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In einer anderen Welt als der, in der wir leben, wächst das Mädchen Elodie in einem kleinen Dorf auf. Mit 17 Jahren tritt sie, wie es immer für sie vorgesehen war, in ein Bergkloster ein. Eines Tage entdeckt sie bei ihren einsamen Spaziergängen eine Höhle. Neugierig geht sie hinein und erblickt zu ihrer Verwunderung in einer Höhlenwand einen Wald, in dem sie kämpfende Gruppen sieht. In einem der Männer erkennt sie ihren verloren geglaubten Freund Haymo. Und so muss Elodie lernen, dass es mehr als nur ihre Welt gibt und dass sie dazu in der Lage ist, das Tor zwischen diesen Welten zu durchschreiten. Doch es gibt noch größere Geheimnisse. Doch es gibt noch größere Geheimnisse. Was hat es zum Beispiel mit ihrer ungewöhnlichen Haarfarbe auf sich, die sie bisher als Laune der Natur empfunden hat? Warum denken die Menschen in der fremden Welt, dass sie die Auserwählte ist, die das magische Tor schließen und den Frieden wieder herstellen kann? Und warum wird sie von Feinden verfolgt?
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Seitenzahl: 363
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Prolog
Kapitel 1 Zukunftspläne
Kapitel 2 Haymo
Kapitel 3 Die Entscheidung
Kapitel 4 Die Botschaft
Kapitel 5 Neue Pläne
Kapitel 6 Neue Leben
Kapitel 7 Die Höhle
Kapitel 8 Sabeths Lehre
Kapitel 9 Sabeths Geheimnis
Kapitel 10 Ankunft in Vinginevio
Kapitel 11 Verfolgt
Kapitel 12 Sub Divo
Kapitel 13 Verrat
Kapitel 14 Unterwegs im Gebirge
Kapitel 15 Überlebenskampf
Kapitel 16 Wiedersehen
Kapitel 17 Wanderung durch den Wald
Kapitel 18 Cedars Schloss
Kapitel 19 Die neue Prinzeps
Kapitel 20 Rückkehr
In Elodies Welt:
Kimlima
Dorf, in dem Elodie lebt
See Ziwabe
Zuhause von Haymo
Elodie
Xenja und Ratmar
Elodies Eltern
Haymo
Elodies Freund vom See Ziwabe
Thyra
Hohepriesterin im Kloster
Nuria, Wilrun, Ayla,
Priesterinnen im Kloster
Klorind, Clivia, Jördis
der Sabethinerinnen
Sabeth
weise Frau, Gründerin des Ordens
Im Land Vinginevio
die fremde Welt
Segetem (lat: : Kornfeld)
das Dorf in Vinginevio
Oppidia (lat. Landstadt)
Ort, in dem Quills Familie lebt
Kivita (lat. Bürgerschaft)
Stadt mit Handwerkermarkt
Oren (Kiefer)
ein Bauer in Vinginevio
Myrta
Orens Ehefrau
Eik (Eiche)
Orens und Myrtas Sohn
Arnit (schöne Blume)
Dorfältester im Dorf Segetem
Tiare (tahitisch Blume)
Arnits seine Ehefrau
Eik
Arnits und Tiares Sohn
Quill (Narzisse)
Baumeister in der Stadt Oppidia
Linde (Lindenbaum)
Quills Ehefrau
Lilja (Lilie),Dorkas (Gazelle)
Quills und Lindes Töchter
Raban (Rabe)
Quills+Lindes Sohn, Haymos Freund
Kunal (Lotus)
Quills und Lindes Sohn
Manolya (Magnolie)
Heilerin aus den Bergen
Avem (lat. Vogel)
Manolyas Sohn
Prinzeps Yarrow (Schafgarbe)
Fürst, der für das Volk kämpft
Ritter Milan (Greifvogel)
Ritter unter Yarrows Befehl
Leander, Ren (Lotus)
zwei von Milans Kämpfern
Ritter Silva (Wald)
Ritter unter Yarrows Befehl
Prinzeps Cedar (Zeder)
machthungriger Fürst
Ritter Ursus (Bär)
Ritter unter Cedars Befehl
Hawk (Habicht), Ylan (Baum)
zwei von Ursus’ Kämpfern
Volk der Sub Divo
Naturvolk
(sub divo lat.: in freier Natur
/ unter freiem Himmel)
Berg Aaran
Berg, in denen die Sub Divo leben
Naoki (gerader Baum)
Manolyas Vater
Yara (Wasser)
Manolyas Mutter
Aaran (Berg der Stärke)
Anführer
Nabor (hebr. Prophet d. Lichts)
geistiger Führer der Sub Divo
Leilani (Frühling)
Manolyas Schwester
Koray (Mond)
Mitglied der Sub Divo
Ulula (Eule, Käuzchen)
alte Frau, Hüterin der Legenden
Joas (Feuer)
Mitglied der Sub Divo
Das Mädchen, eine junge Fürstentochter, war völlig überwältigt.
Zum ersten Mal war es ihr gelungen, die merkwürdige Welt zu betreten, die sie in den Steinen der Berghöhle sah. Als sie zum ersten Mal entdeckt hatte, welche Magie sich in der Höhle befand, wusste sie nicht, was es bedeutete. Immer und immer wieder hatte sie vor dem Bild gesessen, es auf sich wirken lassen und aufmerksam darauf geachtet, ob dies die Quelle irgendeiner Inspiration für sie war, was diese Entdeckung für ihr Leben zu bedeuten hatte.
Irgendwann war sie so tief in das Bild versunken, dass sie das Gefühl hatte, hineingezogen zu werden in diese andere Welt.
An diesem Tag gelang es ihr nicht, das Tor zu passieren, aber sie forcierte diese Erfahrung immer wieder und eines Tages schaffte sie es, durch das Tor zu schweben und sie fand sich auf dem moosigen Boden eines Waldes wieder.
Sie war verwirrt. Unruhe machte sich in ihr breit. Was hatte sie getan? Was, wenn sie nicht wieder zurückfand? Ihr erster Impuls war, sofort zurückzukehren, aber dann beruhigte sie sich. Sie war sicher, dass sie in einer vollkommen fremden Welt gelandet war, einer Welt, die es nicht in ihrem Universum gab und sie wollte sie erkunden.
Sie stand auf, wankte ein wenig, ihre Beine waren ganz wackelig.
Sie sah sich um. Es gab keinen Weg, nur dichtes Unterholz. In dem dicken Baum hinter sich erkannte sie die Höhle, aus der sie gerade gekommen war. Sie musste sich unbedingt den Weg hierher merken, sonst hatte sie keine Möglichkeit, zurückzukommen.
Sie ging los und kam schon bald auf einen breiten Wiesenpfad.
Sie prägte sich genau ein, wie der Wald an der Stelle aussah, die Bäume, der Weg… Sie schrak zusammen, als es im Unterholz raschelte.
Sie sah sich hektisch um, aber sie sah nichts. Sicher war es nur ein Tier, das durch das Unterholz huschte.
Sie lief den Weg entlang, kam schließlich zu großen Feldern, auf denen Bauern arbeiteten. Sie stutzte, als ihr die Werkzeuge und Gerätschaften auffielen, die die Bauern benutzten. Solche Werkzeuge hatten die Menschen in ihrer Welt vor hunderten von Jahren benutzt. War diese Welt nicht so weit entwickelt wie die Welt, in der sie lebte?
Die Menschen jedenfalls schienen freundlich zu sein, sie winkten ihr fröhlich zu und sie winkte zurück.
Das Mädchen kam in ein Dorf, in dem die Häuser einfache, mit Stroh bedeckte Lehmhütten waren. Noch immer hatte es das Gefühl, dass ihr jemand folgte.
Die junge Fürstentochter sah sich aufmerksam und ein bisschen ängstlich um. Dieses Mal sah sie ein Mädchen aus dem Schatten einiger Bäume treten. Sie war etwa im gleichen Alter wie sie selbst und sah sehr merkwürdig aus. Ihre Haare hatten die kräftige Farbe von Mais. So etwas gab es in ihrer eigenen Welt nicht.
„Folgst du mir?“, fragte sie.
Das fremde Mädchen nickte. „Wer bist du?“, fragte sie.
„Mein Name ist Sabeth, ich glaube, ich komme aus einer vollkommen anderen Welt.“
„Aus der Welt hinter dem Baum?“, fragte das Mädchen überraschenderweise.
Sabeth nickte. „Du kannst das Bild auch sehen?“
Die Fremde nickte. „Ja. Mein Name ist Ulula, ich gehöre zum Volk der Sub Divo.“
„Sub Divo? Was ist das für ein Volk?“, fragte Sabeth.
„Wir leben im Wald und in den Bergen. Wir leben im Einklang mit der Natur und deren Geistern. Nicht in Häusern wie die Dorfbewohner. Ich bin die Schülerin unserer Geschichtenerzählerin, der Bewahrerin der Legenden.“
„Eine schöne Aufgabe“, erwiderte Sabeth, obwohl sie keine genaue Vorstellung davon hatte, was das bedeutete.
„Soll ich dir unser Land zeigen?“, fragte Ulula.
Sabeth nickte. „Und vielleicht kannst du mich später auch zu dem Baum zurückbringen. Ich habe ein wenig Angst, ihn nicht wiederzufinden.“
Ulula lachte. „Das mache ich alles sehr gerne. Aber zuerst möchte ich dir andere Kleidung geben, damit du nicht auffällst. Niemand könnte damit umgehen, dass es eine fremde Welt neben unserer gibt.“
„Außer du selbst?“
Sie nickte. „Außer mir und meiner Lehrerin. Wir kennen die Legenden.“
In der nächsten Zeit kam Sabeth noch einige Male her. Sie lernte viel über das Land, sah die fantastischen, leichten, fließenden Stoffe, die die Menschen trugen. Solche Stoffe hatte sie bei sich zu Hause noch niemals gesehen. Der Rohstoff dafür wuchs an Pflanzen wie in ihrer Heimat die Baumwolle.
Ulula kletterte mit ihr durch die Berge und zeigte ihr Minen mit wunderbar funkelnden Steinen. Sabeth wusste nicht, wie wertvoll die waren, auch das Volk dieses Landes, das Vinginevio hieß, wusste es nicht oder es war ihnen gleichgültig. Niemand interessierte sich für diese Steine.
Nur die Frauen der Sub Divo brachen sie manchmal direkt aus dem Berg und fertigten Ketten daraus, die sie um ihren Hals oder als Schmuck an ihren Gewändern trugen. Aber es hatte keinerlei Wert, außer schön auszusehen.
Eines Tages brachte Sabeth auch ihren Vater in dieses Land. Der Fürst war ein weiser Mann, der entschied, dieses Land in seiner Entwicklung nicht zu stören und niemals wieder herzukommen.
Sabeth kam weiter her und besuchte die Sub Divo. Ulula jedoch weigerte sich, gemeinsam mit Sabeth in die andere Welt zu gehen.
„Was kann ich dort finden, das ich hier nicht schon habe? Eine wundervolle Natur, gute Freunde, meine Familie, mein Zuhause?
Ich bin sehr glücklich hier“, meinte sie.
Sabeth lernte vieles von dem Naturvolk. Sie lernte, in Einheit mit den Tieren und Pflanzen zu leben, ihre Zeichen und Sprachen zu verstehen. Naturgeister waren für diese Menschen keine unsichtbaren Wesen, sondern der Geist, der in allem mitschwingt, in jeder Begegnung, in jedem Tier, in jedem Moment, man musste nur alles sehr aufmerksam beobachten.
Sabeth war fasziniert davon und schwor sich, dieses Wissen in ihre Welt zu bringen.
Doch zunächst brachte sie ihren Bruder Enoch in diese Welt und damit die Ausbeutung und Gewalt…
In einer anderen Welt, weit entfernt von der Welt, in der wir leben, wuchs das Mädchen Elodie als einziges Kind ihrer Eltern Xenja und Ratmar in dem kleinen Dorf Kimlima auf. Sie hatte eine glückliche Kindheit, spielte mit anderen Kindern des Ortes und besuchte sogar den Schulunterricht. Sie war begierig darauf, alles zu lernen, was es zu lernen gab. Aber besonders gern mochte sie das Lesen.
Bücher eröffneten ganze Welten. Sie führten in Fantasiewelten, in andere Zeiten – ob in die Vergangenheit oder die Zukunft. Aber sie konnten auch eine Menge lehren. Elodie lernte vieles über Pflanzen und auch über das Land, in dem sie lebte. Es war ein riesengroßes Land, dessen Grenzen soweit von ihrem Dorf entfernt lagen, wie der Mond – zumindest kam es Elodie so vor.
Trotzdem sprachen alle Menschen in diesem großen Land ein und dieselbe Sprache, was für die Menschen das Reisen erleichterte.
Das hatten sie dem obersten Landesfürsten zu verdanken, der vor vielen vielen Jahren viele einzelne Staaten zu einem einzigen Land vereint hatte.
Auch über den Landesfürsten, der vor den Toren einer großen Stadt in einer Burg lebte, und über die Regierung in ihrem Land lernte Elodie aus den Büchern. Ach, es war einfach herrlich, soviel zu wissen.
Als sie zwölf Jahre alt war, nahm Xenja sie mit in ein Kloster hoch in den Bergen. Der Weg dorthin war steil, aber nicht allzu schwierig. Er führte zuerst über einen gepflasterten Weg und dann über einen Pfad inmitten von weiten Wiesen, der viel angenehmer zu laufen war, weil er so weich war.
Elodie hatte schon gehört, dass es hier oben ein Kloster zu Ehren der Naturgötter geben sollte, aber sie war noch niemals hier gewesen.
„Warum gehen wir heute dorthin?“, fragte sie.
„Du wirst es schon erfahren“, erwiderte Xenja.
„Aber Mama, du kannst es mir doch auch jetzt schon sagen.“
Elodie hüpfte ausgelassen vor der Mutter her. Die seufzte tief, aber sie antwortete nicht.
Elodie erkannte gerade daran, dass es einen besonderen Grund geben musste.
„Es ist wunderschön hier oben“, jubelte sie. „Warum waren wir noch niemals zuvor hier?“
Die Mutter hob die Schultern. „Es gibt hier ja nichts Besonderes zu tun.“
„Man kann die Natur genießen und den Ausblick. Schau doch nur, Mama.“ Dabei blieb sie stehen und wies auf die weite Aussicht über das Tal. Sie blickten über die kleinen Häuser ihres Dorfes und konnten etwas entfernt sogar schon das nächste Dorf erkennen. Ein kleiner Fluss schlängelte sich durch das Tal. Und ringsherum Berge und Wiesen, Himmel und Wolken.
„Schau!“, rief Elodie plötzlich mit gedämpfter Stimme.
Xenja blieb ebenfalls stehen, folgte dem Blick ihrer Tochter und erkannte eine Gemse, die sicher frisches Grün suchte, bevor sie sich wieder in die Berge zurückzog.
„Ja, du hast recht“, lächelte sie. „Vielleicht ist das Grund genug, hier herauf zu steigen.“
„Steigen? Was redest du da? Es ist doch ein ganz normaler Weg, der nur etwas bergan geht.“
Xenja seufzte. Sie hatte ja gewusst, dass Elodie ein besonderes Mädchen war. Wie schön es war, sie so begeistert zu sehen. Dass sie sich so für die Natur begeistern konnte, erleichterte ihr das, was sie tun musste.
Sie beobachtete ihre ausgelassen herumhüpfende Tochter. Ihr dichtes, glattes Haar hatte die ungewöhnliche Farbe von blassem Flieder und reichte ihr fast bis zur Taille. Die Farbe war eine Laune der Natur, wie Xenja es ausdrückte und Elodie mochte sie ausgesprochen gern. Bei jeder Bewegung wehten die Haare um ihren schmalen Körper herum. Ihre Augen waren groß und grün und schienen alles um sie herum aufnehmen zu wollen. Ihre Lippen waren voll und ihre Nase ein klein wenig zu breit. Sie hatte hohe Wangenknochen, was ihrem Gesicht etwas Edles verlieh. Sie sah ihr, Xenja, nicht ähnlich. Sie behauptete immer, dass Elodie ihrer Großmutter ähnelte, aber die kannte das Mädchen leider nicht. Xenjas Eltern wohnten weit entfernt, denn ihr Geburtsort lag in einem ganz anderen Teil des Landes.
Inzwischen war die Großmutter gestorben.
Mutter und Tochter gingen weiter, bis sie bei dem Kloster der Sabethinerinnen ankamen. Es war ein altes, steinernes Gemäuer, das fast mit den Felsen zu verschmelzen schien.
Elodie blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
Die Mutter betätigte einen schmiedeeisernen Türring an einem doppelflügigem Portal und nur Sekunden später wurde eine Tür innerhalb des riesigen Portals geöffnet. Eine junge Frau von etwa Mitte bis Ende zwanzig trat ihnen lächelnd entgegen. Sie trug ein langes, cremfarbenes, fließendes Gewand und einen Schleier auf dem Haar, der bis zu ihrer Taille floss.
Elodie betrachtete es bewundernd. Es sah wunderschön aus. Sie selbst kam sich fast ein bisschen schäbig vor in ihrem dunkelgrünen, schlichten Gewand aus leichter Wolle, das ihr bis zu den Waden reichte und um die Taille von einem breiten Gürtel geziert war. Die Mutter trug ein ähnliches Kleid in braun. Ihr Volk bevorzugte dunkle Farben und wollene Stoffe. Das hier wirkte so anders und so viel freundlicher.
Obendrein lächelte die Frau und strahlte so viel Herzlichkeit aus, dass Elodie sich auf Anhieb wohl fühlte.
„Guten Tag, ich bin Nuria. Ich führe euch zu Thyra, sie wartet schon ungeduldig.“
„Wir werden erwartet?“, fragte Elodie aufgeregt.
Nuria blickte sie liebevoll an. „Aber ja. Kommt nur beide mit.“
Das Kloster war von innen sehr behaglich, fand Elodie. Es hatte steinerne Wände und einen ebensolchen Bodenbelag im Gang. Es lag ein schmaler, schlichter Teppich darüber, der die Geräusche ihrer Schritte dämpfte.
An den Wänden hingen Bilder der verschiedenen Naturgeister oder Bilder von Landschaften. Unter der Decke hingen Kronleuchter. Alles war hell und freundlich, wie Elodie es in einem solchen Gemäuer nicht erwartet hatte. Vermutlich lag das an den großen Fenstern.
Nuria öffnete eine Tür und ließ Elodie und ihre Mutter in einen Raum eintreten. Er war nicht sehr groß, was wiederum seine Gemütlichkeit ausmachte.
Hier lag ein großer Teppichboden aus farbenfrohem Muster über dem Steinfußboden. In einem Kamin brannte ein Feuer.
Auf einem Tisch, um den herum einige Stühle standen, befand sich ein Teller mit Keksen und Tassen mit dampfendem Schokoladentrank.
Eine Frau, die ungefähr so alt war wie ihre Mutter und ähnlich gekleidet wie Nuria, stand daneben und breitete ihre Arme zum Willkommensgruß aus. „Tretet ein!“, grüßte sie freundlich.
Xenja lief auf die Frau zu und umarmte sie herzlich. „Thyra, es ist schön, dich wiederzusehen.“
Elodie setzte sich und genoss die Kekse und ihren Schokoladentrank. Doch in ihr entstand ein Gefühl, dass die beiden Frauen ihr etwas verschwiegen. Was war hier los? Um was ging es hier?
Endlich brachen Thyra und Xenja ihre bis dahin oberflächliche Unterhaltung ab und wandten sich Elodie zu.
„Nun, wie gefällt es dir hier?“, fragte Thyra freundlich.
„Ich habe von dem Kloster noch nicht viel gesehen, aber alles, was ich gesehen habe, finde ich wundervoll. Auch die Natur hier oben“, antwortete das Mädchen ehrlich.
„Hier leben wir Priesterinnen der Naturgeister zusammen. Wir nennen uns Sabethinerinnen“, erklärte Thyra.
„Sabethinerinnen?“, wiederholte Elodie.
Thyra nickte. „Ja, nach der Gründerin des Ordens, die vor fünfzig Jahren oder noch länger hier mit der ersten Gruppe gelebt hat.
Doch von ihnen lebt heute niemand mehr. Wir verehren die Naturgötter und bitten sie um eine gute Ernte – auch im Auftrag der Bevölkerung. Aber wir beten nicht nur, sondern haben viele andere Aufgaben. Wir bauen Gemüse und Obst an, verkaufen es auf den Märkten der Umgebung, um einige Münzen zu verdienen.
Wir besuchen Kranke und Verletzte und versuchen, ihnen ihr Leiden erträglicher zu machen, und wir erstellen Chroniken über die Wetterlagen. Außerdem haben wir eine große Bibliothek und ich habe gehört, dass du gerne liest.“
Das hatte die Priesterin gehört? Elodie staunte. Stand ihre Mutter etwa in Kontakt mit Thyra? Das Mädchen nickte vorsichtig.
Elodie hatte keine Ahnung, wohin dieses Gespräch führte.
„Könntest du dir vorstellen, hier zu leben?“, fragte Thyra dann unvermittelt.
Elodie kniff die Augen zusammen. „Ich soll hier bleiben?“
Nein, das wollte sie nicht. Sie wollte mit der Mutter zurück nach Hause gehen.
„Natürlich nicht jetzt“, beeilte sich Xenja zu sagen, die die Gedanken des Kindes erriet. „Aber du weißt, wenn ein Mädchen siebzehn Jahre alt wird, entscheiden die Eltern über ihre Zukunft.
Sie wählen einen Gatten aus oder schicken sie in eine Stellung in einen Haushalt oder zur Ausbildung zu einer Heilerin. Du sollst hierher kommen.“
„Hierher?“ wiederholte Elodie.
Innerlich frohlockte sie. Hier sollte sie leben? In dieser schönen Umgebung? In einem solch großen, reichen Haus mit einer Bibliothek? Und so nahe bei ihren Eltern?
Sie nickte wieder. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen“, erwiderte sie leise.
Xenja lächelte ihr zu. Sie war froh, dass es so einfach gewesen war. Sie hatte ein wenig Angst gehabt, dass Elodie dieser Plan nicht gefallen könnte.
„Das freut mich sehr“, sagte Thyra. „Und in der Zwischenzeit kannst du uns besuchen kommen so oft du magst. Du kannst uns alle und dein neues Zuhause schon einmal kennen lernen. So wird es dir viel leichter fallen, mit siebzehn Jahren hierher zu ziehen.“
„Und dann kann ich die Eltern immer besuchen gehen, nicht wahr? Und sie mich“, plauderte Elodie fröhlich los.
Thyra nickte. „Ja natürlich. Ist es nicht schön, dass ihr gar nicht weit voneinander entfernt wohnen werdet? Manchen geht es da schlechter.“
Ja, das wusste Elodie. So war es ja ihrer Mutter gegangen, als sie mit ihrem Vater nach Kimlima gezogen war. Und auch eine Kusine von ihr hatte geheiratet und war mit ihrem Mann weit fortgezogen. Deren Eltern waren sehr traurig darüber gewesen.
Elodie machte es nichts aus, dass sie nicht heiraten würde. Sie würde hier ein erfülltes Leben führen. Und hatte Thyra nicht gesagt, dass die Priesterinnen auch auf den Markt gingen oder Kranke besuchten? Sie würde niemals hier oben vollkommen einsam leben, denn sie würde ja unter Menschen kommen.
Erst auf dem Heimweg kam Elodie in den Sinn, die Mutter zu fragen, warum sie und Vater nicht lieber wollten, dass sie heiratete. „Ich bin euer einziges Kind, wollt ihr keine Enkelkinder?“, fragte sie.
„Ach Kind“, erwiderte Xenja leise. „Niemand bekommt im Leben alles, was er sich wünscht. Ich werde glücklich sein, dich für alle Zeit in meiner Nähe zu haben. Und was hätte ich am Ende von einem Enkelkind, wenn du ebenso weit entfernt lebst wie deine Kusine oder ich selbst von meinen Eltern? Du hast deine eigene Großmutter nur einmal gesehen, als du ganz klein warst, du kanntest sie im Grunde gar nicht. Und nun ist sie tot.“
Damit gab Elodie sich zufrieden.
Sie lebte mit der Gewissheit, mit siebzehn Jahren in das Kloster zu siedeln und freute sich durchaus darauf. Bei ihren Besuchen in der nächsten Zeit lernte sie Thyra besser kennen, aber auch andere Priesterinnen wie Nuria. Sie war sicher, dass sie sich wohlfühlen würde auf dem Berg.
Elodie war inzwischen sechzehn Jahre alt. Sie hatte in den letzten Jahren das Kloster immer wieder besucht und sich mit den Priesterinnen gut verstanden. Besonders mit Ayla, die auch erst vor zwei Jahren, nachdem sie siebzehn Jahre alt geworden war, dem Kloster beigetreten war, hatte sie sich angefreundet.
An den Zeremonien zu Ehren der Naturgeister durfte Elodie natürlich noch nicht teilnehmen, aber Ayla hatte ihr so viel davon erzählt, dass sie beinahe meinte, dabei gewesen zu sein.
An diesem Tag hielt Elodie sich nach ihrem Rückweg noch auf den Wiesen am Berghang auf und pflückte Blumen. Es war ein so schöner Frühlingstag, dass sie nicht sofort nach Hause gehen wollte. Außerdem geriet sie in der letzten Zeit immer mehr ins Grübeln. Würde sie wirklich das Richtige tun, wenn sie ins Kloster eintrat? Als Priesterin der Naturgeister?
Oh, sie mochte das Gebäude noch immer und die Priesterinnen auch. Sie hatte sich sogar schon Bücher aus der Bibliothek ausleihen dürfen, die wirklich beachtlich war. Es war ein Raum, der doppelt so hoch war, wie die anderen Räume. Und der war in seiner ganzen Höhe mit Büchern gefüllt. Galerien führten an den Regalen entlang, die man über Treppen erreichen konnte und auf denen man komplett den Raum umkreisen konnte.
In der Mitte standen Tische, an denen man lesen oder die Bücher genauer betrachten konnte, um sich schließlich für eines zu entscheiden. Außerdem waren gemütliche Sessel im Raum verteilt, in denen man mit seiner Lektüre versinken und träumen konnte.
Das gefiel Elodie außerordentlich.
Und sie fühlte sich in der Natur dort oben in den Bergen unendlich wohl. Die Luft schien ihr klarer zu sein als im Tal und man war irgendwie der Sonne näher. Es war alles noch viel weitläufiger, als sie vor vier Jahren, als sie zum ersten Mal hier gewesen war, gedacht hatte. In alle Richtungen führten Spazierwege, die sich auch wieder verzweigten.
Oh ja, Elodie konnte sich leicht vorstellen, dort zu leben. Zumindest eine Zeitlang. Aber das, was auf sie zukam, würde für immer sein. Und sie wusste nicht, ob sie für immer so leben wollte. Sie konnte sich im Augenblick nichts vorstellen, dass irgendjemand für immer tun wollte. Für immer war so verdammt lang und brauchte man im Leben nicht auch Veränderungen?
Allerdings lag es sowieso nicht in ihrer Hand, ihre Zukunft zu ändern. Bei ihrem Volk war es nun mal üblich, dass die Eltern den Werdegang ihrer Kinder bestimmten. Und das war sicher auch richtig so. Sie verfügten über viel mehr Erfahrung und Weisheit. Ach, sie sollte nicht soviel darüber grübeln, es waren keine guten Gedanken, es war rebellisch und undankbar.
Die Jungen hatten es ein wenig leichter. Sie waren zwar in ihrer Berufswahl nicht völlig frei und übten meistens den Beruf ihres Vaters und Großvaters aus, aber sie konnten reisen, ihren Beruf auf der Wanderschaft erlernen, so wie ihr Vater das getan hatte und sie konnten sich die Partnerin aussuchen, die sie sich wünschten. Es kam dann nur darauf an, ob die Eltern des Mädchens zustimmten. Wenn ein Junge gar nicht heiraten wollte, war es auch in Ordnung. Er hatte ja sein Einkommen, niemand musste ihn versorgen.
Elodie seufzte, ein wenig beneidete sie die Jungen, aber es war ja nicht zu ändern. Die Eltern hatten sicher so entschieden, wie es richtig war.
Sie hatte bereits einen ganzen Arm voller Blumen in den herrlichsten Farben, als sie ganz langsam Richtung Dorf zurück schlenderte. Sie ging inzwischen oft querfeldein, anstatt den ausgetretenen Wiesenpfad zu benutzen. Das machte noch viel mehr Spaß und gab ihr das Gefühl von Freiheit.
Sie sang leise vor sich hin, als ihr direkt hinter der Dorfgrenze ein junger Mann in der Arbeitskleidung der Zimmerer entgegenkam.
Elodie kannte die Kluft gut, ihr Vater war ja Baumeister und bildete manchmal Zimmerer aus. Diesen hier kannte Elodie allerdings nicht. Es war ihr ein wenig peinlich, weil er ihren Gesang gehört hatte.
„Guten Tag, junges Fräulein“, grüßte der junge Mann fröhlich.
„Guten Tag“, erwiderte Elodie etwas zurückhaltender.
„Kannst du mir sagen, wo ich hier einen Baumeister finden kann?
Ich bin Zimmerer auf der Wanderschaft und suche Arbeit.“
Jetzt lächelte Elodie. „Natürlich. Das ist mein Vater. Du kannst mich begleiten.“
Ein Strahlen flog über sein Gesicht. „Das mache ich gern.“
Sie blickte ihn etwas verstohlen an. Er war größer als sie und sicher vier oder fünf Jahre älter. Er war gut gebaut, was bestimmt an seiner Arbeit lag, bei der man körperlich arbeiten musste.
Auch ihr Vater war recht muskulös. Der junge Mann hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit einem dunklen Teint. Elodie vermutete, dass er aus einem anderen Teil des Landes kam. Auch sein Haar war dunkelbraun und seine Augen nur wenig heller.
„Mein Name ist übrigens Haymo“, stellte er sich vor. „Ich komme aus dem tiefsten Süden, bin schon ziemlich weit herumgekommen und habe überall viel gelernt.“ Er lachte.
Sie stimmte ein. Er hatte ein fröhliches, unbeschwertes Lachen, das sie mitriss.
„Ich bin Elodie. Mein Vater ist Ratmar.“
„Der Baumeister des Ortes.“
„Genau. Dort drüben ist schon unser Haus.“
Der Vater war natürlich auf einer Baustelle unterwegs und konnte den Gast erst am Abend kennen lernen. Er freute sich über den Besucher, denn zu dieser Jahreszeit hatte er immer viel Arbeit und ihm fehlten auf jeden Fall ein paar helfende Hände.
„Ein Zimmerer auf der Wanderschaft. Das ist eine sehr gute Art, das Handwerk zu erlernen“, meinte Ratmar, als sie zu Viert um einen Kessel mit Bohnensuppe herumsaßen. „Überall haben die Menschen andere Methoden entwickelt und wer viele davon lernt, ist entschieden im Vorteil. Auch ich bin vor vielen Jahren auf eine solche Wanderschaft gegangen. Von dort habe ich meine Frau mitgebracht.“ Er lachte und Xenja schmunzelte vor sich hin, als sie an die Zeit ihres Kennenlernens dachte.
Haymo hielt seinen Kopf über seinen Teller Suppe gesenkt und blinzelte verstohlen Elodie an. Sie bemerkte es und errötete leicht.
„Aus welchem Teil des Landes kommst du?“, fragte Ratmar ohne den Blickwechsel zu bemerken.
„Mein Zuhause ist am großen See Ziwabe. Dorthin werde ich zurückkehren, wenn meine Wanderschaft vorüber ist.“
„Möchtest du soviel lernen, dass du als Baumeister zurückkehren kannst?“, fragte Ratmar.
„Das ist durchaus mein Wunsch“, erwiderte Haymo bescheiden.
„Dann kannst du gleich morgen mitkommen. Ich habe viel zu tun und nur einen Gehilfen. Du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt.“
Haymo strahlte, er freute sich, dass er so gut aufgenommen wurde. Ein weiteres Mal schielte er zu Elodie. Dieses Mal bemerkte Xenja den Blick.
„Meine Tochter Elodie wird in wenigen Monaten, wenn sie siebzehn Jahre alt ist, in den Orden der Sabethinerinnen eintreten. Das Kloster liegt oben in den Bergen. Dort leben Priesterinnen der Naturgeister. Sie bitten um das rechte Gleichgewicht der Natur, um Regen oder um Sonne zur rechten Zeit. Sie besänftigen, bitten und verehren die Götter. Eine noble Aufgabe und ein gutes Leben, wie ich meine“, plauderte sie drauf los. Sollte dieser junge Mann lieber von Anfang an wissen, dass Elodie nicht für ihn zu haben war.
Für Haymo waren ihre Worte wie eine Dusche kalten Wassers.
Dieses schöne junge Mädchen mit der ungewöhnlichsten Haarfarbe, die er jemals gesehen hatte, sollte ihr ganzes Leben in einem einsamen Bergkloster zu Ehren der Naturgötter verbringen? War sie damit einverstanden? Sie sagte nichts dazu und er konnte an ihrem Gesicht keine Regung bemerken.
In seiner Heimat entschieden die Jugendlichen selbst über ihre Zukunft. Natürlich sprachen sie mit den Eltern über ihre Pläne, aber bestimmen taten sie selbst.
Hier war das anders, das hatte er auf seiner Wanderschaft bereits gelernt.
Andere Länder, andere Sitten, dachte er. Es war ja nicht sein Problem.
Haymo wurde für Ratmar rasch zu einem unersetzlichen Mitarbeiter.
Hätte der jedoch erkannt, dass Haymo auch für seine Tochter Elodie immer wichtiger wurde, hätte er ihn trotzdem aus seinem Haus gewiesen. Aber weder Ratmar noch Xenja bemerkten die sanfte Entwicklung.
Elodie mochte die ungezwungene, fröhliche Art von Haymo sehr.
Sie bemerkte selbst kaum, dass ihre Gefühle sich veränderten. Es geschah einfach und als es ihr bewusst wurde, traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz. Unvorbereitet und mit Macht. Sie hatte sich in den gutaussehenden zweiundzwanzigjährigen Mann verliebt. Elodie versuchte, es sogar vor sich selbst zu verbergen. Sie wollte das nicht, es durfte nicht sein. Ihr Weg war doch längst beschlossen und lag klar vor ihr. Sie würde den Schwur der Priesterinnen leisten. Sie konnte nicht zurück. So etwas hatte es, soviel sie wusste, noch niemals gegeben.
Eines Tages folgte Haymo ihr, als sie auf der Suche nach Klarheit das Kloster besuchen wollte.
„Elodie“, rief er hinter ihr her. Sie wandte sich um und erstarrte.
„Haymo, was willst du hier?“
„Ich will nur die Umgebung kennen lernen. Ratmar hat mir die Erlaubnis gegeben. Er sagte, ich hätte fleißig gearbeitet und es würde allmählich Zeit, dass ich einen freien Tag bekomme, an dem ich tun und lassen kann, was ich will.“
Elodie nickte. „Ja natürlich, das stimmt schon.“
Er blickte sich um. „Es ist sehr schön hier. Dort, wo ich herkomme, gibt es keine Berge. Dafür den großen, glitzernden See.“
Elodie lächelte. „Das ist sicher auch sehr schön.“
„Ja, das ist es.“
Sie schickte sich an, weiter zu gehen, aber er hielt sie auf.
„Haymo, nicht“, bat sie.
„Ich will nur mit dir reden.“
„Es gibt zwischen uns nichts zu reden.“
„Ich denke doch. Elodie, du bist mir nicht gleichgültig und ich glaube…“
„Ich leiste den Schwur der Priesterinnen.“
„Warum?“
„Warum? Weil meine Eltern es so für mich entschieden haben.“
„Ich verstehe das nicht. Warum wollen sie nicht, dass du heiratest und ihnen Enkelkinder schenkst?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leise. Dieselbe Frage hatte sie einst ihrer Mutter gestellt.
„Und was willst du selbst?“, fragte Haymo.
„Ich…“ Ich will es auch, wollte sie sagen, aber sie konnte nicht.
Die Worte wollten nicht über ihre Lippen. Sie senkte den Kopf.
„Ich fand, es war eine schöne Zukunftsaussicht. Es ist ein so schönes Kloster, reich ausgestattete Räume, eine wundervolle Umgebung und die Arbeiten sind sicher nicht zu schwer. Die Priesterinnen sind freundlich und die Naturgötter müssen wir doch verehren. Es war alles selbstverständlich und klar für mich - vor fünf Jahren, als ich davon erfuhr. Noch vor kurzem fühlte es sich richtig an, aber dann bekam ich erste Zweifel, ob ich mein ganzes Leben so führen will.“
„Und heute?“
„Und heute gehe ich zum Kloster mit der Bitte, die Zweifel von mir zu nehmen.“
Wieder wollte sie weitergehen. Er hielt sie am Arm zurück.
„Nicht, Haymo.“
Er folgte ihren Blick in Richtung Dorf, das noch nicht sehr weit entfernt war.
„Kann diese Entscheidung nicht geändert werden? Dort, wo ich herkomme, entscheiden die jungen Leute selbst. Es ist ja schließlich unser Leben.“
„Im Ernst? Auch die Mädchen?“
„Ja. Sie suchen sich selbst ihren Partner aus oder ob sie etwas anderes im Leben tun wollen. Es ist ihre freie Entscheidung.“
„Und welchen Beruf die Jungen ausüben, wählen sie auch selbst?
Sie müssen nicht den Beruf ihres Vaters ausüben?“, staunte Elodie.
Haymo nickte. „Ja. Mein Vater ist zum Beispiel Kaufmann.“
Das erstaunte Elodie sehr. Sie wusste nicht, ob das richtig war.
„Hier entscheiden die Eltern, weil sie über mehr Weisheit verfügen“, sagte sie.
„Aber sie haben nicht deine Träume“, erwiderte Haymo leise.
Als sie ein drittes Mal weiterging, hielt er sie nicht zurück, sondern folgte ihr. Schweigend gingen sie den Wiesenpfad entlang, bis sie außer Sichtweite des Dorfes waren. Dort blieb er stehen und zog sie ohne Vorwarnung in seine Arme. Sie schrie überrascht auf, aber sie wehrte sich nicht. Seine Umarmung tat ihr gut. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter.
„Kann die Entscheidung nicht geändert werden?“, wiederholte Haymo seine Frage.
„Nein, diese Entscheidungen sind Abmachungen. Sie werden nicht geändert. Niemals.“
„Komm trotzdem mit mir, wir gehen in meine Heimat.“
„Aber Haymo, ich kann doch nicht einfach meine Eltern verlassen. Im Streit, ohne Abschied.“
„Versuch mit ihnen zu reden. Bitte sie, dich von der Entscheidung zu entbinden. Du wusstest ja noch nicht, dass ich in dein Leben trete.“
„Man weiß nie, was kommt, wenn die Zukunftsentscheidungen getroffen werden. Sie dienen ja auch dem Schutz. Wenn meinen Eltern etwas zugestoßen wäre, hätten die Priesterinnen mich schon früher aufgenommen und für mich gesorgt.“
„Ich kann für dich sorgen, Elodie“, beschwor er sie.
Er löste sich ein wenig, hob ihr Kinn an und küsste ihren Mund.
Elodie war noch niemals so geküsst worden, es fühlte sich gut an.
Weich und warm, zärtlich und beschützend. Sie wollte für immer mit ihm hier stehen. Auf der Wiese zwischen den Bergen, irgendwo im Nichts zwischen dem Dorf und dem Kloster. Aber das war ja Unsinn, was ging nur in ihrem Kopf vor?
Sie wusste, dass sie den Schwur der Priesterinnen nicht aus vollem Herzen leisten konnte. Sie ging an diesem Tag nicht zum Kloster und bat um Klarheit. Es war ja auch überflüssig, sie fühlte mit absoluter Klarheit, was sie selbst sich erträumte.
Sie und Haymo legten sich ins Gras, sie lag in seinem Arm, ihren Kopf auf seine Brust gebettet. Sie genossen es beide, beisammen zu sein, jeder die Gegenwart des anderen zu fühlen, die Wolken ziehen zu sehen, Schmetterlinge zu beobachten und kleine Käfer über die Arme krabbeln zu lassen.
So lagen sie beisammen, bis es langsam kühler wurde.
„Wir müssen nach Hause gehen, aber wir sollten nicht zusammen dort auftauchen“, sagte Elodie schließlich.
„Ja, das ist klar“, stimmte er zu. „Dann geh du zuerst. Ich warte, bis es dunkler ist und komme dann nach. Wenn mich einer fragt, wie ich meinen freien Tag verbracht habe, werde ich sagen, dass ich eine Wanderung in die Berge unternommen habe.“
Sie nickte zustimmend.
Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu lösen und aufzustehen.
Sie strich ihr Kleid glatt, achtete darauf, das nirgendwo Grasflecken waren und ging dann mit einem letzten Blick auf Haymo den Pfad wieder hinab ins Dorf.
In der nächsten Zeit trafen sie sich oft an ihrem Platz, wie sie ihn jetzt nannten und stahlen sich wertvolle Augenblicke der Zweisamkeit. Sie lagen zusammen im Gras, hielten sich im Arm, sahen den Wolken zu.
„Oh, sieh dort!“, rief Elodie einmal. „Die Wolken sehen aus wie zwei Menschen, die sich ansehen.“
„Ja, tatsächlich“, stimmte Haymo zu. „Und schau, sie schweben aufeinander zu.“
„Ja. Es ist ein Zeichen, Haymo.“
„Ein Zeichen?“
„Ja natürlich. Für uns.“
„Meinst du? Nun, davon verstehe ich nichts. Aber um bei dem Bild zu bleiben: Ja, wir treiben tatsächlich immer weiter aufeinander zu, meinst du nicht?“
„Ja“, hauchte sie.
„Ich bin jetzt schon eine Weile hier. Und dein siebzehnter Geburtstag rückt näher.“
„Ja.“ Durch ihren Körper fuhr ein unangenehmes Kribbeln. Es lag an der Angst, wenn sie daran dachte. Für sie selbst stand inzwischen fest, dass sie mit Haymo gehen wollte.
„Rede endlich mit deinen Eltern. Wir können es auch gemeinsam tun, aber es muss bald sein“, drängte er sanft.
„Ja, du hast recht. Und wenn sie nicht zustimmen?“
„Dann gehen wir zusammen fort. Wenn es sein muss, heimlich.
So wie wir uns auch jetzt fortstehlen, nur, dass wir dann nicht mehr zurückkommen. Dagegen können sie nichts tun. Sie werden uns sicher nicht jagen lassen.“
„Nein, das wohl nicht. Aber ich soll meine Eltern einfach verlassen? Davonlaufen? Förmlich fliehen und sie niemals wieder sehen?“
„Nur im Notfall. Und wer redet denn von niemals wieder sehen?
Niemals ist sehr lange. Eines Tages könnten wir trotzdem zurückkehren. Vielleicht mit unseren Kindern. Dann werden sie ausgesöhnt sein.“
Es war eine furchtbare Vorstellung. Elodie liebte ihre Eltern. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass sie Verständnis haben würden.
Immerhin hatte auch der Vater sich einst auf seiner Wanderschaft in Xenja verliebt und sie geheiratet. Auch die Mutter kam aus einer anderen Gegend, in der ihr Wunsch offenbar respektiert wurde. Vielleicht würde die Mutter sie gerade deshalb verstehen.
Aber sicher war Elodie keineswegs. Für ihre Gegend und ihr Dorf war ihr Vorhaben schon sehr ungewöhnlich.
Und dann drehte sich in den letzten Tagen immer häufiger und aufdringlicher die Frage in ihrem Kopf: Warum wollen die Eltern, dass ich ins Kloster gehen? Was steckt wirklich hinter diesem Plan?
Einst hatte sie solche Gedanken verdrängt, aber nun waren sie wieder da. Lauter und drängender als zuvor und mit ihnen das unbestimmte Gefühl, das etwas nicht stimmte. Dass ihr etwas verheimlicht wurde.
Irgendetwas.
Die Mutter schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund, als sie von Elodies Wunsch hörte. „Nein, das geht nicht“, sagte sie leise und Elodie glaubte, die Traurigkeit in ihrer Stimme zu hören. Keinen Ärger, keine Verständnislosigkeit, auch keine Enttäuschung, weil die Tochter plötzlich ihre Entscheidung infrage stellte. Nein, es war Traurigkeit. Warum? Weil sie gerne Elodies Wunsch erfüllt hätte und es nicht konnte? Dann stellte sich wieder die Frage nach dem Warum.
„Das können wir dir wirklich nicht erlauben, Elodie“, ergänzte der Vater mit wesentlich festerer Stimme.
„Aber wieso nicht? Und wieso wollt ihr überhaupt, dass ich ins Kloster gehe? Ich bin euer einziges Kind. Ihr verschenkt damit die Möglichkeit, Großeltern zu werden.“
„Es ist ein gutes Leben, das du dort führen wirst“, sagte die Mutter. „Es hat dir doch selbst gefallen.“
„Ich habe es akzeptiert und ich fand es nicht so schlecht, das stimmt. Als ich zwölf Jahre alt war und der Tag meines Eintritts noch in weiter Ferne lag. Ich frage mich heute sowieso, warum ihr so früh entschieden habt. Das tun nicht alle Familien.“
„Ach Kind, es war doch gut, dass du schon mal das Kloster und die Priesterinnen kennenlernen konntest, bevor du dorthin ziehst.
Und du warst abgesichert, falls Papa und mir etwas zugestoßen wäre.“
„Dafür hätte es andere Möglichkeiten gegeben. Wie auch immer - jetzt bin ich bald siebzehn Jahre alt und ich kann mir einfach nicht vorstellen, mein ganzes Leben dort oben in den Bergen zu verbringen. Abgeschieden. Ich sehne mich nach etwas anderem.“
„Ich kann mir denken, was das ist“, erwiderte der Vater streng und mit einem Blick auf Haymo.
„Ist das so schlimm?“, fragte Elodie. „Ja, ich möchte mit ihm zusammen sein. Und ich möchte in andere Länder reisen. Ich mag die Berge, ich möchte alle Wege dort oben erwandern, aber nicht mein ganzes Leben lang ausschließlich.
Vater, du hast doch auch Mutter geheiratet. Ihr beide hattet die gleichen Wünsche.“
„Xenja kam aus einer Gegend, in der sie selbst bestimmen durfte und sie ist mit mir gegangen. Du bist nicht in der Situation. Du gehst zu Thyra. Und Haymo wirst du vergessen.“
„Das werde ich sicher nicht!“, begehrte Elodie auf und sprang von ihrem Stuhl hoch. Haymo fasste ihre Hand und drückte sie beruhigend. Elodie atmete tief durch und setzte sich wieder.
„Elo, so kennen wir dich ja gar nicht“, brachte die Mutter erstaunt über den Ausbruch ihrer Tochter hervor.
„Ist es eine Frage des Geldes?“, fragte Haymo dann. „Ich meine, würde diese Thyra nicht auf die Brautgabe verzichten, die in solchen Fällen ja das Kloster bekommt?“
„Woher soll ich das wissen?“, brummte Ratmar.
„Ich würde auf eine Mitgift verzichten. Ich kann uns ernähren.
Thyra kann das Geld bekommen“, bot Haymo sofort an.
Die Mutter blickte die beiden jungen Leute fast mitleidig an. „Ihr liebt euch wirklich, nicht wahr?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete Haymo schlicht.
„Ich will bei ihm sein“, erwiderte Elodie.
Xenja legte ihre Hand auf Ratmars. Der schaute sie an und in seinen Augen lag eine gewisse Resignation. Elodie bemerkte es und wusste nicht, wie sie das deuten sollte. Das Geld war doch jetzt geklärt. Wenn die Eltern zustimmten, konnte sie ihr Schicksal ändern.
„Ich glaube nicht, dass Thyra auf dich verzichtet“, meinte Ratmar.
„Warum nicht? So wichtig kann ich für Thyra doch nicht sein!“, rief Elodie verzweifelt.
Wieder war da diese Hilflosigkeit im Blick von Xenja und Ratmar. Auch Haymo bemerkte es und zog die Augenbrauen zusammen. Was war nur los? Steckte mehr hinter dieser Entscheidung? Gab es ein Geheimnis?
„Wenn Thyra zustimmt, könnt ihr zusammenbleiben“, entschied Ratmar endlich. „Deine Mutter und ich wünschen uns wirklich, dass du glücklich wirst. Wir waren so froh, dass du von Herzen einverstanden warst mit dem Plan.“
Elodie fiel ein Stein vom Herzen. Thyra musste doch einfach zustimmen. Warum sollte sie nicht? Sie bekam schließlich ihr Geld und Elodie, konnte doch für das Kloster nicht so wichtig sein, dass Thyra auf einen Eintritt gegen ihre Überzeugung bestand.
Haymo begleitete Elodie zum Kloster. Die Eltern waren dagegen, aber Haymo ließ sich das nicht ausreden. Er wollte das Elodie nicht allein machen lassen. Sie wussten ja nicht, ob es ein leichtes oder ein schwieriges Gespräch werden würde. Und es ging ihn ebenso viel an wie Elodie. Auch sein Schicksal hing davon ab.
„Was machen wir, wenn sie ablehnt? Gehst du dann trotzdem mit mir fort?“, fragte er, während sie den Pfad hinaufstiegen.
Elodie schwieg und grübelte. Ja, das wollte sie. Sie würde mit ihm gehen. Fliehen vor einem Leben im Kloster. Laufen in eine Zukunft mit Haymo. Aber das würde auch bedeuten, dass sie sang- und klanglos ihre Eltern zurücklassen müsste. Ohne Abschied. Vielleicht sogar ohne sie jemals wiederzusehen. Nein, das sicher doch nicht. Nach ein paar Jahren, wenn Gras über ihre Flucht gewachsen wäre, könnte sie zurückkehren. Möglicherweise mit Kindern, dann wären die Eltern sicher versöhnt.
„Elo, du sagst ja gar nichts?“, drängte Haymo besorgt.
Sie blickte ihn an. Sah seine muskulöse Gestalt, seinen dunklen Teint und sein braunes, etwas zerzaustes Haar. Seine Augen sahen besorgt aus. Und sie wusste ohne jeden Zweifel, was sie tun musste. Sie konnte gar nicht anders handeln.
Sie lächelte.
„Natürlich werde ich mit dir gehen. Wie könnte ich nicht? Würde ich allein hier bleiben, würde ich weiter existieren, aber nicht mehr leben.“
Er blieb stehen und zog sie in seine Arme, küsste sie, streichelte über ihr Haar. Ein tiefes Glücksgefühl durchfuhr Elodie. Sie wusste, sie hatte richtig entschieden und würde das auch wirklich genauso machen, wenn Thyra sie nicht freigeben würde.
Ihre Sorgen flogen davon. Denn sie wusste, nichts würde sie von Haymo trennen.
Als er Hand in Hand mit Elodie auf das Kloster zutrat, überfiel ihn ganz plötzlich und ohne erkennbaren Grund eine Abneigung.
War es das trutzige, steinerne Gemäuer, wie er sie aus seiner Heimat nicht kannte und das abweisend auf ihn wirkte? Oder lag wirklich etwas in der Luft? Ging etwas von den Mauern aus?
Unsinn, redete er sich in Gedanken zu. Das Gespräch kommt jetzt näher, wir stehen vor dem Kloster, das bisher nur ein unsichtbares Gebäude für mich war. Ich bin besorgt, dass das Gespräch nicht gut verläuft. Von den Mauern geht gar nichts aus.
So etwas gibt es nicht.
Elodie betätigte den schmiedeeisernen Klopfer und eine schon ältere Priesterin in dem cremefarbenen fließenden Kleid und Schleier auf dem ergrauten Haar öffnete.
„Elodie, welche Überraschung“, begrüßte sie das Mädchen und nickte dem männlichen Gast reserviert zu.
„Sei gegrüßt Wilrun. Ich… wir müssen mit Thyra sprechen. Es ist sehr wichtig.“
„Aber Männer dürfen unser Kloster nicht betreten“, erwiderte Wilrun.
Haymo dachte, dass es wohl doch eine Vorahnung gewesen war, die ihn beim Nähergehen erfasst hatte, wenn jetzt und hier schon die Probleme begannen. Er klammerte sich an den Gedanken, dass Elodie so oder so mit ihm gehen würde.
Hat mich deshalb mein Vater vor fünf Jahren nicht begleitet, fragte Elodie sich jetzt. Sie hatte nie darüber nachgedacht, aber jetzt fand sie es merkwürdig, dass Ratmar zu diesem wichtigen Termin nicht dabei gewesen war.
„Es ist aber sehr wichtig. Wenn er nicht hinein darf, kann Thyra dann vielleicht heraus kommen?“, fragte Elodie höflich.
Wilrun seufzte. „Warte hier. Ich gehe sie fragen.“
Als Thyra vor das Tor des steinernen Gemäuers trat, lächelte sie Elodie entgegen. Doch fast im selben Augenblick bemerkte sie Haymo und ihr Blick veränderte sich.
Haymo hatte das Gefühl, er würde unter diesen Augen zurückweichen, so ablehnend waren sie. Doch in Wirklichkeit blieb er aufrecht stehen und blickte ihr entschlossen entgegen.
Diese Frau war äußerlich kaum von der Frau zu unterscheiden, die ihnen die Tür geöffnet hatte. Ihr langes fließendes Kleid schimmerte und war vielleicht eine Spur heller als der Schleier, der über ihre Schultern bis zur Taille floss. Im Gegensatz zu der anderen Priesterin waren ihre Haare peinlich genau verdeckt, nicht einmal der Ansatz war zu sehen.
Ihre blauen Augen waren kalt wie Eis.
Das sollte die Frau sein, die als Hohepriesterin dem Kloster vorstand, in dem die Naturgötter gehuldigt wurden? Die Frau, unter deren Schutz seine Elodie bald stehen sollte?
Jetzt lächelte sie tatsächlich auch ihn an, aber es war kein aufrichtiges, warmes Lächeln. „Mein Name ist Thyra, ich bin die Hohepriesterin dieses Ordens. Was führt dich zu uns, Fremder?“
„Er hat mich begleitet“, erwiderte Elodie leise.
Bildete sie es sich ein, oder zuckte es verächtlich in Thyras Gesicht?
„Und warum? Wer ist er und was kann ich für ihn tun?“, fragte sie mit einer Freundlichkeit, die nicht zu ihrem unnahbarem Gesichtsausdruck passte. Elodie wurde ganz elend zumute. Dieses Gespräch würde kein gutes Ende nehmen.