Rubinstern - Die Heiligtümer der Ahnen - Rotraud Falke-Held - E-Book

Rubinstern - Die Heiligtümer der Ahnen E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die Heiligtümer der drei Völker um das Kalont-Gebirge wurden gestohlen. Damit droht dem ganzen Land eine entsetzliche Zeit. Denn wenn alle drei Reliquien von der Sekte der Bösen zusammengefügt werden, können die drei Dämonen der Unterwelt zu neuem Leben erweckt werden. Laut einer Weissagung kann die Gruppe, die drei Jahre zuvor bereits den Tyrannen Cyprian besiegt hatte, auch diese Gefahr von den Völkern abwenden. So machen sich die Jugendlichen ein zweites Mal auf eine gefährliche Reise: Der junge Erfinder Salokin und seine Schwester, die Malerin Aidil - Nevet und Jero, zwei junge Reisende - die Heilerin Heloise und der Baumeister Marbot - Eilika vom Volk des Zaubermondes und Nelie vom Volk des Sonnenfeuers. Doch die Dämonen sind bereits erweckt und sie sind mächtiger, als sie es sich jemals hätten vorstellen können. "Die Heiligtümer der Ahnen" ist eine spannende Geschichte für Jugendliche ab etwa 10 Jahren und für alle, die gerne in fremde Welten eintauchen.

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Besucht die Autorin doch mal im Internet:

www.rotraud-falke-held.de

Die Personen:

Salokin

junger Erfinder

Aidil

Salokins Schwester, eine Malerin

Anajo

Salokins und Aidils Mutter

Sakul

Salokins und Aidils Vater

Urias

Weiser des Rubinstern-Volkes und Großvater von Salokin + Aidil

Nevet

Salokins Freund, bereist die Welt

Heloise

junge Heilerin und Seherin

Marbod

junger Baumeister

Inska

Aidils Freundin im Dorf

Zor

Salokins Käuzchen

Jero

Nevets Freund + Reisebegleiter, vom Zaubermondvolk

Eilika

Mädchen vom Zaubermondvolk

Sebalde

Seherin des Zaubermondvolkes

Nelie

Mädchen vom Sonnenfeuervolk

Baroach

Anhänger der Unterweltgottheiten

Benokul

Priester der Baroach

Nomed + Lefuet

Götter der Unterwelt

Zerialde

Wächterin der Tore zur Unterwelt Und Göttin der Hexen

Jaak

Mitglied der Baroach

Heidan

Krieger

Anuk und Tabor

Wölfe

Rato, Fee, Yola

ihre Kinder

Cardo

Anführer der Wölfe

Volina

Heilerin des Wolfsvolkes

Cahra

Volinas Schülerin

Nigrum

riesiger schwarzer Wolf

Griseo und Brunneis

Eulen

Schirin und Neilu

Berglöwen

Inhaltsverzeichnis:

Prolog

1.

Teil Das Unheil

Kapitel 1 Die Entdeckung

Kapitel 2 Die Baroach

Kapitel 3 Die Versammlung

Kapitel 4 Der Hinweis der Eulen

Kapitel 5 Die Prophezeiung

Kapitel 6 Vorbereitungen

2.

Teil Im dunklen Wald

Kapitel 7 Der Aufbruch

Kapitel 8 Die Baroach

Kapitel 9 Aufbruch in den dunklen Wald

Kapitel 10 Die rote Eidechse

Kapitel 11 Volina

Kapitel 12 Die Baroach

Kapitel 13 Der Tag nach Vollmond

Kapitel 14 Die Aura des Bösen

3.

Teil Unter dem Kalont

Kapitel 15 Die Höhle

Kapitel 16 Die Höhlenstadt

Kapitel 17 Die Baroach

Kapitel 18 Der Plan

Kapitel 19 Der Flug der Eulen

Kapitel 20 In Gefangenschaft

Kapitel 21 Jeros Kampf

Kapitel 22 Heloise

4.

Teil Rückkehr

Kapitel 23 Der Weg zurück

Kapitel 24 Wieder zu Hause

Kapitel 25 Ein Fest

PROLOG

Diese Nacht war dunkler als die meisten Nächte. Der Mond verbarg sich hinter dicken grauen Wolken und sandte nicht einmal sein sanftes Licht auf die Erde.

Dichte Nebelschwaden zogen sich über das Land und hüllten es bis zu den Spitzen der Bäume hinauf in eine gespenstische Düsterkeit.

In dieser vollkommen nebligen Dunkelheit schlichen zwei schwarz gekleidete Gestalten durch den Wald. Sie liefen schnell und lautlos. Sie waren eins mit dieser absoluten Schwärze der Nacht. Selbst über ihren Köpfen trugen sie schwarze Kapuzen.

Sie waren geradezu unsichtbar. Zwei Schatten, die sich bewegten.

Trotzdem liefen sie in gebückter Haltung.

Ihre Mission war heikel und geheimnisvoll. Und sie würde die Machtverhältnisse hier im Land der Harmonie radikal verändern.

Die Beiden wussten, dass zur selben Zeit bei zwei anderen Völkern andere Läufer unterwegs waren, die denselben Auftrag hatten wie sie: In dieser sternenlosen, nebligen Nacht jene Symbole zu beschaffen, die die drei Großen der Unterwelt aus ihrem Gefängnis befreien und zu neuer Macht auf Erden verhelfen würden.

Zu der Macht, die sie vor vielen hundert Jahren verloren hatten.

Die beiden Gestalten schlichen weiter durch den Wald.

Schon hatten sie das Ende erreicht. Von hier müsste man schon die ersten Häuser der Siedlung sehen können, wenn die Dunkelheit und der Nebel nicht gar so undurchdringlich wären.

Sie sprachen nicht. Sie wussten, was zu tun war.

Sie schlichen zur heiligen Stätte der Ahnen dieses Volkes, um den rubinroten Stern zu stehlen, der darüber schwebte.

Sie hatten sich gut vorbereitet. Sie hatten die Ältesten ausspioniert und verfolgt, um die verborgene Stätte zu finden, zu der niemand anderes Zutritt hatte.

Sie wussten, der Stein hatte mehr Kräfte, als es den Anschein hatte.

Es war mehr als ein Symbol. Mehr, als ein Denkmal.

Er war das Tor, durch das die Ältesten mit ihren Ahnen sprachen.

Durch das sie beteten, dankten und Rat einholten. Das würde bald nicht mehr möglich sein.

Deshalb würde das Volk schwächer werden.

Wenn sie die drei Symbole zusammen hatten – den rubinroten Stern, die in Flammen stehende Sonne und den sichelförmigen blauen Mond – würden sie Nomed und Lefuet, die Herrscherbrüder der Unterwelt und Zerialde, die Wächterin der Tore, erwecken und zu neuem Leben in dieser Welt verhelfen.

Sie standen jetzt vor dem gewaltigen Felsbrocken, der der Altar war und über dem der Rubinstern zu schweben schien. Der Fels war wirklich gigantisch. Neben ihm erschienen die sechs Brocken, von denen jeweils drei auf jeder Seite standen, geradezu winzig, obwohl jeder von ihnen größer war als ein Mann.

Einer der Gestalten faltete seine Hände, in die der andere hinein stieg, um auf den Felsbrocken hinauf zu klettern. Es sah leichtfüßig aus. Als könnte er wie eine Spinne daran hinauflaufen.

Er erreichte beinahe mühelos den höchsten Punkt und nahm den Rubinstern aus seiner Verankerung.

Er reckte ihn gegen den schwarzen Himmel.

Triumphierend, siegreich.

Endlich hatten sich einige Mutige gefunden, um diese Taten zu begehen. Endlich war die alte Sekte der Bösen – die Baroach – wieder zurück.

Er warf den Stern seinem Kumpanen genau in die Hände und sprang selbst aus dieser Höhe von dem Felsen herunter, rollte sich ab, sprang wieder auf die Füße.

Lautlos und artistisch.

Sie hatten immer noch kein Wort gesprochen, als sie wieder in den Wald eintauchten.

Sie bemerkten auch nicht die leuchtenden Augen, die in dieser Dunkelheit durch die Zweige der Bäume hervorstachen. Dafür waren sie viel zu konzentriert, zu sehr in ihre Aufgabe vertieft.

Sie sahen sich nicht um, sondern verfolgten einfach nur ihr Ziel, die Trophäe in ihre geheime Stadt zu bringen.

Die leuchtenden Augen verfolgten sie. Sie wussten, was die Gestalten getan hatten und was es für das Volk bedeuten würde.

Doch sie hatten nichts tun können. Sie waren zu klein und zu schwach.

Alles, was sie tun konnten war, ihnen zu folgen und zu sehen, wohin sie verschwanden. Wie gut, dass sie in der Nacht wachten anstatt zu schlafen. Und dass ihre Augen in der Dunkelheit besser sehen konnten als die der meisten Lebewesen.

Doch es würde schwer werden, ihre Beobachtung mitzuteilen. Sie sprachen nicht die Sprache der Menschen, so wie die Wölfe und die Berglöwen es taten. Aber einen gab es unter ihnen, der lebte in Gesellschaft eines Käuzchens. Vielleicht konnten sie mit ihm reden. Vielleicht konnten sie sich ihm verständlich machen.

Sie hockten sich in die Zweige, als sie sahen, wohin die beiden schwarzen Schatten verschwanden. Dieser Teil des Waldes war zu gefährlich. Hier lebten Gestalten, denen sie nicht begegnen wollten. Es würde niemandem helfen, wenn sie nicht mehr da waren, um zu zeigen, wohin die Gestalten mit der Reliquie verschwunden waren.

„Huhuuuu“, heulten sie auf.

Endlich hatten sie die Routine der beiden Schattengestalten durchbrochen. Sie stoppten kurz, drehten sich um. Aber dann rannten sie sofort weiter. Warum auch nicht. Für die beiden waren sie einfach nur Eulen.

Tiere ohne Seelen. Mehr nicht.

Keine denkenden, fühlenden Lebewesen.

Keine Wächter der Nacht.

Keine Gefahr.

Sie wussten es nicht besser.

1. Teil

Das Unheil

Kapitel 1

Die Entdeckung

Urias, der Weise vom Volk des Rubinsterns, ging wie jeden Morgen durch das Dorf, um die Stätte der Ahnen aufzusuchen und für eine gute Nacht zu danken. Heute – nach dieser nebligdunklen Nacht, in der sogar der Mond sein Gesicht verdunkelt hatte, war das besonders wichtig. Denn es war trotz dieser beängstigenden Stimmung nichts geschehen.

Der Nebel hatte sich gehoben, die Dunkelheit hatte sich verzogen.

Die Sonne bahnte sich ganz langsam und sacht ihren Weg durch die Wolken hindurch. Noch war es nicht vollständig hell. Und es war auch noch ungewöhnlich kühl. Das Volk des Rubinsterns lebte schließlich weit im Süden zu Füßen des Berges Kalont.

Urias zog fröstelnd seinen Umhang zusammen.

Er ging langsam und gebeugt und stützte sich dabei auf seinen Stock.

Er war sehr alt und seine Knochen wurden allmählich müde.

Sein Haar und sein langer Bart waren schon schlohweiß.

Er würde das Amt des ersten Weisen abgeben müssen, das fühlte er an diesem Morgen ganz deutlich. Er wurde zu alt dazu.

Er schlurfte langsam weiter – dem Wald entgegen – und sah sich aufmerksam um.

Vor drei Jahren war der Herr des Eises – der diabolische Tyrann Cyprian – in ihr schönes Land der Harmonie eingefallen. Es war damals ein wundervoller Frühlingstag gewesen. Voller Sonne, voller Helligkeit, voller blühender Blumen.

Cyprian hatte alles vernichtet und das Volk unterdrückt. Bis sich ein halbes Jahr später Urias’ Enkel Salokin und Aidil gemeinsam mit anderen mutigen Jugendlichen des Dorfes aufgemacht hatten, den Garten der Freiheit zu finden – jenen magischen Ort, den böse Mächte nicht betreten konnten. Dort erhofften sie sich Hilfe gegen die Unterdrücker, die sie am Ende ja auch bekommen hatten.

Heloise, die junge Heilerin und Seherin, war dabei gewesen und auch Salokins Freund Nevet. Urias lächelte bei dem Gedanken an ihn vor sich hin. Der Junge war immer ein solcher Träumer gewesen. Träumte sich in fremde Fantasiewelten hinein. Wer hätte gedacht, dass gerade das einmal seine größte Stärke sein würde.

Urias wusste aus den Erzählungen seiner Enkel, dass gerade Nevets Träume die Gruppe einst gerettet hatte, als sie durch den tristen, farblosen Wald und das Moor des Grauens wandern mussten.

Heute bereiste Nevet wirklich die Welt. Gemeinsam mit einem neuen Freund vom Volk des Zaubermondes, das auf der anderen Seite des großen Waldes lebte.

Außerdem hatte Marbod die Gruppe begleitet. Das war ursprünglich gar nicht vorgesehen gewesen. Ach, Marbod war ein wütender, unausgeglichener junger Mann gewesen, als die alte Oriana, Heloises Lehrerin, ihn der Gruppe Jugendlicher bei ihrer Flucht zugeführt hatte. Marbod hatte damals alle in Gefahr gebracht, weil er auf Cyprian einen Pfeil abgeschossen hatte und Oriana hatte ihr Leben gegeben, um ihn zu beschützen.

Heute war Marbod ein Baumeister, der bereits wunderschöne Dinge vollbracht hatte. Sogar den Palast des Cyprian – das Symbol der Unterdrückung – hatte er in etwas Schönes verwandelt. In ein Gemeindehaus, in dem Kinder unterrichtet wurden, Heloise Kranke behandelte, Feste gefeiert wurden… Urias lächelte vor sich hin.

Er dachte an seinen Enkel Salokin, der bald seinen siebzehnten Geburtstag feiern würde, der immer wieder neue Werkzeuge erfand, um den Menschen des Volkes ihre Arbeit zu erleichtern und an seine fünfzehnjährige Enkelin Aidil, die die schönsten Bilder auf die Leinwand zauberte. Bilder ihres Dorfes, des Waldes, des Berges, der Tiere, aber auch Bilder von ihrer Reise hatte sie aus ihrer Erinnerung heraus gezeichnet. Nevet hatte sogar schon Bilder von ihr auf einer seiner Reisen mitgenommen und verkauft.

Urias war sehr stolz auf seine beiden Enkel.

Ach, nun träumte er schon selbst wie Nevet. Er war sentimental.

Wenn einen Mann die Vergangenheit mehr rührte als die Gegenwart und die Zukunft, wurde er wohl wirklich alt. Aber vermutlich lag das nur an dieser enormen Düsternis der Nacht. Es wurde Frühling - es war ungewöhnlich, dass Nebel über das Land kroch, dass diese extreme Düsternis ohne Sterne und Mond die Nacht beherrschte.

Auch diese Kälte am Morgen kannte das Volk des Rubinsterns nicht.

Was war nur geschehen? Änderte sich das Klima?

Urias kam eine alte Sage in den Sinn, aber er wischte sie beiseite.

Nein, daran wollte er nicht einmal denken. Das wäre zu schrecklich.

Er hatte den Waldrand erreicht. Er schlurfte schwerfällig durch die Baumreihen - der Altarstätte entgegen.

Die Kälte tat seinen Knochen nicht gut. Sie schmerzten und waren noch unbeweglicher als sonst.

Hinter der nächsten dichten Gruppe aus Büschen und Bäumen lag die Stätte der Ahnen. Verborgen, aber nicht unerreichbar. Die Menschen des Volkes wussten, dass sie keinen Zutritt zu ihr hatten. Nur die Gruppe der auserkorenen Ältesten durfte hierherkommen und mit den Ahnen sprechen. Und er selbst war der Vorstand aller – der Weise des Ortes.

Er wusste, dass Salokin einst versucht hatte, ihm heimlich zu folgen, um den Ort zu finden und zu erfahren, was für Geheimnisse sich hier verbargen.

Salokin war ein Rebell. Aber damals hatte das Volk genau solche Menschen gebraucht. Rebellen, die nicht klein beigaben, die für ihre Rechte und ihre Freiheit kämpften.

Irgendwann würde die Zeit der Geheimnisse sowieso zu Ende sein und die Menschen würden vielleicht auf eine andere Art mit ihren Ahnen sprechen. Ihre Riten und Bräuche würden sich ändern.

Urias wusste das.

Wenn seine Generation starb, würde ein neues Zeitalter mit neuen Bräuchen und Riten anbrechen. Vielleicht war es an der Zeit.

Aber sie führten hier kein schlechtes Leben. Es war friedlich, harmonisch, wunderschön. Sie litten niemals Not. Sie waren frei in ihren Entscheidungen.

Er schob die Büsche beiseite und betrat die kleine Lichtung, hinter der sich der Halbkreis aus Steinen verbarg. Er blickte nach oben, über den mächtigsten der Felsen, der in der Mitte stand, um den Kontakt zu den Ahnen zu suchen und ihnen zu danken, dass sie diese Nacht der Düsternis unbeschadet überstanden hatten.

Er erstarrte sofort.

Er fasste sich ans Herz, das für einen Moment stehen blieb.

Nein, er durfte nicht sterben. Nicht jetzt.

Urias hatte keine Angst vor dem Tod, aber jetzt durfte es nicht sein.

Er musste zurück und von seinem unheimlichen Fund berichten.

Er musste das Unheil von dem Volk abwenden, das offensichtlich ein weiteres Mal nach ihm griff.

Oh mein Gott, dachte Urias. Das ist schlimmer als Cyprians Herrschaft.

Wie sollen wir gegen einen solchen Feind kämpfen?

Gegen einen Feind, der nicht aus Fleisch und Blut ist?

Trotz seiner Angst arbeitete sein Gehirn rational.

Er musste zurück. Er musste seine Entdeckung bekannt geben.

Sie mussten Kontakt zu den anderen Völkern aufnehmen, die am Kalont lebten: Dem Volk des Zaubermondes auf der anderen Seite des Waldes und dem Volk des Sonnenfeuers am anderen Ende des Gebirges.

Sie mussten das Ausmaß der Katastrophe feststellen.

Sie mussten herausfinden, ob die alte Legende sich bewahrheitet hatte.

Und sie mussten überlegen, was sie tun konnten.

Wenn sie überhaupt etwas tun konnten, wenn das Böse die Macht übernommen hatte.

Salokin trat neben seine Schwester Aidil, die in der offenen Haustür stand.

Ihre langen, dunkelblonden Locken flossen bis weit über die Schultern herab. Sie wirkten noch etwas zerzaust und wehten leicht im Wind. Sie sah ihn an. Ihre grünen Augen, die sonst so übermütig blitzten, sahen ihn verträumt und irgendwie nachdenklich an.

Ihre Sommersprossen, die ihr Gesicht früher übersäht hatten, waren fast vollständig verschwunden. Sehr groß war sie nicht geworden, auch wenn sie in den letzten Jahren noch ein wenig gewachsen war. Ihre Figur war nach wie vor zierlich, hatte aber frauliche Rundungen angenommen.

Sie verfügte über große Energie, die man ihr nach ihrer äußeren Erscheinung gar nicht zugetraut hätte.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte er.

„Ja. Fühlst du es nicht? Fühlst du nicht diese merkwürdige Stimmung? Es ist so kalt.“ Sie rieb sich über die Arme, um sie zu wärmen.

Salokin lächelte. Er hatte einiges erlebt, als sie auf der Suche nach dem Garten der Freiheit waren. Vieles war geschehen, das der Verstand nicht fassen konnte. Trotzdem hatte er seine alte Skepsis nicht ganz und gar aufgegeben. Er war eben ein bodenständiger junger Mann – realistisch - ein Wissenschaftler.

Er war groß und muskulös, hatte braune, ausdrucksvolle Augen und braune Haare, die er inzwischen etwas kürzer trug als früher.

Sie reichten nicht mehr bis auf die Schulter, waren aber immer noch lang genug, damit seine Locken gut zur Geltung kamen.

Aidil würde es auch schade finden, wenn das nicht mehr so wäre.

Sie passten so gut zu ihm, schienen sein ganzes Wesen widerzuspiegeln: Widerspenstig, eigenwillig, ungebändigt.

„Es liegt nur am Nebel der letzten Nacht, der war wirklich sehr unheimlich“, erwiderte er jetzt ganz sachlich.

„Keine Sterne waren da und nicht einmal der Mond“, sinnierte Aidil.

„Nur, weil so dichte Wolken am Himmel waren. Aidil, es war einfach nur schlechtes Wetter. Das ist zwar ungewöhnlich in unserer Gegend, aber es kann vorkommen.“

Sie nickte. Aber sie war nicht überzeugt von den Worten ihres Bruders.

„Ich werde diese Stimmung zeichnen. Ich sehe es noch so deutlich vor mir. Die Nebelstreifen, die über den Boden ziehen und das Land einhüllen.“

„Und wie willst du das machen? Einfach ein weißes Blatt schwarz malen?“, zog Salokin sie auf.

Sie fröstelte. Dieses Mal weniger aus Angst als aus Erinnerung an die Stimmung. Salokin nahm seine Schwester in den Arm.

„Komm herein. Es ist immer noch kalt. Lass uns den Frühstückstisch decken. Wenn Großvater zurückkommt, wollen wir essen.

Ich habe auch schon Riesenhunger.“

Sie ließ sich von Salokin ins Haus führen. Dort war ihre Mutter Anajo schon dabei, den Tisch zu decken, während ihr Vater Sakul ein Stück Wurst in Scheiben schnitt. Alles wie immer.

Friedlich und normal.

Das Käuzchen Zor hockte auf seiner Stange. Aber sein Kopf war nicht wie gewöhnlich zu dieser Zeit zum Schlafen unter die Flügel gesteckt – es blinzelte Salokin und Aidil mit offenen Augen entgegen.

Salokins Blick verdunkelte sich missmutig.

Die junge Heilerin und Seherin Heloise stand ebenfalls vor ihrem Haus und blickte in den Himmel. Sie wusste, dass etwas geschehen war, das den Einklang ihrer Welt gefährdete. Sie sah die Sonne durch die Wolken brechen, sah die Helligkeit des beginnenden Tages und fühlte dennoch die Dunkelheit.

Sie wartete auf Marbod. Sie beide waren sich seit ihrer Reise zum Garten der Freiheit sehr nah gekommen. Marbod hatte sich verändert. Damals war er als zorniger, unbeherrschter junger Mann aufgebrochen, unausgeglichen, ohne einen Plan für sein Leben. Heute hatte er seinen Weg gefunden. Er war jetzt neunzehn Jahre alt, und schon ein Baumeister.

Aber sie selbst war ja auch sehr jung – achtzehn Jahre – und bereits Heilerin und Seherin des Dorfes. Immer wieder suchte sie in ihren Gedanken den Rat ihrer alten Lehrerin Oriana. Außer den Ältesten, die an der geheimen Stätte der Ahnen mit den Verstorbenen in Kontakt treten konnten, war sie die Einzige, die das konnte. Nur durch ihre Gedanken und Gefühle, denn sie war hellsichtig.

Doch heute fand sie den geheimnisvollen Draht nicht, der sie mit der Geisterwelt verband. Sie konnte sich das nicht erklären.

Warum war die Verbindung getrennt? Oder lag es nur an ihrer eigenen Stimmung, die sie angstvoll machte und ihre mystische Feinfühligkeit und Sensibilität überdeckte?

„Heloise!“

Sie erwachte aus ihren Träumereien.

Marbod kam winkend auf ihr kleines Häuschen zu. Groß und breitschultrig war er, mit hellem Haar, das ihm bis über die Schultern reichte und einer undefinierbaren Augenfarbe, die ihr fröhlich entgegenstrahlte.

Auch sein Mund lächelte. Er fühlte ihre Ängste nicht. Wie sollte er auch?

Marbod freute sich, Heloise zu sehen. Vor drei Jahren hatte er sich in Heloise verliebt und so war es noch heute. Immer, wenn er sie sah, durchflutete ihn das Gefühl neu. Er liebte alles an ihr – ihre schlanke Gestalt - ihre kastanienbraune Haarflut, die ihr über den Rücken bis zur Taille floss - die dunklen Augen, die einem geradezu mitten ins Herz zu blicken schienen.

Er liebte ihre Sensibilität, ihr Mitgefühl, ihre sanfte Stimme.

„Guten Morgen!“, rief er fröhlich. „Das war ja eine Nacht – so eine Dunkelheit – fast so wie damals im Moor.“

Ja, wie im Moor, dachte Heloise. Nur Nebel. Und dann später die Dunkelheit. Neblige Dunkelheit. Aber das Moor war ein verfluchter Ort gewesen. Und hier lebten sie an einem Ort, wo zu dieser Zeit Helligkeit, Wärme und Sonne herrschten.

„Stimmt etwas nicht? Du wirkst so nachdenklich“, meinte Marbod.

Sie schüttelte die Gedanken ab. Was würde es nützen, Marbod zu ängstigen?

„Es ist alles in Ordnung. Die Erinnerung gruselt mich einfach.

Lass uns hinein gehen und frühstücken. Es ist heute ziemlich kühl draußen.“

„Ja. Ungewöhnlich kühl.“

Ungewöhnlich kühl. Heloise konnte ihre dunkle Vorahnung nicht vollkommen abschütteln. Aber sie wusste nicht, worum es eigentlich ging, wovor sie solche Angst fühlte. Sie konnte es nicht fassen und sie konnte nichts tun. Sie konnte nicht einmal jemanden warnen, weil sie nicht wusste, was dieses Es war. Aber wenn sie recht hatte, würde es sowieso auf sie zukommen. Dann war es nicht aufzuhalten und alle anderen würden es früh genug erfahren.

Urias hatte den Rat der Ältesten schnell um sich versammelt. Er brauchte ja nur einem von ihnen Bescheid geben, danach ruhte die Last, die Kunde weiterzugeben nicht mehr allein auf seinen Schultern. Die sieben Männer trafen sich in ihrem Raum im Gemeindehaus – dem ehemaligen Palast Cyprians.

Urias hatte nicht angedeutet, um was es ging. Er hatte nur verbreiten lassen, dass der Rat dringend umgehend zusammen kommen müsse. Die Nachricht war viel zu heikel, um sie anzudeuten.

Erst als alle zusammen saßen, verkündete Urias seine Entdeckung.

Sofort entstand unruhiger Tumult zwischen den Anwesenden.

Mein Gott – der rubinrote Stern, der dem Volk seinen Namen gegeben hatte, der das Tor zur Geisterwelt darstellte. Zu ihren Ahnen. Er war soviel mehr als ein Heiligtum, als eine Reliquie.

Es war das Herz ihrer Religion. Ihrer Spiritualität. Wie sollten sie nun mit ihren Ahnen sprechen, ihren Rat einholen?

Urias hob gebieterisch die Arme.

„Seid still. Wir müssen genau überlegen, was zu tun ist. Wir müssen planvoll vorgehen. Die alte Legende, die beinahe in Vergessenheit geraten ist, scheint sich bewahrheitet zu haben.“

„Wir müssen als erstes feststellen, ob auch die heiligen Symbole des Zaubermond-Volkes und des Sonnenfeuer-Volkes gestohlen wurden“, sagte einer. „Der sichelförmige, blaue Mond und die Sonne, die in Flammen zu stehen scheint.“

Urias nickte. „Das ist richtig. Aber ich glaube, es wird so sein.

Warum sollte nur bei uns das Symbol gestohlen worden sein?

Wäre das so, würden die Diebe den anderen Völkern die Möglichkeit geben, ihre Symbole besser zu schützen. Nein, sie mussten in der gleichen Nacht zuschlagen. In der Nacht der absoluten Schwärze - so wie es die Legende berichtet.“

Die Ratsmitglieder nickten. „Trotzdem sollten wir Kundschaftsadler aussenden“, rief wieder Einer. „Wenn es so ist, müssen wir gemeinsam beraten.“

„Das stimmt. Du hast recht. Aber wir müssen auch das Volk benachrichtigen“, sagte Urias.

„Nein!“

„Das Volk weiß doch gar nichts von unseren Riten am Altar.“

„Tu das nicht. Das Volk kann uns nicht helfen.“

Urias hörte sich die Einwände an, aber er war nicht sicher, ob es richtig war, sie zu befolgen.

„Vielleicht ist die Zeit gekommen, das Geheimnis zu lüften. Vor drei Jahren, als der Wolf Rato mich vor Cyprians Armee gewarnt hat, habe ich zu lange geschwiegen. Und gerettet hat uns schließlich eine Gruppe Jugendlicher. Wir sind die Weisen und Ältesten des Rubinstern-Volkes. Aber wir sind nicht seine Kämpfer.

Deshalb brauchen wir die Unterstützung der Jungen und Starken.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

Dann stimmte der Erste Urias zu.

„Ja, du hast recht. Wir können nicht losziehen und unsere Heiligtümer zurückholen.“

Zögernd stimmten auch die anderen zu. Es fiel ihnen schwer, die jahrhundertealte Tradition zu brechen, aber sie mussten sich eingestehen, dass es wohl nötig war.

„Dann ist es abgemacht. Wir müssen eine Dorfversammlung einberufen“, schloss Urias, woraufhin zustimmendes Gemurmel einsetzte.

Die Versammlung der Ältesten war beendet und die Männer traten wieder ins Freie.

Draußen war es jetzt warm. Die Sonne schien.

Nichts ließ vermuten, wie grausig dunkel die letzte Nacht gewesen war. Wie kalt noch dieser Morgen gewesen war.

Urias sah zwei Eulen auf einer Mauer sitzen, eine Graue und eine Braune. Er kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.

Was wollten die Eulen hier? Sie verließen niemals den Wald. Das war ihr Lebensraum. Außerdem schliefen Eulen normalerweise am Tag. In der Nacht, wenn alle anderen schliefen, wachten und jagten sie.

Eulen waren Vorboten des Unheils.

Aber Urias war zu alt, um sich von zwei Eulen ängstigen zu lassen. Wenn überhaupt, dann waren sie die Boten, mehr nicht.

Sie waren nicht die Verantwortlichen.

Die Familie wunderte sich, warum Urias nicht zurückkam.

Vermutlich hatte er einen Freund getroffen und saß mit ihm zusammen auf einer Bank und unterhielt sich und sah den Kindern zu, die draußen spielten, so wie er es gerne tat.

Wie auch immer – sie konnten nicht länger warten, sie frühstückten und danach ging Sakul aufs Feld, um seine Arbeiten dort auszuführen. Salokin begleitete ihn heute nicht. Er hatte Arbeiten am Haus zu erledigen.

Aidil holte ihre Staffelei und begann zu malen. Draußen, im hellen Sonnenlicht, versuchte sie, die geheimnisvolle, besondere Düsternis der letzten Nacht auf die Leinwand zu zaubern. Sie war eine gute Malerin, die auch aus der Erinnerung heraus Landschaften und Stimmungen einfangen konnte. Aber diese spezielle Stimmung fiel ihr sehr schwer. Es lag wohl daran, dass es einfach nicht ihrer Natur entsprach – sie war ein lebensfrohes Mädchen, der es leichter fiel, sich Blumen und Sonnenschein, einen Wald oder die Berge vorzustellen als diese Düsternis. Trotzdem wollte sie das unbedingt tun. Es hatte sie fasziniert. Es ging eine Art Zauber davon aus, etwas Mystisches.

„Das wird sehr schön. Ich bin wirklich überrascht“, staunte Salokin, der gerade neben sie trat.

Aidil hatte ihn gar nicht kommen gehört. Sie rümpfte die Nase.

„Meinst du wirklich? Ich habe Schwierigkeiten damit.“

„Es wird fantastisch. Genau so war es. Du fängst diese mysteriöse Atmosphäre sehr gut ein. Obwohl so ein düsteres Bild eigentlich gar nicht zu dir passt.“

Aidil sah auf und lächelte ihrem Bruder zu. Er hatte ihr immer Mut gemacht. Auch damals, als Cyprians General Heidan ihr das Zeichnen verboten hatte. Als sie traurig und deprimiert war, als die Krieger alle Blumen niedergetrampelt und den Wald abgeholzt hatten.

„Mm. Da hast du recht. Es gefiel mir ja auch nicht, aber es hat mich fasziniert. Das ist nicht immer das gleiche, weißt du?“

Er nickte. Ja, das konnte er verstehen.

„Schau mal“, rief sie verwundert aus. Sie sah eine graue und eine braune Eule, die elegant auf sie zuflogen.

Salokin folgte ihrem Blick. „Das ist seltsam“, meinte er staunend.

„Die Eulen haben noch nie den Wald verlassen. Außerdem ist es Tag. Da schlafen sie.“

Aidil nickte.

Die Eulen landeten auf Aidils Staffelei und legten den Kopf schief.

Die Graue heulte leise.

Aidil und Salokin verstanden nicht, was das zu bedeuten hatte.

Sie verstanden die ganze Situation nicht. Es war merkwürdig.

„Sie wollen uns etwas sagen“, meinte Aidil endlich.

„Was für ein Unsinn!“, rief Salokin aus.

„Doch. Kannst du sie nicht verstehen so wie Zor?“

Salokin lachte etwas missmutig auf. „Ich verstehe den Eulendialekt einfach nicht“, erwiderte er ironisch.

„Ach Salokin, immer noch so skeptisch?“, fragte Aidil freundlich.

Aber Salokin erinnerte sich. Gleich zu Anfang ihrer Flucht hatte er behauptet, Zor wolle, dass sie einen anderen Weg einschlagen.

Niemand hatte ihm geglaubt. Niemand konnte Zor verstehen.

Aber sie waren ihm schließlich alle gefolgt und es hatte sich als richtig erwiesen. Ja, Zor konnte er verstehen. Aber das Käuzchen war schon so lange bei ihm. Er verstand nicht unbedingt seine Worte – wenn man es überhaupt so ausdrücken konnte. Er verstand die kleinen Zeichen, die Körpersprache.

Er und Zor waren irgendwie miteinander verbunden.

„Es ist wie damals, als der alte Wolf Rato aus dem Wald kam, um Großvater vor Cyprians Armee zu warnen. Damals war es das erste Mal, dass ein Wolf ins Dorf kam und jetzt… Eulen sind Boten drohenden Unheils, Salokin“, bemerkte Aidil.

Salokin blickte seine Schwester irritiert an und schüttelte verständnislos den Kopf. „Eulen sind Tiere des Waldes, keine Boten“, sagte er ganz ruhig. Dann drehte er sich um und wollte wieder ins Haus gehen. Er wollte nichts hören von irgendwelchen mysteriösen Omen. Doch als er die Tür öffnete, flog Zor an ihm vorbei und ließ sich neben den Eulen auf der Staffelei nieder.

Aidil rann ein Schauer über den Rücken.

Salokin sah dem Käuzchen mit offenem Mund entgegen.

Als Urias zurückkam, sah er die beiden Eulen und Zor auf Aidils Staffelei vor dem Haus sitzen. Er wunderte sich nun doch. Waren die Eulen etwa bis ins Dorf gekommen? Und das am hellen Tag?

Und was tat Zor bei ihnen? Wieso schlief auch Salokins Käuzchen nicht?

Er warf einen Blick auf Aidils Bild und erstarrte. Sie hatte die Düsternis der Nacht eingefangen. Diese mysteriöse, neblige Düsternis, die das Unheil über ihr Volk gebracht hatte. Die in der alten Legende der Ursprung des Bösen war, das über sie kam.

Ach, hätten sie ihre Symbole doch besser geschützt. Aber diese alte Legende war so sehr in Vergessenheit geraten, niemand hatte bis zu dieser Nacht jemals darüber nachgedacht.

Urias erschauderte, wandte entschlossen sein Haupt ab und betrat das Haus.

„Es ist etwas geschehen“, begann er ohne Umschweife. Wir müssen eine Versammlung des gesamten Dorfes einberufen. Und wir müssen Kundschaftsadler zu den Völkern des Zaubermondes und des Sonnenfeuers aussenden.“

Aidil, Salokin und ihre Mutter Anajo wandten sich entsetzt um.

„Willst du nicht erst einmal frühstücken?“, fragte Anajo belanglos.

„Gib mir einfach einen Kanten Brot. Es kann nicht warten, Anajo.

Es ist zu wichtig.“

„Meine Güte, was ist denn geschehen?“

Doch Urias schüttelte den Kopf. „Etwas Furchtbares. Erspart mir, es zweimal erzählen zu müssen. Salokin, Aidil, bitte lauft durchs Dorf und sagt jedem, dass er sich in zwei Stunden im Gemeindehaus einfinden soll. Im großen Saal.“

„Ja natürlich“, erwiderte Salokin sofort. Es widerstrebte ihm eigentlich zutiefst, blindlings Befehle auszuführen, aber er konnte deutlich spüren, dass es dieses Mal wirklich sehr wichtig war und er besser nicht diskutieren sollte.

Aidil nickte nur.

Sie spürten beide das Unheil, das in Urias Stimme mitschwang.

Sie machten sich sofort auf den Weg.

„Fangen wir bei Nevet und Inska an“, schlug Salokin vor. „Die beiden können uns helfen, alle zu benachrichtigen.“

Aidil nickte. Das war eine gute Idee, auch wenn es sicher schwierig sein würde, besonders ihre Freundin Inska ohne nähere Informationen aufzurütteln. Sie wurde immer so schnell ängstlich.

Ängstlicher als andere. Deshalb war sie auch damals nicht mit auf die Reise zum Garten der Freiheit gegangen.

Aber durchs Dorf zu gehen und Menschen zu benachrichtigen, war schließlich etwas vollkommen anderes.

Sie selbst und Salokin wussten schließlich auch nicht, um was es ging.

Vor dem Haus kamen sie an der Staffelei vorbei, auf der noch immer die beiden Eulen und Zor hockten.

„Du kannst mir sagen, was du willst, Aidil – das Bild ist unheimlich. Mit den beiden Eulen darauf sogar noch mehr.“

„Boten des Unheils“, orakelte Aidil. Ihre Stimme klang schaurig und mysteriös.

Salokin antwortete nicht. Was konnte man angesichts Urias’ Ankündigung noch sagen. Irgendetwas war schließlich passiert.

Daran bestand kein Zweifel.

Irgendein Unheil kam über ihr Volk.

Und die Eulen saßen da. Wahrhaftig. Am hellen Tage.

Salokin schüttelte sich, bevor er und Aidil in entgegengesetzten Richtungen davon liefen.

Kapitel 2

Die Baroach

Es war ein weiter Weg gewesen durch den dunklen Wald. Und ein gefahrvoller Weg war es auch, denn dort lebten gefährliche Kreaturen. Aber sie waren mit ihrer schwarzen Kleidung beinahe unsichtbar und sie waren geschmeidig und schnell. Ihre Körper waren schon lange auf ihre schwere Aufgabe trainiert worden, die unbedingt in der Nacht der absoluten Finsternis stattfinden musste.

Eine solche Nacht würde es erst in zweihundert Jahren wieder geben. Hätten sie diese verpasst, wäre die Chance für ihre Lebensdauer verpasst gewesen. Aber sie hatten es geschafft und sie gelangten auch gut durch den dunklen Wald.

Ebenso wie die beiden Schattengestalten, die beim Dorf des Zaubermondes gewesen waren.

Die Zwei, die den Stein der brennenden Sonne gestohlen hatten, mussten einen anderen Weg bewältigen. Sie liefen über das Gebirge und kletterten von dort in die verzweigte Höhlenwelt des Berges Kalont, die niemand kannte außer vielleicht die Berglöwen. Aber die ruhten sich höchstens im Schatten eines Höhleneinganges aus, sie bewegten sich nicht in dieser unterirdischen Welt. Ihre Welt waren die Berge selbst.

Aber auch in den Höhlen gab es Gefahren, die bewältigt werden mussten.

Doch sie hatten es alle geschafft.

Sie trafen beinahe gleichzeitig bei ihrem unterirdischen Dorf ein.

Es lag direkt an einem See, umgeben von Stein und Feuer, das die Höhlenlandschaft ein wenig erhellte und wärmte. Es war eine düstere, surreale Atmosphäre.

In der Mitte stand ein riesiger Felsaltar, auf dem in der Vollmondnacht die Symbole zu dem Tor vereint würden, das die Unterwelt wieder öffnen würde. Daneben stand eine gusseiserne Schale, in der ebenfalls ein Feuer brannte. Es war das ewige Feuer, das niemals erlöschen durfte und das zu Ehren der Dämonen der Unterwelt brannte.

Doch bald würde sich ihr Leben ändern. Bald würden sie die Herren hier sein. Bald würden sie ans Licht treten und das Land beherrschen.

Die sechs schwarz gekleideten Schattengestalten hielten ihre Trophäen siegreich empor.

Den rubinroten Stern des Volkes des Rubinsterns.

Den sichelförmigen, blauen Mond vom Volk des Zaubermondes.

Die brennende Sonne vom Volk des Sonnenfeuers.

Die anderen ihres Volkes - der Baroach, der Anhänger von Nomed und Lefuet, den Herrschern der Unterwelt - versammelten sich im Kreis um sie. Sie stimmten einen leisen Singsang an.

„Sagga de poh Nomed e Lefuet! Sagga de poh Nomed e Lefuet!

Ehre sei Euch, Nomed und Lefuet und Zerialde, der Wächterin der Tore zu eurer Welt.“

Sie öffneten ihren Kreis, um einem Mann den Weg in ihrer Mitte frei zu machen. Er war auffallend groß und kräftig. Sein langer Umhang aus Schlangenleder schleifte über den steinernen Weg.

Auf seinem Haupt trug er eine Kopfbedeckung, die aussah wie ein Drachenkopf mit einem Hirschgeweih.

Der Mann war Benokul, der Priester der Unterwelt.

Gewaltig in seiner Erscheinung, trat er bis zur Mitte, in der die Schattengestalten noch immer die Symbole emporreckten.

Dann erhob er seine beherrschende, volltönende Stimme und drehte sich dabei im Kreis, um zu allen zu sprechen. „Es ist geweissagt, dass in der ersten Vollmondnacht, die auf die Nacht der vollkommenen Dunkelheit folgt, die Symbole zusammengefügt werden können und das Tor zur Unterwelt geöffnet wird. So soll es sein. In drei Nächten wird diese Vollmondnacht sein.“

Dann hob er die Arme, reckte sie weit auseinandergestreckt zur Höhlendecke und rief gen Himmel: „Zerialde! Wir haben die Schlüssel der Tore beisammen. Nomed und Lefuet, Herrscherbrüder der Unterwelt, steigt empor und übernehmt die Macht.

Und verhelft eurer Gefolgschaft zu ihrem Platz in der Welt.“

Daraufhin ließ er die Arme wieder sinken.

Auch die Schattengestalten nahmen die Arme hinunter und legten die heiligen Symbole auf die dafür vorgesehene Stelle an der Höhlenwand in Ringe aus Schlangenhaut und schwarzen Blumen.

Der Singsang des Volkes der Baroach setzte erneut ein:

„Sagga de poh Nomed e Lefuet! Sagga de poh Nomed e Lefuet!

Kapitel 3

Die Versammlung

Es kamen beinahe alle zu der einberufenen Dorfversammlung in das Gemeindehaus. Die Nachricht wirkte ja auch höchst alarmierend. So spontan und so dringend war noch nie eine Versammlung einberufen worden.

Nur die Mütter mit Kindern, die noch zu jung waren, um an dem Treffen teilzunehmen, aber auch nicht alleine zu Hause bleiben konnten, waren nicht anwesend.

Urias stand vor seinen Freunden, Bekannten und Mitbürgern und berichtete stockend von seiner Entdeckung.

Die Menschen tuschelten.

„Der rubinrote Stern?“

„Ein Tor zur Geisterwelt? Durch das die Weisen mit den Ahnen sprechen?“

„Eine Art Sprachrohr.“

Ja, das Geheimnis des heiligen Steinkreises war gelüftet.

„Könnt ihr jetzt keinen Kontakt mehr zu den Ahnen herstellen?“, rief einer.

Urias schüttelte sein weißes Haupt.

„Und zu den Göttern?“

„Nein, unsere Gebete werden sie nicht mehr erreichen.“

„Aber nein, das kann doch nicht sein!“, rief Salokin. „Die Götter sind mächtig. Sie brauchen kein Sprachrohr, um unsere Bedürfnisse zu erkennen. Und Heloise hat auch ohne rubinroten Stern mit den Ahnen gesprochen. Ich muss ja nur an unsere Reise zum Garten der Freiheit denken.“

„Ja, das stimmt!“, rief Heloise. „Ich wusste, dass Oriana gestorben war. Sie sprach zu mir.“

Zwischen den Menschen entstand Tumult. Sie flüsterten miteinander.

Das Flüstern wurde lauter und schwoll zu einem Geraune an, bis schließlich ein einziges aufgeregtes Stimmengewirr den Saal erfüllte.

Urias hob die Arme. „Seid still!“, rief er. Doch seine Stimme hatte zu wenig Kraft.

Er nahm seinen Stock, auf den er sich oft stützte und schlug damit so heftig auf den Boden, dass die Menschen wieder aufmerksam wurden.

„Seid still. Seid doch still!“, rief Urias. „Heloise ist hellsichtig. Es ist ihre besondere Gabe. Und Orianas Seele war damals noch nicht in die Geisterwelt gereist. Sie war in unserer Welt geblieben, um über euch zu wachen.“

„Vielleicht kann Heloise auch für uns beten“, rief einer ungeachtet der letzten Erklärung.

„Wir haben es doch niemals ohne diesen Stein probiert. Vielleicht brauchen wir ihn gar nicht“, rief ein anderer.

Urias hob wieder seine Arme. Die Menschen kannten nicht die Kraft des Steines, kannten nicht seine Magie. Sie hatten niemals gesehen, wie er zu leuchten begann, wenn einer der Weisen nach den Geistern rief.

„Es gibt noch einen anderen Aspekt. Wenn die drei heiligen Steine unserer Völker – der rubinrote Stern, der blaue Sichelmond und die brennende Sonne gemeinsam in die Hände einer gewissen Sekte geraten, können die Herrscherbrüder der Unterwelt wieder erweckt werden. Dann kommt Not und Unheil über uns. Dann wird das Böse die Macht über unser Land ergreifen.“

Es wurde still im Saal.

Diese Kunde beunruhigte alle.

Sie machte Angst.

„Was tun wir denn nun?“, fragte endlich einer.

„Wir haben bereits Kundschaftsadler ausgesandt, um zu erfragen, ob diese anderen Symbole ebenfalls gestohlen wurden. Ich glaube aber daran. Es würde keinen Sinn machen, nur unseren Stern zu stehlen. Es sei denn, jemand will nur unserem Rubinstern-Volk schaden.“

Salokin stand mit Aidil, Inska, Nevet, Heloise und Marbod zusammen an einer Seite des Saales und hörte gebannt zu. Er konnte kaum glauben, was geschehen war. Wieso nur war dieser Steinkreis so lange ein Geheimnis gewesen? Es war ein Sakrileg, wenn ein Nichteingeweihter ihn betrat.