Imogen - Rotraud Falke-Held - E-Book

Imogen E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die junge Adlige Damaris von Seyrich ist glücklich. Sie steht kurz vor der Hochzeit mit Clemens von Bergen. An ihrem 25. Geburtstag gibt Clemens für seine schöne Verlobte ein großes Fest, bei dem er sie offiziell als seine Braut vorstellen will. Doch Damaris fühlt sich nicht wohl in dem Haus, das schon bald ihr Heim werden soll. Und irgendetwas scheint man vor ihr zu verheimlichen. Aber was? Oder bildet sie sich alles nur ein? Woher kommt dieses ungute Gefühl? Wieso verhalten sich die Freunde ihrer zukünftigen Familie so sonderbar? Welches Geheimnis hütet die fünfzehnjährige Sarah? Und was haben deren Eltern zu verbergen? Immer tiefer gerät Damaris in ihre Suche nach dem Geheimnis und damit in große Gefahr.

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www.rotraud-falke-held.de

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Kapitel 1 Schlechte Nachrichten

Kapitel 2 Ankunft auf Gut Bergen

Kapitel 3 Geburtstagsmorgen

Kapitel 4 Ein Fest auf Gut Bergen

Kapitel 5 Der Ausritt

Kapitel 6 Auf dem Krankenlager

Kapitel 7 Oliver Thiele

Kapitel 8 Besuch bei Sarah

Kapitel 9 Das verbotene Zimmer

Kapitel 10 Imogens Geheimnis

Kapitel 11 Letzte Enthüllungen

Kapitel 12 Wieder zu Hause

Nachwort

Personen:

Damaris von Seyrich

junge Adlige

Helene von Seyrich Lenard von Seyrich

Damaris’ Mutter Damaris’ Vater

Clemens von Bergen Greta

Damaris’ Verlobter Damaris’ Zofe und Freundin

Sophia von Bergen Arnold von Bergen Arnim von Bergen Veronika von Bergen Simon von Bergen Susanne

Clemens’ Mutter Clemens’ Vater Clemens’ Bruder Arnims Frau Arnims + Veronikas kleiner Sohn Clemens’ Schwester (tritt nicht auf)

Hanna

Angestellte der Familie von Bergen

Joana + Roland Lindau Sarah Lindau

Freunde der Familie von Bergen Tochter von Joana + Roland

Oliver Thiele

Anwalt und Freund der Fam. Bergen

Vorwort

Die Familiengeschichte

Schon wenn man die schmale Straße entlangfuhr, noch bevor man das kleine Dorf Hohenfeld sehen konnte, kam das Schloss in Sicht. Nicht übermäßig groß, aber prunkvoll thronte es über dem kleinen Ort.

Vor vielen hundert Jahren war das kleine Dörfchen zu Füßen des Schlosses entstanden. Die Vorfahren der jungen Damaris von Seyrich hatten es erbaut. Damals hatten die Grafen von Hohenfeld über ihre Ländereien und ihre Untertanen geherrscht. Nach der Überlieferung waren die Bauern sehr zufrieden mit ihren Herren und zogen gerne in den Schutz des Schlosses.

Aber schon seit fast einhundertfünfzig Jahren lebten keine Grafen von Hohenfeld mehr auf dem Schloss.

Im Jahre 1692 heiratete der letzte Graf von Hohenfeld die siebzehnjährige Katharina. Doch die Ehe stand unter keinem guten Stern. Katharina gebar erst drei Jahre später einen Sohn, der nur wenige Wochen überlebte.

1699 wurde ihr zweites Kind geboren, ein kleines Mädchen, das den Namen Damaris bekam.

Einige Jahre später, nachdem ein weiterer Sohn gestorben war, fand der Graf sich schließlich damit ab, dass er keinen männlichen Erben haben würde. Er verheiratete seine Tochter Damaris im Jahr 1718, kurz nach ihrem 18. Geburtstag, mit Valentin von Seyrich.

Seither lebte und herrschte die Familie von Seyrich auf Schloss Hohenfeld und über das Dorf.

Kapitel 1:

Schlechte Nachrichten

17. April 1868

Damaris - nicht nur der ungewöhnliche Name verband die junge Frau mit ihrer Ahnin. Heute, im Jahre 1868, war auch sie die letzte ihrer Familie. Schon als kleines Mädchen stand sie oft vor dem Bild ihrer Ahnin. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich immer sehr zu ihr hingezogen.

Vielleicht lag es nur an dem Namen - Damaris von Seyrich.

Oder daran, dass auch sie selbst die einzige Tochter war, die letzte, die den alten Familiennamen trug.

Sie wusste es nicht. Es war einfach so.

Neben all den Ahnenbildern war „Damaris die Erste“ diejenige, zu der sie sich schon als kleines Mädchen hingezogen fühlte.

Alles an ihr fand sie so wunderschön.

Das Gemälde, das ihr am liebsten war und vor dem sie auch jetzt wieder stand, zeigte die erste Damaris im Jahre 1725. Es war kurz nach Neujahr und einen Monat nach der Geburt ihres Sohnes Leonhard. Es war das Gesicht einer jungen Frau, einer glücklichen Mutter, die ihre Mädchenjahre bereits hinter sich gelassen hatte. Ihr blondes Haar war hochgesteckt, sie trug ein hellgrünes Kleid mit weitem Reifrock und rosafarbener Kontusche darüber, wie es zu der Zeit Mode gewesen war. Ihre blauen Augen leuchteten. Ihre Augenbrauen waren schmal und hell, fast unsichtbar.

Ihr Teint war hell und makellos.

Sie war auf diesem Bild erst fünfundzwanzig Jahre alt und bereits seit sieben Jahren verheiratet und zweifache Mutter.

Damaris von Seyrich verglich sich mit ihrer Ahnin. Zwei adelige Frauen auf Schloss Hohenfeld. Beide die letzten ihrer Familie.

Die Mode war natürlich ganz anders. Die Röcke der heutigen Zeit waren nicht mehr kreisrund wie der Reifrock von 1725. Das Allerneuste waren die Tournüre und Kleider mit langen Schleppen.

Doch immerhin hatte ihr Popelinekleid fast die gleiche Farbe wie das ihrer Ahnin – zartgrün.

Mehr äußerliche Ähnlichkeit gab es zwischen den Frauen nicht.

Damaris die Erste wirkte sanfter, zarter, sogar friedlicher. Aber vermutlich auch weniger selbstbewusst.

Die junge Damaris war von der Statur her ebenso klein und zart, aber man sah ihr schon an, dass sie eine kämpferische Natur war. Ihre grünen Augen blitzten unter etwas zu dichten Augenbrauen.

Und ihre dunklen Haare fielen offen über die Schultern.

Sie störte sich nicht an alte Schicklichkeiten. Sie war zu einer selbstbewussten jungen Dame erzogen worden, vielleicht gerade, weil sie selbst einmal über das Schloss und Dorf herrschen würde. Eigentlich würde es wohl ihr Ehemann tun, aber ihre Eltern hatten sie gut vorbereitet, ohne selbst allzu sehr auf althergebrachte Gewohnheiten zu achten.

Ja, sie war fröhlich und frei aufgewachsen und zu einer starken jungen Frau geworden.

Sie war froh, in einer Zeit zu leben, in der die Frauen ein ganz neues Selbstbewusstsein entdeckten. In Berlin gab es sogar einen „Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit für das weibliche Geschlecht.“

Mit dem völlig anderen Frauenbild von vor einhundertfünfzig Jahren hätte Damaris sich wohl nicht arrangieren können.

Na ja, man konnte es nicht genau wissen. Wenn sie damals gelebt hätte, dann wäre sie ja auch ganz anders erzogen worden. Aber ob sie glücklich damit geworden wäre?

Waren nicht manche Charaktere dennoch frei und rebellisch und nur mit Strenge unterdrückt worden?

Wäre das nicht so, wären die Frauen heute sicher nicht dabei, ihre Selbständigkeit zu entdecken.

Es war schon seltsam, in einem Haus zu leben, in dem zuvor schon so viele Generationen gelebt hatten. Sie hatten geliebt und gelitten. Sie hatten Kinder geboren, die in der Wiege geschlafen hatten, in der auch Damaris selbst als Baby geschlafen hatte. Und sie waren hier gestorben. Wie viele Menschenschicksale barg dieses alte Gemäuer?

Damaris dachte oft darüber nach.

In einer Woche würde sie ihren 25. Geburtstag feiern. Dann war sie ebenso alt wie ihre Ahnin auf dem Bild. Aber sie war noch nicht verheiratet. Ihre Eltern ließen sie selbst ihre Entscheidung treffen. Alles, was sie wollten, war, dass ihre einzige Tochter glücklich wurde. Helene und Lenard von Seyrich hatten aus Liebe geheiratet und eine solche Liebe wünschten sie auch ihrer Tochter.

Ob die erste Damaris in ihrer arrangierten Ehe glücklich geworden war?

In ihrer Fantasie hatte Damaris sich als Kind immer vorgestellt, dass ihre Ahnin – kaum, dass sie ihren Bräutigam Valentin gesehen hatte, in unbändiger Liebe zu ihm entflammt war. Es war wie in den alten Dichtergeschichten. Er war der Prinz, von dem sie immer geträumt hatte.

Heute war ihr klar, dass es wahrscheinlicher war, dass sie sich geängstigt hatte, dass sie die Hochzeit und erst recht die Hochzeitsnacht gefürchtet hatte. Vielleicht hatte sie sogar das Leben mit ihm verabscheut. Aber wer wusste das schon so genau? Vielleicht hatten sie mit der Zeit gelernt, sich zu lieben. Über so etwas hatten die vergangenen Generationen keine Aufzeichnungen hinterlassen. Vermutlich hatte es keine Bedeutung gehabt.

Oh ja, sie beschäftigte sich viel mit ihrer Ahnin.

Besonders in der letzten Zeit. Denn sie hatte einen Heiratsantrag bekommen und ihn angenommen. Sie schwebte im siebten Himmel. Und auch ihre Eltern waren glücklich.

Ihr Auserwählter war Clemens von Bergen, dessen Landgut nur etwa dreißig Kilometer von Schloss Hohenfeld entfernt war.

Damaris’ Mutter Helene war selig. Auf diese Weise würde sie ihre Tochter weiterhin oft sehen können.

Natürlich könnte Damaris mit ihrem Ehemann auch sofort auf das Schloss ziehen und hier leben, aber im Moment wollte er sein Gut nicht verlassen, obwohl er einen älteren Bruder hatte, der es verwaltete. Aber seine Familie hatte riesige Ländereien, die sie bearbeiten mussten und Clemens hatte seine Aufgaben.

Helene würde ihre Tochter sehr vermissen. Sie war schließlich ihr einziges Kind.

Damaris verlor sich ein wenig in Träumereien.

Clemens war ein gut aussehender Mann. Elegant, sehr gepflegt, mit dichten schwarzen Haaren. Er war natürlich größer als sie – was nicht besonders schwierig war bei ihrer eigenen kleinen Gestalt - hatte eine gute Figur und eine tadellose Haltung. Damaris kicherte leise vor sich hin. Bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte sie geglaubt, er entstamme altem Adel, weil er so elegant gewirkt hatte. Eigentlich sogar eleganter als ihr Vater.

Es war auf einem Wohltätigkeitsball in der Stadt in der Mitte zwischen ihren beiden Wohnorten gewesen. Clemens hatte dort seine Familie vertreten. Er hatte Damaris zum Tanzen aufgefordert und sie waren sich sofort sympathisch gewesen. Es schien ihr, dass er durch ihr Aussehen angezogen worden war, obwohl er kein Wort dazu sagte. Doch er starrte sie unentwegt an. Aber warum sollte das auch nicht der erste Anlass sein, dass er sie ansprach?

Danach hatten sie sich immer wieder getroffen. In der Stadt auf halbem Wege oder auf Hohenfeld. Er hatte sie zum Essen eingeladen oder ins Theater. Er war höflich und zuvorkommend. Er machte ihr Geschenke – nicht die üblichen, Schmuck oder Pralinen – nein, er ließ sich wirklich etwas einfallen. Einmal schenkte er ihr einen Bildband über die Gegend in der er lebte. „Hier kannst du schon einmal sehen, wie schön unsere Gegend ist und was es dort alles zu entdecken gibt“, hatte er gesagt. Er schenkte ihr einen Lyrikband von Heinrich Heine oder „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne. Ein Buch, das Damaris verschlang, als wäre sie ausgehungert nach diesen Fantasien.

Sie freute sich, dass er so aufmerksam war und erkannte, was sie liebte. Dass er versuchte, ihr Wesen wirklich zu erkennen. Sie war keine oberflächliche Frau, die nur an Glitzer interessiert war. Sie liebte Bücher und die Reisen durch die Fantasie. Und Jules Verne war für sie vollkommen neu.

Ein wenig streng kam Clemens ihr manchmal vor, wenn er ihre Zofe Greta rügte, weil sie nicht ordentlich genug frisiert war. Allerdings war Greta wirklich manchmal etwas zu unordentlich. Damaris und ihre Eltern sagten nur nichts, weil sie einfach daran gewöhnt waren und für sie Greta fast zur Familie gehörte. Doch auf Außenstehende musste es befremdlich wirken.

Nein, Clemens benahm sich tadellos, er wirkte selbstsicher und stark. Und er war ausgesprochen aufmerksam ihr gegenüber. Er war ohne Zweifel verliebt in sie. Und sie verliebte sich Hals über Kopf in ihn.

Es gab nur eine Sache, die Damaris etwas merkwürdig fand. Er hatte sie bisher noch niemals auf das Gut eingeladen, dass doch schon bald ihre Heimat werden sollte. Sicher, sie kannte seine Eltern, die auch schon auf Schloss Hohenfeld zu Besuch gewesen waren, aber sie selbst war noch nie auf Gut Bergen gewesen.

Sie hatte ihn schon damit aufgezogen, dass er sicher ein Geheimnis hüte, dem sie nicht auf die Spur kommen sollte. Aber er hatte diese kleinen Neckereien missverstanden und ihr böse vorgeworfen, dass sie ihm nicht vertraute. Zum Glück konnte sie ihn davon überzeugen, dass sie nur scherzte.

Und bevor sie ernsthaft misstrauisch werden konnte, überraschte er sie mit einem großen Fest, dass er an ihrem 25. Geburtstag – am 24. April - auf Gut Bergen veranstalten und bei dem er sie seinen Freunden und Nachbarn offiziell vorstellen wollte.

Zu diesem Fest würde sie schon in wenigen Tagen mit ihren Eltern reisen.

Eine Hand berührte sie sacht an der Schulter.

Sie fuhr erschrocken herum. Sie war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie überhaupt keine Schritte gehört hatte.

Jetzt blickte sie in das Gesicht ihrer Zofe.

„Oh Greta!“, rief sie und drückte ihre Hand auf die Herzgegend.

„Du hast mich erschreckt.“

„Entschuldigung. Aber ihre Mutter schickt mich. Sie möchten bitte sofort in die Bibliothek kommen.“

Damaris zog überrascht die Augenbraue hoch.

„Nanu, was gibt es so Wichtiges?“

„Ich weiß es nicht.“ Greta zuckte mit den Schultern.

„Ja, ich gehe sofort.“

Greta drehte sich ohne weiteres Wort um und ging davon. Sie knickste nicht, wie es in vornehmen Häusern üblich war und Damaris erwartete das auch nicht. Greta war für sie viel mehr als eine Zofe. Sie war ihre Vertraute, eine Spielgefährtin aus Kindertagen. Wie oft hatten die beiden ausgelassen und fröhlich im Garten herumgetollt.

Greta war nur ein Jahr älter als Damaris und war bereits im Schloss geboren worden. Ihre Mutter war nicht verheiratet, aber Damaris’ Eltern hatten ihr ein Zuhause und eine Stellung geboten. Sie hatte bis zu ihrem Tod vor drei Jahren auf dem Schloss gelebt. Die beiden Mädchen – Damaris und Greta - waren fast wie Schwestern aufgewachsen. Greta hatte sogar am Schulunterricht teilgenommen.

Greta war ihre Zofe geworden, gerade weil Damaris ihr vertraute und sie in ihrer Nähe behalten wollte. In Wahrheit blieb sie ihre Freundin.

Damaris lächelte vor sich hin. Sie hatte eine glückliche Kindheit und Jugend erlebt. Sie hatte viele fröhliche Erinnerungen, an die sie zurückdenken konnte. Nur eine Erinnerung schien verschüttet zu sein. Verborgen hinter einer Wand des Vergessens. Oft kam es ihr so vor, als hätten damals – in frühester Kindheit – nicht zwei, sondern drei Mädchen im Garten gespielt. Greta, sie selbst und… Ja, wer? Wer war dieses dritte Mädchen? Sie hatte ihre Eltern danach gefragt, aber die hatten diese Erinnerung nur belächelte.

„Wir hatten oft Besuch“, erklärten sie. „Sicher erinnerst du dich an Kinder, die mitgekommen waren und natürlich auch mit euch gespielt haben.“

Aber nein, irgendwie passte das nicht. Aber Damaris wusste ja selbst nicht, warum es nicht passte. Sie wusste auch nicht wirklich, was nicht passte.

Da war nur dieses Gefühl.

Vielleicht hatten die Eltern doch recht. Oder dieses dritte Mädchen war nur eine Einbildung. Eine Fantasiegestalt, wie sie Kinder oft haben.

Aber hin und wieder überfiel sie dieses Bild noch heute. So deutlich, als wäre es eine Erinnerung: Drei Kinder, die im Garten spielen. Sie sitzen vor der alten Schlossmauer im Gras und lachen, schwatzen und tollen herum.

Drei kleine Mädchen.

Ein altes Bild, das sie nie völlig losgelassen hatte.

Sie sprach nicht mehr davon. Sie versuchte, das Bild zu verdrängen.

Eine Fantasie oder dunkle Erinnerung über ein kleines Mädchen, das es niemals gegeben hatte.

„Ihr wollt mich sprechen?“, fragte Damaris, als sie die Bibliothek betrat. Der Raum war hoch und mit riesigen Bücherregalen eingerichtet. Und die Regale waren mit hunderten von Büchern bestückt, die die Generationen der vergangen Jahrhunderte erworben hatten.

Vor dem Kamin standen schwere Ohrensessel aus Leder. Darin saßen ihre Eltern und blickten ihr entgegen.

Die Mutter ließ einen Brief sinken, den sie gerade gelesen hatte und schaute ihre Tochter aus traurigen Augen an. Damaris war sofort klar, dass irgendetwas passiert sein musste.

„Setz dich, Kind“, forderte Helene sie auf.

Damaris seufzte. Sie sagte noch immer Kind zu ihr. Hauptsächlich dann, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab.

Sie setzte sich ihrer Mutter gegenüber in einen ledernen Sessel ohne hohe Rückenlehne. Als Mutter jedoch ihre Hände ergriff, fühlte sie das Unheil.

„Was ist denn los?“, fragte sie verstört.

„Wir müssen dir etwas Trauriges mitteilen“, begann Helene. Sie schluckte schwer. Es fiel ihr nicht leicht, darüber zu sprechen. Ihre Augen blickten ernst, als sie leise sagte: „Deiner Großmutter geht es sehr schlecht.“

„Oh mein Gott, ist es sehr schlimm?“, unterbrach Damaris sie erschrocken.

„Ja.“ Die Mutter nickte. „Wir haben vorhin diesen Brief erhalten.

Er ist von meinem Bruder. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Großmutter stirbt. Dein Vater und ich müssen nach Augsburg reisen. Vielleicht sehe ich sie zum letzten Mal.“

Damaris nickte. „Ja natürlich.“

Sie wusste, wie sehr ihre Mutter ihre eigene Mutter liebte. Und wie schwer es ihr oft gefallen war, sie aufgrund der großen Entfernung nicht so oft besuchen zu können. Unwillkürlich tauchte die Vorstellung in ihr auf, wie es sein würde, wenn ihre eigene Mutter im Sterben liegen würde. Sie merkte, dass dieser Gedanke ihre Vorstellungskraft überstieg. Ihre fröhlich, tatkräftige Mutter, die ihr immer soviel Geborgenheit gegeben hatte, sollte sterbenskrank auf ihrem Lager liegen? Unmöglich.

Eine Zukunft, in der es ihre Mutter überhaupt nicht mehr gab, konnte und wollte sich Damaris erst recht nicht vorstellen.

Tränen flossen ihre Wange herab. Weniger aus Trauer um ihre Großmutter, die sie im Leben nicht oft gesehen hatte, sondern um das plötzliche Bewusstsein, dass ihre Eltern ebenfalls nicht unsterblich waren.

„Das bedeutet, dass wir dich nicht nach Gut Bergen begleiten können“, erklärte die Mutter.

„Ja natürlich. Das ist doch selbstverständlich.“

Damaris war noch nicht ganz in die Realität zurückgekehrt.

„Aber du wirst natürlich trotzdem fahren“, fuhr Helene fort.

Damaris schüttelte sich, um in die Wirklichkeit zurückzukehren.

„Aber nein!“, widersprach sie heftig. „Ich fahre natürlich mit nach Augsburg.“

„Nun sei doch nicht albern. Du kannst dort gar nichts ausrichten. Und du hast in deinem Leben wirklich nicht viel Kontakt zu deiner Großmutter gehabt. Wer weiß – es kann sein, dass wir einige Wochen bleiben. Wir wissen ja nicht genau, was uns dort erwartet.“ Helene brach ab. Natürlich wusste sie, was sie dort erwartete. Ihre Mutter auf ihrem Krankenlager. Vermutlich ein Abschied für immer.

„Nein nein, du fährst und genießt deinen Geburtstag“, sagte sie tapfer zu ihrer Tochter.

Wie kann ich das, dachte Damaris, wenn ich weiß, dass meine Großmutter ihre letzten Tage verbringt. Auch wenn ich sie nicht oft gesehen habe. Und ich werde meine Eltern vermissen. An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag werden sie mir fehlen.

„Es ist allerdings nicht ganz schicklich, wenn eine junge Frau ganz alleine zu ihrem Bräutigam reist“, protestierte sie schließlich schwach.

Der Vater begann zu lachen. Er hielt seine Pfeife in der Hand und lachte aus vollem Hals, so, als wäre die Situation nicht absolut traurig und verzweifelt. Dabei war er eigentlich ein sehr disziplinierter, kontrollierter Mensch, so wie seine Vorfahren. Damaris blickte ihn irritiert an.

„So viele Gedanken um Etikette hat unsere Tochter sich wahrlich noch nie gemacht. Was meinst du, Helene?“

„In der Tat“, stimmte Mutter zu. „Ich habe schon oft gedacht, dass sie ruhig öfter darüber nachdenken könnte. Und nun…“ Der Vater zog tief den Rauch seiner Pfeife ein und betrachtete seine Tochter amüsiert. „Hast du etwa Angst, allein zu fahren?“, fragte er.

„Angst?“ Damaris sah ihn überrascht an. „Natürlich nicht. Clemens ist mein Verlobter.“

„Das schon, aber es ist dein erster Besuch bei ihm zu Hause. Da kann man schon etwas nervös sein.“

„Ach wo“, widersprach die Mutter. „Es hat sich eben noch nicht ergeben. Und du wirst ja Greta dabei haben.“

„Um dein Ansehen machen wir uns keine Sorgen. Wir vertrauen dir“, ergänzte der Vater.

In die traurigen Augen der Mutter trat plötzlich ein anderer Ausdruck. Etwas geradezu Schelmisches, das sie wie ein junges Mädchen erscheinen ließ. Sie dachte an die Zeit, als ihr Ehemann Lenard um sie geworben hatte, wie sie sich zärtlich näher gekommen waren. Im Geheimen, beide Elternpaare durften das nicht einmal ahnen. Das alte Volkslied kam ihr in den Sinn: Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.

Ach ja, schön war es damals gewesen.

„Außerdem heiratest du ja schon in fünf Wochen.“ Sie zwinkerte ihrer Tochter zu.

Damaris glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Sie betrachtete die beiden in den Ohrensesseln verblüfft. Sie sah ein Paar im fortgeschrittenen Alter, der Vater war inzwischen fünfzig und Mutter nur zwei Jahre jünger.

Die feinen Falten auf der Stirn ihres Vaters waren tiefer geworden, das dunkle Haar war von grauen Strähnen durchzogen und der Haaransatz war deutlich nach oben gerutscht. Aber seine grünen Augen waren lebhaft. Es waren die gleichen grünen Augen, die sie selbst hatte. Seine Mundwinkel zuckten in Erinnerungen an früher. In der einen Hand hielt er seine Pfeife, mit der anderen tastete er nach der Hand seiner Frau.

Helene war immer noch eine Schönheit. Es war nicht das hübsche Gesicht der Jugend, sondern das einer reifen Frau. Es war ein Gesicht, in das die Zeit erste Spuren hinterlassen hatte. Die blauen Augen lagen in vielen kleinen Fältchen, die Figur war etwas rundlicher geworden. Das hochgesteckte, blonde Haar wies noch keine grauen Spuren auf.

Zum ersten Mal begann Damaris an der Tugendhaftigkeit ihrer Eltern zu zweifeln. Wieso kamen Kinder niemals auf die Idee, dass ihre Eltern selbst einmal jung und verliebt gewesen waren?

Sie waren nicht immer nur Damaris’ Eltern gewesen, sondern einfach Lenard von Seyrich und Helene von Ebersfeld.

Welche Erinnerungen verbarg der Vater wohl jetzt hinter seinem Grinsen?

Die Mutter war allerdings schon wieder ernst. Sie war in Gedanken zurückgekehrt zu ihrer eigenen Mutter in Augsburg.

„Also es bleibt dabei. Du fährst mit Greta nach Gut Bergen, nicht wahr?“, fragte sie schließlich. „Immerhin hat Sophia sicher schon alles vorbereitet. Es wäre sehr undankbar, so kurz vorher abzusagen.“

„Ja, es ist abgemacht“, murmelte Damaris. Obwohl es ihr ziemlich gleichgültig war, was ihre zukünftige Schwiegermutter dachte.

Helene nickte ihr zu.

Damaris dachte daran, wie nahe Freud und Leid doch zusammen lagen. Während sie ihren Geburtstag und ihre Verlobung feierte, begleiteten ihre Eltern die Großmutter möglicherweise beim Sterben.

Kapitel 2:

Ankunft auf Gut Bergen

23. April

Sophia von Bergen rauschte durch das Haus. Alles sollte gut vorbereitet sein zur Ankunft ihrer zukünftigen Schwiegertochter. Sie trug ein Kleid mit ausladender Tournüre und einer ziemlich langen Schleppe.

„Du hast dich offenbar inzwischen mit meiner Hochzeit abgefunden, Mutter“, meinte Clemens, der ihr gerade auf der Treppe entgegen kam.

„Abgefunden ist genau das richtige Wort“, bemerkte sie von oben herab. „Ich kann ja offenbar nichts dagegen tun. Das bedeutet aber keineswegs, dass ich deine Entscheidung gutheiße.

„Mutter, du wirst doch freundlich zu ihr sein? Sie kommt hierher und will ihr zukünftiges Zuhause und ihre neue Familie kennen lernen. Du wirst sie herzlich aufnehmen, ja?“

„Ja, ja“, herrschte Sophie ihren Sohn an. „Ich halte es nur für einen Fehler. Sie – sie – du weißt, was ich meine.“

„Ja natürlich. Oh Mutter, du kannst es nicht einmal aussprechen.“

„Da siehst du, was du mir zumutest. Und den nächsten Fehler machst du direkt hinterher, indem du die Lindaus einlädst. Aber dir ist ja mit Vernunft nicht beizukommen.“

„Vernunft? Es ist doch eher unvernünftig, sie nicht einzuladen.

Unsere Familien sind verbunden.“

„Das ist es ja gerade!“ Sophia hob in einer dramatischen Geste die Arme in die Höhe.

„Mutter, Damaris kennt all diese seltsamen Verbundenheiten doch nicht und unsere Geheimnisse.“

Sophia reckte ihren Kopf noch ein wenig höher. „Nun gut, es ist wohl unvermeidlich. Aber du musst doch zugeben, dass sie durchaus etwas mehr Vornehmheit vertragen könnte. Sie ist – sie ist wie eine junge Wilde.“

Clemens seufzte. „Da kann ich nicht widersprechen. Ein wenig mehr eleganter Schliff könnte ihr nicht schaden. Und dabei ist sie die Nachfahrin von Grafen. Aber – was soll ich machen – ich liebe sie.“

„Das glaubst du vielleicht. In Wahrheit…“

„In Wahrheit wird sie meine Frau“, schnitt Clemens ihr barsch das Wort ab. „Und deine Schwiegertochter. Ich erwarte nur, dass du nett zu ihr bist. So wie zu Veronika.“

„Mein Sohn, ich bin kein Arbeiterweib. Ich weiß mich gut zu benehmen.“

„Dann ist es ja gut.“

Er neigte leicht seinen Kopf und ging weiter.

Und deshalb verstehst du es auch ausgezeichnet, jeden, der dir nicht gefällt, von oben herab zu behandeln. Ihm das Gefühl zu geben, unerwünscht zu sein in deinem Leben, dachte Clemens, als er die Treppe hinunter stieg.

Sophia schritt würdevoll weiter nach oben. Immer Haltung bewahren war ihre Devise. Egal, was das Leben ihr für Prüfungen auferlegte. Und diese Verlobte ihres Sohnes war ganz sicher eine Prüfung.

„Hanna!“, schrie sie. „Hanna!“

„Ja, gnädige Frau?“ Das Mädchen kam eilig aus einem der Zimmer und knickste. „Ist das Zimmer für Fräulein von Seyrich fertig?“

„Beinahe, gnädige Frau.“

„Beeil dich. Es muss alles fertig sein, wenn sie eintrifft.“

Joana und Roland Lindau packten ihre Sachen zusammen, die sie mitnehmen wollten nach Gut Bergen. Sie waren zu einem großen Fest eingeladen worden, das der junge Clemens für seine Braut ausrichtete. Sie hatte Geburtstag. Ganz jung war sie schon nicht mehr für eine Braut – fünfundzwanzig Jahre.

Joanas Gedanken gingen zurück zu der Zeit, als sie ihre eigene Hochzeit vorbereitet hatte und die ihrer ältesten Tochter. Sie seufzte. Es war eine schöne Zeit gewesen. Heute war nichts mehr so, wie es damals gewesen war. Aber die Zeit ließ sich nun einmal nicht zurückdrehen.

Roland legte seinen Arm um seine Frau.

„Nicht sentimental werden“, mahnte er sanft.

„Und warum soll ich nicht? Es schadet doch nicht, ein bisschen zu träumen?“

„Doch, wenn man dadurch traurig wird, schon.“

Sie klopfte auf seine Hand, die auf ihrer Schulter lag. „Ist schon gut. Ich mache mir nur ein wenig Sorgen – wir passen überhaupt nicht dorthin. Sie sind alle so elegant und vornehm.“

„Ja, das schon. Und trotzdem sind die von Bergens unsere Freunde.“

„Na ja, Freunde…“, erwiderte sie skeptisch.

Roland wusste, worauf sie hinaus wollte. Aber er sage nichts.

Diese Reise würde sicher eine angenehme Abwechslung sein.

„Wo ist eigentlich Sarah?“

Roland hob die Schultern. „Ich nehme an, sie ist in ihrem Zimmer und packt auch.“

Ihre jüngere Tochter würde sie auf Gut Bergen begleiten. Sarah war eigentlich ein sehr ruhiges, zurückhaltendes Mädchen. Aber nun rannte sie schon seit Tagen ganz aufgeregt durch das Haus. Auf die Reise schien sie sich wirklich zu freuen. Joana seufzte noch einmal tief und machte sich dann wieder an die Arbeit.

Sarah stand wirklich in ihrem Zimmer und packte. Aber sie war keineswegs so begeistert von der Reise wie ihre Eltern annahmen. Ihre Haare waren streng zurückgekämmt - wie immer. Mutter wollte nicht, dass sie sie anders trug. Dabei hatte sie so schöne Haare. Manchmal, wenn sie alleine war, ließ sie sie lose über ihre Schultern fallen. Dann kam sie sich sehr ungehörig vor. Sie würde ihre Haare auch auf Bergen nicht anders als so streng frisiert tragen dürfen, obwohl alle anderen bestimmt aufwendige Frisuren haben würden.

Außerdem besaß sie nur triste Kleider, während alle anderen vermutlich in wunderschönen Abendroben mit langen Schleppen auftraten. Ach, Sarah liebte sie so sehr diese Kleider, bei denen sogar die Alltagskleider oft lange Schleppen hatten. Mutter fand das unpraktisch und das war es sicher auch – aber wunder-, wunderschön.

Obendrein wollte Mutter nicht, dass Sarah an dem Ball teilnahm.

„Dazu bist du noch viel zu jung“, hatte Joana gesagt.

Mutter vermied einfach alles, womit sie, Sarah, anderen auffallen könnte. Sie schien zu glauben, Gott wollte nicht, dass die Menschen Spaß am Leben hatten.

Was sollte also die ganze Reise, wenn sie ausgerechnet bei den schönsten Dingen sowieso nicht dabei sein durfte. Dann würde sie lieber alleine hier bleiben, als nach Bergen zu reisen. Sarah dachte an die Hochzeit ihrer älteren Schwester. Das war eine tolle Feier gewesen und sie hatte überall dabei sein dürfen, obwohl sie noch viel jünger war.

Missmutig legte sie ein dunkelblaues Kleid auf ihre Tasche.

Damaris saß neben Greta in der Kutsche und machte sich auf den Weg nach Gut Bergen. Fritz, der Kutscher, saß vorne auf dem Kutschbock und trieb die vier Pferde an.

Greta trug ein sauberes, graues Kleid und hatte sich ihr Häubchen adrett auf das frisch gewaschene und ordentlich frisierte Haar gesetzt.

Sie machte nicht immer einen so ordentlichen Eindruck. Ihr braunes Haar war etwas widerspenstig und sah dadurch manchmal wirr und ungekämmt aus. Einzelne Strähnen lösten sich aus ihrer Frisur und sie hielt es normalerweise nicht für nötig, sie zurückzustecken.

Ihr Häubchen saß meistens etwas schief und es störte sie nicht im Geringsten.

Aber heute hatte sie sich herausgeputzt. Sie wollte einen guten Eindruck machen, denn sie wollte ihre junge Herrin und Freundin nach der Hochzeit in deren neues Zuhause begleiten.

„Sie kennen dort doch niemanden“, meinte sie. „In dem fremden Haus. Und wenn sie dann noch schwanger werden und es ihnen nicht gut geht. Und wenn dann das Kindchen kommt.“

Damaris wusste diese Bemühungen zu schätzen. Und sie würde Greta auch gar nicht zurücklassen wollen. Ganz gleich, was ihre zukünftigen Schwiegereltern über sie dachten.

Aber sie musste doch lächeln über Gretas Einwand.

Denn das fremde Haus würde ja ihr Zuhause sein. Und die fremden Menschen würden ihre Familie sein.

Greta wusste, dass sie nicht zu sehr auf Damaris’ künftige Familie schimpfen durfte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Freundin dort glücklich werden würde. Das eine Mal, als sie die Familie bei deren Besuch auf Hohenfeld kennen gelernt hatte, waren sie ihr nicht allzu sympathisch erschienen. Sie fand Sophia arrogant und blasiert, deren Ehemann Arnold streng und unnachgiebig und sie hielt Clemens für einen Snob, der sowieso nur darauf achtete, den Vorstellungen anderer zu entsprechen. Sie meinte, ihre selbstbewusste, unangepasste Freundin Damaris passe dort nicht hin.

Die beiden Frauen hatten sogar deswegen gestritten. Aber wenn Damaris ehrlich war, konnte sie schon verstehen, warum Greta so dachte. Der Zofe gegenüber verhielt sich ihre zukünftige Familie wirklich nicht sehr freundlich. Bei ihrem Besuch auf Hohenfeld, hatte Clemens sie sehr streng gerügt, weil ihre Frisur nicht ordentlich saß. Und dass, obwohl sie gerade kräftig im Garten gearbeitet hatte.

„Greta“, hatte er sehr streng gesagt, „wenn du auf Gut Bergen leben willst, musst du mehr auf dein Äußeres achten. Sonst bleib gleich hier! Wir werden dir das nicht durchgehen lassen. Ich verstehe sowieso nicht… Na, schon gut.“

Zugegeben – darüber hatte Damaris sich auch sehr geärgert, obwohl Clemens ihr gegenüber immer so freundlich und aufmerksam war. Sie fand, in dem Punkt ging er zu weit. Es stand ihm einfach nicht zu. Greta war ihre Zofe und er wusste, wie viel sie ihr bedeutete. Obendrein wollten sie ja als Ehepaar über kurz oder lang sowieso im Schloss Hohenfeld leben.

„Warum bin ich nur die einzige, die bemerkt, wie er wirklich ist“, hatte Greta während ihres Streites schließlich ausgerufen und war in die Küche marschiert.

Damaris machte sich Sorgen. Wenn Greta auf Bergen weiter in dieser Art mit ihr oder anderen sprach, würde das böse Folgen haben. Möglicherweise würden Sophia und Arnold nicht zulassen, dass sie dort lebte.

Aber Greta war und blieb ihre Freundin. Sie waren nun einmal nicht mit dieser extremen Barriere der Standesunterschiede aufgewachsen.

Jetzt sah Greta zum Fenster hinaus, während die Kutsche durch das Dorf rumpelte. Damaris tat es ihr gleich und beobachte, wie Bäume und Felder an ihnen vorüber zogen.

Es war ein schöner Frühlingstag. Nur kleine weiße Schäfchenwolken standen am Himmel, die Sonne strahlte. Damaris nahm es als gutes Omen für ihr zukünftiges Leben.

Sie blickte an ihrem schlichten Reisekleid herab und lächelte vor sich hin.

„Sie freuen sich auf Clemens?“, fragte Greta.

Damaris brauchte eine Weile, bevor sie die Äußerung bewusst wahrnahm. „Für dich Herr von Bergen, hörst du?“, wies sie Greta lahm zurecht.

„Ja ja, wir sind doch hier unter uns.“

„Trotzdem. Gewöhn dich lieber gleich dran.“

Greta schaute demonstrativ wieder aus dem Fenster. Sie war beleidigt. Damaris lächelte und berührte sie sacht an der Schulter.

„Greta! Ist doch besser, wenn du dich etwas gut mit der Familie stellst.“

„Ich bin ausschließlich für sie da. Ich arbeite nicht für jemand anderes“, erwiderte sie trotzig.

„Natürlich.“

Greta wollte wohl nicht näher auf das Thema eingehen. Sie fächelte demonstrativ mit einem Blatt Papier vor ihrem Gesicht herum. „Puh, ganz schön heiß, wenn die Sonne direkt hier herein scheint. Und dieser Staub.“

Damaris runzelte die Stirn. Sie hatte nicht den Eindruck, dass es besonders staubte. Außerdem saßen sie in einer geschlossenen Kutsche. Typisch Greta, dachte sie. Wenn sie nicht über etwas sprechen will, dann will sie nicht.

„Und dieses elendige Geholper“, stöhnte Greta weiter.

„Fliegen wäre wohl angenehmer. Aber wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns wohl Flügel gegeben.

Denk an die Geschichte von Ikarus“, frotzelte Damaris.

Greta schenkte ihr einen bitterbösen Blick.

Ihre junge Herrin lachte. „Es ist ja keine sehr lange Reise, Greta“, tröstete sie.

„Mm“, brummte die Zofe. Gleichzeitig legte sie den Kopf an die Scheibe und schloss die Augen.

Keine schlechte Idee, dachte Damaris und schloss ebenfalls die Augen.

Mit einem Ruck hielt die Kutsche an. Damaris schlug die Augen auf, als Fritz vom Kutschbock sprang. Greta schlief tief und fest.

Damaris beugte sich über sie und rüttelte sie sacht.

„Aufwachen! Wir sind da.“

„Schon?“, murmelte Greta verschlafen.

„Ja. Wenn man die ganze Zeit schläft, vergeht die Zeit wie im Flug, nicht wahr?“, grinste Damaris.

„Mm. Na ja, kann nicht lang gewesen sein. Ist ja keine weite Fahrt“, brummte Greta.

Sie fuhr mit den Fingern nervös über ihr schlichtes Kleid und zupfte unsichtbare Flusen ab. Sie betastete ihr Häubchen und strich sich das Haar glatt.

„Du siehst gut aus“, beruhigte Damaris sie.

„Mmmm.“

„Kannst du auch was anderes sagen?“

„Mmmm.“

„Lächele wenigstens ein wenig.“

Greta verzog den Mund. Aber wie ein Lächeln sah das nicht aus.

Dann flog schon die Tür der Kutsche auf und Clemens stand da.

Wie gut er aussah!

Groß und schlank. In eleganten Hosen, die seine muskulöse Figur zur Geltung brachten. Sein dunkles Haar war perfekt wie immer, seine braunen Augen waren ruhig und emotionslos. Sein Blick verriet keine Gemütsregung.

„Damaris, wie schön, dass du endlich hier bist!“

Er bot seiner Braut seine Hand an. Sie ergriff sie und stieg die zwei Stufen der Kutsche hinunter. Sie stieß mit ihrem Hut an den Rand der Kutsche, er verrutschte und flog wohl nur deshalb nicht davon, weil die Hutnadel ihn festhielt.

Clemens verdrehte missbilligend die Augen. Aber er sagte nichts.

Nicht gleich bei der Ankunft. Damaris ärgerte sich über diesen Blick, der ungefähr sagte: Etwas mehr vornehmes Betragen wirst du wohl noch lernen müssen. Und dabei ist sie ein Nachfahre von Grafen.

Meine Güte, was war denn schon schlimmes passiert?

„Hoppla“, murmelte Greta.

Damaris sah sich beeindruckt um. Sie stand zum ersten Mal vor dem Haus, das bald ihr Zuhause sein würde. Es war prächtig und groß. Die Fassade war weiß getüncht und wirkte freundlich und sehr einladend. Das breite Eingangsportal stand offen.

Clemens schloss seine Braut in die Arme und gab ihr einen leidenschaftslosen Kuss auf die Wange. Damaris war enttäuscht. Sie wünschte sich, stürmisch und leidenschaftlich von ihm geküsst zu werden. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und reckte ihr Gesicht zu ihm empor. Wieso war er nur so abweisend? Irrte sie sich oder entzog sich ihr Bräutigam ihr geradezu? Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. So hatte sie sich den Empfang allerdings nicht vorgestellt.

„Mein liebes Kind!“, vernahm Damaris plötzlich eine kräftige Frauenstimme. Sie löste sich von Clemens und sah an ihm vorbei.

Sophia von Bergen, Clemens’ Mutter, kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sicher war das der Grund für Clemens’ Reserviertheit. Er hatte Recht. Sie hatte sich zu wenig unter Kontrolle.

Es war doch klar, dass seine Mutter anwesend war.

Sie schwebte heran – perfekt wie immer.

Ein Auftritt wie der einer Schlossherrin.

Ein Häubchen steckte auf dem grauen, hochgesteckten Haar. Die lange Schleppe des weit ausgestellten blauen Kleides aus Alpaka – so wurde dieser chinesische Taft genannt - schleifte über den sauber gefegten Hof. Eine schmale Kette blinkte an ihrem Hals und passende Ohrringe baumelten an ihren Ohrläppchen.

Sie schloss die junge Frau in die Arme.

„Meine Tochter“, sagte sie. „Wie war deine Reise?“

Der Empfang hätte nicht perfekter sein können. Aber er glich einer Inszenierung. Herzlich war er nicht.

„Sehr angenehm, danke. Es ist ja nicht weit“, antwortete Damaris.

„Nein, das ist es wirklich nicht.“

„Leider konnten meine Eltern mich nicht begleiten.“

„Oh ja, ich weiß. Sie haben mir ja durch einen Boten einen Brief geschickt. Welche Tragödie so kurz vor euerer Hochzeit. Hast du schon etwas von ihnen gehört?“

„Nein. Aber sie sind auch erst vor zwei Tagen abgereist.“

„Ach, wie dumm von mir. Es ist ja ganz unmöglich, dass du schon Nachricht erhalten hast.“

Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Ihre Gesten beschränkten sich darauf, Damaris’ Hand aufmunternd zu tätscheln. Sie beherrschte sich vollkommen.

Ihr würde es sicher nicht passieren, mit dem Hut irgendwo hängen zu bleiben, dachte Damaris.

Plötzlich hakte Sophia sich bei ihr unter und zog sie mit sich zum Hauseingang. Damaris drehte sich verunsichert nach Fritz und Greta um.

„Oh keine Sorge“, beruhigte Sophia sie. „Sobald deine Bediensteten die Koffer hereingebracht haben, bekommen sie in der Küche etwas zu essen. Und dem Mädchen wird man ihre Kammer zeigen.

Es missfiel Damaris, in welchem Ton Sophia über Greta und Fritz sprach. Deine Bediensteten! Das Mädchen! Sie hatten doch Namen.

Aber sie sagte nichts.

Sophia zog sie unerbittlich mit sich. Fort von Greta.

Und was war mit Clemens?

Damaris hoffte, er würde ihnen folgen. Sie würde sich dann weniger allein fühlen. Aber sie wusste es nicht.

Sophia führte ihren jungen Gast in ein kleines Wohnzimmer, wo auf einem Tischchen schon Kaffee und Gebäck bereit stand.

Sie bot Damaris mit einer Geste Platz an.

„Bitte, greif zu. Möchtest du ein wenig Kaffee?“

„Ja. Gerne. Danke.“

„Später zeige ich dir dein Zimmer. Du wirst dich etwas frisch machen wollen?“

„Oh ja. Danke.“

Damaris lächelte sie pflichtschuldig an.

Was für ein seltsames, einsilbiges Gespräch.

Clemens gesellte sich zu ihnen. Er lächelte, aber er sagte nichts.

Sophia saß aufrecht in ihrem geblümten Sessel und knabberte zaghaft an ihrem Plätzchen. Damaris traute sich überhaupt nicht, selbst zuzugreifen. Aus Angst, es an Grazie und Anmut ihrer zukünftigen Schwiegermutter nicht gleichtun zu können.

Sie nippte an ihrem Kaffee. Er war gut und stark.

„Mein Mann und ich waren vor Jahren einmal in England“, berichtete Sophia. „In London. Dort bekommt man kaum einen guten Kaffee. Nur Tee, Tee und nochmals Tee. Darjeeling. Eine grässliche Sitte. Aber ich vermute, alles ist eben einfach Gewohnheit.“ Sie lachte geziert und etwas gekünstelt.

„Ja, vermutlich“, murmelte Damaris und achtete sorgfältig darauf, von ihrem Gebäck abzubeißen ohne zu krümeln.

Als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, fragte Sophia: „So, liebe Damaris, du fühlst dich sicher erschöpft und staubig. Was hältst du von einem heißen Bad?“

Der Gedanke an ein Bad belebte die junge Frau sofort, auch wenn sie sich nicht annähernd so erschöpft und staubig fühlte, wie Sophia offenbar annahm. Damaris schielte zu Clemens hinüber. Ob er sie wohl in ihr Zimmer begleiten würde?

„Ich werde dir dein Zimmer zeigen“, plauderte Sophia weiter.

„Und dann schicke ich dir eines der Mädchen, um dir beim Auspacken zu helfen und das Bad zu bereiten. In Ordnung?“

„Das wäre fein. Aber zum Auspacken hätte ich schon gerne Greta“, erwiderte sie fest.

Irrte sie sich oder verschwand das einstudierte Lächeln für einen Moment von Sophias Gesicht und machte einem missbilligenden Zug Platz? Was konnte sie dagegen haben? Es war doch nur natürlich, dass sie nach ihrer eigenen Zofe fragte.

Doch sofort war das Lächeln wieder da und Damaris fragte sich, ob sie wohl doch übermüdet war und sich das nur eingebildet hatte.

„Aber natürlich. Wie dumm von mir. Natürlich möchtest du von deiner eigenen Zofe umsorgt werden.“

Sie erhoben sich alle drei.

Sophia führte Damaris ohne ein weiteres Wort an Clemens vorbei, der sich formvollendet verbeugte. Doch er richtete nicht ein einziges persönliches Wort an seine Braut. Die Röcke der Frauen rauschten, als sie durch die schmale Zimmertür verschwanden.

Schweigend folgte Damaris Sophia die geschwungene Treppe in das obere Stockwerk hinauf und den Gang entlang. Vor einer der Türen blieb Sophia stehen, legte ihre zarte, gepflegte Hand auf den Knauf und ließ ihren Gast zuerst eintreten.

Das Zimmer gefiel Damaris auf Anhieb. Es war fast ganz in blau gehalten. Was für eine anheimelnde, beruhigende Atmosphäre es ausstrahlte.

Die Bettvorhänge um den Alkoven, die Vorhänge vor den Fenstern, die Seidentapeten an den Wänden – alles in verschiedenen Blautönen.

Eine Truhe für die Kleider stand dem Alkoven gegenüber. In der Ecke zwischen Fenster und Truhe befand sich ein Kamin und davor stand ein Badezuber. Damaris konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie als Kind zum Baden in die Küche gehen musste. Inzwischen war es in Mode gekommen, einen Badezuber im Schlafzimmer zu haben. Was für eine wundervolle Errungenschaft.

„Gefällt es dir?“, fragte Sophia.

„Oh ja. Es ist wunderschön.“

„Das freut mich.“

Damaris sah sich weiter im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf den Spiegel, der sich direkt neben der Truhe befand. Sie sah darin zwei Frauen. Eine junge Frau und eine Frau fortgeschrittenen Alters. Die eine im schlichten Reisekleid, die Ältere vornehm gekleidet mit einer langen Schleppe.

Neben Sophia fühlte sie sich trotz ihrer Jugend unscheinbar. Und das lag nicht nur an der schlichten Kleidung. Diese Anmut und Eleganz würde sie wohl in hundert Jahren nicht erwerben.

Sophia könnte Lumpen tragen und sie würde noch immer diese Grazie, diese Eleganz und diesen Stolz ausstrahlen.

Damaris wurde bewusst, dass Sophia niemals wirklich etwas über sich mitgeteilt hatte. Sie war freundlich und liebenswürdig, aber sie tauschte doch nur Floskeln. Wer war die Frau wirklich? Woher stammte sie? Was fühlte sie? Was dachte sie? Und wo war Clemens, ihr Bräutigam, der sie kaum richtig begrüßt hatte?

„Ich schicke dir Hanna, damit sie dir das Badewasser bereitet“, sagte Sophia.

„Ja, das ist nett. Danke.“

„Wir sehen uns um sieben Uhr zum Abendessen.“

Damit drehte sie sich um und ging zur Tür. Doch auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um. „Ach, am besten, ich schicke dir wieder Hanna, um dich abzuholen. Du warst ja noch nie hier und kannst gar nicht wissen, wo das Abendessen serviert wird.

Bis dahin kannst du dich nach dem Bad noch ausruhen.“

„Ja, danke.“

Sophia verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Damaris stand alleine vor dem Spiegel.

„Alles klar!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Es ist nicht erwünscht, dass ich vor dem Abendessen noch einmal unten erscheine. Ich darf mich ausruhen. Wie gut, dass ich ein Buch eingepackt habe. Außerdem bedanke ich mich viel zu oft. Ich bin schließlich ihr Gast und mehr als gastfreundlich waren sie bisher nicht. Man kann auch die Dankerei übertreiben.“

Da klopfte es schon wieder an der Tür.

„Herein!“, rief sie.

Und herein kam ein untersetztes junges Mädchen mit einem grauen Kleid, weißer, gestärkter Schürze und der unvermeidlichen Haube auf dem braunen Haar.

Sie knickste artig. „Guten Tag gnädiges Fräulein. Ich bin Hanna.

Frau von Bergen schickt mich.“

Als Damaris pünktlich um sieben Uhr den Speisesaal betrat, saß die ganze Familie bereits beisammen. Außerdem waren noch drei weitere Gäste dort. Sie fühlte sich unbehaglich, weil sie so unerwartet so vielen fremden Menschen gegenüber treten musste.

Und diese fremde Frau da vorne an dem Tisch mit der strengen Hochfrisur und dem eisigen Blick, war sie nicht gerade sogar zusammen gezuckt, als sie den Raum betreten hatte?

Damaris war fast sicher, aber da es eigentlich keinen Grund dafür geben konnte, schob sie diesen Eindruck ihrer augenblicklichen Gereiztheit und Unsicherheit zu.

Aber irgendetwas war in dem Blick der Fremden, das sie erschaudern ließ.

Sie fühlte, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. Oh nein, nicht dass auch noch, dachte sie genervt. Sie stand noch immer an der Tür und fühlte sich völlig befangen, sie wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte… Gleich würde Clemens aufspringen und ihr aus der Verlegenheit helfen, hoffte sie.

Stattdessen war es wieder Sophia, die auf sie zueilte.

„Liebes Kind. Du musst ja völlig überrascht sein. Mit so vielen Besuchern hast du sicher nicht gerechnet, nicht wahr? Nun, ich werde dich ihnen vorstellen.“

Sie fasste ihre zukünftige Schwiegertochter am Arm und führte sie zum Tisch.

„Schau, meinen Mann kennst du ja schon.“

Damaris nickte Arnold von Bergen freundlich zu.

„Und das ist Arnim, unser ältester Sohn mit seiner Frau Veronika und ihrem kleinen Sohn Simon.“

Damaris nickte allen dreien zu. Sie waren ihr gänzlich unbekannt, aber Veronika hatte ein offenes, sympathisches Lächeln.