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Vor langer Zeit in einer anderen Welt leben die Völker des Rubinsterns und des Zaubermondes in Frieden und Harmonie miteinander. Krieg kennen sie seit Jahrhunderten nicht mehr. Doch eines Tages werden ihre Dörfer von dem diabolischen Tyrann Cyprian, dem Herrscher vom Volk des Eises, überfallen. Cyprian will sich zum Beherrscher der Welt aufschwingen. Die friedlichen Völker können sich gegen ihn und seine Armee nicht wehren und werden unterjocht. Aber der Wunsch nach Freiheit weckte auch den Kampfgeist. Eine alte Legende erzählt von einem Ort, den böse Mächte nicht besetzen können: dem Garten der Freiheit. Eine kleine Gruppe Jugendlicher macht sich auf den Weg, diesen Ort zu finden - der junge Erfinder Salokin und seine Schwester, die Malerin Aidil - Nevet, der davon träumt, die Welt zu bereisen - der sechzehnjährige Bauarbeiter Marbod und die junge Heilerin Heloise. Auf ihrer Reise finden sie andere, die sich ihnen anschließen. Für die unterdrückten Völker werden sie zur Armee der Hoffnung. Doch der Weg ist gefährlich und Cyprian lässt sie verfolgen, denn auf ihm lasstet ein Fluch. Das verlorene Land ist eine spannende Geschichte für Kinder ab 10 Jahren. Das Titelbild hat Karin Mackenbrock aus Büren gezeichnet.
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Seitenzahl: 285
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Salokin
ein junger Erfinder
Aidil
Salokins Schwester, junge Malerin
Anajo
Salokins und Aidils Mutter
Sakul
Salokins und Aidils Vater
Urias
Weiser des Volkes
Oriana
Seherin und Heilerin des Dorfes
Nevet
Salokins Freund
Heloise
Heilerin und Orianas Schülerin
Marbod
junger Dorfbewohner
Inska
Aidils Freundin im Dorf
Gerion
Marbods Vater
Zor
Salokins Käuzchen
Rato
ein alter Wolf
Anuk
junge Wölfin, Ratos Enkelin
Tabor
junger Wolf, Anuks Freund
Eilika
Mädchen, das sie im Wald treffen
Einok
alter Berglöwe (= Puma)
Neilu
junger Berglöwe, Einoks Enkel
Schirin
junge Berglöwin, Neilus Freundin
Tagimo
lebt im Dorf auf der anderen Seite des Kalont
Nelie
Tagimos Tochter
Sanoi
Fährmann am See ohne Abgrund
Halka
Sanois Ehefrau
Uligunus
Herr des Moores
Lascar
Führer über die Höhen von Zanada
Cyprian
der diabolische Tyrann
Heidan
Krieger von Cyprian
Prolog
Teil Das Land der Harmonie
Kapitel 1 Die Warnung
Kapitel 2 Heloise und Oriana
Kapitel 3 Der weise Urias
Kapitel 4 Der Anfang einer neuen Zeit
Teil Das verlorene Land
Kapitel 5 Die neue Zeit
Kapitel 6 Der Palast
Kapitel 7 Der Plan
Kapitel 8 Die letzte Lehre
Kapitel 9 Das Fest der Sonnenwende
Teil Das Gebiet des Kalont
Kapitel 10 Auf der Flucht
Kapitel 11 In der Wolfsschlucht
Kapitel 12 Der Morgen danach
Kapitel 13 Im Reich der Berglöwen
Kapitel 14 Der Weg über den Berg
Kapitel 15 Verrat
Kapitel 16 Der Wasserfall
Teil Der See ohne Abgrund
Kapitel 17 Die große Ebene
Kapitel 18 Wundersame Rettung
Kapitel 19 Der Fährmann
Kapitel 20 Die Überfahrt
Teil Das Moor des Grauens
Kapitel 21 Der stumme Wald
Kapitel 22 Der Herr des Moores
Kapitel 23 Die Schreie der Versunkenen
Teil Zanada
Kapitel 24 Die Nacht unter Sternen
Kapitel 25 Die Hütte in den Bergen
Kapitel 26 Das Loch in der Welt
Kapitel 27 Der Abstieg
Teil Der Garten der Freiheit
Kapitel 28 Die Adler
Kapitel 29 Die steinernen Wächter
Kapitel 30 Die Frau im Wolkenkleid
Kapitel 31 Die Entscheidung
Kapitel 32 Die Reise zurück
Kapitel 33 Der Kampf um Freiheit
Teil Das Land der Harmonie
Kapitel 34 Eine neue Zeit
Für Nicolas und Lydia, die meine Geschichten immer als Erste lesen
In einer anderen Welt, lange vor unserer Zeit, lebte das Volk des Rubinsterns am Fuße des Berges Kalont. Es war ein wundervolles, grünes und fruchtbares Land. Ringsherum war das Tal von dichten Wäldern umgeben. Das Volk lebte in friedlicher Nachbarschaft mit dem Volk des Zaubermondes, das auf der anderen Seite des Waldes wohnte.
Es gab keinen König und keinen Herrscher, nur einen Ältestenrat, der Beschlüsse für das Volk fassen konnte. Aber der Rat beschloss weise und stets im Interesse der Menschen.
Niemals hatte es Not oder Krieg gegeben. Darum wurde das ganze Land auch das „Land der Harmonie“ genannt.
Weit entfernt, auf der Nordseite des Planeten, gab es ein Land, das kalt und unwirtlich war, in dem das Eis die Erde bedeckte und die Nordwinde den Menschen die Luft zum Atmen nahmen. Hier lebten die Menschen nicht so friedlich und harmonisch miteinander, die Kälte hatte längst die Herzen der Menschen erreicht und zu Eis erstarren lassen. Hier lebte ein Volk, das blutrünstig und kriegerisch war. Es war das Volk des Eises, das von dem diabolischen Tyrannen Cyprian regiert wurde.
Die Menschen auf dem ganzen Planeten wussten davon, auch die Völker des Rubinsterns und des Zaubermondes. Adler brachten Kundschaften von einem Land zum anderen. Aber Cyprian war weit entfernt und das Land der Harmonie war nicht bedroht.
Bis heute.
Es war ein Frühlingstag, wie man ihn sich nicht schöner wünschen konnte, warm und hell. Erfüllt von Lachen und Fröhlichkeit.
Die zwölfjährige Aidil schwamm mit ihrer Freundin Inska in dem kühlen Bergsee. Die Kinder tollten herum und lachten fröhlich.
Der See lag tief eingebettet zwischen dicken Felsbrocken direkt am Fuße des mächtigen Berges Kalont. Nur ein kleines Stück entfernt lag das Dorf. Sie konnten die ersten Häuser von hier sogar sehen.
Aidils älterer Bruder Salokin saß mit seinem Freund Nevet auf den Felsen, die den Bergsee umgaben. Die beiden Jungen sahen so unterschiedlich aus, wie sie auch waren.
Salokin war hoch aufgeschossen, schlacksig, wie viele Dreizehnjährige, die schnell gewachsen waren. Aber seine Arme waren muskulös von der Arbeit auf dem Feld, bei der er seinen Eltern half und vom Sport, den er mit Freunden ausübte. Seine braunen Haare waren etwas zu lang, hingen in widerspenstigen Locken bis auf die Schultern - so eigenwillig wie sein Wesen.
Seine braunen Augen waren groß und ausdrucksvoll und blickten selbstbewusst in die Welt.
Nevet war ein paar Monate älter als sein Freund. Er hatte seinen vierzehnten Geburtstag bereits gefeiert, dennoch war er etwas kleiner. Sein Haar war blond und glatt frisiert. Seine blauen Augen hatten den verklärten Blick eines Träumers.
Auch jetzt suchte Nevets Blick die Bergspitzen, die so hoch waren, dass sie in der dünnen Wolkenschicht zu verschwinden schienen.
„Es heißt, die Bergspitzen sind von Schnee bedeckt“, meinte er.
„So wie es im Land des Eises immer ist. Glaubst du, dass das stimmt?“
Salokin hob die Schultern. „Mag sein. Der Berg ist viele Kilometer hoch. Vielleicht ist es so weit oben in den Lüften sehr kalt?“
„Ach, ich würde es so gerne wissen. Ich möchte die ganze Welt kennen lernen.“
„Sogar die Höhen der Wolken?“
„Ja, sogar die. Ob es mir jemals gelingt? Ob es möglich ist?“
„Du musst an dich glauben, Nevet. Du zweifelst zu schnell. Alles ist möglich. Schau…“ - Salokin hielt seinem Freund eine kleine Apparatur unter die Augen - „damit kann man die Zeit ablesen.“
Nevet staunte. „Eine so kleine Uhr?“
Bisher kannte man nur die großen Sonnenuhren, die vor manchen Häusern standen. Und eine besonders große stand auf dem Marktplatz.
Salokin nickte. „Man kann sie immer bei sich tragen.“
„Wie funktioniert sie? Es ist keine Sonnenuhr.“
Salokin lachte. „Natürlich nicht. Sieh, diese kleinen Rädchen fassen alle ineinander und ermöglichen es, dass die Uhr sich dreht. Man muss sie nur einmal am Tag auf die richtige Zeit einstellen. Ich habe sie selbst gebaut“, erklärte er ziemlich stolz.
„Und erfunden, oder?“
Salokin grinste. „Klar. Du weißt ja, ich will Erfinder werden. Und ich glaube fest daran, dass dieser Wunsch wahr wird.“
Nevet lachte. Jeder beim Volk des Rubinsterns kannte Salokins Traum. Aber der Freund war anders als er, Nevet. Während er davon träumte, ein Reisender zu werden, ein Entdecker der Welt, träumte Salokin nicht nur. Er war ein junger Erfinder und es war sein größtes Ziel, später als Erfinder zu arbeiten.
„Ich werde den Menschen ihre Arbeiten leichter machen. Ich werde für alle möglichen Arbeiten Maschinen und Geräte erfinden, die ihnen helfen. Für die Arbeit auf den Feldern, im Bergwerk und vor allem für die Arbeit im Steinbruch. Das ist harte Arbeit…“
„Ja, ja, ich weiß“, Nevet lachte. Er kannte die Begeisterung seines Freundes. Ja, die Menschen des Rubinstern-Volkes arbeiteten wirklich hart. Aber sie konnten Pause machen, wann immer sie wollten. Es ging ihnen gut, sie waren glücklich.
Auch jetzt, während sie hier saßen, standen die Männer im Dorf zusammen und rauchten Pfeife, Frauen unterhielten sich über die niedrigen Zäune zwischen ihren Gärten hinweg. Kinder kreischten vor Vergnügen und spielten Fangen oder saßen zu Füßen ihrer Mütter und bauten Türme aus Steinen.
„Erfinde doch mal etwas, damit man schneller reisen kann als mit den Füßen“, schlug Nevet vor.
Salokin blickte seinen Freund an und begegnete dessen sehnsüchtigem Blick. „Ich will die Welt kennen lernen, Salokin. Ich möchte in die Ferne gehen und sehen, was noch niemand von unserem Volk gesehen hat. Meine Eltern verstehen mich. Sie sagen, jeder muss sich selbst seine Träume erfüllen. Es ist ein ungewöhnlicher Wunsch, nicht wahr? Alles ist wunderbar hier und ich möchte fort.“
„Du willst doch nur reisen. Oder willst du niemals wiederkommen?“
„Oh doch, ich werde schon zurückkommen. Ich will die Welt einfach kennen lernen. Ich will sehen, was es noch gibt. Und vielleicht werde ich dann ein Buch darüber schreiben, so dass andere Menschen an meinen Entdeckungen teilhaben können.“
„Das ist doch wundervoll. Wir haben großes Glück, Nevet. Ich weiß, dass es Länder gibt, in denen die Söhne ganz automatisch den Beruf des Vaters ergreifen müssen. Wir sind so frei hier im Land der Harmonie. Ich selbst möchte doch auch nicht Bauer werden wie mein Vater, obwohl das ein sehr wichtiger und angesehener Beruf ist.“
„He!“, rief Aidil plötzlich aus dem See. Sie spritzte lachend Wasser auf die beiden Jungen.
„Was soll das?“, rief Salokin. Aber er war nicht böse.
„Ihr seht nicht so aus, als hättet ihr viel Spaß. Kommt zu uns herein und schwimmt ein wenig.“
Salokin lachte.
„Sag mal Aidil, was wünscht du dir für deine Zukunft?“, fragte Nevet.
Aidil blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Sie sieht ihrem Bruder schon etwas ähnlich, dachte Nevet. Ihre Haare wirkten jetzt, da sie nass waren, glatt und so dunkel wie Salokins.
In Wirklichkeit waren sie etwas heller, aber ebenso lockig. Die dunkelblonde Fülle reichte Aidil bis weit über die Schultern hinab. Ihre Augen jedoch waren grün und blitzten ihn übermütig an. Katzenaugen, dachte Nevet. Und die Sommersprossen lassen sie noch ein wenig lustiger und kecker aussehen.
Aidil war klein und zierlich, aber von einer enormen Energie, die man diesem Persönchen gar nicht zugetraut hätte.
„Für meine Zukunft?“, überlegte sie nun.
„Ja, wenn du erwachsen bist.“
„Ach, ich möchte einfach immer so weiter leben wie jetzt. Ich möchte immer so spielen und toben können wie heute.“
„Aha, du willst also nicht erwachsen werden.“
„Genau. Und außerdem möchte ich malen. Ich möchte die Sonnenstrahlen, Wälder, Blumen und die Berge in bunten Farben einfangen. Und auch unser Dorf und die Menschen.“
Nevet grinste.
„Was hast du? Ich kann gut malen. Wirklich.“
„Es ist ein schöner Plan. Und was möchtest du tun, Inska?“
Das schwarzhaarige Mädchen lachte breit. „Ich möchte sieben Kinder haben und mein Mann ist ein erfolgreicher Erfinder.“
Sie zwinkerte Salokin zu.
Nevet und Aidil grinsten.
„Wie witzig!“, frotzelte Salokin.
„Jetzt ist aber Schluss mit den tiefsinnigen Gesprächen. Viel zu kompliziert für einen so schönen Tag.“ Aidil spritzte abermals mit Wasser, dieses Mal mit einer ganzen Ladung.
„Na warte!“, rief Salokin und stürzte sich mit seinen kurzen Hosen in den See.
„Aaa!“ Die Mädchen kreischten, Aidil flüchtete mit kräftigen Schwimmzügen, aber Inska ließ sich gerne von Salokin fangen.
Nevet sprang mit einem letzten Blick auf die Berge, die ihn immer wieder so faszinierten, in das Wasser.
Der sechzehnjährige Marbod hielt sich hinter einem Baum verborgen. Er hatte dem Gespräch gelauscht. Er bemerkte Salokins feste Entschlossenheit, aber auch Nevets Zweifel. Dennoch bewunderte er beide um ihre Ziele.
Er selbst war frisch gebackener Arbeiter im Steinbruch, wo schon sein Vater und sein Großvater gearbeitet hatten. Aber er fühlte, dass er mehr wollte, als das. Nur - was das war, das wusste er nicht.
Er war nicht viel größer als Salokin, aber viel kräftiger. Nicht dick, aber breitschultriger und nicht so extrem schlank. Sein Haar war sehr hell, er trug es meist im Nacken zusammengebunden.
Seine Augen waren von einer undefinierbaren Farbe.
Außerdem waren Nevet und Salokin gut zwei Jahre jünger als er selbst und doch wussten die beiden besser, was sie vom Leben erwarteten. Aber er konnte nicht in sich hineinhorchen, konnte die Stimme seines Herzens nicht hören. Doch es würde die Zeit kommen, zu der er wissen würde, was er wollte und dann würde ihn nichts mehr halten können.
Die junge Heloise hatte ihm das geweissagt.
„Ach, Heloise“, dachte er sehnsüchtig. Die schöne Fünfzehnjährige war Schülerin der alten Heilerin und Seherin Oriana.
Marbod blinzelte in die Sonne und auf einmal sah er zwischen den Bäumen eine Gestalt auftauchen. Er kniff die Augen zusammen und riss sie ungläubig wieder auf. Das konnte doch nicht wahr sein…
In diesem Moment trat der Wolf Rato aus dem Schutz der Wälder und schlug den Weg ein, der zu den Häusern der Menschen führte. Langsam und bedächtig, aber ohne die geringste Furcht stapfte er mit hoch erhobenem Kopf die Straße entlang. Es war das erste Mal, dass er das tat. Menschen und Wölfe waren vor sehr langer Zeit Feinde gewesen. Vor so langer Zeit, dass sich niemand mehr daran erinnern konnte und nur noch Sagen davon berichteten. Dennoch waren sie niemals Freunde geworden. Sie ließen sich gegenseitig in Ruhe, sie lebten friedlich nebeneinander. Und so sollte es eigentlich auch bleiben.
Was also war geschehen, dass der alte Wolf diese stille Übereinkunft brach?
Aidil, die gerade aus dem See kletterte, sah den Wolf auch. Mitten in ihrer Bewegung hielt sie erstaunt inne.
„Schaut“, flüsterte sie und zeigte auf den Wolf.
Nevet starrte ungläubig auf das graue Tier. Inska fühlte, wie Angst ihren Nacken herauf kroch. Es war so ungewöhnlich und sie konnte sich nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte.
„Was macht der Wolf hier bei uns?“, flüsterte Salokin. „Das hat es ja noch nie gegeben.“
Rato hatte inzwischen die Häuser erreicht. Im ganzen Dorf zog sein Erscheinen die Aufmerksamkeit auf sich. Die Gespräche verstummten mitten im Satz, die Kinder verharrten in ihrem Spiel, die Pfeifen hingen vergessen in den Händen der Männer. Manche kamen sogar extra aus ihren Häusern oder öffneten ihre Fenster.
Alle waren wie erstarrt und betrachteten argwöhnisch den Wolf.
„Wo finde ich den weisesten Ratgeber eures Dorfes?“, fragte er.
Ein Mann hob wie erstarrt den Arm und zeigte mit der Pfeife in die Richtung von Urias’ Haus.
Aber sagen konnte er nichts, so verblüfft war er.
Rato nickte ihm dankend zu und schritt unbeirrt weiter in die angegebene Richtung, direkt zum Haus des Weisen Urias. Dort klopfte er an und heulte laut.
Urias trat aus der Tür. Sein einst dunkelbraunes Haar war von breiten grauen Strähnen durchzogen. Mit leicht gebeugten Schultern stand er da. Erstaunt zog er die buschigen weißen Augenbrauen hoch, als er den seltsamen Besucher sah.
„Mein Name ist Rato. Ich bin der Weise des Wolfvolkes. Bist du der Weise des Rubinstern-Volkes?“
Der alte Mann nickte. „Mein Name ist Urias. Was willst du hier?“
„Dich warnen. Das Volk des Rubinsterns ist in großer Gefahr.“
„Was redest du?“ Urias wies das Gesagte spöttisch zurück.
„Bitte mich hinein in dein Haus und ich erzähle es dir. Ich bin alt und der Weg war mühsam. Und ich möchte nicht unter aller Augen über dieses heikle Thema sprechen.“
Urias zögerte nur kurz. Dann bat er den Wolf mit einer kurzen Geste seiner Hand hinein. Er blickte in die überraschten Gesichter seiner Mitbürger, die sich auf der Straße versammelt hatten. Jetzt würden sie darüber rätseln, was der Wolf ihm zu berichten hatte.
Und warum Urias ihm vertraute und in sein Haus bat. Aber das war ein Irrtum. Urias vertraute ihm nicht. Er war neugierig und wer konnte schon wissen, ob es nicht doch etwas Interessantes gab. Es musste einen Grund geben, warum Rato aus dem Schutz des Waldes ins Dorf gekommen war. Auch für Rato war das ein Wagnis. Er hatte nicht wissen können, wie die Menschen reagierten.
Der Wolf machte es sich auf einem gewebten Teppich vor dem Kamin gemütlich. Urias setzte sich in den breiten Sessel und sah ihn lange schweigend an. Dann fragte er: „Nun? Was hast du zu sagen?“
„Wir haben Nachricht für euch. Einer der Berglöwen von Kalont kam zu uns in den Wald und ich komme zu euch. Die Berglöwen haben Cyprians Armee gesehen. Sie bewegt sich über die große Ebene auf unser Tal zu. Bald werden sie hier sein.“
Urias lachte auf.
„Cyprian ist weit weg. Auf der anderen Seite unserer Welt. Unser Volk ist in Sicherheit.“
„Eine riesenhafte Armee kommt. Krieger, Tiger und Geier. Ihr müsst das Tal sichern und euch bewaffnen.“
„Wir sind keine Krieger.“
Der Wolf sah Urias nachdenklich an.
„Du verkennst die Gefahr, weil du mir nicht traust.“
„Warum sollte ich? Wir waren nie Freunde.“
„Aber die Feindschaft zwischen Menschen und Wölfen ist auch schon viele Jahrhunderte vorüber. Wir sind keine Feinde mehr. Es gibt keinen Grund, aus dem Wald in dein Dorf zu kommen, um dich anzulügen. Ich bin alt. Und der Weg war schwer.“
„Warum sind die Adler nicht längst hier gewesen?“
„Die Kundschafts-Adler wurden gefangen genommen oder getötet. Die, die sich retten konnten, sind geflohen. Doch nur einer von ihnen hat es bis ins Gebirge geschafft zu den Berglöwen.
Dort ist auch der gestorben. Doch zuvor hat er berichtet, dass Cyprian alle Völker auf seinem Weg unterwirft. Der Adler hoffte, dass diejenigen seiner Art, die fliehen konnten, das heilige Land erreicht haben, dass von bösen Mächten nicht besetzt werden kann.“
„Wenn es das gibt. Es ist nur eine Sage, niemand hat es je betreten“, gab Urias zu Bedenken. Er strich sich durch seinen langen, beinahe vollständig grauen Bart. Was war, wenn Rato recht hatte? Aber wie konnte er sich schützen? Wie konnte er sein Volk schützen?
Er dachte an seine beiden Enkel, Salokin und Aidil, Kinder seines Sohnes Sakul und dessen Frau Anajo.
Er dachte an die Kinder, die draußen spielten und deren Lachen und Rufen zu ihm ins Haus drangen.
„Du denkst an deine Kinder und Enkel“, fuhr Rato mit rauer Stimme fort. Auch ich habe Kinder und Enkel. Und ich will, dass sie in Freiheit leben. Wenn Cyprian kommt, ist nicht nur euer Dorf in Gefahr.“
In dem Augenblick wurde die Haustür aufgestoßen und Anajo stürmte herein. „Was tut ein Wolf hier?“, rief sie ängstlich.
„Du brauchst dich nicht fürchten“, beruhigte Rato sie. „Jedenfalls nicht vor mir.“
Anajos verwirrter Blick wechselte von Rato zu ihrem Schwiegervater. „Wie meint er das?“
„Er hat schlechte Nachrichten. Angeblich ist Cyprians Armee auf dem Vormarsch. Sie wollen das ganze Land erobern.“
„Cyprian?“ Anajos Stimme klang schrill.
„Glaubst du mir nun?“, fragte Rato.
Urias strich sich durch den Bart und betrachtete gedankenverloren Anajo.
Er nickte schwerfällig. „Aber was können wir tun? Wir sind keine Krieger. Wir haben Cyprians Armee nichts entgegenzusetzen.
Wir können nur hoffen, dass es keinen großen Kampf geben wird.“
Rato nickte. „Ich habe alles gesagt. Ich gehe nun zurück zu meinem Volk. Auch wir wollen nicht untergehen. Auch das Volk des Zaubermondes wurde gewarnt. Ich befürchte, die Zeit des Friedens und der Freiheit geht zu Ende. Das Land der Harmonie wird unter Cyprians Herrschaft nicht mehr das gleiche sein.“
Der Wolf erhob sich schwerfällig und trottete mit hängendem Kopf aus dem Haus.
„Urias! Was soll das bedeuten?“, schrie Anajo voller Angst.
Aber Urias hob nur seine mageren Schultern.
„Ich weiß es nicht. Nur die Götter wissen, was auf uns zukommt, wenn Rato recht behält.“
Die Tage vergingen, ohne dass Urias einer Lösung näher kam. Er, Anajo und Sakul waren die einzigen, die wussten, welche Katastrophe Rato prophezeit hatte. Aber es musste etwas geschehen.
Er durfte es nicht geheim halten und auch nicht länger hinaus zögern. Sie mussten irgendetwas tun, um sich zu schützen. Auch wenn Urias sowieso nicht glaubte, dass es etwas gab, das sie Cyprians Armee entgegensetzen konnten. Wenn der diabolische Tyrann vom Land des Eises wirklich kam, waren sie verloren.
Dennoch – er wollte - nein, er konnte die Verantwortung nicht alleine tragen. Für heute hatte er den Rat der Weisen einberufen.
Heimlich, weil er vorerst niemanden sonst beunruhigen wollte.
Was hätte das schließlich genutzt?
Salokin und Aidil fühlten jedoch die Unruhe, die von ihrem sonst so ruhigen Großvater ausging.
Urias streifte mit schweren Schritten durch das Dorf. Er war tief in Gedanken versunken. Es war noch nicht sehr spät, die meisten Menschen waren bei ihrer Arbeit - auf den Äckern, in den Lehmgruben, beim Mörteln oder Hausbau, in der Schmiede oder im Backhaus. Das Volk des Rubinsterns war ein Volk von Handwerkern und Bauern.
Das Lachen der Kinder begleitete ihn durch die Straßen bis zum Waldrand. Er mochte es immer so gern, wenn die Luft angefüllt war mit Lachen und Rufen der spielenden Kinder, aber heute bemerkte er es gar nicht. Zu schwer lastete die Prophezeiung auf seinen Schultern. Um sich machte er sich keine Sorgen. Er war alt und sein Leben hier auf Erden würde sich sowieso bald dem Ende zuneigen. Nein, es waren die jungen Menschen, um die er sich sorgte. Die, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Die, die noch Träume und Pläne für die Zukunft hatten.
Sein Schritt war schwerer und sein Rücken gebeugter als sonst. Er bemerkte nicht einmal seinen Enkel Salokin, dessen Weg seinen eigenen beinahe kreuzte.
Salokin kam gerade vom Feld, wo er seinen Eltern geholfen hatte.
Er bemerkte seinen Großvater erstaunt und hielt mitten in seinem Lauf inne. Wo will er denn hin? dachte Salokin.
Das war nicht die Richtung zum Wirtshaus, wo Urias manchmal seine Freunde traf. Auch nicht der Weg zum Gebetshaus, wo er für eine gute Ernte beten könnte. Und Bänke zum Ausruhen und Beobachten der Kinder, wie er es oft gern tat, gab es hier auch nicht mehr. Hier war die Siedlung bereits am Ende und der dichte Wald begann.
Und plötzlich erschauderte Salokin. Plötzlich ahnte er, welches Ziel Urias hatte.
„Er will zum magischen Ort der Steine“, flüsterte er vor sich hin.
„Was ist nur los? Irgendetwas geht vor, Urias wirkt auch so bedrückt in der letzten Zeit.“
Wie von selbst setzte er sich in Bewegung und folgte seinem Großvater. Er wusste, der magische Ort war für ihn tabu. Niemand, außer den sieben Weisen des Volkes, durfte ihn betreten.
Und niemand durfte bei einer Beratung zugegen sein. Heimlich zuhören wäre ein schlimmes Vergehen. Aber Salokin interessierte das im Moment nicht. Er fühlte, dass irgendetwas nicht stimmte.
Etwas war in Bewegung geraten, etwas beschäftigte Urias. Darüber hatte er auch schon mit Aidil gesprochen. Und dies war seine Chance, heraus zu finden, was es war.
Vielleicht hatten Adler Kunde gebracht, dass ein Unwetter nahte?
Oder ein neues Volk siedelte sich in der Nähe an? Vielleicht sollte auch eine Hochzeit zwischen den Völkern veranstaltet werden?
Aber nein, das auf keinen Fall. Das würde Urias nicht so beunruhigen. Und – wenn Salokin jetzt darüber nachdachte, hatte er schon seit Ewigkeiten keinen Adler mehr gesehen.
Er war beinahe schon so tief in Gedanken versunken wie sein Großvater. Daher bemerkte er auch das Mädchen Heloise nicht, das am dichten Waldrand entlang streifte. In ihrem Arm lag ein dicker Strauß bunter Blumen, aber sie pflückte immer mehr. Vor sich hin summte sie ein altes Volkslied.
Sie trug ein Kleid in leuchtendem orange, ihre kastanienbraunen Locken flossen bis zu ihrer Taille herab.
„Guten Tag, Salokin“, grüßte sie nun.
Salokin reagierte nicht.
„Salokin!“, rief sie ihn noch einmal an.
Er zuckte zusammen, erkannte sie und lächelte ihr zu.
„Träumst du?“ Jetzt lächelte auch Heloise.
„Hallo Heloise. Nein, eigentlich - na ja, wenn ich ehrlich bin - ich verfolge meinen Großvater.“
Das Mädchen hob erstaunt die Augenbrauen.
Ach, warum hatte er sich nicht eine Ausrede einfallen lassen?
Jetzt würde er wohl kaum weiter kommen.
Er seufzte. „Na ja, er ist so nervös in der letzten Zeit. Ich möchte wissen, ob er zum Steinkreis geht. Vielleicht erfahre ich, was ihn bewegt.“
„Dort darfst du aber nicht hin“, erwiderte Heloise ruhig.
„Und was wird passieren, wenn ich es doch tue?“
„Ach Salokin, akzeptiere doch die heilige Stätte unserer Ahnen.
Wenn es etwas Wichtiges ist, wirst du es sicher erfahren.“
Salokin runzelte die Stirn.
„Na ja, heute werde ich ja sowieso nicht mehr hinkommen. Großvater ist fort und du lässt mich jetzt sicher nicht hinterher laufen?“
„Du bist doch selbst froh, auf diese Weise vor diesem Frevel bewahrt worden zu sein.“
„Ich war auf dem Weg. Wenn du nicht hier gewesen wärst…“
„Wärst du weiter gegangen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Tatsache ist, du hast dich aufhalten lassen. Irgendetwas in dir hat dich also zurückgehalten.“
Er zuckte die Schultern. Typisch Heloise. Immer interpretierte sie etwas in die Dinge hinein. Und wie sie ihn ansah - mit diesen dunklen Augen, die geradewegs in sein Herz zu blicken schienen.
Diese Augen, die ihm das Gefühl gaben, nichts, nicht einmal seine Gedanken, vor ihr verbergen zu können. Sie war ihm unheimlich.
Er strich sein dichtes Haar aus der Stirn und lachte etwas verlegen. „Was hast du mit den schönen Blumen vor?“, wechselte er das Thema.
„Ich werde sie Oriana schenken. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.“
„Du hast noch immer Unterricht bei ihr?“
Heloise nickte. „Ja. Sie bringt mir alles über Heilkräuter bei, sie lehrt mich die Zeichen der Natur zu erkennen und meine innere Stimme zu hören.“
Heloise sagte das ganz ernst, aber Salokin grinste.
„Du nimmst die Lehre nicht ernst? Ebenso wenig wie heilige Orte und Riten, nicht wahr?“, fragte sie mit sanftem Vorwurf.
„Doch, doch.“ Aber es klang so, als wollte er sie verspotten. Salokin war zu sehr Wissenschaftler und glaubte nicht an Orianas hellseherische Fähigkeiten.
„In Ordnung. An Heilkräuter glaube ich schon. Als ich Fieber hatte, hat Oriana mich mit ihren Kräutern geheilt.“
„Immerhin. Das ist doch schon mal etwas.“
Sie waren inzwischen bei dem kleinen Häuschen der alten Seherin angekommen. Oriana trat aus der niedrigen Tür. Sie war sehr alt, ihre langen, grauen Haare hingen über ihre gebeugten Schultern. Sie stützte sich auf einen Stock, ihre Knie schmerzten.
„Heloise! Du bist spät heute!“, rief sie freundlich.
„Guten Tag Oriana, ich komme ja“, rief Heloise zurück und winkte der alten Frau zu.
Plötzlich schwankte die alte Seherin. Sie griff an den Türrahmen, als wollte sie Halt suchen.
Heloise und Salokin stürzten zu ihr. Die Blumen fielen aus dem Arm des Mädchens und verstreuten sich vor dem Haus der Seherin.
Oriana verlor ihren Halt, die Beine gaben nach. Heloise und Salokin konnten sie gerade noch auffangen, bevor ihr Körper auf den harten Steinfußboden prallte.
Salokin blickte die junge Heilerin ratlos an. „Was ist passiert?“
Heloise zuckte die Schultern. „Ein Schwächeanfall vielleicht.
Tragen wir sie erst mal ins Haus.“
Die beiden trugen Oriana in das Häuschen und dort zu einer Sitzbank. Die Alte war leicht, ihr Körper war so mager, dass man sich wunderte, dass er nicht viel öfter zusammenklappte.
Oriana kam schnell wieder zu sich. „Was – was war?“, stammelte sie.
„Du bist umgefallen. Ist dir schwindlig geworden?“, fragte Heloise besorgt.
Oriana tastete nach Heloises Arm. „Hilf mir auf!“, bat sie. Das Mädchen gehorchte und half ihrer Lehrerin, sich aufrecht hinzusetzen. Dann deutete die alte Seherin den beiden jungen Leuten mit einer Geste an, neben ihr Platz zu nehmen. Sie blickte Salokin tief in die Augen und ein Schauer überlief seinen Rücken. Heloise bemerkte es und griff nach seiner Hand.
Diese Blicke, dachte er schaudernd. Genau wie Heloise. Sie sehen einen an, als könnten sie in einen hineinsehen. In den Kopf, in das Herz, in die Seele. Als wüssten sie genau, was man denkt.
„Es wird etwas geschehen“, orakelte Oriana mit ungewöhnlich klarer und kräftiger Stimme. „Und das wird euch beide zusammen schweißen. Ich fühle es ganz deutlich.“
„Wir beide?“, wiederholte Salokin zweifelnd. „Uns verbindet nicht viel. Wir kennen uns, wir reden ab und zu miteinander.
Aber sonst… Sie ist ja auch ein wenig älter als ich.“
„Das ist ohne Bedeutung“, antwortete Oriana barsch. „Etwas wird passieren. Etwas Schreckliches. Und euch wird große Macht zuteil.“
Heloise blickte die Alte angstvoll an. Salokin hatte Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen. Hokuspokus - nichts anderes. Große Macht? Ausgerechnet er und Heloise. Etwas Schreckliches würde passieren? Was sollte hier beim Volk des Rubinsterns schon geschehen? Doch dann dachte er an seinen Großvater Urias, der in der letzten Zeit so unruhig war und den er eigentlich verfolgen wollte, um herauszufinden, was ihn bewegte.
Er schüttelte sich.
„Ich gehe jetzt lieber!“, sagte er fest. „Dir geht es doch wieder besser, Oriana?“
Die Alte nickte. „Ja, mir geht es besser. Und du solltest wirklich gehen. Ich muss mit Heloise arbeiten. Ihre Ausbildung muss beendet sein, wenn es passiert.“
„Aber was denn? Was wird passieren?“, rief er ungeduldig.
Oriana hob die knöchernen Schultern. „Ich weiß es nicht, Salokin.
Aber es wird unser ganzes Volk erschüttern.“
Salokin sah in die klaren Augen von Oriana, die keinen Zweifel zeigten und er sah in die angstvoll aufgerissenen Augen von Heloise. Was war hier los? Was war mit ihm los? Er glaubte doch nicht an Hellseherei – und doch war er vollkommen durcheinander. Es war wirklich besser, wenn er jetzt ging. Er stürzte förmlich aus der Hütte der alten Seherin heraus.
Aber er hatte kaum die Tür aufgerissen, da flog ihm ein Käuzchen entgegen und ließ sich auf seiner Schulter nieder.
„Hallo Zor, hast du mich gesucht?“, fragte er überrascht.
„Seltsam“, meinte Heloise. Käuzchen schlafen doch normalerweise am Tag.“
„Zor ist etwas Besonderes. Er ist nicht nur mein Haustier, er ist mein Freund. Außerdem wird es sicher bald dunkel.“
Salokin streichelte liebevoll Zors weiches Federkleid. Das Käuzchen legte den Kopf schief.
„Käuzchen und Eulen wittern drohende Gefahr“, orakelte Oriana von ihrer Bank her.
„Zor will mich einfach nur abholen“, erwiderte Salokin abweisend. Er wollte nichts mehr von diesen Unkenrufen hören.
Oriana nickte nur. Sie spürte, dass jedes weitere Wort überflüssig war. In ihrem Alter redete man nicht mehr weiter, wenn man sein Gegenüber sowieso nicht erreichen konnte.
Aber sie wusste, Salokins Zeit würde kommen. Und Heloises.
Und jetzt war es besser, das Mädchen zu lehren, was sie noch lehren konnte. Heloise war eine eifrige und intelligente Schülerin und sie würde gebraucht werden. Und es blieb nicht mehr viel Zeit.
„Schließ bitte die Tür“, forderte sie ihre Schülerin auf.
Heloise gab der Tür einen Schwung, so dass sie ins Schloss fiel.
Salokin stand allein mit Zor in der einsetzenden Dämmerung.
Und er versuchte, das seltsame Gespräch zu vergessen.
Schon am nächsten Tag änderte sich das Leben im Dorf. Aidil, Nevet und Salokin sahen verwirrt zu, wie junge Männer auf erhöhte Stellen kletterten.
Es gab keine Wachtürme und keine Ummauerung. Für diese Dinge hatte es nie Anlass gegeben. Das Dorf war niemals bedroht gewesen. Deshalb erklommen sie Anhöhen aus Felsen, den Glockenturm, das Rathausdach und sogar Bäume.
Arbeiter, die eigentlich im Steinbruch arbeiten müssten, begannen Steine aufzuschichten und notdürftig eine Befestigungsmauer zu errichten.
„Was ist hier los?“, fragte Salokin.
„Hüllt sich dein Großvater immer noch in Schweigen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn“, meinte Nevet. „Es ist doch ganz offensichtlich, dass Seltsames vor sich geht. Und diese Männer wissen sicher davon.“
„Ja. Und ich gleich auch. Dieses Mal lasse ich mich nicht vertrösten.“ Damit ließ Salokin seine Schwester und Nevet einfach stehen und rannte nach Hause.
Als er das Haus betrat, traf er Großvater Urias alleine an.
Das Käuzchen Zor flatterte aus einer Ecke hervor und ließ sich auf Salokins Schulter nieder.
„Möchtest du nicht schlafen?“, fragte Salokin.
Aber Zor schüttelte kaum merklich den Kopf. Nur Salokin verstand die kleinen Gesten und die stumme Sprache des Tieres.
Was war hier nur los? Urias benahm sich so merkwürdig unruhig, im Dorf erklommen Männer Aussichtposten anstatt ihrer Arbeit nachzugehen und nicht einmal das Käuzchen lebte ruhig und friedlich in seinem ihm bestimmten Rhythmus.
„Wo sind alle?“, fragte er.
Urias zuckte die dürren Schultern. „Dein Vater und deine Mutter arbeiten noch auf dem Gemüseacker. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen alles mitbringen, was noch im Garten wächst. Früchte, Gemüse, Kohl. Wir müssen uns einen Vorrat anlegen. Es kommen schlechte Zeiten.“
Salokin starrte den Alten überrascht an. War er jetzt plötzlich bereit, sein Schweigen zu brechen?
„Aber Großvater, warum hast du diese Ängste? Hast’ dich wohl mit Oriana unterhalten? Sie hat auch von schrecklichen Zeiten orakelt.“ Salokin untermalte seine Worte mit übertriebenen, großen Gesten, die zeigten, wie wenig er von solchen Weissagungen hielt.
„Ich habe mich in der Tat mit Oriana unterhalten. Aber eigentlich ist es die Warnung des alten Wolfes Rato, die mich so sorgt.“
„Ach ja, der alte Wolf. Das hatte ich ja ganz vergessen. Ist schon ein paar Tage her, seit er hier war. Was wollte er?“
„Deine Mutter wird nicht wollen, dass ich dich ängstige.“
„Mutter vergisst manchmal, dass ich kein Kind mehr bin.“
Jetzt lächelte Urias doch. „Na ja, du bist dreizehn.“
„Ich bin fast vierzehn. Und wenn wirklich so schlechte Zeiten kommen, werde ich es ja sowieso erfahren.“
Urias nickte schwerfällig. Seine alten Augen blickten den jungen Enkel sorgenvoll an. „Ja, wenn sie wirklich kommen. Noch habe ich Hoffnung, dass der Wolf sich irrt.“
„Nun erzähl es schon!“, drängte Salokin.
Urias nickte. Ja, er würde ihm erzählen, was Rato ihm berichtet hatte. Sein Schweigen schonte niemanden. Sein Schweigen sorgte den Enkel doch auch so sehr.
„Rato sagte, Cyprians Armee unterwirft im ganzen Land die Völker und ist auf dem Vormarsch. Bald wird seine Armee der Vernichtung auch unser Volk und das Volk des Zaubermondes erreichen. Cyprian will die Herrschaft über das ganze Land und über alle Völker.“
„Aber Großvater – woher will Rato das wissen?“, fragte Salokin.
„Die Berglöwen von Kalont haben es ihm berichtet. Der Berg ist hoch, sie blicken weit über das Land. Und ein Kundschaftsadler konnte bis zu ihnen fliehen.“
Salokin wurde auf einmal nachdenklich.
„Deshalb stehen jetzt also Wachen auf den Anhöhen.“
Urias nickte. Wir haben es im Rat der Steine beschlossen. Und wir werden eine Mauer um das Dorf ziehen. Wenn wir es noch schaffen. Aber das wird sie sicher nicht aufhalten. Wir könnten es ebenso gut lassen. Gegen Cyprian sind wir machtlos. Unser Dorf ist nicht befestigt. Wir sind kein Volk von Kriegern. Seit hunderten von Jahren benutzen wir Pfeil und Bogen nur zum Jagen. Und selbst die Tiere bitten wir um Vergebung, wenn wir sie töten.“
„Das bedeutet aber auch, dass wir schießen und treffen können, Großvater.“
„Ja sicher. Aber es ist ein Unterschied, ob wir Wild für unsere Nahrung jagen oder auf Menschen schießen. Wir haben nie Menschen getötet. Und Cyprian führt angeblich ein gewaltiges Heer mit sich. Es sind so viele, Salokin. Zu viele.“
Urias strich gedankenverloren durch seinen langen Bart.
„Es wird einen Weg geben, Cyprian zu besiegen!“, rief Salokin entschlossen aus.
Der alte Mann lächelte und nickte leicht. „Das Vorrecht der Jugend. Da glaubt man immer, man könnte die ganze Welt besiegen. Und niemand könnte einem die Freiheit rauben. Aber schon morgen kann unser Land ganz anders aussehen. Schon Morgen kann es ohne Lachen, ohne Fröhlichkeit und ohne Freiheit sein.“