen.“

„Übertreibst du da nicht ein wenig? Wir haben alle unsere Arbeit.“

„Aber nicht alle werden behandelt wie Lakaien.“

„Karla…“

„Mama! Maaamaaaa! Kann ich mich mit Sebastian verabreden?

Bei ihm?“, schrie der zwölfjährige Finn.

Karla machte eine unbestimmte Handbewegung, die in etwa besagte: Siehst du?

„Sebastian wohnt zwanzig Kilometer entfernt. Wenn ich es ihm erlaube, muss ich ihn fahren.“

„Kann Lilly bei mir übernachten?“, rief die neunjährige Sabrina dazwischen.

„Und ich muss ein Bett für Lilly beziehen“, zählte Karla weiter auf.

„Ich hab Hunger!“, schrie David.

„Du bist nicht mehr fünf, sondern fünfzehn. Mach dir selbst was.“

„Nein, der Junge rat Recht. Was gibt es zum Mittagessen?“

„Es ist halb zwölf. Das hat wohl noch Zeit.“

„Was ist jetzt mit meiner Bluse?“, schrie Alice dazwischen.

Karla raufte sich verzweifelt durchs Haar.

Wünsche – Forderungen - Erwartungen.

Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr Leben bestand nur darin, Wünsche und Forderungen von ihren vier Kindern und ihrem Ehemann zu erfüllen.

Rutscht mir alle den Buckel runter, dachte sie, während sie dunkle Wäsche zusammenklaubte und in einen Wäschekorb schmiss, um sie zu waschen.

„Bin ja selbst schuld“, murmelte sie dabei missmutig vor sich hin.

„Ich funktioniere doch ausgesprochen gut. Warum tue ich das jetzt?“

“Was ist mit Sebastian?“, rief Finn.