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Im Jahr 1326 leben Clara und Gabriel in Griechenland bei Gabriels Familie. Odilia ist sehr glücklich darüber und auch Clara genießt das Leben am Meer. Sie kommt zur Ruhe und ist vor Anfeindungen und Verfolgungen sicher. Doch für immer will Clara trotzdem nicht bleiben. Im Juni 1326 brechen sie und Gabriel wieder auf und kehren nach Deutschland zurück. Ihr erstes Ziel ist die Burg Wiesenstein, das Zuhause von Claras ehemaligem Weggefährten Luzius. Durch ihre Hellsichtigkeit kann Clara den Überfall auf die Burg durch Luzius’ Onkel Martin verhindern. Als sie nach Dringenberg zurückkehrt, sieht sie sich alten und neuen Feinden gegenüber und auch gegen Gerüchte, dass sie eine Hexe ist, muss sie sich erneut wehren. Doch auch auf Wiesenstein hat sie sich Feinde gemacht, die jetzt Intrigen gegen sie spinnen. Clara und Gabriel geraten in große Gefahr und müssen schließlich sogar um ihr Leben fürchten. Die Zeit der Rückkehr ist das 3. Buch der Reihe "Die Hexenschülerin." Die spannende Geschichte versetzt die Leser und Leserinnen in eine längst vergangene Zeit voller Vorurteile und Aberglauben. Sie ist für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren geeignet und für Erwachsene, die gerne in andere Zeiten eintauchen.
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Seitenzahl: 341
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Prolog Nick und Carolin
Kapitel 1 Aglaia
Kapitel 2 Veränderungen
Kapitel 3 Ankunft auf Burg Wiesenstein
Kapitel 4 Wiedersehen mit Freunden
Kapitel 5 Auftritt der Gaukler
Kapitel 6 Blancas Verrat
Kapitel 7 Die letzten Tage des Jahres
Kapitel 8 Zwischenfall am Brunnen
Kapitel 9 Gerüchte
Kapitel 10 Aufbruch
Kapitel 11 Rückkehr
Kapitel 12 Das Hexenhaus
Kapitel 13 Beatrix
Kapitel 14 Zwei Besucher
Kapitel 15 Bedrohung in Wiesenstein
Kapitel 16 Befreiung
Kapitel 17 Die Lage beruhigt sich
Kapitel 18 Leben in Paderborn
Kapitel 19 Rachegedanken
Kapitel 20 Rachezug
Kapitel 21 Ida
Kapitel 22 Mit Fackeln und Schwertern
Kapitel 23 Das Ende des Schreckens
Kapitel 24 Alles ändert sich
Epilog Nick und Carolin
Danke…
Wahrheit oder Erfindung?
Personen
Dringenberg, 1988
Carolin Hardes
hat Claras ersten Schriften gefunden
Nick Hardes
Carolins Bruder
Deren Eltern
Im Mittelalter
Clara
hellsichtige junge Frau
Gabriel
Claras Ehemann
Hund Flocke
Dorothea
Claras Mutter
Vinzenz
Claras Vater, ein Schmied
Adrian
Claras Bruder, Kunstschmied
Juliana
Adrians Ehefrau
Uta
Claras Schwester
Matthias
Claras Bruder
Odilia
Gabriels Mutter, eine Heilerin
Reinmar
Odilias Ehemann
Felix
Odilias Sohn und Gabriels Bruder
Hündin Selene, Hund Kobold
Aglaia
griechische Heilerin
Luzius
Herr von Burg Wiesenstein
Adelaide
Luzius Ehefrau
Ekkehard
Adelaides Vater, Ratsherr in Würzburg
Helene
Adelaides Mutter
Erhard, Clemens
Adelaides Brüder
Blanca
zeitweise Erhards Verlobte
Bernardo
Chef einer Gauklertruppe
Dietrich
Wachposten auf Luzius Burg
Dringenberg:
Jakob
junger Schmied in Vinzenz Schmiede
Paul
Junge aus Dringenberg
Beatrix
Claras Freundin
Friedhelm
Beatrix Ehemann, Schuhmacher
Herrmann
Maurermeister und Bürgermeister
Johanna
Herrmanns Ehefrau
Pater Anselm
neuer Priester im Dorf
Ida
neue Heilerin
Albert
neuer Bader
Hildebrand
ein Stadtrat
Conrad
Stadtrichter von Dringenberg
Bechtold
Zimmermann, Friedhelms Anhänger
Hubert
Dachdecker, Friedhelms Anhänger
Wilfried und Otmar
Bauern, Friedhelms Anhänger
Händlerfamilie:
Leonard
Oberhaupt der Kaufmannsfamilie
Mechthild
Leonards Ehefrau
Elisabeth
Leonards und Mechthilds Tochter
Walter
ihr Sohn, getötet bei einem Überfall
Ulrich
ihr Sohn
Robert
ihr jüngster Sohn
Karl
Leonards Bruder, getötet bei Überfall
Adelheid
Karls Ehefrau, verstorben
Norbert
Karls Sohn, lebt bei Leonards Familie
Bertram
Leonards Bruder
Roswitha
Bertrams Ehefrau
Susanne
Bertrams und Roswithas Tochter
Theresa
Bertrams und Roswithas Tochter
Im Jahr 1984 fanden Carolin und Nick bei der Renovierung der Burg Dringenberg alte Schriftstücke. Es stellte sich heraus, dass sie zur Zeit der Gründung von dem Mädchen Clara, der Tochter des Schmieds, geschrieben wurden. Und so tauchten Carolin und Nick in eine längst vergangene Welt ein:
Clara und ihre Familie zogen von der kleinen Siedlung Tryngen in das neue Dorf auf dem Berg, das Bischof Bernhard um seine Burg herum errichten ließ. Die Menschen der umliegenden Ortschaften folgten gerne der Aufforderung des Bischofs, in das Dorf umzusiedeln. Hier waren sie vor Angriffen von Räuberbanden sicher.
Doch Clara hütete ein gefährliches Geheimnis. Sie war hellsichtig und erlebte in Träumen oder plötzlichen Bildern die Zukunft. Dadurch konnte sie der geheimnisvollen Odilia und ihrer Familie, die in den Wäldern fast erfroren wären, das Leben retten.
In dem neuen Bergdorf zog die geheimnisvolle Odilia, die lange Zeit in Griechenland gelebt hatte, Clara in ihren Bann. Sie hatte auf verschiedenen Reisen viel über Heilkunst, über fremde Kulturen und Religionen gelernt. Darüber sprach sie sehr offen. Die Menschen suchten ihre Hilfe, weil sie eine gute Heilerin war, aber sie fürchteten sie auch.
Odilia unterrichtete Clara und ihren Bruder Adrian im Lesen und Schreiben.
Clara verliebte sich in deren Sohn Gabriel. Doch Odilia geriet bald in den Verdacht, eine Hexe zu sein. Als einer ihrer Patienten starb, wurde sie verhaftet. Man warf ihr vor, den Mann verhext zu haben.
Clara konnte in der Zwischenzeit durch ihre Hellsichtigkeit dem Stadtgründer Bischof Bernhard das Leben retten. Als Dank erfüllte er ihre Bitte und setzte sich für Odilias Freilassung ein. Doch sie musste mit ihrer Familie weiterziehen.
Als der Pöbel, dem sogar Claras Großmutter folgte, Odilia am Fest von Maria Himmelfahrt erneut gefangen nehmen wollte, hatte sie Dringenberg bereits verlassen. Deshalb griffen sich die Fanatiker Clara - die Hexenschülerin - und trieben sie zum Marktplatz, um sie dort an den Pranger zu stellen. Adrian holte den Priester der Burg zu Hilfe, der gerade noch im richtigen Moment eingreifen konnte, um Clara zu retten.
Nach diesem Erlebnis wollte Clara nicht länger im Dorf leben und blieb auf der Burg. Dort begann sie, alle Erlebnisse aufzuschreiben.
Im Herbst 1323 lebte Clara wieder bei ihrer Familie. Sie plante, mit dem Händlerzug ihr Heimatdorf zu verlassen und die Welt kennen zu lernen. Sie wollte ihre Erlebnisse aufschreiben, wie es auch Odilia getan hatte. Doch dann brach eine schlimme Fieberkrankheit im Dorf aus und Clara wurde wegen ihrer Heilkunst gebraucht. Als sowohl die alte Heilerin als auch der Medicus an dieser Krankheit starben, blieb sie selbst schweren Herzens im Dorf.
Doch ihr Leben geriet aus den Fugen. Ihre Eltern wollten sie mit dem Schuster Friedhelm verheiraten. Aber Clara spürte, dass ihr von ihm Gefahr drohte.
Außerdem kam ein neuer Medicus ins Dorf, der Clara der Hexerei beschuldigte
Im Februar 1324 musste sie aus Dringenberg fliehen. Ihr Bruder Adrian half ihr, nach Paderborn zu kommen, wo der Händlerzug sein Winterlager hatte.
Die Händler nahmen Clara freundlich auf und ein paar Wochen später verließ sie gemeinsam mit dem Tross Paderborn.
Adrian entschloss sich, in Paderborn zu bleiben und bei einem Kunstschmied in die Lehre zu gehen.
Gleichzeitig verließ Gabriel in München gegen den Rat seiner Mutter Odilia seine Familie, um zurück nach Dringenberg zu gehen. Er wollte Clara wieder sehen, in die er sich verliebt hatte und die er einfach nicht vergessen konnte. Um nicht alleine reisen zu müssen, schloss er sich einem fahrenden Bader an. Doch vor ihm lag ein gefahrvoller Weg.
Auch Clara hatte große Gefahren zu überstehen.
In Bielefeld nahmen die Händler den jungen Dieb Luzius in ihrer Gruppe auf, um ihn vor einer schlimmen Bestrafung zu bewahren. Doch Luzius hütete ein Geheimnis.
Kurz vor Marburg wurde der Händlerzug überfallen, während Clara, die Händlertochter Elisabeth und deren kleiner Bruder in der Stadt waren, um Vorräte zu besorgen. Luzius erwies sich als begabter Kämpfer, der die Räuber in die Flucht schlug, jedoch wurden zwei Mitglieder des Trosses getötet.
Nachdem die Toten in Marburg beerdigt worden waren, zog Luzius mit Clara und Elisabeth weiter Richtung Süden, während Elisabeths Eltern und die Kinder wieder in ihre Heimat Paderborn zurückgingen.
Luzius berichtete ihnen sein Geheimnis – dass er ein reicher Rittersohn war, dessen Burg in der Nähe von Würzburg bereits vor einigen Jahren von seinem Onkel überfallen worden war und noch immer besetzt war. Er befürchtete, dass die Räuber von seinem Onkel für den Überfall bezahlt worden waren, um ihn, Luzius zu töten. Clara reagierte verärgert, dass Luzius sie aufgrund seines Geheimnisses so sehr in Gefahr gebracht hatte.
In Würzburg wurden sie von Freunden Luzius’ – einer reichen Ratsherrenfamilie – aufgenommen. In diesem Haus wurde zur gleichen Zeit auch Gabriel gesund gepflegt, der in Würzburg an hohem Fieber erkrankt war. So fanden die Beiden sich tatsächlich wieder.
Nach Gabriels Genesung machten er und Clara sich gemeinsam auf den Weg zu Gabriels Familie nach Griechenland. Denn dorthin wollte Odilia unbedingt zurückkehren.
Für alle,
die mutig genug sind,
auch für andere zu kämpfen
Carolin blätterte durch das Ringbuch, das aus den Aufzeichnungen des Mädchens Clara entstanden war. Es war jetzt schon das dritte Buch. Man hatte in dem Geheimgang von Odilia noch weitere Aufzeichnungen gefunden. Darunter befand sich auch ein Portrait. Es hatte zusammengerollt so viele Jahre dort gelegen, dass man es nur mit äußerster Vorsicht hatte bergen können. Es war nicht möglich, es auseinanderzurollen, ohne es zuvor speziell behandelt zu haben, damit es nicht sofort zerfiel. Die sechzehnjährige Carolin wusste nicht, wie das funktionierte, aber die Menschen, die mit diesen Fundschätzen umgingen, hatten das ja studiert.
Es war inzwischen klar, dass dieses Bild das Mädchen Clara zeigte. Sie hatte es in Griechenland zeichnen lassen. In diesem Buch war natürlich nur eine Kopie des Portraits. Das Original würde demnächst in dem neuen Museum aufgehängt werden, das in der Burg entstehen sollte.
Carolin blätterte ganz langsam weiter. Sie wollte den Moment hinauszögern, in dem sie selbst das Portrait zum ersten Mal sah. Sie war ganz aufgeregt. Und sie verstand überhaupt nicht, warum. Noch eine Seite – dann erschien DIN-A-4 groß, vergilbt, mit verblassten Farben, das Portrait eines Mädchens. Sie saß auf einem Felsen, die Wellen des Meeres hinter sich.
Carolin starrte darauf, als hätte sie einen Geist gesehen.
„Erschreckt?“, fragte nach einer Weile eine Stimme an der Tür. „Oder einfach überrascht?“
Carolin wirbelte herum. Ihr Vater stand in der offenen Zimmertür.
Jetzt trat er näher und setzte sich neben sie.
„Sie – sie sieht ja aus wie ich“, stammelte sie.
„Ja. Das ist mir auch sofort aufgefallen.“
„Und du hast mir nichts gesagt?“
Er hob die Schultern. „Was hätte ich sagen sollen? He übrigens, Clara sieht dir ziemlich ähnlich? Das klang so nichtssagend. Du musstest es selbst sehen.“
Carolin starrte wieder auf das verblichene Bild auf dem Tisch vor ihr. „Ja, du hast recht. Das hätte nicht ausgesagt, wie ähnlich sie mir wirklich sieht. Oder besser – ich ihr. Mein Gott, ich fühle mich ihr doch sowieso schon so verbunden.“
Der Vater legte ihr die Hand auf die Schulter. „Carolin, jetzt steigere dich nicht in etwas hinein. Das ist auch ein Grund, warum ich nichts gesagt habe. Du hast zuviel Fantasie, du beschäftigst dich viel zu viel mit solchen Dingen. Ich hätte es dir am liebsten gar nicht gezeigt.“
„Aber das stimmt doch nicht. Ich hatte schon oft recht mit solchen Gefühlen.“ Sie wollte nicht Ahnungen sagen.
„Das stimmt!“, meinte Nick. Carolins fast achtzehnjähriger Bruder hatte gerade den Raum betreten. Er blickte seiner Schwester über die Schulter und starrte auf das Bild des Mädchens.
„Wo hast du denn das Foto her?“, fragte er. „Klasse, so auf alt gemacht.“
Weder Carolin noch Herr Hardes verstanden im ersten Moment, was Nick meinte. Dann entfuhr es Carolin: „Oh Mensch Nick, das bin doch nicht ich. Das ist Clara.“
Nick starrte auf das Bild. Fassungslos. „Clara aus dem Mittelalter?“, fragte er etwas begriffsstutzig.
„Genau die. Kannst den Mund ruhig wieder schließen“, meinte Herr Hardes.
„Die sieht genau so aus wie Caro.“
„Was du nicht sagst. Das haben wir auch schon bemerkt. Und jetzt ist es gut. Lasst uns lieber lesen, was sie weiter erlebt hat. Solche Ähnlichkeiten gibt es eben. Ist nichts Besonderes.“
Die Geschwister schauten sich entgeistert an. Sie dachten beide dasselbe. Nichts Besonderes? Die Mädchen könnten Zwillinge sein.
„Ja, eigentlich sogar logisch, dass es so was gibt!“, redete Herr Hardes betont munter weiter. „Jeder Mensch hat zwei Augen, Nase, Mund, Ohren… da müssen sich doch einfach mal einige ähnlich sehen. Ich wundere mich viel mehr, dass sich nicht viel mehr Leute ähnlich sehen. So, wo ist eigentlich Mama?“
„Shoppen mit irgendeiner Freundin.“
„Na dann – wollen wir anfangen, zu lesen?“
Die beiden nickten. Sie konnten unmöglich auf Mama warten. Sie waren viel zu neugierig. Mama konnte ja den Teil, den sie schaffen würden, heute Abend nachlesen.
Clara saß auf der weißen Bank vor dem Haus, das sie auf der kleinen griechischen Insel Thassos im Norden Griechenlands mit Gabriel und seiner Familie teilte. Das kleine Hündchen Flocke lag entspannt neben ihr, seinen Kopf auf ihren Schoß gebettet. Wie von selbst begann sie, das weiche Fell zu streicheln, während ihr Blick in die Ferne schweifte.
Das Haus lag auf einem Hügel. Von hier konnte Clara über den kleinen Ort mit seinen Bruchsteinhäusern und über das dahinter liegende Meer blicken. Dieses endlose weite Meer, das mehr Macht und Gewalt verströmte als alles, was Clara bisher gesehen hatte.
Sie liebte diesen Ausblick. Und sie liebte das Meer.
Kurz vor Weihnachten 1324 waren Gabriel und sie zusammen mit Flocke hier angekommen. Odilia hatte sie mit offenen Armen aufgenommen. Sie war sehr überrascht und überglücklich, als sie ihren Sohn und ihre ehemalige Schülerin sah. Sie hatte nicht erwartet, die beiden in diesem Leben noch einmal wieder zu sehen.
Alle lebten sich schnell ein.
Auch Flocke hatte viel Spaß mit Odilias beiden Hunden. Immerhin war Selene Flockes Mutter und Kobold sein Bruder. Clara hatte vor einigen Jahren dabei geholfen, die beiden kleinen Hündchen aufzuziehen. Sie waren nach ihrer Geburt sehr schwach gewesen und wären fast gestorben. Flocke war danach bei Clara geblieben, während Odilia Kobold behalten hatte.
Inzwischen war Clara fünfzehn Jahre alt. Sie war relativ klein und zart von Gestalt, aber ihre Figur hatte eindeutig weibliche Formen angenommen. Ihr rotes Haar fiel offen über ihre Schulter und den Rücken herab bis zur Taille. Normalerweise flocht sie ihre Haare zu einem Zopf, aber sie liebte es, wenn der leichte Wind hindurch strich und sie wehen ließ.
In ihren grünen Augen lag die Neugier auf die ganze Welt, auf das Leben, auf die Zukunft.
Hier auf Thassos kam ihre Seele zur Ruhe.
Clara war eine Verfolgte gewesen, als sie vor einem Jahr aus Dringenberg geflohen war. Hier war sie willkommen. Hier galt sie nicht als Hexe. Ihre Angst verschwand.
Sie wünschte nur, sie könnte ihrer Familie eine Nachricht senden und sie wissen lassen, dass es ihr gut ging.
Aber eines Tages würde sie sie wieder sehen. Da war Clara ganz sicher. Sie würden nicht für ewig hier leben. Sie war nur hier, um zur Ruhe zu kommen. Um ihre Seele zu stärken. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, aber sie würde zurückkehren, wenn sie das Zeichen zum Aufbruch erhalten würde.
Ein Jahr nach ihrer Ankunft auf Thassos, kurz nach Weihnachten 1325, hatten Gabriel und Clara, im orthodoxen Glauben geheiratet. Es war eine christliche Religion, das hatte Clara ja schon früher von Odilia gelernt.
Im Stillen hoffte sie, bald ein Baby zu bekommen. Sie wusste, es würde Odilia viel bedeuten, ihr erstes Enkelkind in den Armen zu halten, bevor Gabriel und Clara sie wieder verließen. Denn auch Odilia war nur allzu bewusst, dass die Beiden nicht für ewig hier leben würden.
Clara dachte auch oft an Endres und Konrad, die beiden Würzburger, die sie und Gabriel aus reiner Abenteuerlust begleitet hatten. Die Beiden hatten sie verlassen, als sie vom Festland auf die kleine Insel übersetzten. Was wohl aus ihnen geworden war? Wohin waren sie wohl weitergereist?
Diesen Träumereien konnte sie am intensivsten nachhängen, wenn sie hier alleine saß und über das Meer blickte.
Plötzlich veränderte sich das Bild vor ihren Augen, obwohl sie unverändert über die Dächer des Ortes blickte und den dahinter liegenden ruhigen Ozean.
Vor ihrem geistigen Auge spielte sich eine andere Szene ab, so deutlich, als würde sie tatsächlich hier vor ihr stattfinden. Sie sah Felix, Gabriels vierzehnjährigen Bruder über die Felsen klettern, die schroff zum Strand hin abfielen. Felix war ein guter Kletterer und nicht zum ersten Mal dort unterwegs. Es war sein Lieblingsort. Oft war er dort mit seinen griechischen Freunden. Aber jetzt war er allein.
Clara sah, wie sein Fuß auf einem Gesteinsbrocken ausrutschte.
Er versuchte, wieder Halt zu finden, doch er hatte sein Gleichgewicht verloren. Clara sah deutlich den Schrecken in seinen Augen, als er stürzte.
Sie sprang von ihrer Bank auf.
Flocke erschrak und begann zu bellen.
„Gabriel!“, schrie Clara „Odilia! Reinmar!“
„Was ist los?“ Odilia kam als erste angelaufen. Sie war ganz aufgeregt. Claras Ton klang so alarmierend.
„Wir müssen zu Felix. Er hatte einen Unfall.“
„Oh mein Gott!“, schrie Odilia auf. Sie fragte nicht, warum Clara das wusste, sie kannte ja Claras Gabe der Hellsichtigkeit und vertraute darauf. Keinen Moment zögerte sie. Sie rief laut nach Gabriel und ihrem Mann Reinmar, die Claras Rufe noch nicht gehört hatten.
„Schnell! Wir müssen Felix suchen!“, rief sie, als die Beiden näher kamen.
„Warum? Was ist denn los?“, fragte Reinmar verwundert.
„Es ist etwas passiert. Schnell!“
Und sie folgten Clara in blindem Vertrauen auf ihre Gabe.
Flocke sah ihnen irritiert nach. Einen Moment schien er zu überlegen, ob er den Menschen folgen sollte. Dann aber entschied er sich, sich doch lieber zu Selene und Kobold in den Schatten zu legen.
Felix lag bewusstlos am Fuße der Felsen direkt am Strand. Das heranströmende Wasser umspülte seine Beine. Er war nicht in Gefahr zu ertrinken, aber sein Bein war merkwürdig verdreht und aus einer Wunde blutete es unaufhörlich. Die Wunde war groß, er hatte sich das Bein offenbar an einem spitzen Felsen aufgerissen.
Odilia stürzte zu ihm. „Das Bein ist gebrochen“, sagte sie. „Aber das ist kein Problem. Ich habe schon oft gebrochene Knochen gerichtet. Clara, du musst mir helfen!“
Clara ging sofort zu ihr. Eine Szene aus Dringenberg kam ihr in den Sinn. Odilia richtete das gebrochene Bein des abgestürzten Maurers Richard. Währenddessen schrie und keifte seine Verlobte Hildegunde und wehrte sich mit allen Kräften - wenn auch vergebens - gegen Odilias Hilfe. Die Heilerin war damals schon längst als Hexe verrufen. Irgendwann sah Hildegunde jedoch ein, dass sie nichts ausrichten konnte. Da hockte sie sich auf die Erde und bastelte aus Stöckchen ein Pentagramm – das Bannzeichen gegen das Böse. Es war ein eindrucksvolles Vorzeichen dessen, was der Hexenglaube noch anrichten sollte.
Der junge Maurer starb und man gab Odilias Behandlung die Schuld daran. Er sei verhext worden, hieß es.
Clara schüttelte sich. Daran wollte sie jetzt wirklich nicht denken. „Komm, lass uns das Bein richten, so lange er bewusstlos ist, so spürt er den Schmerz nicht. Und ihr beiden müsst Felix festhalten“, wies sie Reinmar und Gabriel an.
Felix rührte sich, als sie ihn so behandelten.
Er stöhnte vor Schmerz.
„Junge“, sagte Odilia sanft. „Da bist du ja wieder.“
„Was ist passiert?“, fragte er verwirrt.
„Du bist abgestürzt.“
„Abgestürzt? Ich erinnere mich nicht.“
Clara blickte Odilia entsetzt an. Aber sie blieb völlig ruhig. „Das kann schon mal passieren, wenn man einen Schlag auf den Kopf bekommt. Es ist nicht schlimm. Kennst du deinen Namen?“
„Ja, Felix.“
„Gut.“
„Wie fühlst du dich – abgesehen von den Schmerzen?“
„Schwindelig. Mir ist schwindelig. Und ich bin so müde.“
Clara bewunderte Odilia, die so ruhig da hockte und ihren eigenen Sohn behandelte. Sie selbst kam sich ganz nutzlos und unwissend vor.
Odilia blickte zu Reinmar und Gabriel auf. „Ihr müsst eine Trage holen, wir müssen Felix nach Hause bringen. Er kann nicht laufen. Und sein Kopf ist verletzt, er muss unbedingt ruhen.“
„Eine Kopfverletzung?“, fragte Clara nach. „Wie kann man die behandeln?“
„Ich hoffe, es ist nur eine leichte. Dann wird er wieder gesund, wenn er ein paar Tage ausruht. Seine Wunde blutet sehr stark. Deswegen könnte er so müde sein.“
„Ich werde sie abbinden“, erklärte Clara. „Ich brauche einen Gürtel.“
Sofort nahm Reinmar seinen Gürtel ab und reichte ihn Clara. Sie nahm ihn und schnürte ihn oberhalb der Wunde um den Oberschenkel. Die Wunde war wirklich ziemlich lang und tief. Hoffentlich hatte er noch nicht zu viel Blut verloren.
„Bleibt hier. Gabriel und ich gehen, eine Trage bauen“, sagte Reinmar. „Hier finden wir kein Material dafür.“
„Geht zu Aglaia. Sie hat eine Trage im Haus. Und sie kann uns gute Hilfe leisten. Sie kennt ungewöhnliche Heilungsmethoden“, wies Odilia sie an.
Reinmar nickte und ging zusammen mit Gabriel davon.
„Wer ist Aglaia?“, fragte Clara.
„Eine besondere Frau. Du wirst sie mögen. Sie ist eine Schülerin von Despina, der weisen Seherin und Heilerin.“
„War sie diejenige, die dir vorhergesagt hat, dass in Deutschland ein Mädchen deine Hilfe braucht?“
Odilia lachte. „Genau die. Und dieses Mädchen warst du.“
„Und Aglaia ist auch hellsichtig?“
„Sie hat nicht Despinas starke Hellsicht, aber – ja, sie hat die Gabe. Und sie kennt ungewöhnliche Heilungsmethoden.“
„Das sagtest du schon.“
„Sie lebt zurückgezogen ein Stück außerhalb des Dorfes. Sie sagt immer, sie braucht diese Einsamkeit. Deshalb hast du sie auch bisher noch nicht kennen gelernt Aber du wirst sie mögen. Und vielleicht noch viel von ihr lernen.“
Clara nickte.
„Sie spricht sogar unsere Sprache. Despina und Aglaia haben sie damals von mir gelernt. Sie spricht sie nicht sehr gut, aber du wirst sie verstehen. Sie ist wirklich sehr begabt.“
Clara war sehr gespannt auf diese Frau.
Aber sie war nicht sicher, ob sie noch mehr Heilungsmethoden lernen wollte. Ungewöhnliche Methoden gerieten schnell in den Verdacht der Hexerei.
Und überhaupt – sie hatte nie eine Heilerin sein wollen, sie wollte nicht immer nur mit Kranken und Sterbenden zu tun haben.
Warum also sollte sie nun noch mehr lernen?
Sie beobachtete Odilia, die liebevoll über das blasse Gesicht ihres
Sohnes streichelte.
Felix war eingeschlafen.
Aglaia war ganz anders, als Clara sie sich vorgestellt hatte. Zum einen war sie älter. Clara wusste überhaupt nicht, warum sie angenommen hatte, dass Aglaia jung war. Vermutlich, weil Odilia sie als Schülerin bezeichnet hatte. Aber auch eine Schülerin wurde älter, das war doch eigentlich klar.
Und Aglaias Lehrerin Despina war laut Odilia eine sehr alte Frau gewesen.
Aglaia war gewiss schon über vierzig. Sie war klein, sogar kleiner als Clara selbst und ein wenig rundlich. Ihre Haare waren nicht ganz so tiefschwarz wie bei den meisten Griechinnen, aber sie zeigten noch keine Spuren von Grau.
Das Bemerkenswerteste an Aglaia waren ihre Augen. Sie waren fast schwarz und schienen jeden zu durchdringen.
Um ihren Hals hing ein Amulett. Clara hatte sofort das Gefühl, dass es Aglaia viel bedeutete. Soviel wie ihr selbst das Amulett des heiligen Christopherus, das sie einst von Bischof Bernhard geschenkt bekommen hatte.
Aglaia kniete sich neben das Bett, auf dem Felix inzwischen ruhte. Sie untersuchte zuerst sein Bein. Dann gab sie dem Jungen einen starken Schlaftrunk und nähte seine Wunde.
„Wie gut, dass ihr so schnell dort ward“, meinte sie. „Sonst wäre er verblutet.“
Odilia schluckte schwer. Darüber wollte sie lieber gar nicht nachdenken.
Aglaia blickte Clara an, als wüsste sie genau, was geschehen war. Es war unheimlich. Clara rann ein Schauer über den Rücken.
Anschließend bat die Griechin Clara, ihr beim Schienen des Beines zu helfen.
Erst als das Bein versorgt war, untersuchte Aglaia Felix’ ganzen Körper. Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und blickte mit ihren brennenden Augen darauf.
Clara stand hinter ihr. Es sah fast so aus, als ob Aglaia mit ihren Augen in sein Inneres sehen würde. Aber das war natürlich Unsinn.
„Sein Kopf braucht viel Ruhe“, erklärte die Heilerin völlig ruhig und selbstverständlich. „Aber er ist nicht ernsthaft verletzt.“
Sie legte ihre Hand auf seinen Brustkorb, auf seinen Bauch, auf seinen Rücken. Dann nickte sie leicht. „Er hatte großes Glück“, sagte sie.
Und dann tat sie etwas, das Clara wirklich das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Aglaia packte aus ihrem Koffer ein weiteres Kästchen, in dem wohl sortiert viele Steine lagen. Sie entnahm dem Kästchen zwei davon, legte sie in einen Beutel und den Beutel unter die Bettdecke in der Nähe des verletzten Beines.
„Was tust du da?“, fragte Clara leise.
„Du klingst entsetzt“, meinte Aglaia. „Das sind Heilsteine. Der schöne Rote ist ein Karneol. Er kann die Wundheilung beschleunigen und wirkt entzündungshemmend. Du weißt, Wunden können sich immer entzünden. Außerdem wirkt er schmerzstillend bei Prellungen. Und das Bein ist bestimmt geprellt. Der Andere war ein Apatara. Er kommt sehr selten vor, aber ich habe einen.“ Sie klang unglaublich stolz. „Er unterstützt das Zusammenwachsen der gebrochenen Knochen.“
Clara schüttelte ungläubig den Kopf. Aglaia erzählt das alles, als sei es selbstverständlich.
„Clara, was hast du?“, fragte Odilia.
„Ich weiß nicht – das ist…“ Sie wollte es nicht aussprechen, aber sie konnte es auch nicht zurückhalten. „Das ist Hexerei.“
Aglaia lachte.
Odilia sah ihre Schwiegertochter entrüstet an. „Clara, das sagst ausgerechnet du?“
Ja, wie konnte ausgerechnet sie von Hexerei sprechen? Sie, die selbst schon als Hexe verfolgt worden war?
Aber dies hier war doch etwas ganz anderes, oder nicht?
„Aber Odilia, Steine, die in das Bett gelegt werden, das ist doch keine Heilkunde. Das ist…“ Nein, ein zweites Mal wollte sie es nicht aussprechen.
„Warum können Steine keine heilende Wirkung haben, ebenso wie Kräuter?“, fragte Aglaia. „Daran glaubst du doch, nicht wahr?“
Clara nickte.
„Und warum bist plötzlich du so verschlossen Neuem gegenüber? Das passt gar nicht zu dir, Clara“, warf Odilia ihr vor.
Ja, ihre Schwiegermutter hatte recht. In Dringenberg war sie selbst es doch immer gewesen, die die Menschen nicht verstanden hatte, die alles ablehnten, nur weil es neu und unbekannt war. Jetzt tat sie dasselbe.
Aber - heilende Steine. Clara begann dennoch zu frieren bei dem Gedanken.
„Möchtest du mehr darüber erfahren?“, fragte Aglaia.
„Nein!“, rief Clara aus.
Aglaia lachte.
„Ich denke schon, aber gewöhn dich erst an den Gedanken.“
Dann wandte sie sich an Odilia.
„Du hast ebenfalls viel von Despina gelernt. Du kannst deinem Sohn selbst einen Schmerztrunk bereiten oder möchtest du, dass ich dir etwas gebe?“
Odilia schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe alles.“
„Und ich habe noch eine Wundsalbe. Sollen wir sie benutzen?“, fragte Clara.
Aglaia nickte. „Aber gerne. Es kann nicht schaden, nicht wahr?“
Das Bein heilte schnell und die Wunde entzündete sich nicht. Ob das nun Aglaias Steinen oder Claras Salbe zu verdanken war, wusste niemand.
Clara lernte Aglaia in den nächsten Tagen besser kennen.
Sie legte ihre Furcht vor dem Unbekannten ab. Es war, als ob ihr jemand im Traum zuflüsterte: „Lern, wann immer du lernen kannst. Verschließ dich nicht. Du selbst wolltest immer Neues lernen und darüber schreiben. Hier ist etwas. Es ist nicht beängstigend. Es unterscheidet sich nur vollkommen von allem, was du bisher gekannt und gelernt hast.“
„Aber ich kann dieses Wissen nicht mit nach Deutschland nehmen“, erwiderte Clara lautlos der unbekannten, gesichtslosen Stimme. „Sie würden mich als Hexe verbrennen.“
Trotzdem besuchte Clara Aglaia oft in der nächsten Zeit. Sie freundete sich regelrecht mit ihr an. Die alte Neugier, ihr Wissensdurst und ihr Verständnis für das Übernatürliche waren zurückgekehrt.
Aber es war wieder eine Heilkunst, die Aglaia ihr beibrachte.
„Ich gebe zu, es ist sehr interessant“, gestand Clara ihr eines Tages.
Aglaia lachte, wobei sich ihre Augen in unzählige kleine Falten legten. „Ich dachte, es sei Hexenwerk?“
Jetzt lachte auch Clara. „Verzeih mir. Es hat mir wirklich Angst gemacht.“
„Ich verstehe das. Ich weiß auch, dass du aus deinem Heimatdorf fliehen musstest, weil du als Hexe angesehen wurdest. Es ist furchtbar, dass Menschen mit besonderen Fähigkeiten verfolgt werden. Und dass man neuen Möglichkeiten gegenüber so verschlossen ist. Vielleicht könnten wir viel mehr Krankheiten heilen, wenn es anders wäre. Aber du nimmst neue Möglichkeiten mit, wenn du zurückgehst. Und das wirst du, nicht wahr?“
Aglaia sprach langsam – sie musste oft nach dem richtigen deutschen Wort suchen. Und sie hatte einen wunderschönen Akzent. Sie blickte Clara mit ihren schwarzen Augen durchdringend an.
„Ja, ich werde irgendwann, zurückgehen“, erwiderte Clara. „Aber ich werde dieses Wissen dort nicht anwenden können. Sie würden mich doch noch als Hexe verbrennen. Außerdem wollte ich niemals eine Heilerin sein.“
„Aber du bist doch eine.“
„Nein, das bin ich nicht. Ich bin nicht mit dem Herzen bei dieser Arbeit.“
„Aber natürlich bist du das. Du hast dich hingebungsvoll um Felix gekümmert“, erwiderte Aglaia.
„Er ist ein Freund. Inzwischen sogar ein Verwandter.“ Clara lächelte.
„Du lernst mit großem Eifer diese neue Methode.“
„Es ist interessant.“
Aglaia nickte und lächelte, als würde sie Clara besser kennen als sie selbst sich kannte.
„Du wirst immer alles tun, um den Menschen zu helfen. Du kannst gar nicht anders. Warum redest du dir ein, dass du keine Heilerin bist?“, fragte Aglaia ernst.
„Ich will keine sein!“, antwortete Clara ein wenig bockig.
„Es ist eine Aufgabe, die zu dir gekommen ist. Manchmal können wir wählen und manchmal werden wir erwählt. So ist es mit dir und der Heilkunst.“
Clara starrte die Griechin mit ihren großen grünen Augen ungläubig an. Urplötzlich hörte sie die Worte der alten Cäcilia, Dringenbergs verstorbener Heilerin: Diese Aufgabe ist zu dir gekommen. Es steht dir nicht zu, deine Lebensaufgabe selbst zu wählen. Nimm diese an als dein Schicksal.
Irgendwie klang es soviel schöner, wie Aglaia es ausdrückte: Du bist erwählt worden.
„Erwählt worden? Von wem?“ Clara hörte diese Worte und merkte erst da, dass sie selbst sie laut ausgesprochen hatte.
„Vom Schicksal, von Gott, von höheren Mächten. Sie wissen, was sie tun“, antwortete Aglaia. Und in ihrer Stimme klang nicht der geringste Zweifel.
Clara antwortete nicht.
Aglaia öffnete ihren Koffer und holte aus dem Steinekästchen einen kleinen, farblosen Stein heraus.
„Bitte, ich schenke ihn dir. Es ist ein farbloser Topas. Er ist nicht so schön wie der rote Karneol, aber er kann dir helfen, in deine Aufgabe im Leben hineinzuwachsen, dir über dein Leben und deine Ziele klar zu werden. Ich gebe dir einen kleinen Beutel dazu, dann kannst du ihn um den Hals tragen.“
Clara wurde es fast ein wenig übel. Sie wollte schreien, aber sie hielt sich zurück. Automatisch nahm sie den Topas in ihre Hand.
Sie hörte deutlich Odilias Stimme, als Adrian ihr vor Jahren vorwarf, mit Dämonen im Bunde zu sein: In dem Fall gebe ich euch zusätzlich etwas Alant. Wenn ihr es als Amulett um den Hals tragt, schützt es vor Dämonen und Hexen.
Clara lief aus dem Häuschen, ohne sich zu verabschieden. Sie spürte Aglaias brennenden Augen auf ihrem Rücken.
Sie rannte einfach weiter – sie war vollkommen durcheinander. Nein, sie glaubte nicht, dass Aglaia eine Hexe war und auch Odilia war es nicht.
Aber das alles hier ging weit über ihr Begriffsvermögen hinaus.
Direkt am Meer blieb sie stehen. Endlich konnte sie schreien. Sie schrie ihre Verwirrung und ihre Ängste über die weite See.
Niemand war da, der sie hörte.
Aber dann hörte sie die Stimme. Die wohlbekannte, geliebte, gesichtslose Stimme.
„Kind, wovor hast du Angst? Ist es so ungewöhnlich? Sogar zu ungewöhnlich für ein Mädchen wie dich, das mit Geistern spricht?“
„Großvater“, hauchte Clara leise.
„Ja, ich bin es. Weißt du es denn noch immer nicht? Es gibt Dinge zwischen der Erde und dem Himmel, die der Verstand nicht erfasst. Die muss man einfach hinnehmen oder glauben.“
Eine große Ruhe legte sich auf Claras Seele.
Der Wind trug ihre Zweifel, Unsicherheit und Ängste weit über das Meer hinaus.
Sie wusste, es gab hier nichts, das sie fürchten musste. Das Unbekannte, das Aglaia ihr zeigte, war etwas Gutes. Es heilte, es half. Aber sie fürchtete sich auch gar nicht vor dem Neuen, das wurde ihr auch bewusst. Sie fürchtete die Reaktion der Menschen. Sie fürchtete sich vor dem Wissen, weil sie diese Reaktionen viel zu gut kannte. War sie nicht schon einmal als Hexe verfolgt worden und war sie nicht aus Dringenberg geflohen, weil sie abermals im Ruf stand, eine Hexe zu sein?
Sie öffnete ihre Hand, in der sie noch immer den Stein verborgen hielt. Wenn er ihr helfen konnte, wollte sie ihn gerne tragen. Sie verbarg ihn in ihre Rocktasche und machte sich auf den Weg zu Odilias Haus.
Vielleicht sollte sie wirklich nicht mehr dagegen ankämpfen.
Vielleicht wurde es wirklich Zeit, dass sie diese Aufgabe annahm.
Clara verbrachte viel Zeit mit Aglaia. Sie lernte viel über Heilsteine und Aglaia half ihr sogar dabei, sich selbst ein Steinekästchen anzulegen. Zu jedem Stein legte Clara einen kleinen Zettel mit seiner Wirkung.
Je mehr sie lernte, desto interessanter fand sie es. Und je mehr verlor sie ihre Furcht.
Felix’ Bein heilte gut. Ob das wirklich an den Steinen lag, wusste Clara nicht. Auch Odilia oder Aglaia wussten es nicht. Aber – so meinte Aglaia – es konnte auf keinen Fall schaden, die Steine zu Hilfe zu nehmen.
Nein, dachte Clara. Das wohl nicht. Außer demjenigen, der sie benutzt. Es könnte als Teufelswerk angesehen werden.
Die Monate vergingen schnell. Es war jetzt April, hier in Griechenland war es schon viel wärmer als in Deutschland.
Clara half Aglaia bald dabei, einige Krankenbesuche zu machen und die Menschen des nahen Dorfes zu behandeln.
Einer von ihnen – der alte Theodosius - dem sie mit einem Kräutertee von seinen Magenbeschwerden befreien konnte, machte ihr ein fantastisches Geschenk.
„Erlaube mir bitte, dass ich dich male“, sagte er auf griechisch. Aglaia übersetzte es, aber ein wenig hatte Clara die Sprache inzwischen auch schon gelernt.
„Mich malen?“
„Oh ja. Folge mir.“
Der alte Mann führte sie in einen Raum, der über und über mit Portraits und Gemälden der wunderbaren Landschaft der Insel behängt war.
„Hast du das alles gezeichnet?“, fragte Clara staunend.
„Ich hatte ein langes Leben. Viel Zeit zum Zeichnen. Schau hier, das ist meine Frau, als sie noch sehr jung war.“
Eine schwarzhaarige Schönheit blickte Clara von dem Bild entgegen.
Die Zeichnung war so schön und so lebendig, dass sie meinte, das Gesicht würde sich bewegen. Staunend blickte sie sich um.
Das tosende Meer war ebenso lebendig wie Grashalme, die sich im Wind beugten.
„Du bist ja ein richtiger Künstler“, staunte sie und Aglaia übersetzte es lächelnd.
„Das sind meine Kinder“, erzählte er weiter. „Hier sind sie noch klein. Ich habe sie gezeichnet, als sie heirateten, aber diese Bilder hängen in ihren eigenen Häusern. Jetzt würde ich dich gerne zeichnen. Erlaube es einem alten Mann. Dein Gesicht fasziniert mich. Und diese Haare – so eine Farbe habe ich noch niemals gesehen. Es ist die Farbe von Feuer.“
Clara lachte. „Ja, das ist es.“
Und unter anderem gelte ich in Deutschland dafür als Hexe, dachte sie.
„Darf ich dich zeichnen? Ich bin alt und meine Hände zittern oft sehr. Vielleicht ist es das letzte Bild, das ich schaffe. Du müsstest mich nur hin und wieder besuchen. Ich könnte dich auch auf den Klippen zeichnen, mit dem Meer im Hintergrund.“
Da begann Claras Gesicht zu leuchten.
„Ah, das gefällt dir“, freute sich der Alte.
„Ja, das gefällt mir.“
Wenn Clara Ruhe brauchte, ging sie ans Meer, setzte sich auf die Felsen und blickte über die endlose Weite. Oft gingen alle drei Hunde mit ihr. Sie sprangen dann ausgelassen am Strand herum und genossen ihre Freiheit.
Sie selbst nahm es kaum wahr. Sie war dann nur auf das Meer konzentriert, sie wurde selbst zur Welle und ihre Seele entfloh in eine andere Welt, in der es keine Sorgen, keine Ängste und keine Krankheiten gab, nur Freude und Harmonie.
Aglaia sagte, sie mache Meditation. Etwas, das sie unbedingt weitermachen solle, wenn sie Griechenland verlassen hätte. „Es gibt dir Kraft und Erholung. Und diese Kraft wirst du brauchen, wenn du zurückkehrst. Wenn du die Ruhe nicht in dir selbst findest, wirst du sie nirgendwo finden.“
Nach ein paar Monaten wunderte sich Clara ein wenig, dass sie noch nicht schwanger war. Sie war nicht wirklich betrübt darüber, ihr Leben war ausgefüllt, sie war glücklich, so viel lernen zu dürfen. Aber sie fragte sich, ob etwas nicht in Ordnung war.
Sie redete mit Aglaia darüber.
Die Griechin legte beide Hände auf Claras Bauch. Dann lächelte sie und meinte: „Es ist einfach noch nicht an der Zeit. Vertrau der Zukunft. Und vertrau dem Leben. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du ein Baby haben. Du bist ja noch sehr jung – erst sechzehn Jahre.“
Es war im Mai 1326, als sich Claras Leben erneut veränderte.
Sie saß auf der weißen Bank vor dem Haus und blickte wieder einmal über die kleinen Häuser des Ortes und über das dahinter liegende Meer. Heute spürte sie die ungeheuere Kraft des Meeres ganz besonders.
Es war ein stürmischer Tag. Die Wassermassen tobten, Wellen türmten sich auf und schlugen über den Felsen zusammen. In diesem Schauspiel zeigte sich die Macht Gottes, fand Clara. Nichts anderes auf der Welt konnte diese so zeigen wie das Meer.
Sie stellte sich vor, wie Jesus über das aufgewühlte Wasser gelaufen war oder wie die Israeliten mitten durch das geteilte Meer geschritten waren, während links und rechts die tosenden Wassermassen aufgetürmt wie eine Mauer standen.
Aber plötzlich veränderte sich das Bild. Clara kannte das. Es war, als ob sich ein anderes Bild vor das Bild schob, das sie gerade betrachtete. Als wären es zwei Gemälde, die sie ansah.
Aber in Wahrheit war das eine die Realität, das andere ein Bild der Zukunft.
Obwohl sie über das Meer blickte, nahm sie es nicht wahr.
Vor ihren Augen spielte sich etwas anderes ab.
Der Medicus lief durch ihr Heimatdorf Dringenberg. Das Wetter war schlecht. Es regnete und es war beinahe genauso stürmisch wie hier. Die Zweige der Bäume bogen sich im Wind. Das Bild passte nicht zur Jahreszeit. Es sah aus, als wäre es November.
Aber es war Frühling - Mai. Die Zeit, zu der Blumen blühten, die Bäume ihr hellgrünes Blätterkleid trugen und die Sonne schon wärmte. Es war die Zeit, in der das Leben neu erwachte.
Der Arzt war noch immer der furchteinflößende Mann von damals. Groß, aufrecht und in dunkle Gewänder gehüllt - eine schwarze Gestalt - wie der Teufel selbst. Clara fröstelte, obwohl es hier in Griechenland schon ziemlich heiß war.
Plötzlich fasste sich der Mann an die Brust. Er blieb stehen, rang nach Luft. Dann lief er ein Stück weiter. Aber es war nicht ausgestanden. Nach nur wenigen Schritten fasste er sich erneut an die Brust - ans Herz. Er sank auf die Knie. Mitten im Dorf brach er zusammen. Mühsam versuchte er, sich wieder aufzurichten. Seine Hand tastete nach einem Mauervorsprung, sein Gesicht war schmerzverzogen. Er schaffte es nicht. Seine Hand glitt an der Mauer ab.
Er fiel vornüber mit dem Gesicht in eine Pfütze und starb auf der Straße. Dieser große, machtbesessene, unnachgiebige Mann – zusammengebrochen im Schlamm der Straße.
Allein und hilflos.
Clara atmete schwer.
Sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter und wirbelte erschrocken herum.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte Odilia.
Sie setzte sich neben Clara und blickte über den kleinen Ort und das Meer.
„Du verstehst es, nicht wahr? Warum ich nur hier leben kann?
Warum ich das Meer so liebe?“
Clara nickte. „Ja, ich verstehe das.“
„Du bist glücklich hier, nicht wahr?“
„Ja. Aber – Odilia – es ist anders als bei dir. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin nicht damit verbunden so wie du. Es ist so gewaltig und schön, ich spüre hier die Macht der Natur, die Macht Gottes, wie nirgendwo sonst. Ich bin hier zur Ruhe gekommen, aber….“
„Ich weiß, ich habe das selbst erlebt. Du kannst dein Leben nicht in dieser Ruhe verbringen. Du musst wieder fort. Du musst, nicht wahr?“ Sie sprach sehr leise. Die Wahrheit auszusprechen, machte sie traurig.
„Ich liebe auch den Trubel der Städte. Ich liebe die Bewegung und Weiterentwicklung. Es ist zu still für mich. Du wusstest immer, dass ich nicht für immer bleibe, nicht wahr?“
Odilia nickte ganz leicht. Ja, das wusste sie. Dazu musste man keine Seherin sein.
Und mit Clara würde auch ihr Sohn Gabriel gehen. Sie war damals so glücklich gewesen, als die Beiden bei ihr auftauchten. Sie hatte die ganze Zeit, seit Gabriel ihre Familie in München verlassen hatte, solche Angst um ihn gehabt. Und dann kam er plötzlich zurück mit Clara. Eineinhalb Jahre war das jetzt her. Sie sah es deutlich vor sich, als die Beiden auf einmal auftauchten.
Lag es daran, dass sie allmählich älter wurde? Sie sah immer öfter so deutlich Bilder ihrer Vergangenheit vor sich. Begann sie, in der Erinnerung zu leben?
Seit Clara in ihr Leben getreten war, war nichts mehr, wie es war. Ihr Leben war immer schon gefährlich gewesen, aber mit Clara war sie auf merkwürdige Weise verbunden. Und Gabriel war es auch. Seit das Mädchen ihr von ihrer Ahnin Antonia berichtet hatte, verstand sie diese Verbundenheit besser. Aber gefühlt hatte sie diese schon immer.
Jene Antonia – die Urgroßmutter von Clara – hatte ihrer Mutter und ihr selbst bei ihrer Geburt das Leben gerettet. Und das, obwohl sie nicht gerufen worden war. Sie hatte in einer Vision die Not der Frau erlebt und war zu ihr geeilt. Dafür war sie als Hexe getötet worden. Das war die besondere Verbindung zwischen ihr selbst und Clara.
Vor vielen Jahren hatte die alte weise Despina Odilia geweissagt, dass es in Deutschland ein Mädchen gäbe, deren Bestimmung es sei, ihre Schülerin zu werden. Seit sie Clara damals in diesem Wald getroffen hatte – im Februar 1322 war es gewesen – hatte sie sofort gewusst, dass sie dieses Mädchen war. Und sie hatte sie gelehrt. Lesen und Schreiben und auch alles, was sie über Heilkunst wusste. Aber das Wichtigste war, dass sie ihr beigebracht hatte, ihrem eigenen Gefühl zu vertrauen und ihren eigenen Weg zu gehen. Manches Mal war sie nicht sicher, ob sie Clara damit einen Gefallen tat. Ihr eigener Weg war gefährlich und sie zog Clara mit sich in ein Leben, das für Frauen in dieser Zeit schwierig zu leben war.
Aber Clara war unglücklich gewesen. Sie musste einen anderen Weg finden. Es hatte immer Frauen gegeben, die sich gegen den vorbestimmten Weg entschieden hatten. Und durch diese Frauen würde sich eines Tages die Welt ändern.
Sie sah ihre junge Schwiegertochter an ihrer Seite. Ihr langes, offenes, flammend rotes Haar wehte im Wind. Ihre grünen Augen blickten so neugierig in die Welt und in die Zukunft. Ja, sie konnte es darin lesen - eine Zeitlang waren ihre Augen ruhiger gewesen, aber nun war das Funkeln wieder da.
Clara war eine so zarte, fast zerbrechlich wirkende Person. Doch die äußere Gestalt täuschte. In ihr wohnten eine unbändige Energie und Kraft.