Ungelöst - Rotraud Falke-Held - E-Book

Ungelöst E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die Mutter der Journalistin Moyra hat einen schweren Verkehrsunfall. Kurz bevor sie an ihren Verletzungen stirbt, gesteht sie, dass sie vor vielen Jahren einen Menschen getötet hat. Moyra und ihre Schwester Linda können das nicht glauben. Beim Ausräumen des Hauses entdecken sie jedoch Fotos und Schriftstücke, die sie immer mehr vom Gegenteil überzeugen. Außerdem finden sie Hinweise darauf, dass ihre Mutter in Quedlinburg gelebt hat, wovon sie nichts wussten. Moyra fährt in die Harzstadt und recherchiert. Dabei kommt sie einem unglaublichen Geheimnis auf die Spur, in das mehr Menschen verstrickt sind, als man glauben würde, sei es durch Bestechung, Erpressung oder anderer materieller Motive. Moyra und auch ein Kollege, den sie um Hilfe bittet, geraten in große Gefahr.

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Die Handlungen in diesem Buch sind reine Erfindung. Namensgleichheiten wären rein zufällig.

Auch die genannten Restaurants und Gaststätten gibt es nicht.

Ebenso existiert kein Christophorus Krankenhaus in Paderborn.

Den Ort Quedlinburg habe ich bereist, die dort beschriebenen Orte und Museen gibt es.

Ich bedanke mich bei Gerhild Heinz und Regina Staub, die diese Geschichte aufmerksam gelesen und korrigiert haben.

Die wichtigsten Personen:

Irene Brosius

stirbt bei einem Unfall

Moyra Brosius-Groth alias Marie Rauch

Irenes Tochter, Journalistin bei der

Paderzeit

Bastian Groth

Moyras Ehemann

Merle Groth

Moyras Tochter

Linda Brosius

Moyras Schwester

Maik Schütt

Lindas Lebensgefährte

Kurt Brosius

Irenes geschiedener Ehemann

Alice

Kurts Lebensgefährtin

Lukas

Alices + Kurts Sohn

Erwin Maas

Chef der Zeitung

Paderzeit

Zachary W. Poel

Journalist bei der

Paderzeit

Julius Kallweit

Irenes früherer Geliebter

Rasmus Kallweit

Julius Bruder, Chef des Imperiums

Evelyn Kallweit

Rasmus Ex-Ehefrau

Clarissa Kallweit

Rasmus und Evelyns Tochter

Gunnar Kallweit

Evelyns Sohn

Jessica Zeisig

Wirtin der Pension „Hexentanz“

Klaus Nobbe

Jessicas Vater

Astrid Richter

frühere Freundin von Irene

Ulrich Richter

Astrids Ehemann

Manfred Döring

Kommissar in Rente

Dietmar Neydel

damaliger Kommissar, ausgewandert

Inga Neydel

Dietmars Ehefrau

Jens Trennkamp

Kommissar

Annette Berndorf

Kommissarin

Albert Fischer

ehemaliger Einbrecher

Inhaltsverzeichnis

1. Teil

Kapitel 1: Juni 2023

Kapitel 2: August 2023

Kapitel 3: August / Sept. 2023

Kapitel 4: So., 03. + Mo., 04. September 2023

Kapitel 5: Mo., 04. September 2023

Oktober 1990:

Kapitel 6: Die., 05. September 2023

Kapitel 7: Mi., 06. September 2023

1991 und 1992:

Kapitel 8: Donnerstag, 07. September 2023

Kapitel 9: Freitag, 08. September 2023

1992

2. Teil

Kapitel 10: Samstag, 09. und Sonntag, 10. September 2023

Kapitel 11: Montag, 11. September 2023

Kapitel 12: Dienstag, 12. September 2023

Kapitel 13: Mittwoch, 13. September 2023

Kapitel 14: Donnerstag, 14. September 2023

Kapitel 15: Freitag, 15. September 2023

Kapitel 16: Samstag, 16. September 2023

1992

Kapitel 17: Sonntag, 17. September 2023

Epilog

1. Teil

Kapitel 1 Juni 2023

Die achtundfünfzigjährige Irene Brosius fuhr in ihrem Polo über die Autobahn. Sie dachte über sich nach. Der 60. Geburtstag war nun nicht mehr weit entfernt und solche Meilensteine waren immer ein Anlass, über die Dinge nachzudenken. Über das Leben. Über verpasste Chancen. Über unerledigte Aufgaben. Darüber, wie sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Sie hoffte, noch zwanzig, fünfundzwanzig gute Jahre vor sich zu haben, zu reisen, Ausstellungen und Museen zu besuchen, vielleicht eine neue Sprache zu lernen.

Allerdings gab es da auch ein dunkles Kapitel in ihrem Leben, das sie bisher aus gutem Grund verschwiegen hatte. Sie hatte Kinder gehabt, um die sie sich kümmern musste, einen Ehemann, von dem sie jetzt seit neun Jahren getrennt lebte, eine kleine Enkeltochter.

Sie lächelte vor sich hin. Schien so, dass in ihrer Familie die Frauen auf dem Vormarsch waren. Irene war ebenfalls ein Einzelkind, folglich hatte ihre Mutter Marianne eine Tochter, Irene selbst hatte zwei Töchter, ihre ältere Tochter Moyra hatte ebenfalls eine Tochter. Bisher. Vielleicht bekam die kleine Merle ja noch ein Brüderchen. Irene hoffte jedenfalls auf mehr Enkelkinder. Am liebsten einen ganzen Stall voll.

Aber zurück zu dem dunklen Kapitel. Es war lange vorbei, dreißig Jahre, aber sie war nicht damit im Reinen, das merkte sie immer deutlicher, seit ihre Kinder erwachsen waren. Also in den letzten zehn Jahren. Sie würde es schaffen müssen, damit abzuschließen.

Vielleicht musste sie beichten gehen oder so was, obwohl sie nie viel von diesem katholischen Brauch gehalten hatte.

Oder eine Therapie?

Es gab auch etwas, das sie Moyra sagen müsste.

Ach, es war so schwierig. Und sie trug allein daran, sie hatte niemals jemandem davon erzählt. Na gut, ihre Mutter wusste alles, aber auch sie hatte geschwiegen. Irene hatte Zeitungsausschnitte von einem alten Todesfall ausgeschnitten und aufbewahrt und gut verborgen, damit sie niemand fand und sie deswegen ausfragte. Das war alles.

Aber in der letzten Zeit kam alles wieder hoch. Irgendwann hatte sie mal gehört, dass Verletzungen aus der Jugend in den Wechseljahren wieder hochkamen. Mächtiger und stärker als sie zu der Zeit gewesen waren, als sie passierten. Ob das stimmte? Sie hatte keine Ahnung. Tatsache war, dass die in ihrem Herzen vergrabenen Dinge immer präsenter wurden. Vermutlich, weil sie eben meinte, mit Moyra sprechen zu müssen.

„Was ist eigentlich mit dem Wagen los?“, fragte Irene plötzlich laut vor sich hin. „Irgendwie watschelt der, auch wenn der Ausdruck total bescheuert ist für ein Auto. Ich muss mal in der Werkstatt vorbeifahren. Vielleicht stimmt was mit dem Rad nicht.“

Vor kurzem hatte sie nach dreißig Jahren Kontakt zu einer alten Freundin aufgenommen. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, brauchte den Rat von jemandem, der das Ganze damals mitbekommen hatte. Zumindest das meiste. Die Geschichte, wie sie begonnen hatte. Aber es hatte sie nicht viel weitergebracht. „Wieso willst du alles wieder aufrollen? Du hast ein gutes Leben oder etwa nicht?“, hatte ihre frühere Freundin Astrid gefragt.

„Ja, ich habe ein gutes Leben. Aber Moyra sollte ihre Wurzeln kennen. Verstehst du das nicht?“

„Doch, schon. Man sagt, das sei wichtig für Menschen.“

„Moyra hat früher oft gefragt, wer ihr leiblicher Vater ist. Inzwischen hat sie aufgegeben. Aber ich weiß, sie wäre mir dankbar, wenn ich es ihr endlich erzählen würde. Und ich lebe nicht ewig. Irgendwann kann ich das alles nicht mehr erklären. Und es sind auch die Wurzeln von Moyras Tochter. Und immer so fort.“

Irene war tief in Gedanken versunken. Dann sah sie den LKW, der da vorne quer über der Straße stand, der Anhänger war umgekippt. Sie trat auf die Bremse. Der Wagen begann zu schlingern. Irgendwas stimmte wirklich nicht. Sie stemmte sich auf das Bremspedal.

Als sie bemerkte, dass sie es nicht mehr schaffen würde, dem LKW auszuweichen, dachte sie noch, dass sie sich nun wohl keine Gedanken mehr um ihren Seelenfrieden machen musste.

Moyra fuhr der Schreck durch alle Glieder, als der Anruf kam. Ihre Mutter hatte einen schweren Autounfall gehabt und war ins Krankenhaus gebracht worden. Es war nicht sicher, ob sie überleben würde.

Sie musste sofort los. Sie sah auf die Uhr. Trotz aller Panik vergaß sie keinen Augenblick ihre kleine Tochter Merle. Aber die war gut in der Kita untergebracht. Zur Not musste ihr Mann Bastian sie später abholen. Als Architekt in einem großen Unternehmen konnte er zwar auch nicht immer pünktlich Feierabend machen, aber es würde zumindest gehen, dass er Merle abholte und zur Not dann noch mal mit ins Büro nahm, wo sie malen oder spielen konnte. In Ausnahmefällen hatten sie das schon mal so gemacht. Für alle Fälle stand eine Spielzeugkiste in Bastians Büro. Glücklicherweise spielte sein Chef da mit, wenn es nicht zu oft vorkam.

Jetzt würde sie aber erstmal ihre Schwester Linda anrufen. Ihre Mutter hatte in ihrem Notfallpass zwar Moyras Telefonnummer hinterlegt, aber selbstverständlich ging sie davon aus, dass im Notfall Moyra ihre jüngere Schwester benachrichtigen würde.

Moyra legte ihr Handy also gar nicht erst ab und wählte aus ihren Kontakten die Telefonnummer ihrer Schwester. Die Mailbox meldete sich. Klar, Linda war Lehrerin in einer Grundschule und konnte während des Unterrichts natürlich nicht ans Telefon gehen. In diesem Punkt hatte Moyra es als freie Autorin und Journalistin leichter. Zwar war eine solche Nachricht nichts, was man auf einem Anrufbeantworter hinterließ, aber was sollte sie tun?

„Linda, Mutter hatte einen Unfall und liegt im St. Christophorus-Krankenhaus. Komm am besten gleich dort hin.“ So, das war einigermaßen neutral. Damit sagte sie nicht, wie schlecht es um ihre Mutter stand.

Jetzt würde sie noch den Chefredakteur der Paderzeit, der Paderborner Zeitung, für die sie als freie Journalistin arbeitete, kurz informieren, dass sie losmusste. Aber das dürfte kein Problem darstellen.

Moyra kam völlig aufgelöst und nervös im Krankenhaus an. Sie rannte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Auf der Unfallstation fragte sie völlig außer Atem nach ihrer Mutter Irene Brosius. Die Krankenschwester bat sie, in einem durch Scheiben abgetrennten Raum zu warten, bis sie einen Arzt geholt hatte. Moyra verursachte das kein gutes Gefühl. Warum brachte die Schwester sie nicht einfach zu ihrer Mutter? Sie setzte sich auf einen der Stühle und wartete nervös, knetete ihre Hände ineinander, sprang immer wieder auf, sah aus dem Fenster, setzte sich wieder, starrte auf die Tür, durch die immer noch niemand kam, um sie zu unterrichten.

Ihre Mutter hatte nach der Trennung von ihrem Ehemann vor neun Jahren den Namen ihres geschiedenen Mannes behalten, weil sie keinen anderen Nachnamen als ihre Töchter haben wollte. Auch Moyra hatte diesen Namen getragen und trug ihn nach ihrer Hochzeit immer noch als Doppelnamen. Irenes Ex-Ehemann Kurt hatte Moyra als kleines Mädchen adoptiert und sie sah ihn auch immer als liebevollen Vater. Als ihren einzigen Vater. Sie hatte niemals einen anderen Vater vermisst. Sein Name fand sich auch in ihrer Geburtsurkunde wieder. Warum derjenige, der sie gezeugt hatte und gestorben war, nirgendwo verzeichnet war, wusste Moyra nicht.

Besonders als Teenager hatte sie oft viele Fragen gestellt. Sie hatte wissen wollen, wer ihr leiblicher Vater war. In dem Alter war man auf der Suche nach der eigenen Identität. Aber alles, was sie erfahren hatte, war, dass er ein großes Unternehmen geleitet hatte und gestorben war, als sie noch ganz klein war. Zu dem Zeitpunkt hatten ihre Eltern sich sowieso schon getrennt. Ihr Vater – ihr Erzeuger – hatte sie nie gewollt. Als Teenager hatte sie das hart getroffen. Sie war bei ihrem eigenen Vater unwillkommen gewesen. Kein gutes Gefühl. Aber das hatte nicht lange angehalten. Sie hatte ja ihre Mutter und Kurt. Und bei den beiden war sie immer willkommen gewesen. Sie hatte sich immer geliebt und geborgen gefühlt.

Sie war eine starke und unabhängige Frau geworden. Eine, die für sich einstehen konnte, die wusste, was sie wollte, die sich von niemandem etwas vormachen ließ. Eine Journalistin, die ihre Frau stand. Das alles ohne ihren Erzeuger. Scheiß auf den! Trotzdem würde sie auch heute noch gerne wissen, wer er gewesen war. Wie sein Name war, wie er ausgesehen hatte. Sie würde einfach gerne wissen, wo ihre Wurzeln lagen. Aber sie hatte aufgegeben, ihre Mutter immer und immer wieder danach zu fragen. Den Namen würde sie ihr wohl niemals preisgeben.

Dadurch stellte sich automatisch die nächste Frage: Warum nicht? War er ein Verbrecher? Ein Nichtsnutz? Wollte Irene ihre Tochter lieber im Ungewissen lassen als ihr die Gewissheit von einem verbrecherischen Vater zu geben?

Moyra sah durch die Scheiben den Arzt auf sich zukommen. Sie erkannte schon an seiner Haltung und Miene, dass er nicht mit guten Nachrichten kam. Sie sprang von dem Stuhl auf. Er reichte ihr die Hand und setzte sich mit ihr gemeinsam wieder hin.

„Sie sind die Tochter von Irene Brosius?“, vergewisserte er sich.

„Ja, Moyra Brosius-Groth.“

„Es tut sehr mir leid, Frau Brosius-Groth, aber wir konnten nichts mehr für Ihre Mutter tun. Sie ist leider vor wenigen Minuten verstorben.“

„Was!“ Moyra schrie auf.

„Es tut mir so leid, wir haben getan, was wir konnten. Aber sie hatte innere Verletzungen…“ Er hob die Schultern. „Wir konnten nichts tun.“

„Aber sie hatte noch so viele Pläne. Sie war doch noch keine alte Frau.“

Moyra schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht, aber Tränen wollten nicht kommen. Sie konnte ja auch kaum glauben, was sie hörte. Ihre tatkräftige Mutter sollte tot sein? Einfach so? Von einem Moment auf den nächsten? In der Mitte ihres Lebens?

„Einen Autounfall kann jeder erleiden“, sagte der Arzt ernst.

Ja, das war klar. Auch wirklich junge Leute starben täglich bei Unfällen auf den Straßen.

„Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Fühlen Sie sich imstande dazu?“

Was konnte jetzt schon noch kommen? Sie nickte.

„Ihre Mutter hat noch etwas gesagt, das ich nicht zuordnen kann, das ich aber ernst nehmen muss“, fuhr der Arzt in sehr ruhigem Ton fort.

Moyra blickte auf. „Ja?“

„Sie griff nach meinem Arm, als wollte sie sicherstellen, dass ich ihr genau zuhöre. Dann sagte sie – und ich versuche, mich an ihre genauen Worte zu erinnern: ‚Ich habe einen Menschen getötet. Vor vielen, vielen Jahren. Ich habe niemals jemandem davon erzählt. Aber ich habe ihn getötet.’“

Moyras Augen weiteten sich bei seinen Worten.

„So ein Unsinn. Meine Mutter ist ein liebevoller, friedfertiger Mensch. Sie haut nicht mal auf eine Fliege und Spinnen fängt sie ein und bringt sie in den Garten.“

Sie merkte selbst, dass sie in der Gegenwart sprach, als würde ihre Mutter noch leben. Als hätten die Worte des Arztes nicht alles verändert, ein ganzes Leben in die Vergangenheit gesetzt.

Der Arzt legte seine Hand auf ihren Arm. „Das mag alles so sein und ich weiß auch nicht, worum es dabei geht. Aber das waren die letzten Worte Ihrer Mutter.“

„Sie war sicher schon nicht mehr ganz bei sich.“

„Doch, das war sie. Sie war bei Sinnen und sie wusste oder ahnte zumindest, dass sie nicht überleben würde. Vielleicht finden Sie heraus, was passiert ist, vielleicht klärt sich ja alles auf.“

Über die Schulter des Arztes hinweg sah Moyra ihre jüngere Schwester Linda den Gang entlang laufen. Sie atmete auf. Ein Glück, dass Linda da war. Das war für sie allein alles zu viel.

Viel zu viel.

Sie erhob sich, eilte ihrer Schwester entgegen. Jetzt begann sie doch zu weinen und Linda verstand sie ohne Worte.

Sie lagen sich in den Armen und gaben sich gegenseitig Halt. Ein paar Sekunden lang, dann musste Linda sich doch endgültige Gewissheit verschaffen.

„Was ist mit Mama?“, fragte sie.

Moyra hauchte tonlos: „Sie ist tot.“

Sie setzten sich beide. Der Arzt wartete auf sie. „Sagen Sie der Schwester Bescheid, wenn Sie soweit sind, um alles Weitere zu besprechen. Oder wenn Sie zu ihr möchten.“

Die beiden Frauen nickten. Dann ging er davon und die Schwestern waren allein in dem kleinen Warteraum.

„Ich muss dir etwas erzählen, Linda, womit ich gar nicht zurecht komme.“

„Ich komme auch gar nicht mit Mamas Tod zurecht. Das war zu plötzlich. Ich kann es gar nicht glauben. Komm, lass uns zu ihr gehen, Moyra. Ich will sie sehen. Ich muss sie sehen.“

Linda wollte schon aufstehen, aber Moyra hielt sie zurück.

„Nein, du verstehst nicht. Es ist noch etwas anderes.“

„Was könnte jetzt noch von Bedeutung sein?“

„Ihre letzten Worte, die der Arzt mir mitgeteilt hat.“

Linda zog die Stirn kraus, so dass zwei senkrechte Falten über der Nase entstanden.

„Mutter hat gesagt, dass sie vor vielen Jahren einen Menschen getötet hat.“

„Was?“ fragte Linda leise, fast tonlos.

„Sie hat gesagt, dass sie einen Menschen getötet hat und es niemals jemandem erzählt hat.“

„Sie hat so etwas geheim gehalten? Nur mit sich ausgemacht? Wie schafft man so was?“

„Ja, das hat sie gesagt und ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt.“ Moyra wurde immer aufgebrachter, während Linda regelrecht in sich zusammensank.

„Hatte sie früher mal einen Unfall, bei dem ein Mensch gestorben ist?“, überlegte Linda.

Moyra hob die Schultern. „Ich weiß es doch auch nicht. Gesagt hat sie, dass sie einen Menschen getötet hat.“

„Ja, das habe ich verstanden. Hast du jetzt schon dreimal gesagt. Aber das ist doch totaler Unsinn. Mama hat doch niemanden getötet. Nicht bewusst jedenfalls. Höchstens eben bei einem Unfall. Und ihr hat das so zugesetzt, dass es gerade jetzt wieder hochkam.“

„Vielleicht gibt es Unterlagen über einen Unfall?

Moyra hob wieder die Schultern. „Ich weiß es nicht.“

„Vielleicht hat sie das in einem Tagebuch aufgeschrieben. Wenn sie es schon keinem erzählt hat… da wird man doch allein gar nicht mit fertig.“

„Hast recht.“

Schweigen.

Keiner hatte etwas zu sagen. Sie waren voller widersprüchlicher Gefühle. Traurigkeit. Verständnislosigkeit. Unglaube. Es war jetzt kein Platz für Überlegungen, wie es weitergehen sollte. Wie sie mit der mysteriösen letzten Nachricht ihrer Mutter umgehen sollten. Sie hatten ja noch nicht einmal verstanden, dass sie nicht mehr da war. Das ihr Geist sich von dieser Welt verabschiedet hatte.

„Wollen wir zu ihr gehen?“, fragte Linda endlich noch einmal und dieses Mal nickte Moyra .

Die Krankenschwester ließ sie in den abgedunkelten Raum, in dem ihre Mutter noch auf einem normalen Krankenbett lag. Ihr Körper war zugedeckt, ihre Hände lagen ineinander verschlungen auf der Decke.

„Als ob sie schläft“, meinte Linda.

„Nein, das ist unheimlich. So starr“, widersprach Moyra.

Ja, es stimmte. Ihre Haut war irgendwie fahl, ihr Brustkorb bewegte sich nicht. Aber sie sah friedlich aus. Nicht so, als wäre sie mit Schmerzen und Ängsten eingeschlafen. Sondern so, als hätte alle Angst und alles Leid nun ein Ende.

Sie setzten sich neben das Bett. Schwiegen, sahen ihre Mutter an. Moyra tastete nach ihrer Hand. Wie kalt sie war.

Schließlich begannen sie, miteinander zu reden. Nicht über die letzte Nachricht, nicht, ob es wirklich sein konnte, dass ihre Mutter jemanden getötet hatte…

Nein, sie erinnerten sich an Begebenheiten aus ihrer Kindheit, an die Mutter, die ihnen Geschichten vorlas, Spiele mit ihnen spielte, lachte, bastelte, schimpfte.

Es war irgendwie widersinnig, wie sie über das Bett ihrer toten Mutter hinweg plötzlich zu lachen begannen. Und doch war es das schönste Geschenk, das sie von ihr bekommen hatten. Diese Freude und Unbeschwertheit.

Es war schön, Irene als Mutter gehabt zu haben.

Die nächsten Tage erlebten sowohl Moyra als auch Linda wie in Trance. Sie konnten das Geschehene ja selbst noch gar nicht glauben und mussten trotzdem ihrer Familie das Unfassbare berichten.

Besonders große Angst hatte Moyra davor, es der kleinen Merle beizubringen. Aber da hatte sie sich getäuscht.

Sie nahm die dreijährige auf den Schoß, strich ihr die noch dünnen blonden Locken aus der Stirn und sagte mit sanfter Stimme: „Meine Süße, es ist etwas passiert, das sehr traurig ist.“

„Bist du traurig, Mami?“, fragte die Kleine.

„Ja, das bin ich. Weißt du, deine Oma wohnt jetzt beim lieben Gott im Himmel. Das bedeutet, dass sie nicht mehr hier bei uns sein kann.“

„Können wir sie nicht mehr besuchen?“

„Nein, das können wir nicht.“

„Und ich kann nicht mehr mit ihr spielen? Sie kann nicht mehr Bilderbücher mit mir gucken?“

„Nein.“

„Dann bin ich auch traurig, Mami.“ Sie schlang ihre Ärmchen um den Hals ihrer Mutter und die beiden hielten sich einen Moment lang fest. Dann löste Merle sich und meinte: „Aber sie ist jetzt bei den Engeln oder?“

„Ja.“

„Dann kann sie mit ihnen spielen und vorlesen.“

Widerwillig musste Moyra lächeln. „Ja, ich denke schon.“

„Sicher wird es Oma dort gut gefallen. Und sie sieht auch ihre Mama und ihren Papa wieder, stimmt’s?“

„Ja.“

Moyra war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte, aber das konnte sie doch dem kleinen Mädchen nicht sagen, das soviel Hoffnung in diese Vorstellung legte, das noch an Wunder glaubte.

„Dann ist es nicht so schlimm. Ich bin schon traurig, dass sie mir nicht mehr vorliest, aber wenn es Oma gut gefällt, dort, wo sie jetzt ist, ist es nicht so schlimm.“

„Nein, da hast du recht.“

Moyra hatte diesen Trost nicht. Sie konnte nicht so recht daran glauben, dass es nach dem Tod weiterging. Aber Merle gab ihr Trost. Der kleine Körper auf ihrem Schoß, in ihren Armen, gab ihr Trost.

Und noch ein Gedanke reifte in ihr. Sie musste herausfinden, was passiert war. Was mit diesem Menschen war, den ihre Mutter angeblich getötet hatte. Wer dieser Mensch war. Es durfte kein Geheimnis bleiben. Dieser Makel sollte nicht an ihrer Mutter haften bleiben, selbst wenn sie tot war. Und dieses Erbe wollte sie nicht tragen und erst recht nicht ihrem kleinen Mädchen weitergeben. Und einem Geschwisterchen für Merle, das sie sich noch wünschte. Dasselbe galt natürlich für Lindas zukünftige Kinder. Diese Angelegenheit musste geklärt werden.

Aber vermutlich weckte dieses Geheimnis einfach nur ihren journalistischen Instinkt.

Die achtundfünfzigjährige Astrid Richter versuchte in diesen Wochen ständig, Irene Brosius auf ihrem Handy zu erreichen, aber vergebens. Die falsche Nummer hatte sie nicht, da war sie sich sicher. Sie sah ja auch Irenes Foto als Profilbild.

„Lass es halt bleiben“, maulte ihr Mann Ulrich. „War sowieso ein Fehler, dass sie dich besucht hat.“

„Ich habe mich total darüber gefreut. Wir waren schließlich mal so gute Freundinnen.“

„Ihr wart es mal. Du sagst es. Ist lange her.“

„Und? Darf man den Kontakt nicht wieder aufleben lassen? Herrje, wir sind keine jungen Dinger mehr, da wird man manchmal nostalgisch. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, sie wiederzusehen.“

„Ja ja, sagtest du bereits“, knurrte Ulrich. Astrid konnte nicht recht etwas mit Ulrichs Reaktion anfangen. Wieso störte ihn das so? Klar hatte es damals Probleme gegeben. Große Probleme sogar. Da war dieser Todesfall und Irene schien irgendwie etwas damit zu tun zu haben. Na ja, Astrid wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. Sie wusste viel mehr darüber als Ulrich ahnte. Aber Irene konnte nur die Täterin sein, wenn es sich um einen Unfall handelte, soviel war klar. Eine Mörderin war Irene nicht. Auf jeden Fall war sie nicht damit klargekommen und war fortgegangen. Anfangs hatten sie sich noch besucht, dann war auch das abgerissen. Sie hatten sich seit beinahe dreißig Jahren nicht gesehen. Bis Irene vor ein paar Wochen vor ihrer Tür gestanden hatte. Mann, hatte sie sich gefreut. Und es war so gewesen, als stündenen nicht die vielen Jahre zwischen ihnen. Sie waren wieder Ende zwanzig, fröhlich, ungebunden, lachten und quatschten miteinander.

Astrid hatte sich gefreut, dass sie beide ihr letztes Lebensdrittel wieder als Freundinnen verbringen würden, Kontakt hielten, sich gegenseitig besuchten. Und nun war Irene unerreichbar. Was sollte das?

„Vergiss diese Irene und hör auf, hinter der herzutelefonieren. Die hat bestimmt längst bereut, dass sie hier war.“

Astrid hatte sich nie recht gegen Ulrich durchsetzen können. Das Problem bestand wohl darin, dass sie immer versucht hatte, ihm ihre Gefühle und die Gründe für ihre Entscheidungen zu erklären. So wie sie es auch jetzt wieder tat. Und er stellte einfach nur Behauptungen und Forderungen auf. Irgendwann gab sie meistens nach. Sie musste unbedingt a us dieser Falle raus. Jetzt ging sie auf die sechzig zu und war immer noch so duckmäuserisch wie mit zwölf. Sie hatte es ja auch nicht anders gelernt. Immer schön lieb sein, die Klappe halten, keinen Ärger machen.

Astrid nahm sich fest vor, dass damit jetzt Schluss sein würde. Den Kontakt zu Irene würde sie sich nicht einfach verbieten lassen. Auch wenn sie dieses Mal wirklich zugeben musste, dass Ulrich vermutlich recht hatte. Wieso sonst war Irene so völlig unerreichbar für sie?

Sie war so enttäuscht.

Irene wurde, wie sie es immer gewünscht hatte, eingeäschert und einige Wochen später im Friedwald beigesetzt.

Zuvor gab es eine kleine Abschiedsfeier, bei der sich diejenigen, die Irene kannten und mochten, von ihr verabschieden konnten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht alle Bekannten benachrichtigt hatten, war groß, denn es war Moyra und Linda nicht gelungen, an die Daten von Irenes Handys zu kommen. Es war bei dem Unfall so stark beschädigt worden, dass es nicht mehr funktionierte. Aber es hätte auch sowieso niemand das Passwort zum Einschalten oder das Muster für den Bildschirm gekannt. So konnten sie nur anhand des herkömmlichen Adressbuches, das noch immer neben dem Telefon lag, vorgehen. Aber ob Irene noch Kontakte im Handy hatte, die dort nicht verzeichnet waren, wussten sie nicht. Es war aber wahrscheinlich.

Der Tag der Beisetzung war ein wunderschöner Sommertag, das Grün der Bäume war hell und leuchtend, die Vögel sangen und die Sonne schickte ihre Strahlen durch das Blätterdach auf die Erde.

Irgendwie war es widersinnig und passte so gar nicht zu dem traurigen Anlass. Als Merle den gebündelten Sonnenstrahl sah, rief: „Schau Mama, bestimmt freut sich der liebe Gott, dass Oma kommt.“

„Was für eine wunderschöne Vorstellung“, meinte der anwesende Priester. „Da wirst du absolut recht haben.“

Die Urne wurde im kleinen Familienkreis und im Kreis von Irenes engsten Freundinnen beigesetzt. Danach gingen sie zusammen wieder nach Hause, wo sie noch lange beisammen saßen, etwas aßen und tranken und die Erinnerung an Irene aufleben ließen.

Kapitel 2 August 2023

Jetzt waren bereits einige Wochen vergangen und sie konnten sich nicht mehr allzu lange Zeit damit lassen, das Haus ihrer Mutter auszuräumen. Sie mussten entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Irene war nach der Trennung von ihrem Mann Kurt zusammen mit Linda in dem kleinen Reihenhaus wohnen geblieben. Moyra studierte zu dem Zeitpunkt schon Journalismus in Köln und lebte in einer Studenten WG.

Auch Linda hatte zu dem Zeitpunkt bereits ihr Abitur gemacht und begann ihren Bundesfreiwilligendienst in einer Schule für behinderte Kinder. In dieser Zeit lebte sie noch im Haus der Mutter und bewohnte die beiden Kinderzimmer, von denen eines ihr Schlafzimmer und das zweite ihr eigenes Wohnzimmer war, in dem Moyra bei Besuchen zu Hause natürlich übernachten konnte.

Nun mussten sie entscheiden, was mit diesem Haus passieren sollte.

Auch Kurt traf bei ihnen ein, als sie einen ersten Gang hindurch machten. Auch er gehörte zu ihrer Erbengemeinschaft, Irene hatte ihn bei ihrer Trennung nicht ausbezahlt.

Er stöhnte. Sein Verhältnis und auch das seiner jetzigen Lebensgefährtin zu seiner Exfrau Irene war gut gewesen. Wenn sie sich auf Feiern - zum Beispiel auf Geburtstagen der Töchter - trafen, unterhielten sie sich ungezwungen und lachten herzlich miteinander. Nur die Liebe war mit der Zeit eben gegangen, hatte nur noch Gewohnheit Platz gemacht. Sie hatten sich einfach auseinandergelebt.

„Willst du das Haus nicht übernehmen? Immerhin hast du auch eine schöne Zeit hier gehabt“, schlug Moyra vor.

Kurt nickte. Er hatte trotz seiner sechzig Jahre noch volles Haar, aber es war vollkommen grau geworden. Er war nicht mehr so schlank und drahtig wie früher, aber man konnte ihn durchaus noch als einen attraktiven Mann bezeichnen.

Seine Lebensgefährtin Alice war viel jünger als er, erst dreiundvierzig Jahre alt. Vor fünf Jahren hatten sie ihren kleinen Sohn Lukas bekommen und lebten gemeinsam in einer schicken Eigentumswohnung. Geheiratet hatten sie allerdings nicht. Moyra wusste, dass Alice gerne geheiratet hätte, aber sie hatte sich offensichtlich damit arrangiert, dass Kurt sich nicht noch einmal darauf einlassen wollte.

„Ein Trauschein garantiert keine lebenslange Zweisamkeit“, pflegte er zu sagen. Er musste es wissen, er war schon einmal vier Jahre lang verheiratet gewesen, bevor er vor fast achtundzwanzig Jahren, im Dezember 1995, Irene geheiratet hatte. Da war Linda schon unterwegs gewesen. Immerhin hatte die Ehe bis zur Trennung neunzehn Jahre gehalten.

„Es sind viele Erinnerungen mit dem Haus verbunden. Du warst noch keine vier Jahre alt, als wir hier einzogen, Linda wurde hier geboren. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn ich mit Alice und Lukas hierherziehe. Und Alice würde das auch niemals wollen. Auch wenn sie sich gut mit eurer Mutter verstanden hat, aber das wäre zu viel.“

„Linda? Also wir haben ja unser Häuschen, aber was wäre mit dir und Maik?“

Doch Linda schüttelte den Kopf. „Wir wollen beide kein Haus. Wir wollen uns einfach nicht durch eine Immobilie binden.“

„Das ist doch Unsinn. Du musst deswegen doch nicht unbedingt für immer hier wohnen bleiben.“

Linda schüttelte hartnäckig den Kopf. „Ich wollte es ja noch nicht sagen, aber Maik hat ein Jobangebot in Kassel erhalten. Könnte also sein, dass wir wegziehen.“

Diese Aussage enttäuschte Moyra. Linda würde fortgehen? Sie gehörte so selbstverständlich zu ihrem Leben…

„Nun schau nicht so bedröppelt, als wäre Kassel dasselbe, als würde ich nach Australien auswandern. Es ist nur eine Autostunde von Paderborn entfernt, wir werden uns dauernd besuchen. Und Merle macht bestimmt gerne mal Urlaub bei ihrer Tante. Aber noch steht es ja gar nicht fest.“

Moyra sagte nichts dazu. „Dann müssen wir das Haus ausräumen. Vielleicht einen Räumungsverkauf arrangieren. Und dann verkaufen. Oder vermieten?“

„Verkauft lieber. Sonst seid ihr immer weiter in der Pflicht und müsst euch um alles kümmern und am Ende geratet ihr noch an Mietnomaden“, riet Kurt.

Moyra und Linda sahen sich an und verzogen den Mund. „Du hast ein Talent dazu, den Teufel an die Wand zu malen“, meinte Moyra. „Aber ich denke auch, wir sollten uns lieber vollständig verabschieden. Was denkst du, Linda?“

„Dito. Falls wir wirklich weggehen, kann ich mich sowieso um nichts kümmern. Und ehrlich, Moyra, wir beide sind handwerklich nicht allzu geschickt und Maik … Na ja…“, sie machte eine unbestimmte Handbewegung und lachte. „Und Bastian hat auch nicht so viel Zeit.“

„Ja, das ist wohl wahr. Wir müssten immer jemanden beauftragen. Bastian ist zwar handwerklich nicht ungeschickt, aber uns fehlt die Zeit, uns um eine weitere Immobilie zu kümmern.“

So begannen sie, in der nächsten Zeit das Haus leerzuräumen. Liebgewonnene Erinnerungsstücke in der Familie oder unter Freunden zu verteilen oder für den späteren Räumungsverkauf beiseite zu stellen.

Zu so vielen Gegenständen fielen ihnen ganze Geschichten ein.

„Weißt du noch, als wir Mama diese Kerzenleuchter zum Geburtstag geschenkt haben?“, fragte Linda beispielsweise. „Jede hatte einen.“

„Oh ja. Daran erinnere ich mich gut. Und sie haben die Form von Katzen, weil wir damals unseren Felix hatten, an dem Mama sehr hing.“

„Ja, genau.“ Sie kriegten sich gar nicht mehr ein vor Lachen, als sie daran dachte, wie ihre Mutter sie betrachtete, dann den Kater zu sich rief und meinte: Schau, Felix. Die sehen aus wie du. Und der Kater hatte danach geschnappt, als wäre er eifersüchtig.

„Diese Australienbuchreihe hätte ich gerne. Ist das okay?“, fragte Moyra etwas später.

„Klar. Wenn ich mal eins lesen will, kann ich es mir ja ausleihen.“

Wenig später schrie Linda auf. „Ich habe ein Fotoalbum gefunden. Schau her: Wir beim Schlittenfahren. Du warst schon so groß im Vergleich zu mir.“

„Fünf Jahre Altersunterschied sind bei kleinen Kinder auch ne ganze Menge“, meinte Moyra.

Ein anderes Mal halfen auch Maik und Bastian beim Ausräumen.

Merle rannte zu der großen, gläsernen Bonboniere, die immer in einem Regal im Wohnzimmer stand und die immer kleine Süßigkeiten enthielt. Auch dieses Mal waren noch einige Smarties darin, die Merle mit Genuss verspeiste und Moyra ließ sie gewähren, auch wenn sie normalerweise nicht so viele Süßigkeiten erlaubte.

Es ging langsam voran, es war erstaunlich, wie viele Dinge sich im Laufe eines Lebens ansammelten.

Und dabei waren sie noch nicht im Keller gewesen und auf dem Dachboden auch nicht.

Am Abend, als Merle bereits im Bett lag und nach mehreren Gute-Nacht-Geschichten und Liedern endlich schlief, setzte sich Moyra zu Bastian ins Wohnzimmer. Er hatte den Fernseher eingeschaltet, auf dem noch die zweite Hälfte von Star Treck flimmerte.

Moyra massierte sich den Nacken, Bastian bemerkte es, stellte sich hinter sie und übernahm das Massieren.

„Danke, Schatz“, sagte Moyra und griff nach seiner Hand.

„War eine harte Zeit, nicht wahr?“, meinte er.

„Ist es immer noch. Es ist ganz schön schwer, das Haus auszuräumen und damit meine ich nicht die körperliche Arbeit. Wir schleppen ja keine Möbel.“

„Ist schon klar.“

„Vielleicht können die im Jugendzentrum ein paar Sachen brauchen oder bei der Flüchtlingshilfe?“

„Vielleicht. Frag einfach mal nach. Du kannst aber auch versuchen, sie zu verkaufen.“

„Klar. Komm, setzt dich lieber zu mir.“

Er tat es, zog sie in seinen Arm, sie legte ihren Kopf an seine Schulter.

„Morgen wollen wir auf den Dachboden klettern und in den alten Kisten kramen. Ich habe immer noch im Hinterkopf, dass wir etwas zu dem Menschen finden müssten, den Mutter angeblich getötet hat.“

„Irene hat niemanden getötet. Nie und nimmer.“

„Kann ich mir ja auch nicht vorstellen. Aber der Arzt hat das sicher nicht erfunden.“

„Na ja, vielleicht gab es früher ja wirklich einen Unfall.“

„Das wäre die einzige Erklärung. Aber das wäre sicher kein großes Geheimnis. Bei einem Unfall mit Todesfolge kam doch sicher die Polizei. Wenn nicht, hieße das, sie hätte Unfallflucht begangen.“

„Auch keine schöne Vorstellung. Aber wie sie sagte, war das vor vielen, vielen Jahren. Irene war da vielleicht noch sehr jung. Sie war ja nicht immer die verantwortungsvolle Mutter.“

Moyra schlug spielerisch nach ihm. „Natürlich war sie nicht immer Mutter. Aber ob sie jemals so verantwortungslos war?“

Bastian hob die Schultern. „Diese ganze Grübelei führt zu nichts.“

„Nein, da hast du recht. Mal sehen, ob wir etwas finden. Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine Art Tagebuch geführt hat, wenn sie schon mit keinem geredet hat. Ich muss der Sache auf jeden Fall auf den Grund gehen. Verstehst du das?“

Er antwortete nicht. Sie setzte sich auf.

„Verstehst du das?“, wiederholte sie.

„Nicht wirklich“, gestand er.

„Nicht? Stell dir vor, du würdest plötzlich von deiner Mutter oder deinem Vater erfahren, sie hätten einen Menschen getötet. Einfach so. Nur diese Aussage. Und du kannst sie nicht mehr fragen.“

„Mmm, ja, du hast wohl recht, das wäre schon eine Belastung“, gab Bastian zu.

„Da will man wissen, was dahinter steckt.“

„Da spricht jetzt aber schon die Journalistin aus dir.“

„Nein, die Tochter.“

„Also morgen Nachmittag Dachboden?“

„Gleich nach Lindas Schulschluss. Wie gut, dass ich freie Journalistin bin und mir meine Zeit einteilen kann.“

Die blöde ausklappbare Leiter, die auf den Dachboden führte, hatte Moyra schon als Kind gehasst. Besonders die letzte Sprosse, die sie am Ende der Leiter nehmen musste, um auf den Dachboden zu treten, verursachte ihr echte Probleme. Es gab einfach nichts mehr zum Festhalten, kein Geländer, als würde sie einen Moment im Nichts hängen. Dass war Unsinn, das wusste sie, aber das Gefühl bekam sie nicht in den Griff. Trotzdem war sie immer gerne hierher gekommen. Die Leiter hatte sie als notwendiges Übel in Kauf genommen. Hier oben zu sein, war irgendwie immer ein wenig geheimnisvoll, sogar gruselig. Für Kinder also ein Paradies.

Etwas neidvoll sah sie Linda zu, die leichtfüßig die Leiter hinaufstieg als wäre es eine komfortable Treppe.

Der Dachboden war düster und staubig. Durch das kleine Dachfenster fiel nur spärliches Licht und sie konnten rings um sich größere und kleinere Kartons erkennen, in denen irgendwelche Dinge gelagert waren, von denen sie im Augenblick noch keine Ahnung hatten, was es war.

„Es ist etwas dunkel“, meinte Moyra und schaltete fürs Erste ihre Handy-Taschenlampe an.

„Jap, wo war denn dieser verflixte Lichtschalter?“ Linda sah sich um, fand ihn, knipste ihn an. Ein schwaches Licht aus einer nackten Glühbirne glomm auf.

„Soll ich noch irgendwas hochholen? Vielleicht meine alte Schreibtischlampe? Bei der kann man den ganzen Kopf verdrehen, dann können wir anstrahlen, wo wir es gerade wollen.“

Moyra nickte. „Ja, mach das.“

Linda stieg also ganz selbstverständlich die Leiter wieder hinunter.

Moyra durfte gar nicht daran denken, wie sie selbst später auf die Sprosse kommen sollte. Von hier oben wieder auf die erste Sprosse zu kommen, um hinunterzusteigen, war noch viel schwieriger, als hinaufzuklettern. Aber es war auch immer irgendwie gegangen und das würde es auch dieses Mal.

Es dauerte nicht lange, bis Linda mit der schwenkbaren Schreibtischlampe zurückkehrte. Sie steckte das Kabel in die Steckdose, die sich gleich neben dem Lichtschalter befand und sofort wurde der Raum viel heller. Zur Not hatten sie ja auch noch ihre Handy-Taschenlampen, die Moyra erstmal wieder ausschaltete.

„Okay, wo fangen wir an?“, fragte Linda tatkräftig.

Moyra hob etwas ratlos die Schultern. Diese Ausräumaktion schien sich zu einem Berg zu entwickeln, den sie kaum überwinden konnten.

Immer ein kleines Stückchen weiter, redete sie sich in Gedanken gut zu. „Fangen wir da drüben an und arbeiten wir uns im Kreis herum vor“, schlug sie schließlich vor. „Bestimmt finden wir noch jede Menge Spielsachen von uns.“

„Jap, vielleicht ist ja noch was Nettes für Merle oder Lukas dabei.

„Ob die mit den alten Sachen spielen wollen? Aber man kann nie wissen. Ich hoffe ja, wir finden irgendwas, das Licht in das Dunkel wirft, das Mutters letzten Worte aufgeworfen haben.“

„Gut gesagt, Moyra. Das wäre schön. Vielleicht wirklich ein Tagebuch. Irgendwem muss sie das doch anvertraut haben.“

An diesem Tag fanden sie tatsächlich nichts, was sie bei der Frage weiterbrachte, was ihrer Mutter vor vielen, vielen Jahren passiert sein könnte. Sie fanden nur alle möglichen Gegenstände, die ordentlich verpackt aufbewahrt worden waren, auch wenn sie wirklich nicht mehr von Nutzen waren. Sogar alte Schulhefte und Bücher von Moyra und Linda waren dabei.

Sie saßen auf dem staubigen Fußboden, Moyra rieb sich ihren schmerzenden Nacken.

„Sollen wir morgen mal eine Pause einlegen?“, fragte Linda.

Doch Moyra schüttelte den Kopf, auch wenn sie die Pause wirklich gut brauchen könnte. Für ihren schmerzenden Rücken und auch für Merle. Sie schaffte es nicht pünktlich, sie von der KITA abzuholen, wenn sie hier im Haus arbeiteten. Heute würde Bastian früher Feierabend machen und sie abholen, morgen würde Alice sie mitnehmen. Aber so ging es ja nicht weiter. Sie rieb sich auf zwischen Arbeit, Haushalt, Kind, Haus ausräumen. Ihre und Bastians Zweisamkeit kam sowieso zu kurz. Tagsüber war keine Zeit da und abends war sie einfach viel zu müde. Sie war froh, dass Bastian das im Hinblick auf eine absehbare Zeit klaglos hinnahm.

„Wir machen eine Pause, wenn wir den Dachboden durchhaben. Hier oben muss etwas zu finden sein. Ich weiß es einfach.“

„Du bist ja ganz fanatisch“, bemerkte Linda.

„Willst du es denn nicht wissen?“

„Doch schon, aber du scheinst an nichts anderes mehr zu denken.“

„Das ist vielleicht die Journalistin in mir.“

„Mag sein. Aber du hast schon recht. Mamas Selbstbeschuldigung ist schon krass. Der Gedanke, was passiert sein könnte, lässt mich auch nicht vollständig los.“

„Siehst du. Dann also morgen.“

Linda nickte. „Okay. Bis morgen.“

Sie erhoben sich, klopften den gröbsten Staub aus ihren Jeans und sogar Spinnweben aus dem Haar und kletterten die Leiter wieder hinunter. Linda betrat die erste Sprosse wie eine Treppe, während Moyra sich rückwärts ganz vorsichtig darauf tastete. Erst, als sie die ersten paar Sprossen geschafft hatte und sich gut an den Seiten festhalten konnte, ging sie sicher und zügig weiter.

Am nächsten Tag, als sie erneut auf dem Dachboden saßen und eine Kiste unter der Schräge hervorgezogen hatten, entdeckten sie dahinter eine alte Truhe. Wie von selbst fesselte diese Truhe auf Anhieb die Aufmerksamkeit beider Frauen. Wortlos blickten sie sich an und begannen gleichzeitig auf die Truhe zuzukrabbeln und an den Griffen zu ziehen. Doch die Truhe war zu schwer, sie konnten sie nicht vorwärtsbewegen.

„Was kann da denn drin sein?“, fragte Linda verwundert.

„Bücher vielleicht“, mutmaßte Moyra. „Wenn die voller Bücher ist – oha, die bewegt dann kein Mensch.“

„Dann müssen wir sie eben hier öffnen. Das ist zwar unbequem, weil die Schräge sehr niedrig ist, aber wenn’s nicht anders geht…“

Moyra nickte zustimmend und sie klappten den gewölbten Deckel auf - so weit es unter der Schräge ging. Sie linsten hinein.

„Es sind wirklich Bücher“, stellte Linda fest.

„Und – ich glaube – Fotoalben.“

„Ja, das könnte sein. Oh…“ Linda freute sich. „Das wird interessant. Alte Fotos. Vielleicht aus der Zeit, als Mama noch klein war oder sogar unsere Großeltern.“

Sie fischten nach und nach Bücher und Alben, so, wie sie sie gerade griffen, aus der Truhe und legten sie auf andere Kisten. Auf dem staubigen Boden wollten sie diese Kostbarkeiten – denn das waren die Bücher für sie – nicht deponieren. Als die Truhe ungefähr halb leer war, schafften sie es, sie soweit vorzuziehen, bis sie den Deckel vollständig aufklappen konnten. Vor ihnen lag ein Schatz aus alten Büchern, manche aus ihrer Kindheit, manche noch älter, alte Gedichtbände, eine Schmuckbibel, Schallplatten und alte Fotoalben.

Sie vergaßen vollkommen, wie schmutzig und staubig es hier oben war und saßen selbstvergesssen auf dem Fußboden und stöberten in den alten Alben, sahen ihre Mutter als Kind, als Teenager und junge Frau, sahen sie mit einem attraktiven jungen Mann zusammen.

„Ob Mama in den verliebt war?“

„Ich finde, sie sehen beide so aus“, erwiderte Moyra. „Vielleicht ist das sogar mein Vater?“

Linda drückte kurz Moyras Hand. Sie wusste, wie gerne Moyra ihren Vater kennengelernt hätte, aber das war ja nicht möglich gewesen, denn er war gestorben, als sie ein Jahr alt war.

„Ich verstehe einfach nicht, warum sie mir nicht einmal ein Foto von ihm gezeigt hat. Warum sie mir keine Geschichten erzählt hat. Alles blieb so reserviert. Ich weiß, dass sie sich auf einer Feier kennengelernt haben und dass er aus einer reichen Familie stammte, bei der Mama nicht angesehen war. Er hatte sich nicht über das Baby gefreut und als ich geboren wurde, waren sie schon kein Paar mehr. Und dann ist er gestorben. Das war’s. Keine Fotos. Und auch keinen Namen. Keine Großeltern. Ich glaube, Mama hatte Angst, dass ich die Familie aufsuchen würde.“ Moyra hob in einer resignierten Geste die Arme.

„Quäl dich nicht mit solchen Gedanken. Papa ist auch dein Vater.“

„Ja, das ist schon wahr. Das habe ich auch immer so empfunden. Und trotzdem… Ach egal, weiter geht’s!“ Sie antwortete betont burschikos, denn sie wollte gefühlsmäßig nicht tiefer in dieses Thema hineingehen. Ihre Mutter hatte gewusst, wie sehr ihr Erzeuger sie beschäftigt hatte und trotzdem ihrem Wunsch nicht nachgegeben, mehr über ihre Herkunft zu erfahren. Und jetzt war es zu spät. Ja, Kurt war ihr immer ein liebevoller Vater gewesen. Sie hatte sich als Kind niemals zurückgesetzt gefühlt. Kurt hatte sie und Linda völlig gleich behandelt. Und trotzdem hätte sie gerne gewusst, wer ihr biologischer Vater war.

„Schau mal hier!“, rief Linda plötzlich. „Hier ist ein Album mit lauter Zeitungsausschnitten.“

Die Schwestern blickten sich überrascht an. „Dann muss das, worum es darin geht, für Mama eine große Bedeutung haben. Lass mal sehen.“

Linda schob Moyra das Album zu, sodass sie beide hineinsehen konnten.

Es waren Zeitungsartikel mit Fotos eines gewissen Julius Kallweit aus dem Jahr 1990. Offensichtlich war er der Spross einer reichen Familie aus Würzburg, der sich entschieden hatte, nach dem Mauerfall gemeinsam mit einem ostdeutschen Techniker in Quedlinburg ein Unternehmen zu gründen.

„Was hat Mama denn mit dem zu tun? Wieso klebt sie Artikel von dem so ordentlich ein?“, fragte Moyra.

„Moment mal“, Linda war etwas eingefallen. Sie griff das Album, das sie sich am Vortag angesehen hatten und schlug die Seiten um, bis sie das Foto von ihrer Mutter mit dem jungen Mann wieder gefunden hatte. Beide Frauen starrten wie gebannt darauf. „Das ist er doch?“

Moyra nickte gedankenverloren. „Das ist er.“

Sie blätterte weiter in dem Album mit den Zeitungsanzeigen. Es ging weiter um die Gründung der Firma. Es war von Spannungen zwischen Julius und seinem jüngeren Bruder Rasmus Kallweit die Rede, weil der Jüngere über Julius unerwarteten Alleingang mit dem Segen und der Unterstützung des Vaters nicht allzu erfreut gewesen war, während er weiterhin unter der Führung seines Vaters arbeiten musste.

Und dann folgte plötzlich – und zu Moyras und Lindas Entsetzen - eine Todesanzeige mit einem schlichten Kreuz.

Julius Kallweit, geb. Febr. 1961, gestorben Okt. 1992

Darunter stand ein Artikel mit dem Titel

Juniorchef der Kallweit-Dynastie ermordet

Die Schwestern sahen sich entsetzt an.

„Das kann doch nicht sein?“, entfuhr es Moyra. „Das ist aber nicht…“

„Bestimmt nicht.“ Aber Lindas Stimme klang nicht so sicher wie sie hoffte. Leise begann sie vorzulesen:

Der einunddreißigjährige Julius Kallweit, der vor fast zwei Jahren das neue Unternehmen der Kallweit-Dynastie in Quedlinburg gegründet hatte, wurde tot in einem Waldstück bei Quedlinburg aufgefunden.

Er starb an einer schweren Kopfverletzung.

Bisher kann nicht ausgeschlossen werden, dass Kallweit einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Die Polizei ermittelt im Familien- und Freundeskreis.

Lesen Sie weiter auf Seite →.

Sie blätterte um, auf der nächsten Doppelseite des Albums war ein großer Artikel über das Imperium Kallweit, den Werdegang der Söhne Julius und Rasmus sowie der fünfundzwanzigjährigen Tochter Ariane, die sich zu der Zeit im Ausland aufhielt. Es wurde ausführlich die Entscheidung, in der ehemaligen DDR zu investieren, erläutert. Offenbar stammte Julius’ Familie aus Quedlinburg, war aber vor dem Mauerbau fortgegangen. Auch von dem jüngeren Bruder Rasmus war die Rede, der mit seiner Rolle als Jüngerer haderte. Es wurde philosophiert, ob der jetzt wohl die Firma in Quedlinburg übernehmen würde und die Schwester Ariane nach ihrem Auslandsaufenthalt in das Unternehmen in Würzburg eingearbeitet werden sollte.

Die Schwestern konnten alle die Informationen kaum aufnehmen.

„Meinst du, das ist der Typ, den Mama getötet haben will?“, fragte Linda jetzt direkt.

„Was heißt, getötet haben will?“

Linda hob die Schultern. „Wie soll ich es denn ausdrücken? Den Mama geglaubt hat, getötet zu haben? Oder den Mama getötet hat?“

„Ich weiß doch auch nicht. Kann ich das Album mitnehmen und es heute Abend Bastian zeigen? Und das mit den Fotos der beiden auch?“

„Ja klar. Ich würde die Bilder und Artikel nur gerne abfotografieren, dann kann ich sie auch Maik zeigen, wenn ich ihm davon erzähle.“

Moyra nickte. Spontan wollte sie diesen Artikel überhaupt nicht vervielfältigen, nicht verewigen. Sie wollte am liebsten vergessen, was sie alles gelesen hatte. Aber was sollte das? Das war ein Artikel, der in einer Zeitung gestanden hatte. Offenbar in einer, die im Harz ansässig war, aber öffentlich war das Ganze doch sowieso. Und es stand mit keinem Wort irgendwas von ihrer Mutter darin.

„Hat Mama mal im Harz gelebt?“, fragte sie mehr vor sich hin als zu Linda.

„Wie kommst du darauf?“, fragte die zurück.

„Weil Julius im Harz gelebt und gearbeitet hat. Und weil Mutter ihn ganz offensichtlich gut kannte. Sehr gut sogar.“

Linda sah sie mit großen Augen an. Die Frage hatte sie sich überhaupt noch nicht gestellt.

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hat sie Urlaub im Harz gemacht? Wie es scheint, wissen wir wenig über sie.“

Obwohl Moyra es kaum erwarten konnte, mit Bastian darüber zu sprechen, hielt sie sich zurück, bis Merle im Bett lag und nach drei Gute-Nacht-Geschichten endlich friedlich schlummerte.

Bastian hatte sie gefragt, ob es ihr etwas ausmache, wenn er mit einem Kumpel zum Squash fahren würde und sie hatte ihn gebeten, zu bleiben, weil sie etwas mit ihm besprechen müsse. Sie wusste, was sie für ein Glück mit Bastian hatte, dass er wirklich blieb, ohne groß zu diskutieren und zu hinterfragen. Der Mann ihrer Freundin wäre nicht geblieben. Der hätte sie dann vertröstet und gesagt: Du kannst ja noch mit mir sprechen, wenn ich zurückkomme.

Aber so war Bastian nicht. Sie hatte ihn gebeten, zu bleiben und deshalb war es für ihn wichtig genug.

Jetzt saßen sie also zusammen auf dem Sofa an dem niedrigen Couchtisch, im Hintergrund lief leise Musik und Moyra holte die beiden Fotoalben, die sie mitgenommen hatte, aus ihrem Schreibtisch. Sie hatte sie weggelegt, weil sie nicht wollte, dass Bastian sie zufällig vorher fand. Sie wollte ihm die Fotos zeigen und mit ihm darüber sprechen.

Moyra legte das Album, in dem die Fotos ihrer Mutter als junge Frau waren, auf ihren Schoß und schlug es auf.

„Hey, das ist deine Mutter. Sie sieht verliebt aus. Weißt du, wer der Typ ist?“, fragte Bastian fröhlich.

„Ich wusste es bis heute nicht. Aber inzwischen habe ich es herausgefunden. Und zwar durch dieses Album.“

Sie schlug das Album mit den Zeitungsanzeigen auf.

Sie beobachtete, wie Bastian regelrecht darin versank, wie er sich konzentrierte, wie die Falten vor seiner Stirn tiefer wurden und sich sein fröhlicher Gesichtsausdruck verfinsterte.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er schließlich ein wenig ratlos. Vermutlich wollte er es einfach nicht verstehen, mutmaßte Moyra.

„Denkst du nicht, es könnte der Mensch sein, von dem Mutter behauptet, ihn getötet zu haben?“, fragte sie vorsichtig.

Er sah sie an, als würde er nicht verstehen. Er wirkte etwas begriffsstutzig, was eigentlich überhaupt nicht zu ihm passte.

„Du glaubst also inzwischen, dass es wahr ist?“