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Carolin und Nick helfen in den 1980er Jahren bei der Renovierung der Burg Dringenberg. Dabei machen sie einen geheimnisvollen Fund. Sie entdecken alte Schriften aus der Gründungszeit des Ortes. Geschrieben wurden sie von dem Mädchen Clara, die 1322 als Zwölfjährige mit ihrer Familie in das neue Dorf auf dem Berg zog. Clara hat eine gefährliche Gabe - sie ist hellsichtig. Aus Angst, als Hexe angesehen zu werden, versucht Clara ihre Gabe geheim zu halten. Doch sie fühlt sich zerrissen, denn sie hat Träume, die sich mit dem strengen Frauenbild ihrer Zeit nicht vereinbaren lassen. In dem Dorf zieht die geheimnisvolle Odilia sie in ihren Bann. Odilia ist eine gebildete Frau mit einer völlig anderen Lebensanschauung. Sie lehrt Clara nicht nur lesen und schreiben, sondern bestärkt sie auch darin, ihren eigenen Weg zu gehen. Doch der ist gefährlich. Odilia gerät bald in den Verdacht, eine Hexe zu sein und auch Clara als ihre Schülerin befindet sich in großer Gefahr. Die Hexenschülerin ist eine spannende Zeitreise für Mädchen und Jungen ab etwa 10 Jahren
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Seitenzahl: 303
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Prolog Ein unerwarteter Fund
Kapitel 1 Die Tochter des Schmieds
Kapitel 2 Odilia
Kapitel 3 Eine seltsame Begegnung
Kapitel 4 Gefühlschaos
Kapitel 5 Der Händlerzug
Kapitel 6 Das Dorf auf dem Berg
Kapitel 7 Die Kräuterfrau
Kapitel 8 Gabriel
Kapitel 9 Eine Überraschung
Kapitel 10 Geheimnisse und ein böser Traum
Kapitel 11 Unfall am Rathaus
Kapitel 12 Antonia
Kapitel 13 Odilias Geheimnis
Kapitel 14 Das Trauerhaus
Kapitel 15 Im Gewitter
Kapitel 16 Richard
Kapitel 17 Audienz beim Bischof
Kapitel 18 Kräuterweihe
Kapitel 19 Hexenverfolgung
Kapitel 20 Ritter Theudebert
Kapitel 21 Der erste Markttag
Epilog Carolin und Nick
Persönliche Worte
Wahrheit oder Erfindung
Im Jahr 1984:
Nick Hardes, 14 Jahre
Carolin Hardes, 12 Jahre
Deren Eltern
Andreas und Joachim, zwei Jugendliche
Im Mittelalter:
Clara, 12 Jahre
Mathilde
Claras Großmutter
Ludwig
Claras Großvater, ein Schmied
Dorothea
Claras Mutter
Vinzenz
Claras Vater, ein Schmied
Adrian, 14 Jahre
Claras Bruder
Uta, 6 Jahre
Claras kleine Schwester
Matthias, 3 Jahre
Claras kleiner Bruder
Odilia
gelehrte Frau und Heilerin
Reinmar
Odilias Ehemann
Gabriel, 14 Jahre
Odilias Sohn
Felix, 8 Jahre
Odilias Sohn
Selene
Hündin
Flocke und Kobold
Selenes Welpen
weitere Personen im Dorf und auf der Burg
Beatrix
Claras Freundin
Hildegunde
fanatische Bäckerstochter
Richard
Hildegundes Verlobter
Gerlinde
Vinzenz Schwester
Roland
Gerlindes Ehemann
Bischof Bernhard
Gründer des Dorfes Dringenberg
Ritter Theudebert
Gefangener Ritter, der den Brunnen gräbt
Der Medicus
Cäcilia
die alte Heilerin
Ein Priester
Händlerfamilie
Für alle, die sich trauen, ihren eigenen Weg zu gehen.
Es erfordert Mut,
denn man trifft immer auf Widerstand.
Der Bus hielt an der Haltestelle BURG und mit einem schnaufenden Geräusch gingen die Türen auf. Die Schüler, die gerade von der Schule aus Bad Driburg kamen, drängten hinaus. Carolin und Nick Hardes stiegen lachend und schwatzend mit den anderen aus. Sie trugen ihre Schulranzen in der Hand.
Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt.
Mist, dachte Carolin. Das würde ihre dichten rotblonden Haare, die ihr lockig über den Rücken flossen, wieder zum Kräuseln bringen und sie würde aussehen wie ein Mob.
Sie schulterte schwungvoll ihren Ranzen. Die meisten ihrer Mitschüler liefen sofort in alle Richtungen davon. Aber ihr Bruder Nick blieb natürlich stehen und warf einen langen Blick auf das alte Gemäuer der Burg.
Der Vierzehnjährige war klar auf dem Weg zum Mann. Er war groß und seine Schultern waren ziemlich breit geworden. Obwohl er immer noch sehr schlank war, wirkte er nicht zierlich, wie seine Schwester. Auch seine Stimme wurde schon dunkler. Sie brach wie bei den Meisten in seiner Klasse. Carolin mochte das.
Seine Haare waren auch ganz anders als ihre eigenen. Sie waren glatt und kurz geschnitten und von einem kräftigen Braunton.
Jetzt lachte Carolin, während sie ihren Bruder dort stehen sah – mit diesem bestimmten Blick auf die Burg. Doch bevor sie etwas sagen konnte, kamen schon Andreas und Joachim dazu. „Na, geht ihr nachher wieder brav auf die Burg? Zum Schuften?“, höhnte Andreas.
„Und? Was dagegen?“, schnappte Carolin.
„Nö. Aber man muss ganz schön blöd sein, so eine Schinderei für nichts.“
„Ist schon klar, dass du dich nicht für irgendwas einsetzen würdest“, entgegnete Carolin. „Aber uns macht es zufällig Spaß.“
Die beiden Jungen lachten. „Ist uns doch egal. Wenn du nichts Besseres zu tun hast…“
Carolin öffnete den Mund, aber ihr Bruder legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Lass sie reden. Die Blödheit kannst du denen sowieso nicht austreiben.“
Daraufhin zog er seine Schwester mit sich die Straße hinunter.
Das Geschimpfe von Andreas und Joachim wegen ihrer frechen Antwort verfolgte sie, aber sie konnten die Worte schon nicht mehr verstehen.
Carolin brabbelte irgendwas vor sich hin über die Dummheit und Ignoranz der beiden Jungen. Nick verstand nur die Hälfte davon. Er musste lachen. „Nun lass sie doch. Ist doch egal, was die denken. Wir werden nachher jedenfalls wieder zur Burg gehen und bei der Renovierung der Räume helfen. Weil es total interessant und irgendwie sogar spannend ist.“
„Genau. Ist doch aufregend, dabei zu sein, wenn ein Stück Geschichte aus dem Mittelalter wieder neu ersteht. Und weißt du, was noch spannender wäre? Mehr von den Menschen zu erfahren. Ich wüsste gerne, wie sie gelebt haben. Was für Menschen lebten eigentlich auf der Burg?“
„Na, Bischof Bernhard“, antwortete Nick.
„Klar. Aber doch nicht alleine. Er hatte zum Beispiel Bedienstete. Wie waren die so? Sie haben doch auch Gefühle gehabt wie wir heute. Sie waren manchmal traurig und manchmal froh, haben gelacht oder geweint. Ihre kleinen Sorgen gehabt…“
„Wahrscheinlich sogar eher große Sorgen. Das war eine ganz schön raue Zeit damals. Aber mehr werden wir wohl nicht erfahren. Sind alle schon lange tot.“ Nick konnte die Gefühle seiner Schwester zwar verstehen, aber er teilte sie nicht. Er war ganz klar ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts. Er träumte sich nicht in vergangene Zeiten. Für ihn ging es darum, die Burg wieder herzurichten. Zugänglich zu machen für die Menschen dieses Jahrhunderts. Aus alten Ruinen etwas Neues erstehen zu lassen. Das faszinierte und begeisterte ihn. Nicht so sehr das, was vor so vielen Jahrhunderten dort geschehen war.
Aber Carolin war anders. Schon früher, bevor sie mit der Renovierung begonnen hatten, merkte man, wie sehr diese Burg sie anzog. Irgendwie gefühlsmäßiger als ihn. Persönlicher. Als wäre sie damit verbunden. Manchmal berichtete sie auch von merkwürdigen Gefühlen, dass dort irgendetwas geschehen war. Aber was könnte das sein?
Carolin seufzte. Die alte Burg war von dem Gründer ihres Dorfes, Bischof Bernhard, im 14. Jahrhundert errichtet worden.
Heute sah sie zwar von außen noch gut aus - ein trutziges, altes Gemäuer über den Häusern des Dorfes mit einer Brücke, die über einen tiefen Graben führte, in dem noch vor ein paar Jahren Wildschweine gehalten wurden. Im Mittelalter mochte dies ein Wehrgraben gewesen sein. Die Dorfbewohner konnten Schutz in der Burg finden. Teile der Stadtmauer konnte man noch überall im Dorf finden und alte Straßennamen erinnerten an die Tore, die in das Dorf hineinführten.
Doch von innen war die Burg in einem erbarmungswürdigen Zustand. Sicher, einige Räume wurden vor ein paar Jahren noch als Amtsverwaltung genutzt, die es in Dringenberg gegeben hatte. Aber seit ein paar Jahren gab es auch die nicht mehr. Außerdem konnte man Büros wohl kaum als historische Überbleibsel bezeichnen. Der Rittersaal war eigentlich nur ein riesiger Haufen aus Schutt und Geröll und viele andere Räume sahen ähnlich aus. Immerhin – die Kapelle war inzwischen schon renoviert worden.
Die Geschwister waren zu Hause angekommen. Die Mutter wartete sicher schon mit dem Essen. Dann Hausaufgaben – schnell genug, um rasch wieder fort zu können - und gründlich genug, um Mutters Anforderungen gerecht zu werden. Zum Glück hatten sie heute beide nur fünf Stunden Unterricht gehabt. Es war erst Viertel nach eins, als sie den Klingelknopf drückten.
Am Nachmittag standen die Geschwister pünktlich zum Aufräumen des Rittersaales vor der Burg. Einige andere Jugendliche waren ebenfalls dort. Nicht alle dachten wie Joachim und Andreas.
Carolin warf einen kurzen Blick zu dem Turm, bevor sie gleich neben dem Brunnen den Teil der Burg betrat, der zum Rittersaal führte. Früher, als sie klein war, hatte sie den Turm immer Dornröschenturm genannt. Sie hatte ernsthaft geglaubt, dass in diesem Turm Dornröschen ihren hundertjährigen Schlaf gehalten hatte.
Das dachte sie heute natürlich nicht mehr, aber der Gedanke hatte etwas Romantisches. Bei sich nannte sie ihn immer noch den Dornröschenturm. Carolin lächelte verträumt vor sich hin, als sie die Treppe zum Rittersaal hinaufstieg.
Die Arbeit war ganz schön anstrengend, aber es machte ihr Spaß.
Sie stellte sich vor, wie hier früher Menschen ein- und ausgegangen waren. Carolin besaß eine lebhafte Fantasie. Während sie fleißig einen Eimer Schutt nach dem anderen füllte und fortschaffte, füllte sich in ihren Gedanken der Raum mit Leben.
Sie sah ganz deutlich Menschen in mittelalterlichen Gewändern hin und hereilen, Essen auftragen, Feste feiern, sich unterhalten.
In der Wirklichkeit leerte sich der Saal allmählich von Geröll und Schutt und wurde einfach zu einem leeren, staubigen, renovierungsbedürftigen Raum.
Nick war realistischer. Er arbeitete ohne zu träumen. Und wenn er sich etwas vorstellte, dann, wie die Räume bald aussehen würden: Wenn sie neu hergerichtet sein würden, wenn Besucher das Museum besichtigen würden.
Plötzlich hielt Carolin in ihrer Arbeit inne. Irgendetwas zog sie wie magisch an. Als würden Stimmen sie locken. Sie horchte in sich hinein. Sie schüttelte ihre Fantasien ab, aber das Gefühl war noch immer da. Es war stärker als ihre Träumereien.
Sie blickte zu ihrem Bruder, der verbissen weiter arbeitete.
„Nick“, rief sie gepresst. „Nick!“
Er blickte auf. „Ja?“
„Ich muss rüber in die Nebenräume.“
„Warum?“ Er zog verwundert die Augenbrauen hoch.
„Ich weiß auch nicht. Irgendetwas ist da.“
„Du spinnst ja“, antwortete er abweisend und räumte weiter Steine in einen riesigen Zuber.
Er wusste, sie würde sowieso gehen. So war sie immer. Eine innere Stimme trieb sie und sie folgte ihr. Sie hatte wohl so etwas wie einen Siebten Sinn. Nick selbst war eher ein nüchterner, realistischer Junge. Er war kein Träumer und hielt nicht viel von übersinnlichen Phänomenen. Aber dass seine Schwester manchmal Dinge erahnte, das war für ihn eine Tatsache. Er hatte schon erlebt, dass sie recht hatte. Eigentlich war das sogar ein bisschen unheimlich.
So war es auch gewesen, als er letztes Jahr mit seinem Fahrrad gestürzt war. Er hatte nicht mehr aufstehen können und lag irgendwo in den Feldern. Aus einem unerfindlichen Grund war Carolin unruhig geworden. Sie war sogar von ihrer Freundin nach Hause gelaufen und hatte ihre Mutter überredet, nach Nick zu suchen.
Er hatte damals einen kranken Freund überraschen wollen, der weit außerhalb auf einem Bauernhof wohnte. Nun ja, dort war er leider nicht angekommen. Da er sich nicht angemeldet hatte, wurde er dort auch nicht vermisst. Und er lag weit abseits von der Straße, so dass ein Autofahrer ihn nicht zufällig hätte sehen können.
Zu Hause hatte er seine Pläne ebenfalls nicht verraten, da er nicht alleine so weit außerhalb unterwegs sein durfte. Er hatte gelogen, dass er gemeinsam mit einem anderen Freund dorthin radeln würde. Er wäre also auch zu Hause nicht so schnell gesucht worden. Nick hätte sich ziemlich gequält, bis er an einen belebteren Ort gerobbt wäre. Noch dazu mit dem gebrochenem Bein.
Wenn Carolin mit ihrem merkwürdigen Gefühl nicht gewesen wäre…
So in Gedanken versunken, hörte er auf einmal Carolin kreischen.
Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie inzwischen nicht mehr neben ihm arbeitete. Nick erkannte ihre Stimme und stürzte sofort los.
Er kam aber durch all das Geröll und den Schutt nicht so schnell voran, wie er es gerne wollte. Er stolperte, rappelte sich auf und stieg weiter über Schutt und Gestein hinweg. Als er endlich bei seiner Schwester ankam, stand sie neben einem Loch im Gemäuer.
Sie starrte ihn an. „Ich bin gestolpert“, erklärte sie leise.
Er blickte auf sie herunter. Ihre Hose hatte über dem Knie ein Loch, durch das man eine blutende Wunde erkennen konnte.
„Du blutest ja“, sagte er.
„Nicht so schlimm. Aber schau mal, hier war etwas lose oder es wurde in der letzten Zeit bei den Arbeiten gelockert. Ach, ich weiß nicht, ist ja auch egal. Aber da steckt etwas drin.“
Nick kletterte weiter über das Geröll hinweg. Inzwischen hatten sich mehrere Arbeiter darum herum versammelt, hauptsächlich Jugendliche, weil die Erwachsenen um diese Zeit meist noch auf ihren Arbeitsstellen waren. Carolin griff in das Loch und zog Papierrollen heraus.
„Was ist das?“, flüsterte sie fast ehrfürchtig. „Pergament?“
Nick nahm ihr die zusammengerollten Seiten ab. Er schüttelte den Kopf. „Ich glaub, das ist sogar Papier.“
Er rollte die Seiten vorsichtig auseinander, eine Ecke bröckelte ab.
„Wir dürfen das nicht!“, rief ein Mädchen mit braunen Locken.
„Vielleicht ist es wertvoll, es darf nicht kaputtgehen.“
„Es ist eine komische Schrift“, stellte Nick fest. „Ich kann das nicht richtig lesen.“
„Ich glaube, es sind Aufzeichnungen von früher. Vielleicht von einem Menschen, der hier gelebt hat?“, mutmaßte Carolin.
Nick lachte. „Davon träumst du doch.“
„Ne“, meinte das braungelockte Mädchen wieder. „Sie hat recht.
Wir sollten das so zusammenlassen, wie es war.“
Carolin nickte. „Wir nehmen es mit nach Hause und zeigen es Papa. Er ist schließlich Historiker. Er weiß, wie man mit so etwas umgeht.
Sie wussten es nicht, aber alle ahnten, dass sie etwas ganz Besonderes gefunden hatten.
Nick blickte seine Schwester an und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Hättest du zu Gründungszeiten der Burg gelebt, wärest du vermutlich als Hexe verbrannt worden“, flüsterte Nick seiner Schwester ins Ohr.
Zu Hause erregten sie viel Aufsehen mit ihrem Fund. Der Vater nahm die wertvollen Papiere sofort an sich.
„Wir müssen sorgfältig damit umgehen“, meinte er. „Nichts darf zerstört werden. Aber auf den ersten Blick – ja, ich glaube, es stammt wirklich von einem oder mehreren Menschen, die hier gelebt haben. Schaut hier. Hier steht: Die Siedlung Tryngen - 1316. Da gab es die Burg noch gar nicht Oh, ich glaube, das wird eine spannende Reise in die Vergangenheit.“
„Das glaube ich auch.“ Carolins Augen leuchteten.
„Aber das hier – dieser kleine Teil ist überhaupt nicht von Dringen oder Dringenberg“, meinte Nick und zeigte auf ein Stück Papier. „Was steht da? Hol- Holst…“
„Holstenstadt tom Kyle“, ergänzte der Vater. „Die Holstenstadt an der Förde. Das ist der alte Name von Kiel.“
„Kiel? Wie passt denn das zusammen?“
Vater zuckte die Schultern. „Wir müssen es abwarten.“
„Das dort ist aber auf jeden Fall wieder aus Dringen. Sieh doch.
1322“, sagte Carolin.
„Wirklich. Merkwürdig. So unterschiedliche Orte und so unterschiedliche Zeiten.“
Carolin zappelte vor Aufregung. Sie konnte überhaupt nicht stillsitzen. Jetzt würde sich ihr Traum vielleicht wirklich erfüllen. Sie würde von Menschen hören, die die Zeit wirklich erlebt hatten.
Oh Mann, was würde sie wohl alles erfahren?
Und auch Nick war sehr aufgeregt. Dies war kein Traum.
Das war Realität.
Clara war mit ihrer Großmutter Mathilde im Garten hinter dem Häuschen ihres Elternhauses. Mit ihren sieben Jahren half sie bereits fleißig bei der Gemüseernte.
Sie war ein zartes Mädchen mit rotblonden Haaren, die zu einem straffen Zopf geflochten waren.
Vater und Großvater arbeiteten in ihrer Schmiede, nur ein paar Schritte vom Haus entfernt. Auch Claras Bruder Adrian war bei den Männern, um das Handwerk zu erlernen, obwohl er noch nicht ganz neun Jahre alt war.
Mutter Dorothea saß am Bett ihrer Schwester Uta. Das kleine Mädchen war erst ein halbes Jahr alt und lag krank in ihrem Bettchen. Mutter hatte Heilkräuter von der alten Heilerin Cäcilia bekommen, aus denen sie Tee zubereitete und dann der Kleinen löffelweise verabreichte. Neben dem Lager stand eine Schüssel Wasser. Mutter tauchte immer wieder ein Tuch hinein und legte ihn auf die heiße Stirn des Babys, um sie zu kühlen.
Uta hatte sehr hohes Fieber.
Clara wusste, dass ihre Mutter sich große Sorgen machte. Zu viele Kinder starben am Fieber, weil ihre kleinen Körper die Krankheit noch nicht bekämpfen konnten. Einen kleinen Bruder hatten sie bereits vor zwei Jahren durch das Fieber verloren. Er wäre jetzt vier Jahre alt.
Gerade trat Mutter zu Clara und Großmutter in den Garten.
„Sie ist endlich eingeschlafen“, seufzte sie. Jeder wusste, dass sie von Uta sprach. „Vielleicht bringt der Schlaf ihr Genesung.“
„Das liegt in Gottes Hand“, knurrte die Großmutter. Clara starrte die alte Frau entgeistert an. Manchmal fragte sie sich, ob die Großmutter wirklich so ungerührt und so kalt war, wie sie tat. Es fiel ihr so leicht, jedes Schicksal als Gottes Willen hinzunehmen.
Oder war sie selbst, Clara, böse? War sie nicht fromm genug, weil sie sich einfach nicht damit abfinden konnte, dass Uta vielleicht sterben würde? Auch als ihr kleiner Bruder gestorben war, hatte sie das nicht so leicht akzeptieren können.
Konnte es denn wirklich Gottes Wille sein, dass so kleine Kinder starben? Die Großmutter sagte Ja. Er holte sie als Engel zu sich in den Himmel.
Clara wollte nicht, dass ihre kleine Schwester ein Engel wurde.
Sie wollte, dass sie hier bei ihr auf der Erde blieb. Dass sie groß wurde und mit ihr zusammen im Garten arbeitete.
Böse, unfromme Gedanken wanderten durch ihren kleinen Kopf, über die sie mit niemandem sprechen konnte. Sie blickte zum Himmel auf, flüsterte stumm ein kurzes Gebet und hoffte, dass Gott selbst ihr aus diesem Dilemma helfen würde.
Es lag schwer auf ihrer Seele. Mit ihren sieben Jahren war sie hoffnungslos überfordert mit den widersprüchlichen Gefühlen, die in ihr stritten. Und die so anders waren als alles, was man sie lehrte.
Die Großmutter deutete Claras Blick falsch und nickte anerkennend. „Ja, bete für deine kleine Schwester.“
Clara nickte. Sollte die Großmutter ruhig denken, dass sie das tat.
Und dabei fühlte sie sich schon wieder schlecht, weil sie um sich selbst betete. Und weil sie nicht die Wahrheit sagte.
Plötzlich wurde sie von einem merkwürdigen Gefühl überfallen.
Sie wusste nicht, was es war, so etwas hatte sie noch niemals zuvor empfunden. Aber es war unglaublich stark. Es war, als ob die Welt um sie her versinken würde. Als würde etwas auf sie zukommen, nach ihr greifen und mit sich ziehen. Aber es war ja nichts da.
„Mama, mir wird schlecht“, rief sie noch, bevor sie einfach umfiel und regungslos auf der Erde liegen blieb. Sie sah nicht mehr ihre Mutter und Großmutter, die sich über sie beugten. Auch nicht den Vater, der herbeigerufen wurde. Sie hörte nicht mehr ihre besorgten Stimmen. Aber sie sah etwas anderes. Ganz deutlich, als wäre es direkt vor ihr.
Sie befand sich an der Gräfte der Siedlung, jenem Befestigungsturm, den die Grafen von Everstein - die Herren ihrer Siedlung Tryngen - errichtet hatten. Der Wehrgraben um den Turm herum war ruhig, aber tief. Kinder spielten. Sie waren fröhlich. Sie freuten sich über diese kurze Zeit des unbeschwerten Spiels. Solche Momente waren selten genug, die meisten halfen bereits mit vier Jahren im Haushalt oder beim Versorgen der Tiere.
Doch dann – Clara schrie auf.
„Was ist mit dir, Kind?“, fragte die Mutter voller Sorge.
„Sie wird doch nicht auch das Fieber bekommen?“, murmelte die Großmutter.
Clara schlug die Augen auf. Einen Augenblick war sie verwirrt.
Wo war sie? Hier war doch nicht die Gräfte.
Ach - sie war wieder in dem kleinen Garten. Umgeben von Mutter, Großmutter und Vater.
„Was ist los? Du bist plötzlich umgefallen. Und dann hast du geschrien.“
Die Mutter befühlte ihre Stirn. „Sie ist nicht heiß. Sie hat kein Fieber.“
„Vielleicht sind es nur Vorboten der Krankheit. Das Fieber kommt später dazu“, befürchtete Großmutter Mathilde.
Die Mutter bekreuzigte sich. „Kind, geht es dir nicht gut?“
Clara richtete sich auf. Nein, krank fühlte sie sich nicht. Aber irgendetwas… “Ich weiß nicht. Es war – ein Bild. Der Sohn vom Bäcker - der Johannes - er ist in die Gräfte gefallen.“
„Ach Kind, du hast geträumt. Wir haben euch so oft gewarnt, dass das Wasser gefährlich ist.“
„Aber ich habe doch nicht geschlafen. Nein, es war so echt.
So….“ Clara blickte sich verzweifelt um. Sie sah in die besorgten Augen der Mutter und in die entsetzten, kalten Augen von Großmutter Mathilde.
Was war mit ihr? Warum sah sie so zornig aus? Clara hatte doch nichts Schlimmes getan.
„Es war so echt“, japste sie matt.
„Es ist Unsinn!“, schrie die Großmutter hysterisch.
„Lasst uns hingehen. Vielleicht können wir ihn retten?“, flüsterte Clara vorsichtig.
„Geh ins Haus und beruhige dich und vergiss diesen Traum!“,
befahl die Großmutter mit ruhiger Stimme, aber ihr Ton klang trotzdem wie eine Drohung.
Clara war ganz seltsam zumute. Sie fiel einfach um und sah dann solche Bilder? Was hatte das zu bedeuten?
Sie lief gehorsam durch die Hintertür ins Häuschen hinein. Aber sie rannte sofort vorne wieder hinaus. Sie musste das einfach tun.
Sie hatte überhaupt keine Macht über ihr Handeln. Es waren Stimmen, die sie riefen. Und Hände, die nach ihr griffen und mit sich zogen. Sie hatte keine Ruhe, sie musste einfach wissen, ob es nur ein Traum war.
Sie rannte so schnell sie konnte zur Gräfte.
Was sie dort sah, entsetzte sie zutiefst. Um den Wehrgraben hatten sich Menschen versammelt. Kinder weinten. Die Bäckersfrau heulte laut. An ihrer Seite schluchzte ihre Tochter Hildegunde leise in ihre Schürze. Und dann bildete sich plötzlich eine Gasse und aus dem Wasser zogen sie ein Kind.
„Nein!“, schrie Clara verzweifelt. „Nein!“
Niemand bemerkte ihren Schrei. Alle waren mit der Katastrophe beschäftigt, die sich am Wehrgraben abspielte.
Eine Hand wurde ihr auf die Schulter gelegt. Clara wandte sich um. Mutter und Großmutter standen dort.
„Was bedeutet das?“, schluchzte Clara.
„Nichts“, erwiderte die Mutter, aber ihre Augen sagten etwas anderes. Ihre Augen waren wissend und gleichzeitig traurig.
„Warum bist du fortgelaufen? Habe ich nicht schon genug Sorgen mit Uta? Sie fiebert so hoch. Mein Baby wird vielleicht sterben.“
„Das wird sie nicht“, antwortete Clara fest. Sie war selbst überrascht über ihre Worte. Aber auf einmal war sie ganz sicher, dass ihre kleine Schwester gesund werden würde. Dabei hatte sie noch vor einer Stunde selbst solche Angst um sie gehabt.
„Er ist tot!“, schrie die Bäckersfrau vom Wehrgraben her. Ihre Stimme war voller Verzweiflung und Schmerz. Clara konnte sehen, dass sie gestützt werden musste, sonst wäre sie wohl umgefallen.
„Ich habe es gesehen!“, schrie Clara. „Ich…“
Mathilde legte hart ihre Hand auf Claras Mund. „Sei ruhig!“,
zischte sie. „Sei bloß ruhig. Das ist unnatürlich.“
Dann wandte sie sich mit tiefem Hass in der Stimme Dorothea zu.
„Sie ist ein gottloser Spross aus deiner gottlosen Familie. Ich wollte nie, dass mein Sohn dich heiratet. Oh Gott, warum lastest du uns diesen Fluch auf?“
Sie zog Clara mit sich, immer noch die Hand auf den Mund gepresst. Clara zappelte und versuchte, die Hand von ihrem Mund zu lösen. Sie bekam kaum noch Luft. Sie hatte Angst. Was hatte die Großmutter nur, wollte sie sie umbringen?
„Mutter, sie kann doch nichts dafür!“, schrie Dorothea. „Sie ist noch so jung. Sie weiß doch gar nicht, was geschieht.“
Endlich ließ Mathilde das Mädchen los. „Es ist ihr Erbe“, zischte sie.
Clara holte tief Luft. Dann sah sie mit großen, angstvollen Augen ihre Mutter an. „Was ist denn überhaupt geschehen?“, fragte sie.
„Ach Kind, es ist nichts.“
„Du musst ihr die Wahrheit sagen!“, presste Mathilde hervor.
„Es war doch nichts. Nur ein Zufall.“
„Sie ist so unnatürlich wie ihre Urgroßmutter.“ Damit ließ die alte Frau Clara und Dorothea stehen und stapfte nach Hause.
„Mutter?“, wisperte Clara. „Bin ich unnatürlich? Und gottlos?“
Dorothea umarmte ihre Tochter. Stille Tränen rannen ihr über die Wange. „Nein, das bist du nicht. Hab keine Angst.“
Aber wenn alles in Ordnung war, warum weinte die Mutter dann?
Und warum redete Großmutter dann so merkwürdiges Zeug?
Aber Dorothea erklärte nicht, was Mathilde gemeint hatte.
Und Clara blieb allein mir ihrer Angst.
Die junge Frau mit den langen, glänzend schwarzen Haaren saß vor ihrem kleinen Häuschen auf einem Holzpflock und blickte in die untergehende Sonne. Sie liebte es, in der Dämmerung hier zu sitzen. Sie lehnte ihren Kopf zurück gegen die Hauswand und atmete tief die kühle Luft ein. Es wurde schon Herbst, sie fühlte die Kälte auf ihrer Haut und zog die Decke enger um sich. Ein Stück weit entfernt konnte sie zwischen den Hauswänden hindurch das Meer sehen. Oder – eigentlich konnte sie es jetzt in der einsetzenden Dunkelheit nicht mehr sehen, aber sie fühlte es in jeder Faser.
Und sie sah den rotglühenden Himmel.
Sie stellte sich vor, wie die Sonne in das Meer sank.
Sie war eine kluge Frau und wusste, dass die Sonne nicht versank, aber die Vorstellung war schön und es sah ja wirklich so aus.
Ihr Mann Reinmar trat zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen.
„Odilia! Ich dachte schon, dass ich dich hier finde.“
Sie lächelte ihm zu und schmiegte ihre Wange in seine Hand.
„Ich war heute bei der Krämerin. Ihr Bein ist so entzündet, der Medicus wollte es schon abhacken.“
„Aber du hast es nicht zugelassen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Hätte ich das tun sollen?“
Er zuckte die Schultern. „Tja…“
„Nein!“
„Nein, du hast recht. Aber es bringt uns Ärger ein.“
„Es war so furchtbar. Er stand schon da mit einem einfachen Beil.
Sie hatten die Krämerin festgebunden. Sie hatte so furchtbare Angst.“
Reinmar drückte ihre Schulter. Er wusste, sie hatte recht. Und trotzdem dachte er manches Mal, sie sollte sich lieber raushalten aus dem Wirken des Medicus’. Sie war ihm ein Dorn im Auge. Er wollte sie loswerden.
„Ich bin heute so unruhig“, sagte Odilia leise. „Ich glaube, es ist Zeit. Wir sind jetzt seit zwei Jahren in Kiel, wir müssen weiter.“
Reinmar nickte. Odilia hatte nicht die Gabe der Hellsichtigkeit, aber wie die meisten Menschen hatte sie ein Gespür dafür, wenn der Zeitpunkt für Veränderungen gekommen war.
Plötzlich sahen sie in der Ferne einen Lichtschein.
„Was ist das?“, fragte Odilia verwundert und erhob sich.
Reinmar begriff es schneller. „Feuer.“
„Feuer? Woher?“
„Feuer von Fackeln. Es ist ein Fackelzug und er kommt auf uns zu.“
„Oh mein Gott!“, schrie sie auf. Es klang schrill. Ihrer Stimme hörte man die plötzlich aufkommende Panik deutlich an.
„Die Jungen!“
Da kam ihr ältester Sohn, der vierzehnjährige Gabriel auch schon nach draußen gelaufen. Er wirkte gehetzt, außer Atem. Auch er hatte den Fackelzug vom Fenster aus gesehen.
„Mutter! Vater! Was ist los?“
„Sie kommen!“, schrie Reinmar. „Wir müssen weg. Los, schnell.
Schnell!!!! Bevor sie hier sind!“
Schon rannte er mit Gabriel ins Haus.
Odilia war starr vor Schreck. Sie kamen, um sie zu holen. Sie brachte ihre Familie in Gefahr.
„Odilia!“, schrie Reinmar von der Tür her. „Wir müssen weg! Odilia!“
Endlich löste sich ihre Erstarrung. Mit großen Augen blickte sie Reinmar und Gabriel an. Dann sprang sie plötzlich hektisch auf und stürzte hinter ihnen her ins Haus.
„Wo ist Felix?“
„In seinem Bett!“, erwiderte Gabriel. „Ich hole ihn.“
„Schnell! Ich muss meine Aufzeichnungen holen!“
„Was?“, brüllte Reinmar verwundert.
„Ich kann sie nicht hier lassen. Unsere Reisen, Griechenland.
Mein ganzes Leben!“, rief sie, während sie schon die Stufen hinaufstürmte.
Reinmar verstand sie nicht. Ihr Leben und ihre Erinnerungen trug sie doch mit sich. Wie konnten die Aufzeichnungen so wichtig sein, um sie jetzt noch aus dem Haus zu retten?
Gabriel kam mit Felix die Stiege herunter.
Reinmar blickte aus dem Fenster. Sie kamen näher. Nun war es schon mehr als ein Feuerschein. Nun waren deutlich Fackeln erkennbar und Umrisse von Menschen. Mein Gott, es waren Menschen, denen Odilia mit ihrer Heilkunst geholfen hatte.
„Raus hier!“, bölkte er. „Jeder nimmt eine Decke und dann raus! Keine Zeit, um etwas zu packen. Odiliaaaa!!!!“
Da kam sie. Mit einem Rohr, in dem sie ihre Aufzeichnungen zusammengerollt aufbewahrte.
Sie flohen aus ihrem Haus, mit nichts als der Kleidung, die sie trugen und einer Decke um die Schultern.
Die Fackeln kamen näher. Sie konnten Stimmen hören.
„Holt euch die Hexe!“
„Sie soll brennen!“
„Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“
Odilia packte die nackte Panik.
Ihre Hände waren schweißnass, ihr Bauch schmerzte und über ihren Rücken streifte die kalte Hand des Grauens.
Reinmar zog und schob seine Familie die Hintertür hinaus und in die nächste schmale Gasse hinein.
Es war inzwischen stockfinster. Odilia warf einen Blick in den Himmel. Sie wusste, es musste Vollmond sein. Aber der Mond war nicht zu sehen. Dichte Wolken verbargen ihn und ließen sein Licht nicht in die Stadt fallen. Vielleicht war das ihr Glück.
„Wir müssen weg“, flüsterte Reinmar. „Ein Stück weit entkommen, bevor sie merken, dass wir nicht da sind.“
Aber noch waren sie nah genug, um zu hören, wie der Pulk näher kam und an ihrem Haus stehen blieb.
Sie konnten sogar die Worte verstehen.
„Komm heraus!“, schrie jemand.
„Oder sollen wir euch alle verbrennen?“
„Warum nicht, die Hexe und ihre Brut!“
Der achtjährige Felix begann zu weinen. „Warum tun sie das?“, wimmerte er.
„Sie verstehen nicht, dass Mutter es nur gut mit ihnen meint“, erklärte Reinmar. „Sie sind fanatisch und fehlgeleitet.“
„Aber...“
„Nicht jetzt. Wir müssen fort.“
Aber wohin, dachte Odilia verzweifelt. Wo sollten sie sich verstecken? Sie würden nicht aus der Stadt hinauskommen. Die Stadttore waren längst verschlossen. Und der Hafen war bewacht.
Sie hörten das Knistern des Feuers. Sicher hatten sie längst ihre Fackeln auf das Haus geworfen. Auf ihr Haus. Sicher brannte es bereits lichterloh, aber sie drehten sich nicht um, sondern hetzten weiter durch die dunkle Stadt.
Odilia merkte gar nicht, dass ihr Tränen die Wange herab liefen.
Sie hatte doch immer nur allen geholfen. Sie hatte soviel gelernt auf ihren Reisen. Erst heute Vormittag hatte sie der Krämerin ihr Bein gerettet. Sie war sicher, dass der Salbenumschlag wirkte und die Entzündung aus dem Bein zog.
Jetzt drehte Odilia sich doch um. Das Bild in der Ferne war gespenstisch: Flammen, die in den dunklen Himmel loderten, das Feuer, das ihr Haus vernichtete… Die Worte konnte sie jetzt nicht mehr verstehen, aber die Stimmen wirkten bedrohlich.
Nichts war mehr friedlich in dieser Nacht, so wie vor wenigen Minuten, als sie vor dem Haus gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet hatte.
Jetzt schien die Menge zu bemerken, dass niemand im Haus war.
Sie mussten sich ja wundern, dass niemand versuchte, aus dem brennenden Haus zu fliehen.
Würde der Mob ihnen folgen?
„Komm weiter!“, schrie Reinmar, der plötzlich bemerkte, dass sie stehen geblieben war. Sie sah gerade noch, dass die Menschen mit den Fackeln ihr folgten. Noch wussten sie nicht, wohin sie sich auf ihrer Flucht gewandt hatten, aber sie würden sie finden. Ganz sicher. Und sie waren so viele.
„Dorthinein!“, rief Reinmar und rannte in eine kleine Gasse.
Irgendwo zwischen dichten Häuserreihen pressten sie sich und sahen zu, wie die Menge lärmend näher kam. Odilia hielt Felix fest an sich gedrückt. Aber sie befürchtete, dass jeder ihr klopfendes Herz hören könnte.
Die Verfolger rannten an der Gasse vorbei.
„Sie glauben, wir versuchen über den Hafen zu entkommen“,
flüsterte Gabriel.
„Sie sind fanatisch. Sie wollen eine Hexe brennen sehen!“, sagte Reinmar und blickte Odilia an. In ihren Augen stand das nackte Entsetzen.
Plötzlich hörten sie ein Winseln.
Odilia sah sich um. Ein braunes, zottiges Ungetüm kam auf sie zu. Es stupste Odilia an und sah zu ihr auf.
Irgendetwas regte sich in ihr und ein Teil ihrer Angststarre löste sich. „Wer bist du denn?“, fragte Odilia sanft und hielt dem Hund ihre Hand entgegen. Zutraulich kam er näher und schnupperte daran. „Er hinkt. Er hat etwas am Fuß.“
Odilia nahm die Pfote in die Hand. „Was ist dir denn geschehen?“
„Odilia, lass den Hund. Wir haben Wichtigeres zu tun. Wir brauchen ein Versteck!“, mahnte Reinmar.
„Sieh doch. Er hat sich einen Dorn eingetreten. Ganz ruhig. Ich ziehe ihn heraus, dann geht es gleich besser.“
Niemand verstand, was in diesem Moment in Odilia vorging, als sie sich zu dem Tier hockte, sich so ruhig und hingebungsvoll mit ihm befasste, auf ihn einredete und ihn streichelte. Und das alles, während sie selbst in höchster Lebensgefahr schwebten. Nicht einmal Odilia selbst wusste es. Es geschah einfach.
Der Hund blieb still sitzen mit seiner Vorderpfote in ihrer Hand.
Er schien zu spüren, dass sie ihm helfen wollte. Sie zog an dem Dorn. Der Hund jaulte auf. Aber schon hielt sie den Dorn in der Hand.
„Los, jetzt aber weg hier!“, kommandierte Reinmar und wollte schon davon stürmen.
Doch der Hund trottete in eine andere Richtung. Als er sah, wohin die Menschen gingen, jaulte er.
Odilia blieb stehen.
„Odilia!“, drängte Reinmar. „Komm!“
„Warte. Es stimmt etwas nicht.“
Der Hund lief ein paar Schritte in die andere Richtung. Dann blieb er stehen, betrachtete die Menschen und wartete. Wieder begann er zu heulen.
„Hier entlang!“, befahl Odilia.
„Mutter!“, rief Gabriel.
„Hier entlang. Wir folgen dem Hund.“
„Odilia!“
„Selene und Hekate beschützen mich. Erinnert ihr euch?
Vielleicht ist er einer von Hekates heiligen Hunden.“
„Bist du verrückt geworden?“, protestierte Reinmar.
„Dieser Weg ist nicht schlechter, als euer. Und jetzt kommt. Hier bleiben ist bestimmt das Schlechteste.“
„Das stimmt wiederum“, gab Reinmar zu.
Der Hund setzte sich wieder in Bewegung. Die vier Menschen folgten ihm.
Sie liefen hinter dem Hund her. Hinter sich hörten sie das Lärmen der Menge.
„Wir wären ihnen in die Arme gelaufen“, sagte Odilia.
Reinmar antwortete nicht. Aber im Stillen gab er seiner Frau Recht. Konnte es wirklich sein, dass dieser zottelige Hund ihr Retter wurde?
Sie waren an der Stadtmauer angekommen. Irgendwo mitten in der Stadt, nicht an einem Tor. Aber die waren jetzt sowieso geschlossen. Sie saßen in der Falle. Die Stadt verlassen konnten sie nicht.
„Und nun?“, fragte Reinmar.
Doch der Hund begann zu scharren. Dort in der Mauer war ein Loch, das offenbar noch niemand bemerkt oder zumindest nicht wieder geschlossen hatte. Es war nicht groß. Der Hund passte hindurch, Felix auch. Aber der Rest von ihnen? Sie würden es ein wenig vergrößern müssen.
Sie knieten sich neben den Hund auf die Erde und kratzten mit bloßen Händen die Erde auf.
Dann schlüpften sie hindurch.
Odilia blickte zum Himmel und erkannte den vollen Mond. Die Wolken waren auseinandergezogen und ließen Mond und Sterne die Nacht erhellen. Noch ein Zeichen von Selene, der Mondgöttin.
Sie hatten Kiel verlassen, sie waren dem Pöbel entkommen. Aber Sicherheit war etwas anderes, denn außerhalb der Stadtmauern gab es Diebesgesindel und Räuberbanden.
Sie lehnten sich gegen die Stadtmauer. Sie waren alle völlig außer Atem, erschöpft und verängstigt. Sie hatten alles verloren. Ihr Haus war niedergebrannt worden. Sie hatten alles, was sie besaßen, zurücklassen müssen. Sie hatten nichts als die Kleider, die sie trugen und die Decken, die sie noch schnell mitgenommen hatten. Aber sie lebten und sie waren zusammen.
Schon das grenzte an ein Wunder.
„Der Hund hat uns tatsächlich gerettet“, stellte Gabriel fest.
„Es war einer von Hekates heiligen Hunden. Unser Weg ist klar und er wird uns gewiesen von den Geistern der Nacht. Hekate und Selene wachen über uns.“
Reinmar schnaubte. „Die griechische Mondgöttin Selene und Hekate, die Göttin der Hexen und Zauberer? Die Wächterin der Unterwelt? Ausgerechnet sie sind unser Schutz? Ach Odilia! Manchmal kommst du sogar mir noch immer rätselhaft vor.
Vielleicht bringen gerade sie das Verderben über uns?“
„Oh nein. Das Verderben bringen die engstirnigen Menschen dort in der Stadt.“
„Aber wir müssen doch irgendwo leben. Und die Menschen sind nun mal so. Der Glaube an Hexen ist verbreitet“, erwiderte Reinmar.
„Ich muss meine Aufgabe erfüllen. Du weißt, Despina hat es mir geweissagt. Und dann gehen wir zurück nach Griechenland.“
„Welch zerrissene Seele du hast, Odilia“, sagte Reinmar kopfschüttelnd. „Du glaubst an Gott, aber dennoch auch an Geister.
Du besitzt zwar nicht selbst die Gabe der Hellsichtigkeit, aber du glaubst ganz fest daran und verlässt dich auf Despinas Voraussagen.“
Odilia lächelte wieder einmal. „Sind nicht auch die Engel Gottes im Grunde Geister? Und kann Hellsichtigkeit nicht eine Gabe Gottes sein anstatt des Teufels?“
„Das sind gefährliche Worte.“
„Wir müssen einen sicheren Ort suchen“, meinte Gabriel. „Hier sind wir nicht sicher. Weder vor dem Pöbel in der Stadt noch vor Räubergesindel.“
Odilia blickte ihren Ältesten liebevoll an. Wie erwachsen er mit seinen vierzehn Jahren schon war. Groß und breitschultrig. Und so vernünftig. Dabei hatte auch er sicherlich Angst.
Wenigstens war die Nacht nicht stockfinster, der Vollmond und unzählige Sterne leuchteten am Himmel. Das würde ihnen helfen, ihren Weg außerhalb der Stadt zu finden.
Der Hund schmiegte sich an Odilia. Sie streichelte ihn ganz automatisch. „Oh, sieh doch, sie hat überall Striemen. Ich glaube, sie wurde geprügelt. Ich würde ihr gerne etwas Salbe auf die Verletzungen streichen und sie gesund pflegen, aber ich habe auch keine Arzneimittel mehr.“
„Sie?“, hakte Felix nach.
Odilia nickte. „Ja. Es ist eine Hündin.“
Sie fanden eine alte Scheune, in der sie zumindest die Nacht verbringen konnten.
Odilia konnte nicht schlafen. Wie vorhin vor ihrem Haus in der Stadt saß sie im Freien und starrte in den Himmel. Ihre Decke hatte sie fest um sich gezogen. Es war kalt.
War es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet heute Nacht der Mond als große runde Scheibe am Himmel stand und die Sterne so zahlreich waren? Und war es nicht noch merkwürdiger, dass zuvor, während ihrer Flucht durch die Stadt, der Mond von einer schwarzen Wolke verdunkelt gewesen war?
Sie merkte, dass Reinmar hinter ihr stand. Aber er setzte sich nicht zu ihr. Sie war ihm dankbar dafür, sie wollte allein sein mit ihren Träumen.