Was vergangen ist ... - Rotraud Falke-Held - E-Book

Was vergangen ist ... E-Book

Rotraud Falke-Held

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Beschreibung

Die junge Tiertrainerin Judith Schlüter ist glücklich. Mit dem Kauf eines einsam gelegenen Hauses vor den Toren von Detmold erfüllt sie sich einen langgehegten Traum. Doch dann geschehen mysteriöse Dinge. Immer wieder sieht sie das Gesicht einer älteren Frau vor sich. Schließlich erkennt sie diese auf einem Foto bei ihrer einzigen Nachbarin Ellen Jacobi wieder. Zu ihrem Schrecken erfährt sie, dass es sich um die ehemalige Eigentümerin ihres Hauses handelt - um Thea Erdmann, die gemeinsam mit ihrem Ehemann fünf Jahre zuvor ermordet wurde. Verurteilt für diese Tat wurde deren Pflegetochter Bianca, die jedoch bis heute ihre Unschuld beteuert. Gemeinsam mit Ellen Jacobi beginnt Judith erneut mit Recherchen und stößt in ein Netz voller Intrigen und Lügen. Was geschah wirklich vor fünf Jahren? Was verschweigen Zeitzeugen und wie viel weiß die Hellseherin Sidonia? Judith gerät schließlich in Lebensgefahr. "Was vergangen ist ..." ist ein Krimi mit mystischer Färbung, da der Geist der getöteten Thea ebenso eine Rolle spielt wie die Wahrsagerin Sidonia. Doch er verliert sich nicht in mystischen Welten, sondern entwickelt sich in der Realität und wird schließlich auch dort gelöst. So ist der Roman nicht nur für Mysteriefans lesenswert und spannend.

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Besuchen Sie die Autorin im Internet:

www.rotraud-falke-held.de

Die wichtigsten Personen:

Judith Schlüter

Tiertrainerin, Hausbesitzerin

Sidonia

Wahrsagerin aus Paderborn

Hannah Schlüter

Judiths Schwester

Ingrid und Gregor Schlüter

Judiths Eltern

Joachim Dierkes

Hannahs Freund

Ellen und Lorenz Jacobi

Judiths neue Nachbarn

Thea und Kurt Erdmann

ehemalige Bewohner des Hauses

Bianca Buchholz

Theas und Kurts Pflegetochter

Harald Marksroth

Staatsanwalt

Max Kellerhoff

Detektiv und ehemaliger Polizist

Gudrun Kellerhoff

Max’ Ehefrau

Martha Verhoeven

Anwältin

Sebastian Kupfer

Marthas Sozius

Henning Funke

Tierarzt

Jochen Brenner

Kommissar

Till Surmann

junger Polizist

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Juni 2012

Kapitel 1: März 2017

Kapitel 2: Samstag, 20. Mai

Kapitel 3: Sonntag, 21. Mai

Kapitel 4: Montag, 22. Mai

Kapitel 5: Dienstag, 23. Mai

Kapitel 6: Mittwoch, 24. Mai

Kapitel 7: Donnerstag, 25. Mai

Kapitel 8: Freitag, 26. Mai

Kapitel 9: Samstag, 27. Mai

Kapitel 10: Sonntag, 28. Mai

Kapitel 11: Die nächsten Tage

Kapitel 12: Die Jahre zuvor

Kapitel 13: 2017

Epilog: Juni 2017

PrologJuni 2012

Sie steuerte ihren VW Golf unter den Carport neben ihrem Haus. Es lag abgelegen inmitten von Wiesen, Felder und Bäumen, ganz in der Nähe eines Waldes. Nur ein einziges anderes Haus gab es hier noch. Sie mochte das Haus und den großen Garten, in dem ihre Kinder so ungezwungen spielen konnten, aber das hätten sie sicher auch in einem Haus gefunden, das etwas weniger einsam war. Sie haderte manchmal mit der Einsamkeit hier. Es wäre schön, ein paar Nachbarn mehr zu haben, hin und wieder einen Plausch über den Gartenzaun halten zu können. Vielleicht ein Straßenfest. Andere Kinder zum Spielen. Nun ja, jetzt war es eben so. Wenigstens konnten sie sich zwei Autos leisten, so dass sie immer mobil war.

Gerade hatte sie ihren Sohn von seinem Freund geholt. Sie hatte sich ziemlich mit dessen Mutter fest gequatscht, hatte noch einen Tee getrunken… Den beiden Jungen hatte das gefallen, so hatten sie auch mehr Zeit, die sie vor dem PC verbrachten. Aber ihr Mann würde sich sicher schon fragen, wo sie blieb.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte.

„Geh schon mal rein“, sagte sie zu ihrem Sohn. „Ich will noch mal kurz rüber gehen. Habe ganz vergessen nach dem Rezept für die Mandeltorte zu fragen. Die wollte ich doch für euer Schulfest backen.

Sie schlenderte die gut fünfzig Meter hinüber zum Nachbarhaus.

Sie klingelte. Niemand öffnete.

Drinnen bellte der Hund.

Aber es war ja nicht zu ändern. Sie drehte sich schon um und wollte gehen. Doch mitten in der Bewegung stockte sie. Seltsam.

Beide Autos standen dort. Der Hund bellte.

Wenn die zu Fuß weggingen, dann eigentlich immer mit dem Hund.

Wo sollte man hier auch zu Fuß hin außer auf einen Spaziergang durch die Felder oder in den Wald.

Sie spähte durch die kleinen Scheiben in der Haustür. Irgendetwas lag dort, aber sie konnte nicht erkennen, was es war. Nur der Hund spielte ja vollkommen verrückt. Vielleicht war jemand gestürzt und hatte sich verletzt?

Sie ging um das Haus herum bis zur Terrassentür. Was war denn hier passiert? Die Tür stand ja sperrangelweit offen. Trotzdem kam der Hund nicht heraus. Ihre Ahnung wurde zur Sorge.

Da musste etwas passiert sein.

Sie rief nach ihren Nachbarn.

Keine Antwort.

Sie warf ihre Hemmung, ein fremdes Haus einfach zu betreten, über Bord, trat durch die Terrassentür ein und ging durch das Wohnzimmer in den Flur.

Dort am Fuß der Treppe lag der Mann. Sie erschrak.

Der Hund blieb an seiner Seite, stupste ihn an.

Es sah aus, als sei der Mann die Treppe hinuntergestürzt und auf der rechten Seite liegen geblieben. Sie musste einen Notarzt rufen.

Sie hockte sich zu ihm, rief ihn an, berührte ihn an der Schulter, drehte ihn auf den Rücken.

Da bemerkte sie die Wunde auf der Brust. Sie hatte nicht viel Ahnung von solchen Dingen, aber das das eine Schusswunde war, erkannte sie.

Sie starrte eine Sekunde lang völlig reaktionslos darauf – vor Schreck wie versteinert - dann sprang sie plötzlich auf die Beine und rannte in heller Panik aus dem Haus.

Kapitel 1März 2017

Judith Schlüter schlenderte gemächlich die Einkaufsstraße von Paderborn entlang. Sie hatte es nicht eilig. Sie war Shoppen gewesen in Paderborn und hatte nachher noch einen Termin.

Sie war eine attraktive Frau von vierunddreißig Jahren, einen Meter achtundsechzig groß, sportlich schlank, die schulterlangen, dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht war rund mit hohen Wangenknochen und graugrünen Augen. Ihre Nase war ein kleines bisschen zu breit, ihre Lippen auch ohne Lippenstift voll und rot.

Sie war ungeschminkt, trug Bluejeans und eine gepunktete Softshelljacke. Es war nicht sehr warm, aber schließlich war es auch erst März. Die Luft war trüb und grau und gerade begann es sogar ein bisschen zu nieseln. Aber Judith war es gleichgültig, heute konnte ihr nichts die gute Laune verderben.

Am Arm trug sie einen knallgrünen Shopper, der inzwischen eine neue graue Druckhose enthielt, ein passendes Langarmshirt und eine Longbluse mit modischem Allover-Blumendruck.

Es ging ihr wunderbar und sie wollte jede Minute dieses Tages genießen.

Sie stand vor einem neuen Lebensabschnitt und es fühlte sich unglaublich gut und richtig an. Sie stand im Begriff, ein altes Haus vor den Toren Detmolds zu kaufen. Es lag etwas abgelegen inmitten von Feldern und Bäumen vor einem kleinen Wäldchen.

Es gab im nächsten Umfeld nur ein einziges Nachbarhaus, das aber auch mindestens fünfzig Meter entfernt stand.

Das Haus war ziemlich groß und hatte genug Zimmer, um auch Gäste und ein Büro unterzubringen. Der Garten war riesig, dort konnte sie so viele Tiere halten wie sie wollte. In einem Anbau sollte ihre eigene Praxis - oder wie immer man es nennen wollte - untergebracht werden. Genau das war immer ihr Traum gewesen: Mit Tieren in der Natur leben und ein Haus, das groß genug war, damit sie dort ihrer Arbeit als Tiertrainerin nachgehen konnte.

Das Haus war nur leicht renovierungsbedürftig, aber auch das würde in den nächsten paar Wochen erledigt sein. Lange wollte sie sich nicht damit aufhalten, schließlich musste sie während der Zeit doppelt bezahlen, da auch die Miete ihrer Wohnung weiterlief. Aber das Haus war wirklich ein günstiges Angebot gewesen.

Fast fragte sie sich, wo wohl der Haken dabei war.

Offenbar waren die vorherigen Eigentümer vollkommen pleite und mussten das Haus aufgeben. Aber so ganz genau wusste Judith das nicht. Brauchte sie aber auch gar nicht interessieren, sie hatte das Haus in einer Versteigerung erworben und daran war nun wirklich nichts Mysteriöses.

Außerdem hatte sie Geld von ihrer Großmutter geerbt, als diese vor einem halben Jahr gestorben war. Die alte Frau war lange krank gewesen und als es zu Ende ging, war es eine Erlösung.

Traurig war es trotzdem. Judith hatte sie sehr geliebt und vermisste sie immer noch.

Das geerbte Geld wollte sie sinnvoll anlegen. Oma hätte gewollt, dass sie sich einen Traum erfüllte. Die hätte verstanden, warum dieses Haus die Erfüllung ihres Traumes war.

Ihre Mutter jedoch unkte natürlich herum: Eine junge Frau, allein in der Wildnis, hoffentlich geht das gut…

In der Wildnis, dachte Judith genervt. So schlimm war es nun auch wieder nicht.

Aber ihre Mutter unkte eigentlich immer herum. Egal, was sie, Judith, in ihrem bisherigen Leben getan hatte.

„Was? Du willst Tiertrainerin werden? Was ist das denn für ein Beruf?“

„Ich arbeite mit Tieren und deren Haltern. Viele Menschen lieben Tiere, wissen aber gar nicht recht, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Oder sie haben Tiere aufgenommen, die in ihrer Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben und…“

Es war vergebliche Mühe gewesen. Für so etwas hatte ihre Mutter nichts übrig.

„Deine Kusine ist Buchhalterin, das ist ein vernünftiger Beruf.

Oder die Tochter meiner Freundin ist Krankengymnastin. Ich verstehe ja, dass es Tierärzte geben muss. Aber was du da vorhast!

Nein, das verstehe ich wirklich nicht. Kann man denn damit Geld verdienen?“

Ja, sie konnte. Sie hatte eine solide Ausbildung als Tierarzthelferin absolviert und hatte sich dann immer weiter gebildet. Ihre Mutter konnte das nicht verstehen, aber das konnte Judith gleichgültig sein.

Zurzeit arbeitete sie in einer Tierklinik, die auch eine Abteilung hatte, um Tierhalter zu beraten. Eine gut bezahlte und relativ sichere Arbeitsstelle. Und jetzt wollte sie das aufgeben und sich selbständig machen. Auch das fand Mutter natürlich nicht besonders erbaulich. Wenn es schon ein so merkwürdiger Beruf sein musste, dann doch wenigstens in der Sicherheit eines Angestelltenverhältnisses.

Privat sah es nicht besser aus. Ihrer Mutter konnte sie einfach nichts recht machen. Vor zwei Jahren hatte sie sich von Mark getrennt, der drei Jahre lang der Mann an ihrer Seite gewesen war.

Auch ein großer Schock für ihre Mutter. Sie war wie üblich mehr auf Marks Seite als auf ihrer.

„Kind, du wirst auch nicht jünger. Deine biologische Uhr tickt.

Wenn du noch Kinder willst…“ Ja, sie war nicht abgeneigt. Kinder konnte sie sich gut vorstellen.

Aber dazu gehörte der richtige Partner. Nicht irgendeiner. Keiner, der sich die Nacht mit Partys um die Ohren schlagen würde, während sie Babys hütete. So einer war Mark gewesen.

Und sie brauchte einen Partner, der ihre Liebe zu Tieren teilte.

Die war so groß und so tief, dass es ihr unvorstellbar war, ohne Tiere leben zu müssen. Mark wollte das alles nicht.

Auch das verstand ihre Mutter nicht. Man musste sich eben anpassen. Anpassen! Na ja – vielleicht, wenn es um ein Fernsehprogramm ging oder wenn man nicht die gleiche Leidenschaft fürs Wandern teilte. Aber doch nicht bei der grundsätzlichen Vorstellung, wie man sein Leben führen wollte!

Wenn sie es genau bedachte, gab es in ihrem ganzen Leben nichts, das ihre Mutter jemals verstanden hatte.

Aber Judith war ein Kämpfer. Jemand, der seinen eigenen Weg ging, auch wenn es manchmal holperig wurde. Sie war niemand, der den leichtesten Weg einschlug. Sie war weder bequem noch gefügig. Ganz anders als ihre jüngere Schwester Hannah. Die hatte immer schön brav gemacht, was von ihr erwartet wurde und tat es eigentlich noch heute.

Ach, sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken.

Wenn nicht alles genau so gewesen wäre, hätte sie niemals Sidonia kennen gelernt.

Wie lange war das her? Fast zwanzig Jahre. Auf dem Rummel war es gewesen. Libori. 1997 oder 98.

Judith kam es so vor, als sei es gerade erst gewesen.

Sie sah auf die Uhr. Es war noch etwas Zeit, ehe sie bei Sidonia sein wollte. Sie würde dort drüben in dem Cafe noch einen Kakao trinken. Ihre Mutter würde sie mal wieder auf Schärfste verurteilen, wenn sie erführe, dass sie immer noch hin und wieder zu der Wahrsagerin ging, um ihren Rat einzuholen. Merkwürdig, dachte Judith. Mutter ist doch so tiefgläubig erzogen worden. Sie glaubt an Engel, Heilige und die Auferstehung. Wieso kann sie dann nicht glauben, dass es besondere Fähigkeiten in der Welt gibt?

Besondere Kräfte und Gaben, die ihr normales Begriffsvermögen übersteigen?

Na ja, so war es immer. Mutter hatte ihre eigene enge Welt, in der sich auch alle zu bewegen hatten, die mit ihr zu tun hatten. Auch Judith, solange sie bei ihr gelebt hatte. Nur nicht ausbrechen. Nur nicht zu weit nach links oder rechts lehnen. Nur keine eigenen Ideen und Lebenspläne entwickeln.

Judith betrat das Cafe. Es war warm und gemütlich und es waren noch einige Tische frei. Sie setzte sich in eine Nische und hängte ihre Jacke über die Stuhllehne.

Es war durchaus nicht so, dass Judith durch und durch esoterisch veranlagt war. Sie hielt sich selbst für bodenständig, entschlussfreudig. Sie konnte gut mit Geld umgehen, sonst könnte sie sich das Hausprojekt trotz der Erbschaft nicht leisten. Ihre Tierpraxis stand auf soliden Beinen.

Aber sie glaubte eben doch, dass es diese besonderen Kräfte gab, die der normale Menschenverstand nicht erfassen konnte.

Sie bestellte einen Kakao mit Sahne und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen.

1998:

Judith streifte mit ihren Freundinnen Linda und Sabine über den Kirmesplatz der Paderborner Innenstadt – Libori.

Lachend und prustend stiegen sie aus der großen Schiffschaukel.

„Ich kann nicht richtig stehen, Hilfe!“, kreischte Judith lachend.

Die Freundinnen versuchten, sie zu stützen, aber sie schwankten ebenso. Hin und Her – von Links nach Rechts.

„Gut, dass wir noch nichts gegessen haben“, meinte die etwas pummelige Linda.

„Aber jetzt habe ich Hunger“, verkündete Sabine. Sie war die Erste, die allmählich wieder fest und sicher stand.

Die drei Fünfzehnjährigen stellten sich an der nächsten Imbissbude an. Zwei mal Pommes rot-weiß und einmal nur mit Ketchup. Dazu brauchten sie natürlich eine Cola gleich am Stand gegenüber. Sie blieben an einem runden Tisch stehen und ließen sich ihr Mahl schmecken, bevor sie weiterstreiften.

„Seht mal!“ rief Judith plötzlich und zeigte mit dem Finger auf einen schlichten weißen Wohnanhänger. Über der Tür prangte ein einfaches Schild:

Möchten Sie einen Blick in die Zukunft wagen? Fragen Sie Madame Sidonia.

„Was meinst du?“, fragte Sabine in der Hoffnung, dass Judith doch etwas anderes meinte.

„Na, die Wahrsagerin.“

„Die Wahrsagerin? Da willst du doch wohl nicht hin?“

„Doch. Würde mich interessieren.“

„Spinnst du? Kein Mensch kann in die Zukunft sehen.“

„Doch, ich glaub schon.“

„Blödsinn. Warte einfach ab, was kommt.“

„Ich hab keine Lust abzuwarten. Ihr habt gut reden. Ihr habt tolle Eltern, die euch unterstützen. Alles läuft gut bei euch. Ich will wissen, wann es bei mir mal besser wird.“

„Mmmm.“ Das verstand Sabine schon irgendwie. Aber eben nur irgendwie.

„Kommt ihr mit? Sonst geh ich allein.“

„Du gehst auf jeden Fall?“

„Klar.“

„Hast du genug Geld? Wahrsager sind teuer.“

„Ich habe genug dabei. Ich habe ja immer alles gespart.“

Sabine und Linda sahen sich ratlos an. Dann hob Sabine gleichmütig die Schultern. „Von mir aus, gehen wir eben rein.“

Die drei Mädchen betraten den Wohnwagen. Drinnen war nichts so schlicht, wie man von außen vermutet hätte. Der Wohnwagen war mit Teppichen in bunten Mustern ausgelegt. In der Mitte stand ein runder Tisch mit einer gläsernen Kugel. Drum herum standen zwei Stühle und dahinter weiche Polster. Alles in schweren, roten Farben. Aber das Auffälligste war Madame Sidonia selbst - eine dunkelhäutige Schönheit.

Sie hatte ein schmales, ovales Gesicht mit großen, dunkel umrahmten Augen und vollen leuchtend roten Lippen.

Um den Kopf war ein rotes Tuch geschlungen, aus dem eine Flut pechschwarzer krauser Haare floss. Ihr Kleid sah aus, als würde es nur aus Tüchern bestehen. Sie war über und über mit Schmuck behangen. In den Ohren baumelten riesige Kreolen, an den Handgelenken klimperten Armbänder und um den Hals trug sie eine mehrfach geschlungene Kette mit großen Glaskugeln. Judith war überrascht, wie jung sie war. Sie hatte sich Wahrsagerinnen immer als alte, weise Frauen vorgestellt. Aber diese hier war bestimmt noch ein paar Jahre jünger als ihre Mutter mit ihren neununddreißig Jahren.

Madame Sidonia lächelte den Mädchen freundlich entgegen.

Die Drei hatten das Gefühl, durch und durch gemustert zu werden.

Bis in ihr Innerstes hinein.

Linda zwirbelte nervös ihre langen blonden Haare durch die Finger. Sabine konnte das nicht, ihre braunen Haare waren zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten. Stattdessen biss sie an ihren lackierten Fingernägeln herum.

Nur Judith war äußerlich ganz ruhig.

Ihre dunkelblonden Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Und ihre Fingernägel waren sowieso so kurz, dass es nichts mehr zu Knibbeln gab. Ein Zeichen dafür, dass sie dauernervös war.

„Guten Tag“, grüßte Madame Sidonia nach endlosen Sekunden lächelnd. Irgendwie passte dieser gewöhnliche Gruß so gar nicht in diese unwirkliche Umgebung. „Wie kann ich euch helfen?“

Sabine gab Judith einen sanften Schups, so dass sie einen Schritt vorwärts torkelte.

„Ich – ich, möchte gerne…“

Sie war also doch nervös.

„Einen Blick in die Zukunft werfen?“, half Madame Sidonia nach.

„Äh – ja.“

„Dann setzt dich bitte hier an den Tisch“, bat die Wahrsagerin.

Sie lächelte immer noch. „Sind das deine Freundinnen?“

„Ja.“

„Möchtest du, dass sie hier bleiben oder willst du allein mit mir reden? Mir ist es egal.“

„Sie sollen bleiben.“

Madame Sidonia bat Linda und Sabine, sich auf die Polster hinter dem Stuhl zu setzen und sich ganz ruhig zu verhalten. Sie selbst ließ sich Judith gegenüber nieder. Kerzengerade saß sie auf dem Stuhl, ohne die Rückenlehne zu berühren. Sie legte ihre Hände mit den etwas zu langen, rot lackierten Fingernägeln auf die Glaskugel und schloss einen Moment die Augen. Judith beobachtete sie genau. Schon bereute sie, hergekommen zu sein. Was hatte sie da nur geritten? Aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück.

Madame Sidonia öffnete die Augen wieder und sah Judith fest an.

Ihr Lächeln war verschwunden. Beinahe kam es Judith so vor, als sei sie ein wenig entsetzt. Aber das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein. Sidonia bat Judith, ihr die Hand zu geben und sie betrachtete konzentriert die Innenfläche. Judith musste ein Kichern unterdrücken. Was konnte jetzt schon kommen? Die Frau hatte sie überhaupt nichts gefragt. Nicht das Geringste. Sie konnte nichts über sie wissen.

„Du bist kein sehr glückliches Mädchen, auch wenn du im Augenblick so aussiehst. Du lachst die ganze Zeit. Aber – nein, glücklich bist du nicht. Du hast zu Hause viele Schwierigkeiten, du hast es schwer, deinen eigenen Weg zu gehen. Dabei bist du so sicher, was du dir für deine Zukunft wünschst.“

Jetzt lachte Judith nicht mehr.

Linda und Sabine blieben die Münder offen stehen.

„Soll ich weiter reden?“, fragte Madame Sidonia.

Judith nickte zögernd.

„Du lebst bei deiner Familie. Deine Mutter ist eine sehr strenge Frau. Ist sie sehr gläubig?“

Judith nickte. „Ja. Aber irgendwie auf keine gute Art.“

„Ja, ich verstehe. Sie hat sehr feste und strenge Regeln. Damit nimmt sie dir die Luft zum Atmen. Einen solchen Geist wie dich kann man nicht einsperren, aber das tut sie. Du leidest darunter, aber deine Mutter versteht das nicht. Es wird noch eine Weile so weiter gehen.“

Das war Judith schon klar. Schließlich musste sie noch eine Weile bei ihren Eltern leben.

„Dein Vater lässt sie gewähren. Er kümmert sich im Grunde gar nicht um dich.“

„Nicht wirklich. Er wohnt nur im selben Haus“, bekannte Judith.

„Manchmal beschwert Mama sich bei ihm über mich. Dann nimmt er mich noch mal ins Gebet. Dabei mache ich gar nichts Schlimmes. Ich bin nur einfach nicht genauso wie meine Mutter.

Aber das ist doch auch nicht der einzige richtige Weg, oder?“

Madame Sidonia lächelte sie aufmunternd an. „Natürlich nicht.

Aber du hast noch eine Schwester. Sie teilt dein Problem nicht.“

„Nein, sie ist ziemlich brav. Sie tut immer, was erwartet wird.“

„Und das nervt dich?“ Madame Sidonia lächelte.

Judith nickte, obwohl Sidonia keine Antwort zu erwarten schien.

„Es gibt aber auch Menschen in deiner Nähe, die dich genau so lieben wie du bist. Die nicht versuchen, dich zu verändern. Mit deren Hilfe wirst du deine eigenen Entscheidungen treffen und deinen eigenen Weg gehen.“

Sidonia machte eine kleine Pause. Dann fuhr sie fort. „Du hast wunderbare Talente und bist sehr ehrgeizig. Es ist noch nicht vom Schicksal festgelegt, ob du einmal einen kreativen Beruf ergreifen wirst oder einen mit Tieren. Das ist allein deine Entscheidung. Du liebst Tiere sehr, nicht wahr?“

Judith nickte.

„Aber du darfst kein Tier haben?“

„Nein.“

„Du wirst dein Elternhaus früh verlassen.“

Das hoffe ich doch, dachte Judith staunend.

Erschöpft ließ Sidonia Judiths Hand los und sank gegen die Stuhllehne. Sie stöhnte, als hätte sie sich sehr angestrengt. Judith sah sich ratlos zu ihren Freundinnen um. Die zuckten unsicher die Schultern. Sidonia bemerkte es.

„Lass mir einen Moment. Es strengt an, in vergangene oder zukünftige Zeiten zu sehen. Aber ich werde für dich noch in meine Kugel blicken. Mal sehen, ob die Zukunft für dich schönere Zeiten bereithält.“

Judith wartete geduldig, obwohl ihr Herz heftig klopfte. Es kam ihr endlos vor, ehe Madame Sidonia sich wieder aufrichtete und beide Hände um ihre Kugel legte. Dabei waren in Wirklichkeit gerade erst zwei Minuten verstrichen.

Die Kugel begann auf einmal zu leuchten.

Judith bekam große Augen.

Linda und Sabine verstanden die Welt nicht mehr. Was geschah denn hier?

Plötzlich lächelte Madame Sidonia wieder. „Oh, demnächst wird etwas Schönes passieren. Du wirst einen lieben Menschen kennen lernen. Einen Jungen.“

„Das heißt….“

„Du verliebst dich. Ja. Aber – nein, kennen lernen wirst du ihn nicht. Du kennst ihn schon.“

„Ich verliebe mich in einen Jungen, den ich schon kenne?“

„Ja. Aber bitte sei ruhig. Ich kann mich dann besser konzentrieren.“

Auf einmal wurde sie wieder ernst. Sie ließ die Hände sinken.

„Was ist los?“, fragte Judith hektisch. „Haben Sie etwas Schlimmes gesehen?“

„Nein. Ich bin erschöpft. Es ist vorbei.“

„Sie haben etwas Schlimmes gesehen.“

„Du wirst noch viel Schönes und auch Schlimmes erleben. So wie wir alle“, antwortete Sidonia ausweichend. „Wenn du noch einmal meinen Rat brauchst - ich bin ja nicht nur auf dem Rummelplatz. Du kannst zu mir kommen.“

Sie reichte Judith eine Karte, auf der eine Adresse außerhalb der Stadt stand.

„Das ist ziemlich weit“, meinte Judith.

„Ja, aber mit dem Bus wird es gehen. Ich wäre nicht glücklich im städtischen Trubel. Ich gehöre in die Natur. So wie du.“

Sie legte ihre langen, schlanken Hände mit den lackierten Fingernägeln auf Judiths Haar. Dann schloss sie die Augen. Nach einem kurzen Moment ließ sie Judith wieder los. Sie entspannte sich sichtlich.

„Du hast eine große Gabe, von der du selbst noch nichts weißt“, lächelte Sidonia. „Aber sie wird dir noch einmal sehr helfen.“

„Welche Gabe?“, fragte Judith verwirrt.

Sidonia antwortete nicht sofort.

„Deine Gefühle und deine Träume“, sagte sie nach einer Weile.

Es klang sehr geheimnisvoll.

„Gefühle und Träume hat jeder.“

„Oh, ich meine nicht, dass man sauer ist oder fröhlich oder traurig.

Ich meine, deine Intuition. Das Gefühl, wenn etwas nicht stimmt.

Das Gefühl, ob eine Entscheidung richtig ist oder falsch. Du hast diese Gabe. Du musst sie nur richtig einsetzen. Vertrau deinen Gefühlen. Lass dir nichts anderes einreden. Und erlaube nicht deinem Kopf an deiner Intuition zu zweifeln. Das ist manchmal ein Problem. Sobald man anfängt nachzudenken, kommt man seiner Intuition in die Quere und weiß am Ende nicht mehr, was richtig ist.“

Linda und Sabine kicherten hinter vorgehaltenen Händen.

Madame Sidonia achtete nicht auf sie. „Du kannst jetzt noch nichts damit anfangen. Aber deine Gefühle und Träume sind sehr mächtig. Du musst lernen zu unterscheiden, was deine Intuition ist und was Ängste oder Fantasien. Und was ein Tagtraum ist oder eine Vision.“

„Das ist Unsinn!“, entfuhr es Judith ein wenig zu heftig. Davon wollte sie nichts hören.

Judith schüttelte sich.

„Soll ich für euch auch nachsehen?“, fragte Madame Sidonia die beiden Mädchen im Hintergrund.

Sabine fing sich als erste. „Nein, oh nein. Ich möchte das nicht.“

„Ich auch nicht“, stotterte Linda.

„Gut. Ich glaube auch nicht, dass es gut für euch wäre. Ihr lebt sicherer und geborgener als euere Freundin, das sehe ich schon in eueren Augen. So – und jetzt müssen wir noch die Bezahlung regeln…“ Ihr Ton war auf einmal sehr geschäftsmäßig. Judith kam es so vor, als würde sie plötzlich und grausam in die Wirklichkeit zurückgeholt.

Sidonia hob die Schultern und lachte.

„Es tut mir leid. Aber meine Gabe ist mein Beruf.“

„Ja natürlich. Das weiß ich doch.“

Die drei Mädchen blinzelten, als sie den Wohnwagen von Madame Sidonia verließen. Es war düster dort gewesen, jetzt konnten sie kaum in das grelle Sonnenlicht sehen. Linda und Sabine kicherten.

„Das ist doch alles nicht normal“, meinte Linda.

„Ein Riesenschauspiel. Wie die schon aussah“, erwiderte Sabine.

„Wie eine Zigeunerin im Film. Und das mit den Gefühlen und Träumen…“ „Genau. Größeren Quatsch habe ich noch nie gehört. Judith, was sagst du eigentlich dazu?“

Judith sagte gar nichts.

„Judith!“ Sabine puffte die Freundin leicht an. Judith schrak zusammen.

„He, was ist los? Wie fandest du den ganzen Hokuspokus?“

„Hokuspokus? Die wusste doch ’ne ganze Menge.“

„Na ja“, meinte die skeptische Sabine ausweichend. „Aber überleg mal, was sie gesagt hat: Menschen in deiner Nähe, die dich mögen… Toll, jeder hat Menschen in seiner Nähe, die ihn mögen.

„Jaaa, wahrscheinlich schon.“

„Na ja…“ Linda dachte nach. „Irgendwie…“

„Ach wo, die hat nur rum geraten. Die hat Judith die ganze Zeit beobachtet und außerdem hat Judith zwischendurch Antworten gegeben und dadurch Lücken in dieser sogenannten Vorhersage gefüllt. Und das mit der Glaskugel – Huhuhu…“, heulte Sabine betont gespenstisch. „Das ist doch nur eine billige Show.“

„Wir können ja warten, ob sie sich verliebt“, schlug Linda vor.

„Bullschiet. Mädchen in unserem Alter verlieben sich halt. Das ist nicht so beeindruckend.“

Judith dachte an René. Er war zwei Klassen über ihr. Siebzehn Jahre. Er war irgendwie süß. Groß und schlaksig mit dunklem, lockigem, etwas zu langem Haar. Und seine Stimme – wow.

Manchmal hatte Judith das Gefühl, dass er sie ansah. Vor der Stunde, wenn sie draußen auf der Treppe saßen und auf das Läuten der Glocke warteten. In der Pause, wenn sie mit Linda und Sabine kicherte. Auf dem Nachhauseweg.

Bestimmt war das Unsinn. Wieso sollte er an ihr interessiert sein?

Sie war weder hübsch noch besonders interessant.

Sie sei noch ein Kind, sagte die Oma.

Judith sah auf die Uhr und erschrak heftig.

„Ich muss nach Hause. Ganz pünktlich schaffe ich es schon nicht mehr.“

Sabine sah ebenfalls auf ihre Uhr.

„Na ja, aber viel zu spät sind wir nicht. Aber los, rennen wir, damit wir wenigstens den nächsten Bus kriegen.“

Judith wusste, das würde wieder Ärger geben.

Judith hatte die Sahne abgelöffelt und schlürfte den Kakao. Herrlich. Dampfend heiß. So musste er sein. Viel zu oft wurde lauwarmer Kakao serviert. Judith hasste das.

Sie lächelte vor sich hin, als sie an René dachte. Sie waren tatsächlich nur wenige Wochen nach dem Besuch bei Sidonia ein Paar geworden. Es war eine schöne Zeit gewesen, obwohl Mutter auch das nicht verstanden hatte. Es schien manchmal, als sei sie geradezu darauf versessen, jedes gute Gefühl in Judith zu töten.

Warum nur? „Wieso verliebt sich so ein hübscher Junge ausgerechnet in dich?“, hatte sie gefragt.

Weg mit euch, befahl Judith ihren negativen Gedanken. Die wollte sie heute nicht. Sie wollte nur fröhliche Gedanken und Erinnerungen zulassen. Außerdem – wäre Mutter nicht so vehement gegen alles gewesen, was sie entschied, hätte sie vielleicht selbst nicht so vehement ihre Wünsche durchgesetzt. Wer wusste das schon – womöglich hatte gerade diese Ablehnung ihren Kampfgeist geweckt und sie zu mehr Durchsetzungsvermögen angestachelt.

Sidonia hatte sowieso in vielem recht behalten. Judith hatte zum Beispiel wirklich eine sehr gute Intuition. Jedes Mal, wenn sie dagegen entschieden hatte, war sie auf die Nase gefallen. Sie hatte längst gelernt, auf ihre innere Stimme zu hören.

Nur, warum Sidonia bei dieser ersten Wahrsagung so erschrocken gewirkt hatte, wusste sie bis heute nicht. Vielleicht, weil kurz darauf ihr Großvater gestorben war? Aber vielleicht hatte sie sich das ja auch nur eingebildet.

Sie beobachtete die Zeiger ihrer Armbanduhr. Es war eine große, sportliche Uhr mit einem Ziffernblatt mit arabischen Zahlen. Die Zeit verging langsam. Sie konnte noch ein wenig sitzen bleiben.

Sidonia wohnte noch immer etwas außerhalb der Stadt. Judith würde gleich mit ihrem Auto weiterfahren. Sie selbst lebte zurzeit in einem Vorort von Paderborn – in Schloss Neuhaus. Aber nicht mehr lange. Bald würde sie in ihrem Traumhaus leben.

Darüber wollte sie heute mit Sidonia sprechen. Es war in den letzten zwanzig Jahren zu einer Gewohnheit von ihr geworden, vor großen Entscheidungen zu ihr zu gehen. Es beruhigte sie. Ob das wohl hieß, dass sie ihrer eigenen Intuition doch noch nicht ganz und gar vertraute?

Sidonia begrüßte Judith wie immer herzlich.

„Hallo, Judith, komm herein“, rief sie fröhlich und zog Judith am Arm ins Haus. „Was für ein scheußliches Wetter bringst du mit.“

„Geht schon. Das Wetter kann man sich eben nicht aussuchen.“

Die Wahrsagerin sah in ihrem Haus ganz anders aus, als in dem Wohnwagen auf Libori. Aber das war ja schon damals so gewesen. Nichts war hier mehr übrig von der wahrsagenden Zigeunerin des Rummelplatzes. Sie trug normale Kleidung – vorzugsweise einen weiten Schlabberlook - Jeans und Pullover oder Kleider.

Diesem Look war sie bis heute – fast 19 Jahre später – treu geblieben. Aber er passte auch zu ihr. Ihre Haare waren nicht mehr so tiefschwarz und auch nicht mehr ganz so lang wie früher. Sie reichten ihr in wilden Locken bis knapp auf die Schultern und wurden von grauen Strähnen durchzogen. Schlank war sie noch immer.

Aber das bemerkenswerteste an ihr waren ihre Augen. Groß und dunkel wirkten sie, als könnten sie ihrem Gegenüber bis ins tiefste Innerste blicken.

Judith überlegte, dass Sidonia heute wohl Mitte fünfzig sein musste. Sie hatte eine Tochter – Mercedes, die inzwischen achtzehn Jahre alt war. Aber geheiratet hatte Sidonia nie.

Sie gingen sofort in Sidonias Arbeitszimmer. Dort lagen mehrere verschiedene Kartenstapel im Regal, Bilder der Handlinien mit ihrer Bedeutung hingen an der Wand und auch die Glaskugel, die sie im Wohnwagen auf dem Rummelplatz benutzt hatte, stand dort. Aber die benutzte Sidonia nie.

„Die ist vollkommen nutzlos“, hatte sie Judith anvertraut. „Die ist nur Show. Auf der Kirmes braucht man so was. Die Leute erwarten das.“

Jetzt setzten sie sich gegenüber auf die gepolsterten Stühle. Zwischen ihnen stand ein Tisch mit verschnörkelten Beinen, der genug Platz bot, um Karten auslegen zu können. Außerdem stand darauf für jeden ein Glas Wasser, auf dessen Grund Mineralien lagen, die für die nötige Energie sorgen sollten.

„Du warst lange nicht hier. Ich habe mich sehr gefreut, von dir zu hören“, sagte Sidonia.

Eine Katze kam in den Raum und schlich um Sidonias Beine.

Judith beobachtete sie amüsiert. Was für ein Klischee, dachte sie.

Seit sie Sidonia kannte, hatte sie Katzen im Haus. Ausgerechnet.

Galten die nicht als typische Hexentiere?

„Das stimmt, es sind fast zwei Jahre her. Nachdem ich Mark verlassen hatte, war ich nicht mehr hier. Es lief einfach alles“, bestätigte Judith.

„Beruflich? In der Liebe?“

Judith verzog den Mund. „Beruflich. Die Liebe habe ich völlig vergessen. Es geht auch ohne Mann. Ich vermisse nichts.“

Sidonia nickte. „Und jetzt läuft es nicht mehr?“

„Was? Nein!“, rief Judith verwirrt aus.

„Ich meine nur – du sagtest, es lief alles gut, deshalb warst du nicht mehr bei mir.“

„Ach so… Doch, jetzt läuft es auch. Aber es gibt eine Veränderung. Ich werde ein Haus kaufen. Es fehlt nur noch meine Unterschrift. Es ist einfach perfekt. Es liegt in der Nähe von Detmold, etwas außerhalb. Sogar ziemlich alleine, es gibt nur einen einzigen Nachbarn ein Stück weit entfernt. Aber gerade das gefällt mir daran. Es gibt Platz für eine Praxis, ich kann dort malen und für Tiere ist auch genug Platz. Gut, ich brauche Kunden. Aber das wird schon laufen. Ich bin da ganz optimistisch.“

„Aber?“

„Aber es ist eine ziemlich große Veränderung. Ein großes Haus, das ich zuerst renovieren lassen muss. Ein Haus und großes Grundstück, um das ich mich kümmern muss. Ich werde das niemals allein schaffen, also brauche ich wenigstens ein oder zwei Leute, die ich zumindest hin und wieder beschäftige und bezahlen muss. Und ich muss mir einen neuen Kundenstamm aufbauen.“ Judith zog die Nase kraus. „Ich habe kalte Füße bekommen.“

Sidonia lachte.

„Was sagt denn deine innere Stimme? Du weißt, ich sagte dir, du musst immer darauf hören. Du kannst darauf vertrauen. Vergiss das nicht.“

„Du sagtest auch, wenn sich erst mal der Kopf einschaltet, kann mich das verunsichern. An dem Punkt bin ich, glaube ich.“

Sidonia nickte. „Na ja, dann war es ganz richtig, dass du hergekommen bist. Ich werde dir die Karten legen. Mal sehen, ob das Haus das Richtige ist.“

Sidonia mischte die Karten, ließ Judith „Stopp“ sagen und die Hälfte abnehmen. Dann legte sie sie nach einem festgelegten Muster vor sich auf den Tisch.

Sie betrachtete das Kartenbild konzentriert.

Ihre Stirn legte sich in Falten.

Judith kannte das schon. Sidonia nahm ihre Aufgabe sehr ernst.

Und sie fühlte eine große Verantwortung. Sie wusste, die Menschen, die zu ihr kamen, verließen sich auf ihre Vorhersagen.

Judith sah aber auch das kaum merkliche Erschrecken. Das kurze Zögern.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie.

„Doch, es ist alles in Ordnung.“

„Lüg mich nicht an, Sidonia. Was ist los?“, fragte sie direkt.

„Hier. Der Wagen – er steht für Aufbruch und Mut. Beides passt zu deiner Situation. Aber es steht dir auch eine Schicksalsprüfung bevor. Ich erkenne Schwierigkeiten.“

„Natürlich stehe ich vor Schwierigkeiten. Habe ich dir nicht eben erzählt, was mich alles erwartet? Und ich muss das alleine managen. Also nicht unbedingt wirklich praktisch alle Arbeit alleine machen, aber – na ja, ich kann die Verantwortung nicht teilen.

Wenn ich zum Beispiel kein Geld verdiene, gehe ich mit dem ganzen Projekt baden. Kein doppelter Boden, kein starker Arm, der mich auffängt.“ Judith lachte gekünstelt.

Sidonia schüttelte den Kopf. „Da ist noch etwas anderes, etwas Unbestimmtes.“

Judith antwortete nicht. Was konnte das sein?

„Meinst du, ich soll die Finger von dem Haus lassen? Ich meine, unterschrieben habe ich ja noch nicht.“

Sidonia beobachtete konzentriert das Kartenblatt vor sich.

„Nein, dieses Kartenblatt verspricht dir beruflichen Erfolg. Aber wir können gleich gerne noch eine weitere spezielle Abfrage nur für deinen Beruf machen. Aber hier ist noch einiges Interessantes zu sehen. Schau hier - du lernst jemanden kennen. Einen Mann.“

„Oh, eine neue Liebe?“, fragte Judith und lachte. Doch Sidonia schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht genau. Auf jeden Fall werden zwei Männer in dein Leben treten. Aber einer ist nicht aufrichtig zu dir.“

„Und wieder ist meine Intuition gefragt, nicht wahr?“, meinte Judith scherzhaft. Sidonia lachte nicht, sondern nickte ihr ernst zu.

Sie nahm einen Stapel Karten, die aussahen, wie ein normales Mau-Mau-Spiel. „Dann wollen wir noch die Abfrage zum Beruf machen, damit du beruhigt bist.“

Sidonia mischte den Mau-Mau-Stapel, ließ Judith abheben und legte ihn schließlich aus. Immer sechs Karten in einer Reihe, die letzten zwei rechtsbündig in die letzte Reihe.

„Oh“, rief sie erfreut aus. „Schau, die Karo Acht verspricht auf jeden Fall beruflichen Erfolg. Also günstiger kann das nicht liegen.“

Sie nahm fünf Karten in einer festgelegten Reihenfolge heraus und sagte Judith, sie dürfe nun Fragen stellen. Die fünf herausgenommenen Karten sollte sie mischen. Judith tat es.

„Ich versuche es noch einmal. Eine Frage auf die Karo Acht.“

„Jetzt zieh eine Karte aus diesen Fünf und leg sie darauf“, wies Sidonia sie an.

Judith zog die Pik 10 und legte sie darauf.

Sidonia juchzte. „Besser geht gar nicht. Durch deine räumliche Veränderung wirst du beruflichen Erfolg haben. Ganz klar. Bist du jetzt beruhigt?“

Judith nickte. „Ja, schon. Aber ich möchte noch etwas fragen.

Darf ich?“

„Ja natürlich. Was möchtest du wissen?“

„Eine Frage auf den Herz König.“

Judith zog die Herz Neun. Beständigkeit.

Aber sie dachte an Sidonias Worte: Du wirst zwei Männer kennen lernen. Einer meint es nicht ehrlich. Deshalb sagte sie „Noch eine Karte auf den Karo König.“

Sidonia nickte. „Eine weise Wahl.“

Judith zog die Pik Fünf.

„Warnung vor diesem Mann“, sagte Sidonia.

Judith schluckte.

„Die Karten lügen nicht“, warnte Sidonia.

Als Judith Madame Sidonia verließ, war sie völlig durcheinander.

Zum ersten Mal wünschte sie, sie hätte wirklich einfach auf ihr Innerstes gehört und hätte sich diesen Besuch erspart. Sie merkte, dass sie eigentlich nur eine Bestätigung gewollt hatte.

Die hatte Sidonia ihr auch gegeben. Sie hatte nicht gesagt, dass die Entscheidung falsch war. Sie hatte ihr beruflichen Erfolg prophezeit. Sie hatte aber auch gesagt, dass sie nicht erwarteten Schwierigkeiten gegenüberstehen würde, die sie zuerst bewältigen müsse.

Was das wohl bedeutete?

Zum ersten Mal zweifelte Judith an Sidonias Vorhersagung. Vielleicht sollte sie sich wirklich nicht auf diese Dinge verlassen.

Mein Gott, sie war eine erwachsene Frau von Mitte Dreißig.

Konnte sie nicht einfach ihre Entscheidung treffen so wie Millionen andere Menschen auch?

Es war Gewohnheit. Fast eine Art Sucht, zuerst die Bestätigung in ihrer Handfläche oder den Karten zu suchen.

Sie lenkte ihren Polo durch den inzwischen strömenden Regen.

Als sie zu Hause ankam, fragte sie sich, wie sie eigentlich dorthin gekommen war.

Kapitel 2Samstag, 20. Mai

Judith freute sich auf den Einzug in das neue Haus. Aber zuerst gab es eine Menge zu tun. Sie packte selbst mit an, wo sie konnte, aber sie musste schließlich auch noch in der Tierklinik arbeiten und konnte sich nicht schon monatelang vor ihrem Umzug frei nehmen und so vergab sie einige Renovierungsarbeiten an entsprechende Firmen.

Aber auch Freunde halfen kräftig mit.

Ihre Freundinnen Sabine und Anita sowie deren Ehemänner halfen wo sie konnten. Sabine war ihre Freundin aus Kindertagen, zu ihrer alten Freundin Linda war der Kontakt leider nach und nach eingeschlafen, nachdem diese vor zehn Jahren nach Frankfurt gezogen war. Ohne Streit, ohne böse Absicht – es war einfach so gekommen.

Auch Judiths Schwester Hannah und deren Freund Joachim packten kräftig mit an.

Judith wusste wirklich zu schätzen, was ihre Freunde für sie taten.

Immerhin hatten alle einen Beruf und Sabine und Anita hatten kleine Kinder und dadurch natürlich wenig freie Zeit.

Es wurde tapeziert und gestrichen und das Wohnzimmer erhielt einen neuen Fußboden. Die großen, grauen Fliesen empfand Judith als zu kühl und ließ sie durch Laminat ersetzen.

Große Umbauarbeiten nahm sie nicht vor. Vielleicht später irgendwann. Sie könnte sich vorstellen, die Wand zwischen Wohn- und Esszimmer zu durchbrechen. Dann hätte sie einen einzigen großen Raum Aber erstmal ließ sie es, wie es war.

Immerhin – würde sie schon jetzt die Wand durchbrechen, müsste sie auch den kompletten Fußboden erneuern, nicht nur das Wohnzimmer.

Die zwei Räume waren durch eine breite Schiebetür voneinander getrennt. Vom Esszimmer ging es weiter in die geräumige Küche.

Auf der unteren Etage gab es außerdem ein kleines Badezimmer.

Vom Flur aus führte eine Treppe in die obere Etage.

Dort befanden sich drei Schlafzimmer und ein großes Bad. Das eine würde ihr eigenes Schlafzimmer, das zweite ein Gästezimmer. Judith rechnete ganz fest damit, dass ab und zu Freunde zu Besuch kämen und bei ihr übernachten würden. Immerhin zog sie von Paderborn nach Detmold und ließ auch Freunde ein paar Kilometer zurück.

Das dritte Zimmer würde ihr Büro und Zeichenzimmer. Sie liebte es, Bilder zu malen. Sie hielt sich keineswegs für eine große Künstlerin, aber es entspannte sie, ließ sie den Alltag vergessen.

In dem Haus gab es auch einen Dachboden, aber der war niemals ausgebaut worden. Er bestand nur aus einem einzigen großen Raum, um irgendwelches Gerümpel unterzustellen, vielleicht Kartons mit Weihnachtsdekoration, Koffer, altes Geschirr, das man vielleicht mal auf einem Flohmarkt verkaufen wollte… In dem eingeschossigen Anbau, der direkt vom Flur aus zu erreichen war, befanden sich die Räume, in denen Judith ihre Praxis einrichten wollte.

Judith hatte gehört, dass diese Zimmer früher von einer Familie als Spielparadies für Kinder angebaut worden waren. Aber in den letzten Jahren waren sie kaum genutzt worden.

Hier gab es wirklich das Meiste zu tun. Eine Theke für die Anmeldung ihrer Kunden musste her, eine Art Behandlungszimmer und ein zusätzliches kleines Zimmer für Besprechungen. Nun, das würde sie noch immer in Angriff nehmen können, nachdem sie eingezogen war.

Außerdem sollte das ganze Grundstück eingezäunt werden, damit sie draußen mit Tieren arbeiten konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie davon liefen. Vielleicht konnte sie ja auch mal tierische Urlaubsgäste aufnehmen.

„Du hast hier wirklich einen tollen Fang gemacht“, meinte ihr alter Freund Jörn. Seit ihrer Studienzeit war sie mit ihm befreundet.

Er war Anwalt, hatte mit ihr das Haus besichtigt und den Kauf des Hauses von der juristischen Seite her geprüft. Handwerklich hatte er allerdings zwei linke Hände, so dass er in der Hinsicht keine große Hilfe war. Insgesamt ging es schnell voran und schon im Mai konnte sie das Haus beziehen.

An diesem ersten Abend im neuen Haus leistete ihr ihre vier Jahre jüngere Schwester Gesellschaft. Niemand, der sie nicht kannte, würde die beiden Frauen für Schwestern halten. Hannah war mit einem Meter vierundsiebzig etwas größer als Judith und auch etwas pummeliger.

Ihre Haare waren naturblond und leicht gewellt. Sie flossen glänzend und glatt fast bis zur Taille herab. Oft trug sie sie zu einem Dutt am Hinterkopf zusammen gezwirbelt.

Die Beiden saßen mitten zwischen Umzugskartons in Judiths neuem Wohnzimmer auf dem blau getupften Sofa und tranken Rotwein aus Plastikbechern. Die Gläser hatte Judith noch nicht ausgepackt. Eigentlich hätten sie noch ein wenig arbeiten können, es war erst acht Uhr, aber sie hatten beschlossen, den ersten Abend lieber gemütlich ausklingen zu lassen. Der Fernseher war aus. Im Radio lief leise Musik, Judith nahm überhaupt nicht wahr, welche. Sie blickten in das verwilderte blühende Chaos ihres Gartens. Um ihre Terrasse herum erstreckte sich ein Feld aus Blumen und Büschen. In der Mitte führte ein schmaler Steinweg hindurch auf ihre Terrasse. Und dahinter erstreckte sich eine Wiese, wo die Hunde rennen konnten und auf der sie später auch Training durchführen konnte.

„Ich werde das nicht ändern“, beschloss sie.

„Was?“, fragte Hannah.

„Na den Garten. Schau ihn dir an. Ist es nicht toll? Ich mag dieses Durcheinander. Ein Garten sollte nicht in streng geordneten Beeten angelegt sein. Pflanzen müssen wachsen dürfen, wo sie wollen.“

Hannah lachte. „Darf ich dabei sein, wenn du das Mama erzählst?“

„Die geht das doch gar nichts an. Wie läuft es eigentlich mit deinem Joachim?“

„Sehr gut.“ Hannah strahlte. An ihrem Lächeln konnte Judith ablesen, dass ihre jüngere Schwester glücklich war.

„Mag Mama ihn?“

Hannah nickte. „Die sagt nichts. Die ist doch froh, wenn sie wenigstens eine ihrer Töchter unter die Haube kriegt.“ Hannah grinste.

Judith verzog den Mund. „Ja, ich weiß. Dass ich Mark verlassen habe, war ein schwerer Schlag für sie. Aber sie musste ja nicht mit ihm leben. Na ja – eigentlich wäre mein Leben an seiner Seite genau so weiter gelaufen wie bei unserer Mutter. Alles schön geordnet. Immer brav, immer geregelt. Sauber, steril, aufgeräumt.“

„Und das hat dir nicht gefallen?“, fragte Hannah augenzwinkernd.

Schließlich kannte sie ihre Schwester gut genug.

„Er wollte keine Tiere!“, brachte Judith in vorwurfsvollem Ton hervor.

„Das geht natürlich gar nicht.“

„Für mich auf jeden Fall nicht.“

Judith schaute auf ihre beiden Mischlingshunde, die sie sich sofort nach der Trennung vor zwei Jahren aus dem Tierheim geholt hatte. Die Zwei lagen entspannt auf ihren Kissen direkt neben dem Sofa und schauten erwartungsvoll zu ihrem Frauchen auf.

Die kleine, etwas hektische Jack-Russel/Dackel-Mischlingdame Snow und der große, gelassene Rüde Cloud. Welche Rassen darin steckten, wusste Judith überhaupt nicht. Ein Teil könnte ein Berner Sennenhund sein. Es war ihr gleichgültig. Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt.

„Auf mein neues Leben!“, sagte sie und hob ihren Becher.

„Auf Haus, Tiere und Praxis oder wie man das nennt“, rief Hannah aus.

Sie stießen miteinander an. Sie kicherten albern und scherzten über ihre Plastikbecher. Aber der Wein schmeckte trotzdem.

„Wann geht es denn los mit deiner Praxis oder Studio?“

„Am 17. Juni eröffne ich. Also in vier Wochen. Es wird schon laufen. Ich habe schließlich ein umfangreiches Angebot. Tiertraining, Verhaltenspsychologie, Homöopathie für Tiere. Und ich würde auch Tiere aufnehmen, wenn ihre Besitzer im Urlaub sind.“

„Und nicht zu vergessen, malst du auch.“

Judith verzog die Nase. „Ist ja wohl eher ein Hobby.“

„Vielleicht wird da ja mal mehr draus.“

„Nein, ich glaub nicht. Beruflich habe ich wirklich andere Prioritäten.“

„Nur ein bisschen nebenher.“

„Wir werden sehen.“

Plötzlich wurde Snow unruhig. Die Hündin rannte zur Terrassentür und lief aufgeregt auf und ab.

„Was ist denn mit ihr?“, fragte Hannah.

„Ach, sie ist ein bisschen hektisch. Sie hat keine so schöne Vergangenheit. Aber vielleicht muss sie ja auch einfach mal raus.“

Judith stand auf und öffnete die Tür. Aber Snow lief nicht hinaus.

Stattdessen begann sie irgendetwas Unsichtbares anzuknurren.

Und dann wurde auch der gelassene Cloud unruhig. Er richtete sich auf, spitzte die Ohren und rannte schließlich zur Terrassentür und bellte laut.

„Was ist nur los?“, rief Hannah alarmiert. „Mach dir Tür zu!“

Judith schlug ohne weiter zu fragen die Terrassentür zu und drückte die Klinke herunter.

„Hast du Jalousien?“, fragte Hannah aufgeregt.

„Ja.“

„Mach sie zu.“

„Was hast du denn?“

„Na, die Hunde sind so aufgeregt. Da ist doch irgendwas. Oder irgendwer. Judith, du wohnst hier ziemlich allein. Wenn draußen jemand herum schleicht und einbrechen will?“

Judith fuhr ein Schreck in die Glieder.

„So ein Unsinn!“, sagte sie dann resolut. Trotzdem ließ sie mit einem lauten Knall die Jalousien der Terrassentür herunterfahren und danach auch die an den Fenstern.“

„Mach alle zu. Auch im Esszimmer, Küche, Bad. Auch oben.“

„Hannah, übertreib nicht. Meine Güte, kannst du eine Panik verbreiten.“

Aber Judith war selbst nicht frei davon. Sie ließ sich anstecken von den bellenden Hunden und ihrer leicht hysterischen Schwester.

Snow lag immer noch vor der Terrassentür und knurrte die Jalousien an.

Wenn da nun wirklich etwas war? Seltsam war dieses Verhalten der Hunde ja schon, besonders von Cloud. Judith hatte selbst überhaupt nicht nachgesehen. Dazu hatte sie viel zu schnell reagiert und sich verbarrikadiert.

Die beiden Frauen ließen im ganzen Haus die Jalousien runter und verschlossen die Haustür.

Als sie zurück ins Wohnzimmer kamen, hatten sich die Hunde beruhigt.

„Puh!“, Judith begann auf einmal zu lachen. „Wir sind zwei alberne Angsthasen. Wahrscheinlich ist ne Katze durch den Garten gelaufen oder ein Hase.“

Hannah begann ebenfalls zu lachen und ließ sich rückwärts aufs Sofa fallen. „Ja, du hast recht. Ich schaue wohl zu viele Krimis.

Aber trotzdem – besser ist es schon, wenn du alles dicht machst.

Ist nicht sehr belebt die Gegend hier.“

„Ja, aber ich lebe auch nicht gerade in der Prärie. Der nächste Nachbar ist zwar nicht gleich hinterm Zaun, aber auch nicht ewig weit weg. Schau aus dem Küchenfenster, da kannst du das Haus sehen.“

Hannah nickte. „Ist ja gut. Komm, trinken wir noch ein Glas – äh, Becher.“

Judith schenkte nach.

Die gemütliche Atmosphäre kehrte zurück.

Die Hunde lagen wieder auf ihren Kissen.

Hannah und Judith tranken ihren Wein.

Der Abend verlief ohne weiteren Zwischenfall.

„Morgen wartet ’ne Menge Arbeit auf uns“, sagte Judith mit einem Blick auf die Umzugskartons.“

„Ja, morgen!“, bestätigte Hannah. „Heute genießen wir den Abend.“

Judith und Hannah tranken Wein und sahen noch etwas fern. Als es schließlich Zeit war, zu Bett zu gehen, hatte Hannah keine Lust, alleine in das Gästezimmer zu gehen und so legten sich beide in Judiths breites Futonbett und redeten weiter, bis ihnen die Augen vor Müdigkeit zufielen. Sie redeten von ihrer Kindheit, lachten über ihre Spiele und lästerten über ihre Mutter. Die beiden Hunde ignorierten ihre Hundebetten und legten sich lieber dicht aneinandergekuschelt neben das Bett. Sie ließen sich nicht stören, nur einmal horchte Cloud auf und bellte kurz.

„Was ist los?“, fragte Judith.

Aber er legte sich sofort wieder hin – mit der Schnauze auf Snows Rücken und schlief ein.

Sidonia stand an diesem Abend ebenfalls mit einem Glas Rotwein am Fenster und blickte in die klare Dämmerung dieser Mainacht.

Sie fühlte sich etwas unwohl in ihrer Haut.

„Was ist los, Mama?“

Sidonia zuckte ein wenig zusammen. „Oh, Mercedes. Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.

Die junge Frau lachte hell. „Das habe ich bemerkt, Mama. Du bist vollkommen weggetreten. Ist etwas geschehen?“

„Nein, noch nicht“, antwortete Sidonia geheimnisvoll.

Mercedes sah ihre Mutter mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck an. Sie sah ihr ziemlich ähnlich. Sie hatte die gleiche ovale Gesichtsform und die großen dunklen Augen. Ihre Haut war etwas heller, denn ihr Vater war ein Weißer, zu dem sie beide jedoch keinerlei Kontakt mehr hatten. Auch ihre Haare waren nicht so tiefschwarz wie Sidonias, eher eine satte Ebenholzfarbe. Sie waren lockig und wild, aber Mercedes glättete sie aufwändig.

„Was heißt das?“, fragte sie, als ihre Mutter nicht weiter sprach.

Sie berührte sie sanft an der Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

„Ach Merci, es ist nicht so einfach.“

„Hat es mit deiner Wahrsagerei zu tun?“

Sidonia nickte ganz leicht.

Mercedes stellte sich neben sie und blickte durch das Fenster auf den freien, unverbauten Blick, der sich ihnen bot. Der war wohl für ihre Mutter lebenswichtig. Sie könnte niemals allzu eng mit anderen leben – in einer Wohnsiedlung Haus an Haus – oder gar in einer Stadt. Und das, obwohl sie mit Menschen arbeitete und ihnen mit ihrer Arbeit auch durchaus helfen wollte. Aber vielleicht lag es auch gerade daran. Sie brauchte diese Abgeschiedenheit, um Kräfte zu sammeln.

Mercedes griff nach Sidonias Hand. „Mama, sag es mir.“

Sidonia drückte die Hand ihrer Tochter. „Du bist so lieb, Merci.

Und so jung. Ich will dich nicht belasten. Ich meine, ich bin die Mutter und sollte für dich da sein, nicht umgekehrt.“

Mercedes lachte. „Aber Mama, ich bin doch kein Kind mehr. Du warst immer für mich da. Wenn du dich jetzt mal bei mir aussprechen möchtest, ist das schon okay.“

Sidonia nickte. Sie war sehr stolz. Wie erwachsen ihre Kleine schon war. Sie strich ihr sanft durch das Haar. Aber noch immer brauchte sie einen Moment, bevor sie reden konnte. Mercedes spürte das instinktiv. Sie ließ ihr die Zeit und wartete.

„Eine Frau, die mich schon seit ihrer Jugend aufsucht, bat um meinen Rat bei einem geplanten Hauskauf. Es war ein kleines Risiko dabei. Sie lebt allein und wollte das Haus kaufen und darin eine Praxis als Tiertrainerin einrichten. Das Ganze in einer neuen Stadt, ohne Kundenstamm. Und wenn sie mit dem Projekt baden geht, dann kommt kein Geld rein.“

„Und sie könnte das Haus nicht halten, eben weil sie alleine ist.

Und einen Job hat sie dann auch nicht mehr. Kein Rettungsnetz!“ Mercedes verstand.

„Oh, sie wird das schaffen. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.“

„Aber?“

„Das Haus – etwas stimmt nicht damit.“

„Was sollte damit nicht stimmen? Ist es baufällig? Hat es versteckte Mängel, die sie bei der Besichtigung nicht bemerkt hat?“

Sidonia schüttelte den Kopf. „Nichts davon.“

„Was dann?“

„Es lebt ein Geist darin.“ Ihre Stimme war nur ein Hauch.

„Bisherige Besitzer haben es immer schnell wieder verlassen – doch am Ende waren es übernatürliche Dinge, die am Werk waren.

Sidonia drehte ihr Glas in der Hand, ohne davon zu trinken. Noch immer starrte sie in die Dunkelheit. Doch Mercedes wandte sich abrupt ihrer Mutter zu. „Ein Geist? Was redest du da?“

„Es gibt Geister, das weißt du. Es sind Verstorbene, die noch etwas zu erledigen haben oder deren Tod noch nicht vorgesehen war.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte Mercedes verwirrt. Irgendwie überstieg das ihren Verstand. Sie wünschte sich einen Moment lang, ihre Mutter hätte sich ihr doch nicht anvertraut.

„So etwas gibt es, Kind. Auch wenn die meisten nicht daran glauben. Du weißt das doch besser.“

Weiß ich das, dachte Mercedes. Ich bin noch keinem Geist begegnet.

„Und was heißt das für diese Frau?“, fragte sie laut.

„Oh, sie ist sehr empathisch. Ihre Intuition für die Dinge zwischen Realität und Übersinnlichem ist hoch.“

„Kann nicht jeder Geister sehen?“

„Die Geister entscheiden, ob sie sich zeigen und auch wem. Und sie wissen, wer sie ernst nimmt oder wer ihre Existenz leugnet. Es kann einem gelingen, alles natürlich zu erklären. Aber sie wird auf den Geist reagieren und versuchen zu verstehen, was er von ihr möchte.“

„Und davon hast du ihr nichts erzählt?“

„Nein. Ich habe ihr nur erzählt, dass unerwartete Schwierigkeiten auf sie warten. Sie hat es so gedeutet, dass sie Anfangsschwierigkeiten haben wird, viel Arbeit. Sie ist allein mit all diesen Problemen...“

„Warum hast du es nicht erzählt? Denkst du, das hätte sie sowieso nicht geglaubt?“

„Nein. Wenn sie so wäre, käme sie überhaupt nicht zu mir. Nein, sie hätte von dem Kauf Abstand genommen. Sie lebt in der Realität, sie will sich etwas aufbauen, eine Karriere. Sie kann keine Geister brauchen. Aber sie ist dazu bestimmt, zu helfen.“

„Zu helfen? Dem Geist?“

„Ja. Ihm zu helfen, das Unerledigte zu erledigen. Ihm zu helfen, endlich Ruhe zu finden. Deshalb habe ich nichts gesagt.“

„Und nun plagt dich dein schlechtes Gewissen?“

Sidonia nickte. „Ja.“

Sie trank einen kräftigen Schluck von ihrem Wein.

Mercedes wünschte nun endgültig, ihre Mutter hätte es ihr nicht erzählt. Mit so etwas wollte sie nichts zu tun haben. Obwohl sie durchaus an die Gabe ihrer Mutter glaubte. Sie hatte schon zu oft erlebt, dass Sidonia recht hatte mit ihren Ahnungen und Vorhersagen.