Die Erben der Hexenschülerin: Luzia - Rotraud Falke-Held - E-Book

Die Erben der Hexenschülerin: Luzia E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die sechzehnjährige Luzia Spengler lebt Ende des 15. Jahr-hunderts in Paderborn. Seit sie im Alter von 13 Jahren von ihrer Ahnin Clara und deren gefährlichem und ungewöhnlichem Leben erfahren hat, träumt sie davon, eines Tages nach Würzburg zu reisen und auch die Burg Wiesenstein zu besuchen, wo Clara eine Weile gelebt hat. Doch zunächst verläuft ihr Leben in anderen Bahnen. Als sie nach einem Unfall ihr Gedächtnis verliert, schließt sie sich einer Zigeunergruppe an und reist mit ihnen durch das Land. Die Reise der Zigeuner endet in Würzburg, wo Luzia das Mädchen Madlen kennen lernt. Gemeinsam mit ihr geht sie dem Verschwinden deren Mutter nach. Eine Katastrophe bahnt sich an. Die Geschichte von Luzia, einer Nachfahrin der Hexenschülerin, ist spannend und voller Wendungen. Sie ist geeignet für Jugendliche ab etwa 12 Jahren und für Erwachsene, die gerne in vergangene Welten eintauchen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog Die Geschichte der Ahnin

Kapitel 1 Der Wanderprediger

Kapitel 2 Der Besucher

Kapitel 3 Die alte Elsbeth

Kapitel 4 Der Herr von Wiesenstein

Kapitel 5 Die Kräuterfrau von Würzburg

Kapitel 6 Ein harter Schlag

Kapitel 7 Die Fremde

Kapitel 8 Die Festnahme

Kapitel 9 Das Wirtshaus in Fulda

Kapitel 10 Johannisnacht

Kapitel 11 Geheimnisse

Kapitel 12 Das Dorf Wiesenstein

Kapitel 13 Geheime Pläne

Kapitel 14 Burg Wiesenstein

Kapitel 15 Fluchtpläne

Kapitel 16 Die Flucht

Kapitel 17 Die Reise zurück

Kapitel 18 Die Rückkehr

Epilog

Wahrheit oder Erfindung

Personen:

In Paderborn und Dringenberg:

Luzia Spengler

Nachfahrin von Clara, geb. 1478

Cordula

Luzias Mutter

Wolfram

Luzias Vater

Anton

Luzias älterer Bruder

Stephan

Luzias älterer Bruder

Zoe

Luzias Schwester

Frieder

Luzias jüngerer Bruder

Christine

Luzias Freundin

Elsbeth

alte Heilerin in Paderborn

Berthold

ein Bäcker in Paderborn

Pater Laurentius

alter, strenger Ablassprediger

Pater Clewin

Laurentius’ Schüler

Georg

Bote aus Dringenberg

Gisela

Luzias Cousine aus Dringenberg

Rupert

Giselas Bräutigam

Margaretha

Giselas Mutter (verstorben)

Hans

Giselas Vater

Brigitta

Hans 2. Ehefrau

Zigeuner:

Eszter

Heilerin der Zigeunergruppe

Cintia

Eszters Tochter

Ernö

der Anführer der Sippe

Klothild

Heilerin und Wahrsagerin der Zigeuner

Tamás

Eszters Sohn

Marika

Eszters Schwiegertochter

In Würzburg und Wiesenstein

Klemens

Herr von Burg Wiesenstein

Gudula

Herrin von Wiesenstein

Magnus

Klemens und Gudruns Sohn

Luitger

Klemens und Gudruns Sohn

Elenore

Heilerin von Würzburg

Madlen

Elenores Tochter

Käthe

alte Nachbarin von Elenore und Madlen

Veit

Polizist

Wernher v. Dörfels

Ratsherr von Würzburg

Barbara

Verwandte von Madlen

Gertrud

Madlens Tante

Klaß

Gertruds Sohn Barbaras Ehemann

Hans

Anführer im Dorf Wiesenstein

Die Katzen:

Trine und die Babykatzen Selene und Zausel

Paderborn Mai 1491

Prolog

Die Geschichte der Ahnin

An ihrem 13. Geburtstag erfuhr Luzia die Geschichte ihrer Ahnin Clara – Tochter des Schmieds aus Dringenberg – Gattin des Baumeisters Gabriel.

Luzia war sehr erschrocken, als sie erfuhr, dass sie hellsichtige Ahninnen hatte, von denen eine sogar als Hexe verbrannt worden war. Das war Antonia gewesen, die Urgroßmutter jener Clara.

Ihre Vorfahrin Clara war im Jahr 1322 mit ihrer Familie in das gerade neu errichtete Dorf Dringenberg gezogen. Sie hatte schon als kleines Mädchen erkannt, dass sie hellsichtig war. Aber das versuchte sie stets geheim zu halten, denn sogar ihre Großmutter Mathilde verachtete sie wegen dieser Gabe. Allzu schnell konnte man als Hexe angesehen werden. Außerdem hatte Clara als Erste in ihrer Familie lesen und schreiben gelernt – bei Odilia, einer Heilerin, die sogar schon in Griechenland gelebt hatte. Viel später wurde diese sogar Claras Schwiegermutter.

Clara hatte ein gefährliches, aber eigenständiges Leben geführt. Immer zerrissen zwischen ihrem inneren Antrieb, althergebrachte Gewohnheiten in Frage zu stellen und ihrer Erziehung, durch die sie sich immer wieder fragte, ob sie eine Sünderin sei.

Letztlich siegte ihr Drang, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Clara war keine unterwürfige Frau gewesen. Ebenso wenig wie Odilia. Aber jede von ihnen hatte zu einem Zeitpunkt im Leben in dem Ruf gestanden, eine Hexe zu sein.

Luzias Mutter Cordula erzählte ihr so ausführlich sie konnte von ihrer gemeinsamen Ahnin. So wie deren Mutter Johanna es ihr berichtet hatte. So wie es seit Generationen Brauch in der Familie war.

„Es gibt sogar eine Art Tagebuch. Es lag viele Jahre in Dringenberg verborgen in einem alten Geheimgang, in dem Clara selbst es versteckt hatte. Aber deine Urgroßmutter Carolina hat die Schriften vor vielen Jahren aus dem Versteck geholt, um sie ihrer Tochter – deiner Großmutter zu zeigen. Anschließend wurden sie nicht mehr zurückgebracht. Deine Großmutter hat sie bei ihrer Hochzeit mitgenommen und hier in Paderborn versteckt. Leider ist das erste Buch, das jene Clara geschrieben hat, für uns unerreichbar. Es heißt, dass sie als Vierzehnjährige ein paar Monate lang auf der Burg gelebt hat. Sie stand unter dem Schutz des Dorfgründers Bischof Bernhard. Dort soll sie das erste Buch versteckt und nie mehr zurückgeholt haben.“

„Vielleicht sollten die Bücher alle in Dringenberg bleiben. Dort gehören sie eigentlich hin. Vielleicht werden spätere Generationen gerne einmal lesen, wie es war, dort zu leben, als das Dorf gerade erst entstand“, überlegte Luzia.

„Ja, das mag sein“, meinte die Mutter ein bisschen verträumt.

„Clara hat wirklich ein aufregendes, ungewöhnliches Leben geführt. Sag, was ist eigentlich aus diesem Mann aus Würzburg geworden? Aus Luzius?“

Die Mutter hob die Schultern. „Das weiß ich nicht. Das weiß niemand. Clara und Gabriel haben Luzius und Adelaide hin und wieder gesehen. Sie haben sich gegenseitig besucht. Aber wie es danach mit der Familie weiterging…?“

„Wäre interessant zu wissen, nicht wahr?“ Luzia grinste schelmisch.

„Ach woher!“ Cordula machte eine weit ausholende Handbewegung. „Wieso sollten uns die Leute von dieser Burg interessieren?“

Luzia blinzelte. Wenn sie so schaute, sah es aus, als sähe sie geradewegs durch einen hindurch. Als könnte sie die Gedanken ihres Gegenübers lesen. Cordula wusste, dass Luzia dieses spezielle Erbe ihrer Ahnin nicht in sich trug. Sie war nicht hellsichtig. Cordula dankte dem Himmel dafür. In dieser Zeit war es besser so. In dieser Zeit war es noch viel gefährlicher als zu Claras Zeiten.

Die Hexenverfolgung lief auf Hochtouren. Vor zwei Jahren hatte ein Dominikanermönch – Heinrich hieß er – den Hexenhammer veröffentlicht. Das Werk legitimierte offiziell die Hexenverfolgung. Es war eine Katastrophe.

Dennoch hatte Luzia viel mit ihrer Ahnin gemeinsam. Sie hatte lesen und schreiben gelernt, so wie alle Mädchen der Familie, die nach Clara geboren worden waren. Sie war unglaublich interessiert an allem und Cordula befürchtete, dass sie eines Tages etwas Dummes anstellen würde – aus reinem Wissensdurst. Luzia wollte die Welt kennen lernen, so wie Clara es einst gewollt hatte.

Aber Luzia war auch ein vernünftiges Mädchen, sie kannte die Gefahren der Inquisition. Man musste nicht hellsichtig sein, um sie zu fürchten. Aber hatte Clara die nicht auch gekannt und ebenso Cordulas Großmutter Carolina, die ebenfalls hellsichtig gewesen war?

Cordula dachte auch an jene Ahnin, deren Hellsichtigkeit als erste bekannt wurde. Antonia war Claras Urgroßmutter gewesen – eine hellsichtige Heilerin, die ihr Ende auf dem Scheiterhaufen gefunden hatte.

Ach, es war geradezu gruselig: Antonia hatte jene Odilia auf die Welt geholt, wodurch sie deren Mutter und ihr als Baby das Leben gerettet hatte. Deswegen war sie als Hexe angeklagt worden. Sie hatte nämlich das Elend der Gebärenden in einer Vorahnung gesehen. Es war alles sehr mysteriös.

Cordula ahnte, dass ihre Tochter Luzia mit ähnlichen Gefühlen streiten würde, wenn sie selbst Claras Tagebücher las. Aber sie durfte es ihr nicht vorenthalten. Das Wissen musste weitergegeben werden. Auch die Zweifel, die Clara oft bewegt hatten. Das Hinterfragen, das Akzeptieren von besonderen Gaben.

Cordula glaubte nicht an Hexerei. Sie glaubte nicht, dass irgendein Mensch auf dieser Welt das Schicksal verdient hatte, als Hexe verbrannt oder gefoltert zu werden.

„Mutter, du träumst ja.“ Luzia puffte ihre Mutter an den Arm.

„Gib es zu, dich hat die Geschichte von Luzius auch fasziniert.

Oder warum heiße ich Luzia?“

„Es ist ein schöner Name“, meinte Cordula abweisend.

„Mutter!“, rief Luzia in gespieltem Vorwurf aus.

Cordula lachte. „Nun ja, es stimmt schon. Die Geschichte hat mich fasziniert. Und auch die Vorstellung, was gewesen wäre, wenn…“

„Wenn Clara bei Luzius geblieben wäre?“

„Und wir auf der Burg zu Hause gewesen wären“, bestätigte Cordula.

„Wir wären vermutlich sowieso nicht mehr dort. Burgen erben selten die ältesten Töchter.“

„Da hast du recht. Es ist auch gleichgültig. Clara hat Gabriel geliebt. Sie gehörten einfach zusammen. Und er war ja auch ein interessanter Mann.“

„Sicher. Aber ich heiße Luzia.“

Die Mutter hob in einer hilflosen Geste die Arme.

„Ja.“

Aber sie sieht aus wie Gabriel, dachte Cordula. Zumindest wie ich ihn mir nach Claras Beschreibungen vorstelle. Sie betrachtete liebevoll ihre Tochter. Sie war jetzt schon ein wenig größer als sie selbst, die eher klein war. Luzia hatte dichtes, tiefschwarzes Haar, das ihr weit über den Rücken floss und die dunklen Augen ihres Ahnen Gabriel und ihrer Ahnin Odilia. Ihre Figur war sehr schlank und nahm allmählich die Rundungen einer Frau an.

Auch sie selbst hatte dunkle Haare, wenn auch nicht so tief schwarze. Inzwischen zogen sich schon erste graue Strähnen hindurch. Ihre eigene Figur war früher zierlich gewesen, aber heute, nach sechs Schwangerschaften, von denen fünf Kinder überlebt hatten, war ihre Taille ein wenig runder.

Zum Glück hat keiner Claras rote Haare geerbt, dachte Cordula.

Rote Haare waren schon alleine ein Hinweis auf eine Hexe. Wenn dann noch ein Muttermal dazu kam oder eine besondere Fähigkeit…

„Ich möchte die Schriften von Clara gerne lesen“, sagte Luzia leise und riss ihre Mutter aus ihren Gedanken.

„Das sollst du auch. Und das wirst du. Aber du weißt, du darfst sie sonst niemandem zeigen. Es sind gefährliche Schriften.“

Luzia nickte ernst. „Das weiß ich.“

Nur wenige Tage später holte Cordula die Schriften aus ihrem Versteck.

Luzia vergrub sich damit in ihrem eigenen Zimmer. Sie las und las. Sie lebte, liebte und litt mit ihrer Ahnin Clara.

Wie gerne hätte sie Odilia kennen gelernt. Sie musste eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein. Sie konnte gut verstehen, dass Clara sich zu ihr hingezogen gefühlt hatte.

Und wie weit sie gereist war - bis nach Griechenland.

Luzia erlebte Freude, Ängste, Traurigkeit und Wut mit Clara und ihre ständige Zerrissenheit zwischen ihrer Gabe, ihren Träumen und der ihr vorbestimmten Rolle.

Sie bemitleidete und beneidete Clara gleichzeitig.

Wie stark sie war - gegen alle Widerstände ihr Leben zu führen.

Luzia begann zu träumen. Von eigenen Reisen, von einer Lebensaufgabe und davon, zu schreiben wie Clara oder wie Roswitha von Gandersheim.

Sie bewunderte diese starken Frauen.

Frauen galten nicht als gleichberechtigt. Zuerst waren sie dem Vater unterstellt, später dem Ehemann. Allein konnten sie überhaupt nicht leben.

Und doch schafften es einige, ein selbständiges Leben zu führen.

„Aber nicht allein“, murmelte Luzia vor sich hin. „Clara war verheiratet. Und Roswitha von Gandersheim lebte in einem Kloster.“

Trotzdem schafften manche Frauen mehr als andere, sprengten die Ketten der vorbestimmten Rolle.

Sie wollte das auch, obwohl sie sowieso schon ziemlich frei aufwuchs.

Ihr Vater besaß gemeinsam mit einem Geschäftspartner eine kleine Druckerei. Seit dieser Johannes Gutenberg vor etwa vierzig Jahren seine beweglichen Lettern erfunden hatte, löste das einen solchen Aufschwung aus. Zum ersten Mal konnte man viele ganz genau identische Bücher herstellen. Sogar eine Bibel gab es, wenn auch in lateinischer Sprache.

Auch Neuigkeiten verbreiteten sich leichter.

So war Luzias Vater Wolfram mit seinem Geschäft durchaus ein wohlhabender Mann und Luzia ging es gut.

Ihr Vater hatte es geschafft. Er hatte etwas Neues aufgebaut und war nicht dem alten Familienbetrieb treu geblieben. Seine Vorfahren waren Spengler gewesen. Aber in ihrer Familie erinnerte nur noch der Nachname an den alten Beruf. Aber er war ein Mann. Für Männer war es einfacher.

Doch auch Luzia wünschte sich etwas anderes für ihr Leben. Sie wollte nicht den geraden Weg gehen. Sie wünschte sich Windungen und Wegkreuzungen, an denen sie selbst die Entscheidungen traf. Sie wünschte sich Abenteuer, wollte etwas erleben. Nur ein einziges Leben war ihr gegeben und sie wollte etwas daraus machen. Würde man im anderen Fall nicht Gottes Geschenk vergeuden?

Zum ersten Mal schlich sich der Zweifel ein. Zweifel an den alten Lehren. Was, wenn die Priester Gottes Willen gar nicht richtig interpretierten. Konnte das sein? Immerhin waren auch sie nur Menschen.

Paderborn April 1494

Kapitel 1

Der Wanderprediger

Luzia lief zusammen mit ihrer Freundin Christine durch die Straßen von Paderborn. Die beiden sechzehnjährigen Mädchen hatten Einkäufe für ihre Familien zu erledigen. Es war ein warmer Tag. Die Händler hatten die Fensterläden ihrer Geschäfte als Verkaufstheken heruntergeklappt, so konnte man direkt von der Straße aus Brot oder Käse kaufen.

Die Mädchen stellten sich vor der Bäckerei in die Reihe der wartenden Leute. Die Straße war schmutzig. Es stank, als hätte jemand Fäkalien entsorgt, die nun durch die Rillen der Straße schwammen.

Luzia rümpfte die Nase und Christine stimmte ihr grinsend zu.

Luzia war ziemlich groß und schlank. Sie trug ein Kleid in hellblauem fließendem Stoff. Da sie noch nicht verheiratet war, trug sie ihr dickes schwarzes Haar einfach zu einem langen Zopf geflochten und keine Haube darauf. Luzia mochte die Hauben nicht, die oft riesige Gebilde mit Hörnern oder Trichtern waren.

Christine war ein wenig kleiner als ihre Freundin. Ihre Haare hatten die Farbe von hellem Honig und ihre Augen waren grün.

Sie trug ein Kleid in fast der gleichen Farbe wie ihre Augen, was ihr ausgezeichnet stand.

Die Mädchen liebten die Farben dieser Zeit. Die Mode war viel abwechslungsreicher geworden. Und auch die Zeit brodelte vor Neuerungen und Umwälzungen. Das lag nicht allein am Buchdruck, durch den sich Neuigkeiten viel schneller verbreiten konnten, was wiederum zur Folge hatte, dass den Menschen viel mehr Wissen vermittelt wurde. Selbst die Bibel war heutzutage für alle zugängig.

Die Menschen waren einfach nicht mehr so hinnehmend wie früher. Sie begannen, sich eigene Gedanken zu machen.

Und Luzia und Christine waren Kinder dieser neuen Zeit.

Luzia war an der Reihe, sie bestellte ein knuspriges Brot und bezahlte über die herunter geklappten Fensterläden hinweg. Sie legte das Brot zu dem Käse und der Wurst in den Korb und die beiden Mädchen schlenderten weiter. Die Körbe wurden allmählich schwer, aber sie hatten es nicht allzu eilig. Es machte Spaß, durch die Stadt und die verschiedenen Händlergassen zu schlendern.

Sie betrachteten die jungen Männer teils kritisch, teils amüsiert.

Nicht jedem standen die engen Strumpfhosen und die kürzer werdenden Röcke darüber, wie Christine und Luzia lachend feststellten. Aber manch einer setzte sich auch über die Mode hinweg und trug lieber weiterhin einen längeren Rock, um figürliche Schwachstellen zu überdecken. Amtmänner trugen sowieso weiterhin lange Röcke.

So liefen die beiden Mädchen schwatzend und kichernd durch die holprigen, schmutzigen Straßen.

Plötzlich entdeckten sie einen kleinen Menschenauflauf auf dem Marktplatz. „Was ist denn da los?“, fragte Christine.

Sie blieben stehen und reckten die Hälse.

Luzia hob die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Wollen wir nachsehen?“

„Warum nicht“, stimmte Luzia sofort zu.

Die Mädchen gingen neugierig näher. Anfangs konnten sie trotzdem noch nichts erkennen, weil eine dichte Menschentraube ihnen den Blick verwehrte. Doch dann sahen sie den schwarz gekleideten Mann, der etwas erhöht auf einem Tisch oder ähnlichem, inmitten der Traube stand. Er drehte sich im Kreis um seine eigene Achse und hob mahnend den Zeigefinger in die Höhe.

Luzia und Christine sahen sich fragend an und drängten sich in stummem Einvernehmen durch die Menschenmenge, etwas mehr in die Nähe des Redners. Sie waren einfach zu neugierig. Und dann konnten sie auch seine Worte verstehen, die er mit einer etwas zu hohen Stimme hinausschmetterte.

„Es gibt kein ewiges Heil ohne ein gottesfürchtiges Leben!

Darum tut Buße! Bereut eure Sünden! Geht zur Beichte und spendet als Zeichen eurer Reue euer Geld der Kirche!“

Luzia zog die Stirn kraus. „Was? Ist das etwa so ein Ablassprediger?“

Christine nickte. „Ich glaube schon. Ich habe schon davon gehört, aber noch nie einen predigen gehört.“

„Was soll das? Gott vergibt uns unsere Sünden, wenn wir dafür bezahlen?“, flüsterte Luzia zweifelnd.

Christine nickte eifrig.

„Glaubst du daran?“

Luzias Freundin hob die Schultern. „Wenn Priester und Prediger es sagen, müsste es eigentlich stimmen, aber…“, räumte sie vorsichtig ein.

„Die sind doch auch nur Menschen und wissen nicht alles“, flüsterte Luzia.

Christine hob die Schultern. Sie war sich da auch nicht ganz sicher. Ihr Vater hatte ihr jedenfalls geraten, von diesen Predigern Abstand zu halten. Nun ja, da hatte sie sich jetzt wohl des Ungehorsams schuldig gemacht. Hier stand sie mitten in der Menge und hörte dem Prediger zu. Obwohl sie ja nicht bewusst dessen Nähe gesucht hatte, sie hatten ja nur wissen wollen, was hier los war.

Luzia dachte an Claras Schriften, in denen so manche Prediger und die Lehren der Kirche durchaus angezweifelt wurden. Von Ablass war da allerdings nicht die Rede gewesen. Aber sie selbst konnte sich nicht vorstellen, dass man sich mit klingender Münze von Sünden freikaufen konnte.

„Auch eure Zeit im Fegefeuer wird euch erlassen. Der Teufel quält eure Seele, wenn ihr ohne Vergebung diese Welt verlasst!“, rief der Prediger.

Seine Stimme war zwar etwas zu hoch, aber fest und laut. Die Menschen hörten ihm aufmerksam zu. Mancher war ergriffen von seinen Worten und fürchtete das Fegefeuer.

„Komm, lass uns gehen“, flüsterte Luzia ihrer Freundin zu.

Die nickte sofort und ließ sich fortziehen. Inzwischen waren noch mehr Zuhörer dazugekommen und sie mussten sich ihren Weg durch den Menschenauflauf zurück bahnen.

Sie drängten den einen oder anderen zur Seite, aber die Menschen ließen sich kaum stören. Sie hingen wie gebannt an den Lippen des Predigers und taten nur mechanisch einen Schritt zur Seite, wenn sie angeschoben wurden.

Als die Freundinnen die Enge des Menschenauflaufes schon fast hinter sich gelassen hatten, wurde Luzia plötzlich am Arm festgehalten. Sie blickte verwirrt in das Gesicht eines alten Mannes. „Ihr solltet lieber bleiben und euch das anhören. Gerade die Jugend ist nicht frei von Laster und keineswegs sicher vor dem Tod und dem Fegefeuer“, raunte er den Mädchen mit drohender Stimme zu. Er sah sie an, als könnte er geradewegs in ihre Köpfe sehen und ihre kritischen Gedanken erkennen.

Luzia fühlte sich bis ins Mark erschüttert. Der Alte machte ihr Angst.

Er war in ein schwarzes Gewand gekleidet, hatte strähnige graue Haare und eine Hakennase. Aber das Furchterregendste waren seine Augen. Dunkel und durchdringend und nicht das kleinste bisschen Wärme lag in ihnen.

Der Fremde bemerkte, dass seine Worte die Mädchen trafen und setzte nach: „Auch ihr seid in euren jungen Jahren nicht sicher.

Jeder Mensch auf Erden kann jeden Tag aus diesem irdischen Leben abberufen werden. Ist euch das nicht klar? Also bleibt hier und hört dem Prediger zu und bereut eure Sünden.“

Christine versuchte, ihre Freundin mit sich zu ziehen. Der Fremde war ihr unheimlich. Die Angst lief siedend heiß durch ihren Körper.

„Komm“, flüsterte sie tonlos.

Endlich löste sich Luzias Erstarrung und sie riss ihren Arm mit einem heftigen Ruck los. Damit hatte der Alte nicht gerechnet und das Mädchen war seiner Umklammerung entkommen.

„Wir sind gottesfürchtig erzogen werden. Wir sündigen nicht!“,

raunte Luzia dem Mann wütend zu.

„Überheblichkeit ist eine der Todsünden. Ihr seid der Verdammnis ausgeliefert, wenn ihr euch nicht ändert.“

Luzia wandte ihren Blick mit einem Ruck ab und lief davon. Ihr Herz klopfte wild. Ihr Schritt wurde immer schneller. Sie musste fort. Fort von dem Prediger, fort von der Menge, fort von dem unheimlichen alten Mann.

Endlich blieb sie stehen. Sie war ganz außer Atem, was weniger von ihrem schnellen Schritt kam, als von ihrer Aufgeregtheit.

Christine holte sie kurz danach ein.

Sie stellte sich neben Luzia und atmete erst einmal kräftig durch.

„Puh, das war unheimlich“, stöhnte sie dann.

„Allerdings. Ich habe richtig Angst bekommen.“

„Und – glaubst du immer noch nicht daran?“, fragte Christine.

„Ich glaube, dass man seine Sünden bereuen sollte, aber nicht, dass man sich freikaufen kann. Du etwa? Sag die Wahrheit.“

Christine lachte. „Ich bin die Tochter eines ziemlich belesenen Mannes, wie du weißt. Nein, ich glaube nicht daran. Aber ich verstehe, dass diese Predigten einen in ihren Bann ziehen. Luzia, ich will nicht im Fegefeuer braten.“

„Wenn es das überhaupt gibt“, murmelte Luzia achtlos dahin.

„Luzia!“, rief Christine aus. „Das ist jetzt aber schon ketzerisch.

Solche Reden darfst du nicht laut führen. Das Fegefeuer gibt es.

Nur nicht die Möglichkeit, sich mit Geld freizukaufen.“

Nein, so durfte sie wirklich nicht reden. Sie wusste es. Dann würde sie ebenso als Hexe verfolgt werden wie ihre Ahninnen Clara, Odilia und Antonia. Man brauchte keine besonderen Fähigkeiten dazu, es reichte auch eine unbequeme Haltung oder Meinung.

„Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, Christine“, sagte sie leise.

„Wir machen so unglaubliche Erfindungen wie den Buchdruck, heute können mehr Menschen lesen als jemals zuvor, es gibt sogar Universitäten, an denen man wissenschaftliche Berufe studieren kann, neue Welten werden entdeckt. Du weißt – dieser Spanier hat doch den neuen Weg nach Indien gefunden.“

„Ja, Columbus. Er ist Italiener, war allerdings im Auftrag der spanischen Krone unterwegs“, korrigierte Christine.

„Egal, du weißt, was ich meine.“

„Ja. Es passt nicht so recht.“

Luzia nickte. „Nein, es passt nicht so recht.“

Wieder kamen ihr die Tagebücher ihrer Vorfahrin in den Sinn.

Was wäre, wenn ein Mensch wie dieser Prediger oder jemand wie der alte Mann die in die Finger bekäme? Mein Gott, es waren gefährliche Werke. Das wurde ihr ganz plötzlich mit Macht bewusst. Sie selbst und ihre Familie würden definitiv in die Fänge der Inquisition geraten. Wie ein Blitz schoss es ihr durch den Kopf: Die Bücher mussten aus dem Haus. Dringend! Unbedingt!

So lange die Menschen in ihren Meinungen und ihrem Denken nicht frei waren, weil es solche Fanatiker wie diesen Prediger gab, mussten die Bücher aus dem Haus.

Christine berührte die Freundin an der Schulter.

„Alles in Ordnung?“

Luzia nickte. „Ja, geht schon. Ich bin nur noch ganz durcheinander.“

Christine lachte auf, aber es klang nicht fröhlich. „Das verstehe ich. Ich meine, mir steckt der Schrecken ja noch in den Gliedern und mich hat der Mann nicht festgehalten.“

Luzia versuchte ein Lächeln, das aber gänzlich misslang. „Gehen wir nach Hause.“

„Ja, gehen wir.“

Sie warf einen Blick zurück zu dem Pulk und sah, dass manche Menschen schon wieder in verschiedene Richtungen davon zogen, andere jedoch waren im Gespräch mit dem Prediger. Seine Worte waren nicht auf taube Ohren gestoßen.

In den nächsten Tagen beruhigte sich Luzia etwas von dem merkwürdigen Zusammentreffen. Die Erinnerungen blieben, aber der Eindruck verblasste. Und die Angst verschwand sogar ganz.

Luzia hatte mit ihren Eltern über den Prediger gesprochen und ihr Vater hatte ihr eindringlich geraten, sich von solchen Dingen fernzuhalten. Außerdem schärfte er ihr ein, ihre persönliche Meinung zu den Ablässen für sich zu behalten. Es war gefährlich, diese Dinge offenkundig zu kritisieren. Die Priester hatten noch immer viel Macht und diese Prediger waren im Auftrag des Papstes unterwegs.

Luzia nahm die beiden Bücher ihrer Ahnin zur Hand und streichelte sanft darüber. „Du hast ein gefährliches Leben geführt“,

sagte sie beinahe zärtlich. „Und sogar jetzt – rund hundertsiebzig Jahre später bringst du uns noch in Gefahr mit deinen Schriften.“

Sie stöhnte. Was sollte sie nur tun? Es war ihr absolut bewusst, dass ihre ganze Familie in Gefahr geraten würde, wenn die Bücher dem Falschen in die Hände gerieten. Außerhalb der Familie hatte Luzia nur mit Christine darüber gesprochen.

Plötzlich war ihr, als würde jemand zu ihr sprechen. Es war kein Laut zu hören, und dennoch… Als würde sie jemand auffordern, die Tagebücher wieder in ihrem alten Versteck zu verbergen - in jenen Geheimgang bei dem hohlen Baum, von dem Clara geschrieben hatte.

Luzia schüttelte sich. Aber die Stimme war da. In ihrem Kopf.

Es war viel mehr als nur ein Gedanke. Es war eine Eingebung.

Als würde ein Engel zu ihr sprechen. Oder ein Geist. War das möglich?

So etwas hatte es schon gegeben. In Frankreich hatte es ein Bauernmädchen gegeben, das ein ganzes Heer angeführt hatte, weil eine Heilige es ihm befohlen hatte. Johanna hatte das Mädchen geheißen und ihre Schutzheilige war Katharina gewesen, glaubte Luzia sich zu erinnern.

Das Mädchen hatte Frankreich zu einem Sieg geführt, aber sie selbst war am Ende auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Luzia schüttelte sich. Der Gedanke gruselte sie. Das alles war noch gar nicht so sehr lange her. Etwas mehr als sechzig Jahre.

Auch ihre Ahnin Clara hatte mit Verstorbenen gesprochen. Immer wieder war ihr ihr Großvater erschienen. Oder dieser Mann, der bei dem Überfall auf den Wagentross ums Leben gekommen war.

Aber Clara war hellsichtig gewesen. Und sie, Luzia, war das nicht.

Und sie hatte auch nicht die Stimme einer Heiligen vernommen.

Sie war nicht zu irgendetwas Großem berufen. Schluss damit!

Sie war ein sechzehnjähriges Mädchen, das ein wenig mit ihrem Umfeld und dem Geschäft mit der Angst haderte.

Kurzentschlossen packte sie die Tagebücher in die Truhe unter ihre Kleider und verließ betont resolut den Raum.

Nur wenige Tage später war Luzia mit ihrer jüngeren Schwester Zoe unterwegs. Niemand, der sie nicht kannte, hätte sie für Schwestern gehalten. Zoe war nur etwas kleiner als Luzia, aber das konnte sich mit ihren fast vierzehn Jahren ja noch ändern.

Ihre Haare waren lang und braun und ihre Augen so grün wie Claras gewesen sein mochten.

Die beiden Mädchen waren oft zusammen unterwegs und verstanden sich gut, immerhin war Zoe nur zwei Jahre jünger als Luzia.

„Wollen wir Papa besuchen?“, schlug Zoe vor, als sie alle Einkäufe erledigt hatten. Sie mochte es, einfach in der Druckerei aufzutauchen und den Vater zu überraschen. Aber sie mochte es auch, zuzusehen, wie die Schriften gesetzt wurden und auf diese Weise ganze Bücher entstanden. Am liebsten hätte sie in der Druckerei mitgearbeitet. Sie beneidete ihre Brüder, die das durften, was für sie als Mädchen undenkbar war.

„Ich weiß nicht, er hat sicher noch zu tun. Und es ist ein ziemlicher Umweg“, wehrte Luzia jedoch ab.

„Ach komm, das Wetter ist schön. Es macht Spaß durch die Stadt zu schlendern und ehrlich gesagt bin ich gern in der Druckerei.“

Zoe zog die Nase ein wenig kraus, wie sie es immer tat, wenn sie sich für etwas begeisterte. „Ich mag es, wenn diese Metallplatte – rums…“, sie imitierte die Platte mit der Hand und ließ die rechte auf die linke herab fahren. „…auf das Papier knallt und schon ist es bedruckt. Das ist einfach – einfach fantastisch.“

„Ja ich weiß. Aber es ist doch eigentlich ein ganz einfaches Verfahren“, warf Luzia nüchtern ein.

Zoe schlug spielerisch mit der Hand nach ihr. „Ach du wieder. Du siehst alles viel zu nüchtern. Wenn es so einfach ist, warum gibt es das dann erst seit…“

„…immerhin seit fünfundvierzig Jahren“, ergänzte Luzia.

„Und bis dahin wurden alle Bücher Mönchen mit der Hand abgeschrieben. Was für eine Arbeit.“

Luzia nickte. „Ja, ja. Du hast ja recht. Musste eben erst einer erfinden. Wirst sehen, noch mal fünfundvierzig Jahre weiter, da gibt es schon wieder ganz andere Maschinen. So wird das immer weitergehen. Und wer weiß, welche Länder die noch finden. Wie viel mag noch unentdeckt sein?“, fragte sie. Jetzt merkte man ihrer Stimme die Begeisterung an. Für die Entdecker dieser Welt wie diesen Columbus konnte sie sich eben mehr begeistern als für die beweglichen Lettern. „Das sind wirklich mutige Männer, nicht wahr?“

„Wer?“

„Na, die, die einfach über das Meer segeln in völlig unbekannte Gewässer. Nicht zu wissen, wie lange sie unterwegs sein werden, wann sie wieder Land sehen.“

„Und ob es Meerungeheuer gibt“, ergänzte Zoe.

Luzia nickte ernst.

„Und wenn sie endlich an Land gehen, ist das auch unbekannt.

Fremde Pflanzen, fremde Völker. Sie wissen nicht einmal, ob die Menschen freundlich oder feindlich sind.“ Luzia sprach begeistert und voller Bewunderung.

Zoe nickte nur versonnen.

Einen Moment lang schwiegen die beiden Mädchen. Jede hing ihren eigenen Träumen nach.

Auch Clara war eine Entdeckerin, dachte Luzia. Wie weit sie damals schon gekommen war. Bis nach Griechenland. Luzia verehrte ihre Vorfahrin sehr.

„Gehen wir jetzt zu Papa?“, fragte Zoe in ihre Gedanken hinein.

Luzia stöhnte auf. „Na gut, wenn dir so viel dran liegt, gehen wir eben.“

Sie liefen munter plaudernd durch die Stadt. Es waren viele Menschen unterwegs. Luzia mochte es, wenn in der Stadt ein lebhaftes Treiben herrschte. Sie kamen am Marktplatz vorbei und Luzia warf einen Blick auf die Stelle, wo vor über einer Woche der Ablassprediger gestanden hatte. Sie schüttelte sich, aber sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Es war ein unerfreuliches Zusammentreffen gewesen, mehr nicht.

Plötzlich regte sich wieder die kleine lästige Stimme in ihrem Inneren. Sie versuchte, sie vor den Tagebüchern zu warnen. Es waren gefährliche Schriften, die niemals bei ihr gefunden werden durften. Ach verdammt, warum bekam sie diese Grübeleien nicht aus dem Sinn! Sie konnte es ja zurzeit nicht ändern. Sie konnte schließlich nicht einfach nach Dringenberg fahren, um die Bücher in den Geheimgang zu bringen.

Betont fröhlich machte sie ihre Schwester Zoe auf Blumen aufmerksam, die aus dem lehmigen Boden der Straße wuchsen.

„Seltsam. Dass hier Blumen wachsen“, meinte Zoe verträumt.

„Die wachsen überall. Sogar in Felsen soll es Blumen geben“, meinte Luzia.

„Woher weißt du das?“

Luzia hob gleichmütig die Schultern. „Hab ich gelesen.“

Zoe staunte. Auch sie hatte lesen und schreiben gelernt, aber so belesen wie ihre Schwester war sie nicht. Wenn Luzia ein Mann wäre, könnte sie bestimmt sogar in Heidelberg oder Köln studieren. Und dann würde sie auf eine große Reise gehen und die Welt kennen lernen. Aber Mädchen waren solche Wege natürlich versperrt.

Sie konnten die Druckerei ihres Vaters schon sehen. Es war ein großes Gebäude mit schönem Fachwerk. Zoe hüpfte fröhlich darauf zu.

Luzia verdrehte die Augen, aber sie tat es ihrer Schwester gleich, obwohl sie einen Korb mit Obst am Arm trug. Es war so ein schöner Tag, da musste man einfach beschwingt und fröhlich sein.

Sie malte sich gerade aus, was der Vater und ihre älteren Brüder Anton und Stephan wohl zu der Überraschung sagen würden, wenn sie und Zoe plötzlich in der Druckerei auftauchten.

In dem Moment sah sie jemanden aus dem Haus kommen, der ihr vage bekannt vorkam. Das war nicht unbedingt so merkwürdig, schließlich kannte sie viele Menschen in Paderborn. Aber diese Gestalt verursachte ein ungutes Gefühl. Sie verengte die Augen zu kleinen Schlitzen, um den Mann genau und konzentriert ansehen zu können.

Gleich hinter ihm erschien der Vater in der Tür. Groß und breitschultrig, mit deutlich ergrauten und lichter werdenden Haaren.

Er sah hoch und seine grünen Augen trafen die seiner Töchter.

Doch er lachte ihnen nicht entgegen, wie er es normalerweise tat.

Im Gegenteil, seine Stirnfalten vertieften sich und er bekam einen besorgten Zug um den Mund. Luzia hatte das Gefühl, er schüttele sogar unmerklich den Kopf. Nein, kommt nicht näher. Aber Zoe registrierte die Geste überhaupt nicht und winkte sogar.

Der Fremde hob den Kopf. Über sein Gesicht flog das Erkennen.

Im selben Moment erkannte auch Luzia den Mann und sie erstarrte erschrocken in der Bewegung.

Es war der alte Mann vom Marktplatz. Der, der sie beim Fortgehen festgehalten und gedroht hatte, dass sie ewiger Verdammnis anheim fallen würde.

Ihr Vater bemerkte es und starrte verwundert von dem Fremden zu seinen Töchtern.

Zoe winkte ihm zu, aber er reagierte überhaupt nicht.

„Ah, die junge Frau von gestern“, begrüßte der Fremde Luzia.

Das Mädchen nickte ihm steif zu. Sie blieb weit genug entfernt von ihm stehen, damit er nicht wieder nach ihr greifen konnte. In seinen Augen war etwas Lauerndes, das ihr Angst machte.

Zoe war immer noch völlig arglos und lief auf ihren Vater zu.

Wieso bemerkt sie überhaupt nicht, dass etwas nicht stimmt, fragte sich Luzia.

„Papa, wir wollten dich überraschen!“, rief Zoe fröhlich.

„Wie schön, mein Kind“, antwortete der Vater und zog Zoe an seine Seite. Das Mädchen sah irritiert aus. Sie hatte Vaters Kunden natürlich begrüßen wollen. Das erforderte doch schon die Höflichkeit.

„Ihr kennt meine Tochter?“, fragte Wolfram an den Fremden gewandt.

„Oh nein, das würde ich nicht sagen. Ich sah sie gestern bei der Predigt auf dem Marktplatz. Sie und ein anderes Mädchen schwatzten respektlos miteinander, als würde sie ihr ewiges Seelenheil gar nicht interessieren. Und dann gingen sie sogar fort.

Bist du keine fromme Christin, Mädchen?“ Der schwarz gekleidete Mann starrte unentwegt Luzia an, während er dem Vater antwortete. Ihr lief es kalt über den Rücken. Der Mann war ihr unheimlich.

„Ich bin gottesfürchtig erzogen worden“, antwortete sie leise.

„Dann tue Buße, mein Kind. Geh zur Beichte und bereue deine Sünden.“

„Am besten in klingender Münze“, erwiderte der Vater scharf.

Luzia und Zoe blickten ihn beide überrascht an. Diesen Tonfall kannten sie kaum an ihm.

„Ihr gebt euer Geld für allerlei Tand aus. Haarschmuck und Gürtel. Dabei sollte doch das Seelenheil auch etwas wert sein.“

Er musterte Luzia ungeniert von oben bis unten. Sie trug einen hübschen Haarreif und einen breiten Gürtel um ihr rostbraunes Kleid.

Aber warum fühlte sie sich plötzlich so schlecht deswegen?

Wieder erhob Wolfram seine Stimme. „Ich denke, es ist alles gesagt, Pater.“

Zum ersten Mal, seit die Mädchen hier aufgetaucht waren, blickte der Schwarzgewandete zu Wolfram. „Ich verstehe!“, antwortete er konsterniert.

Sofort ging er in leicht gebeugter Haltung davon. Als er an Luzia vorüber ging, hob er seine Hand und berührte einen Moment ihre Schulter. Instinktiv schüttelte sie seine Hand ab, als verursache sie ihr Schmerzen. Der Vater kam schon angelaufen und zog Luzia zu sich.

Niemand sagte mehr ein Wort. Der fremde Pater blickte nur noch einmal eindringlich von einem zum anderen. Luzia hörte deutlich seine ungesagten Worte: „Tut Buße. Bereut! Sühnt!“

Plötzlich schüttelte es sie vor Grauen.

Der Vater zog sie und Zoe mit sich in die Druckerei und schlug die Tür hinter sich zu.

„Wer ist das?“, fragte Luzia.

„Das weißt du nicht?“, fragte der Vater verwirrt. „Ich hatte den Eindruck, dass du ihn kennst.“

„Nein. Er hat es doch gesagt. Er hat mich und Christine bei dem Ablassprediger gesehen. Er hat bemerkt, dass wir fort gingen und hat versucht, mich aufzuhalten. Aber er hat sich nicht vorgestellt.“

„Hat er dich angefasst?“

„Ja, er hat mich am Arm festgehalten. Aber dann hat er uns sofort gehen lassen. Ich dachte, er ist auch ein Zuhörer. Aber er ist mehr, nicht wahr? Du nanntest ihn Pater.“

„Ja, er heißt Pater Laurentius. Er ist ein sehr strenger Mann und ein Verfechter der Ablässe – und des Hexenhammers“, fügte Wolfram leiser hinzu.

Luzia und Zoe entfuhr beiden ein kleiner Schreckenslaut.

„Aber es war ein junger Mann, der die Rede gehalten hat.“

„Ja, ein junger Priester begleitet ihn auf seiner Glaubensreise, wie er es nennt. Pater Clewin. Du und Christine seid dem Alten aufgefallen, Luzia.“ Der Vater sagte das in einem merkwürdigen Ton, als wäre es eine Warnung vor drohendem Unheil.

„Ja, weil wir nicht angstvoll und ehrfürchtig der Predigt zugehört haben. Tut mir leid“, erwiderte sie kleinlaut.

„Das ist eine ernste Angelegenheit, Luzia.“

„Ach Vater, die sind ein paar Tage lang hier und ziehen dann weiter. Das kann uns doch gleichgültig sein, was er von mir denkt.“

Wolfram schüttelte den Kopf. „Solche Menschen sind gefährlich.

Wenn sie Gegner ihrer Lehre wittern, sind sie auch bereit, diese zu vernichten.“

Das klang so grausig, dass es sie schüttelte. Sie nickte etwas kleinlaut. Ja, Vater hatte schon recht. Man musste vorsichtig sein.

„Was wollte er denn hier?“, fragte jetzt Zoe.

„Er wollte, dass ich Ablassbriefe drucke und ich habe es abgelehnt. Wenn ich allerdings geahnt hätte, dass du, Luzia, ihm schon aufgefallen bist, hätte ich nicht noch Öl ins Feuer gegossen.“

„Dann hättest du die Briefe gedruckt, obwohl du das Kaufen dieser Briefe ablehnst?“

„Ja, vielleicht.“

„Aber das wäre falsch!“, rief Luzia leidenschaftlich aus.

Wolfram nickte bedächtig. „Aber sich dagegen aufzulehnen, ist gefährlich und ich bin nicht bereit, uns alle in Gefahr zu bringen.“

Sie schwiegen alle drei. Dann erhob wieder der Vater das Wort:

„Wir müssen die Schriften von dieser Clara vernichten. Wir haben schon oft darüber gesprochen, aber jetzt müssen wir ernst machen.“

„Nein!“, entfuhr es Luzia bestürzt.

„Luzia, die Schriften sind gefährlich.“

„Aber es weiß doch keiner davon. Sie sind gut versteckt.“

Na ja, so ein sicheres Versteck ist meine Kleidertruhe eigentlich nicht, dachte sie dabei.

„Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.“ Der Vater strich sich nachdenklich über das Kinn.

Luzia fiel ihr eigenes merkwürdiges Gefühl ein. Diese innere Stimme, die sich auch um Claras Tagebücher drehte.

„Dann lass sie uns fortschaffen. Sie gehören in den Geheimgang, den Clara beschrieben hat“, schlug Luzia vor.

„Nach Dringenberg?“

Luzia nickte ernst. „Ja.“

„Mmm.“ Der Vater wirkte sehr nachdenklich und besorgt.

Einer seiner Mitarbeiter kam auf ihn zu und verwickelte ihn in ein kurzes Gespräch.

Dann wandte Wolfram sich wieder an seine Töchter. „Vielleicht hast du sogar recht. Lass uns später darüber reden. Ich muss mich um ein Problem in der Druckerei kümmern. Geht jetzt nach Hause.“

„Ach Vater, wir dachten, du begleitest uns“, murrte Zoe.

Der Vater beugte sich ein wenig zu ihr herab und schaute ihr direkt in die Augen. „Das würde ich gerne. Aber es gibt da dieses Problem“, erklärte er.

Zoe zog einen Schmollmund. „Na ja…“

„Es wird noch ein paar Stunden dauern.“

„Na gut“, gab sie widerwillig nach.

Wolfram folgte seinem jungen Mitarbeiter und Luzia zog Zoe mit sich aus dem Gebäude heraus.

Nur wenige Schritte von der Druckerei entfernt, stand noch immer der alte Pater und starrte sie an.

„Habt Ihr auf uns gewartet?“, fragte Luzia ängstlich.

„Aber ja. Du bist das verlorene Schaf, das ich retten werde.“

„Ich bin kein verlorenes Schaf“, erwiderte sie so fest sie konnte.

„Dann geh zur Beichte.“

Er ist verrückt, dachte Luzia. Vollkommen irre.

Zoe bekam große Augen. Sie fürchtete sich. Vater hat recht, dachte sie. Die Schriften müssen dringend aus dem Haus. Und vielleicht auch sie selbst und Luzia, solange der Pater in der Stadt war. Warum mussten ihre Schwester und Christine nur immer wieder durch ihr Benehmen auffallen? Sie hätten wissen müssen, dass man bei einer Predigt nicht schwatzt.

„Komm Zoe!“, befahl Luzia unvermittelt. Und dann begann sie zu rennen. Fluchtartig. Zoe lief hinterher. Die Mädchen rannten durch die Gassen, um Häuserblocks herum, schlugen Haken so schnell sie konnten.

Endlich blieben sie außer Atem stehen.

„Ist er fort?“, fragte Luzia atemlos.

Zoe sah sich nach allen Seiten um. „Ja, er ist uns nicht gefolgt.“

„Gott sei Dank!“, brachte Luzia hervor. „Dann komm, lass uns heimgehen.“

Erst jetzt fiel Luzia auf, dass sie den Korb mit Obst auf ihrer Flucht verloren hatten.

Kapitel 2

Der Besucher

Cordula bereitete das Abendessen vor. Sie hoffte, Luzia und Zoe würden pünktlich zurück sein, ebenso wie ihr Mann Wolfram und die beiden erwachsenen Söhne Anton und Stephan. Der zehnjährige Frieder feuerte gerade schon den Ofen an, damit die Mutter kochen konnte.

„Ich muss noch ein bisschen Holz holen“, rief er und lief auch schon nach draußen.

Kaum war er vor der Tür, bemerkte er einen Fremden zu Pferd, der sich dem Haus näherte. Deshalb passte Frieder für einen Moment nicht auf, stolperte, schlug mit seinem nackten Fuß an das aufgestapelte Holz. Er schrie auf.

Der Fremde sprang von seinem Pferd und stürzte sofort zu ihm.

„Hast du dir wehgetan?“, fragte er.

„Ja.“

Im gleichen Moment kam Cordula aus dem Haus gerannt. Sie nahm alles gleichzeitig wahr. Sah einen Fremden, der sich über ihren Sohn beugte, bemerkte die Wunde des Jungen am Fuß. Sie rannte zu ihm.

„Was ist hier los?“, fragte sie mit einer Mischung aus Verärgerung und Verwirrung.“

„Ich habe mir den Fuß angestoßen. Er blutet.“

Cordula drängte den Fremden zur Seite und untersuchte den Fuß ihres Sohnes. „Da hast du dir einen richtigen Schnitt zugezogen.

Das sieht nicht gut aus. Komm rein, wir müssen das mit Kamille baden.“

Frieder nickte.

Dann erst blickte Cordula zu dem Fremden auf. Sie kannte ihn nicht. „Wer bist du? Und was willst du hier?“, fragte sie etwas schroff. Man konnte ja nie wissen, ob ein fremder Mann einem wohlgesonnen war oder vielleicht Übles im Sinn hatte.

„Verzeihung, mein Name ist Georg Gruner. Bist du Cordula Spengler?“

Sie nickte sacht.

Ein freundliches Lächeln flog über sein Gesicht. „Dann bin ich hier richtig. Ich komme aus Dringenberg im Auftrag deiner Nichte Gisela. Sie wird bald heiraten und ich wurde beauftragt, eure Familie zu ihrer Hochzeit einzuladen.“

„Gisela heiratet?“, wiederholte Cordula. Wieso überraschte sie das eigentlich so? Die Tochter ihrer Schwester war siebzehn Jahre alt, also durchaus im heiratsfähigen Alter. Ihre eigene Schwester Margaretha hatte einen Mann aus Dringenberg geheiratet und war so in das Dorf, in dem ihre Mutter aufgewachsen war, zurückgekehrt. Aber Margaretha war schon seit vielen Jahren tot. Sie hatte einem Sohn das Leben geschenkt und dann Gisela, bei deren Geburt sie gestorben war.

Ach, wie lange war das alles schon vorüber. Dabei kam es Cordula vor, als hätte sie selbst gerade noch mit ihrer Schwester gespielt und wäre durch die Straßen von Paderborn gestreift so wie ihre Töchter es heute so liebten.

In ihrer Fantasie sah sie Gisela und Luzia als kleine Mädchen miteinander spielen.

Im nächsten Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es auch für Luzia an der Zeit wäre, zu heiraten. Ihre Tochter wäre vermutlich nicht erfreut über solche Pläne. Aber es wurde wirklich Zeit. Sie sollte mit Wolfram darüber sprechen.

„Sie heiratet meinen Bruder Rupert“, ergänzte Georg, als er das Gefühl hatte, Cordula hatte ihn vollkommen vergessen.

Tatsächlich erwachte sie aus ihrem kurzen Tagtraum. „Komm mit herein. Aber zuerst muss ich mich um die Wunde meines Sohnes kümmern. Meine Tochter Luzia ist gerade nicht hier, sie wird sich sicher am meisten über die Einladung freuen. Sie und Gisela waren immer gute Freundinnen. Wir haben uns alle lange nicht gesehen. Ach, wir haben alle immer so viel zu tun, dass wir kaum dazu kommen, Verwandte in Dringenberg zu besuchen. Obwohl die Reise gar nicht so weit ist.“

Georg folgte ihr ins Haus und setzte sich auf einen der Stühle, während Cordula Wasser auf den Herd stellte, um es zu erwärmen und Kamillenblüten hineinzutun.

„Ach, wir brauchen ja immer noch Holz“, seufzte sie. „Deswegen war Frieder ja draußen.“

Sie wollte gerade hinausgehen, als Georg aufsprang. „Ich hole welches“, bot er an.

„Oh, das ist nett. Danke.“

Als Luzia und Zoe nach Hause kamen, erlebten sie eine Überraschung. In der Küche saß ein fremder junger Mann vor einem Krug Bier.

Im Lehnstuhl auf der anderen Seite des Zimmers saß ihr kleiner Bruder Frieder und badete seinen Fuß.

Luzia blickte fragend von einem zum anderen, während Zoes Blick an Frieder hängen blieb.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie.

„Er hat sich draußen den Fuß so unglücklich an einem Stück Holz gestoßen, dass er sich einen richtigen Schnitt zugezogen hat. Wir baden ihn in Kamille, damit sich die Wunde nicht entzündet“,

erklärte die Mutter an Frieders Stelle.

Luzia betrachtete den Fremden. Ihr fiel durchaus auf, dass er nicht schlecht aussah. Sie war vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden und hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie ein attraktiver Mann auszusehen hatte – obwohl Attraktivität bei einem Mann wirklich nicht wichtig war. Aber dieser war groß - das konnte sie erkennen, obwohl er am Tisch saß - und hatte einen muskulösen Körperbau. Er war blond und hatte leuchtend blaue Augen.

„Das ist Georg Gruner aus Dringenberg“, erklärte die Mutter, als sie Luzias verdutzten Gesichtsausdruck bemerkte. „Er bringt Neuigkeiten aus Dringenberg. Eure Cousine Gisela heiratet und möchte, dass ihr oder wir alle bei dem Fest dabei sind.“

Luzia und Zoe bekamen große Augen. „Aber das ist ja wundervoll“, freute sich Luzia. „Eine Hochzeit.“

Zoe und sie fassten sich an den Händen und tanzten im Zimmer herum, als wären sie wieder kleine Mädchen.

Die Mutter sah ihnen teils amüsiert, teils verständnislos zu. Nach einer Weile beendete sie den unkontrollierten, etwas kindischen Gefühlsausbruch. „Schluss jetzt. Ihr benehmt euch ja wie Kleinkinder. Dabei fällt mir übrigens ein, dass wir allmählich auch über deine Hochzeit nachdenken sollten, Luzia. Du bist wirklich alt genug.“

„Was?“, fragte Luzia erschrocken, obwohl sie genau verstanden hatte. Von dem Thema wollte sie einfach noch nichts hören. Die Männer hatten es eindeutig besser. Ihre Brüder waren einundzwanzig und neunzehn Jahre alt und niemand hetzte sie zur Hochzeit. Aber das war eben das Problem, dass Frauen nicht allein leben konnten. Sie brauchten einerseits den Schutz des Mannes, aber sie durften auch kein eigenes Vermögen oder ein Haus besitzen. Wovon sollten sie also leben, wenn sie allein waren? Die einzige Alternative bestand darin, ins Kloster zu gehen.

„Zeig mal deinen Fuß“, sagte Luzia zu Frieder. Das lenkte vom Thema ab und auch von dem hübschen Fremden. Außerdem wollte sie eine eventuelle Hochzeit nicht vor dem Mann diskutieren. Was ging es ihn an?

Frieder hob gehorsam den Fuß aus der Wanne und Luzia verzog das Gesicht. „Oh weh. Das sieht wirklich nicht gut aus. Hat bestimmt wehgetan?“

Frieder nickte.

„Ich hoffe, es heilt gut. Sonst müssen wir morgen die alte Elsbeth holen.“

Elsbeth war eine Kräuterfrau, die die Familie schon oft kontaktiert hatte. Sie hatte die besten Salben und Tinkturen, um Wunden zu heilen, Schmerzen zu lindern oder Husten zu stillen.

Aber auch Elsbeth hatte Angst in diesen Zeiten. Sie besuchte nur noch sehr ausgewählte Menschen, von denen sie glaubte, ihnen absolut vertrauen zu können. Die Familie des Druckers Wolfram waren solche Menschen.

Luzia erinnerte sich plötzlich an die Salbe, die Clara in ihrem Buch beschrieben hatte. Wie war das noch genau? Sie dachte angestrengt nach.

„Zoe“, flüsterte sie ihrer Schwester zu. „Kannst du mal kurz mit rauskommen?“

Zoe nickte und folgte ihrer Schwester. Vor der Haustür fragte Luzia: „Kannst du dich noch erinnern, wie die Rezeptur für die Salbe von unserer Ahnin Clara war? Du hast das Buch doch auch gelesen. Sie hatte eine gute Heilsalbe.“

„Ja, stimmt. Mal überlegen… Wir brauchen, glaube ich, Speck und Wachs.“ Zoe verzog den Mund. „Schon etwas merkwürdig.“

„Ja, aber das stimmt. Und dann Eigelb. Und irgendein Öl.“

„Sonnenblumenöl?“

„Nein. Johanniskraut. Ja, genau. Das war es.“

„Du hast recht. Johanniskrautöl. Das heilt, nicht wahr?“

„Genau. Na dann los. Bereiten wir die Salbe zu.“

„Bis du sicher? Meinst du, wir können das?“, fragte Zoe zweifelnd.

„Ach, was soll schon schief gehen. Wir haben alles im Haus.

Hoffe ich.“

„Johanniskrautöl auch?“

„Ja. Weißt du nicht mehr? Elsbeth hat es Mutter gegen Bauchschmerzen gegeben. Und sie hat sogar gesagt, dass sie es auch benutzen kann, wenn jemand eine Wunde hat. Vermutlich denkt Mutter jetzt nur nicht daran.“

Sofort suchten die Schwestern alle Zutaten zusammen und begannen mit der Herstellung von Claras Salbe.