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Im Herbst 1323 lebt die vierzehnjährige Clara mit ihrer Familie in dem neuen Dorf Dringenberg. Clara hat eine gefährliche Gabe, sie ist hellsichtig und geriet deswegen bereits einmal in den Verdacht, eine Hexe zu sein. Clara hat Träume, die sich mit dem strengen Rollenverständnis ihrer Zeit nicht vereinbaren lassen. Sie hat lesen und schreiben gelernt und träumt davon, ihr Heimatdorf zu verlassen. Sie möchte die Welt kennenlernen und eines Tages vielleicht sogar ihre große Liebe Gabriel wiederfinden. Heimlich plant sie, sich bei dem nächsten Besuch der Händler dem Tross anzuschließen. Doch dann bricht eine schlimme Fieberwelle in dem Ort aus und Clara wird gebraucht. Aus Pflichtbewusstsein bleibt sie im Dorf. Aber gerade dadurch gerät sie in große Gefahr. Clara muss fliehen. Ihr Bruder Adrian hilft ihr, den Händlertross zu finden. Währenddessen trennt sich in München auch Gabriel von seiner Familie und macht sich gegen den Wunsch seiner Mutter Odilia auf den Weg zurück nach Dringenberg. Er kann Clara einfach nicht vergessen. Auch vor Gabriel liegt ein gefährlicher Weg. Die Zeit der Wanderschaft setzt Claras Lebensgeschichte fort, die mit dem Buch "Die Zeit des Neubeginns" seinen Anfang nahm. Die Geschichte ist spannend und temporeich erzählt. Sie ist besonders geeignet für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren und für Erwachsene.
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Seitenzahl: 337
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Liebe Leserinnen und Leser,
ich freue mich, dass ihr Clara weiterhin auf ihrem gefährlichen Lebensweg begleiten wollt.
Das Dorf Dringenberg ist tatsächlich in jener Zeit entstanden.
Die ganze Geschichte ist frei erfunden, aber die geschichtlichen Hintergründe stimmen.
Allerdings sind nicht alle Begebenheiten so passiert, wie sie wahrscheinlich im Mittelalter passiert wären. Was genau das ist, möchte ich an dieser Stelle noch nicht verraten, sonst würde ich ja der Geschichte vorgreifen.
Es gibt aber wie in „Die Zeit des Neubeginns“ umfangreiche Angaben zu „Wahrheit oder Erfindung“.
Wenn ihr große Fans und Kenner des Mittelalters seid, bitte ich euch im Vorfeld um Nachsicht. Es war keine Nachlässigkeit. Dieses Buch erhebt keinen Anspruch, ein Wissensbuch zu sein. Es ist eine spannende Geschichte, die im Mittelalter spielt. Wie jeder Schriftsteller habe auch ich mir ein paar künstlerische Freiheiten genommen, weil sie dem Verlauf der Geschichte gut getan haben.
Was bisher geschah
Prolog Nick und Carolin
Kapitel 1 Fieberwelle
Kapitel 2 Besuch beim Medicus
Kapitel 3 Die neue Heilerin
Kapitel 4 Claras Entscheidung
Kapitel 5 Zwischenfall an der Isar
Kapitel 6 Der neue Medicus
Kapitel 7 Hochzeitspläne
Kapitel 8 Adrians Plan
Kapitel 9 Der Weg nach Paderborn
Kapitel 10 Bei der Händlerfamilie
Kapitel 11 Gabriels Entscheidung
Kapitel 12 Unterwegs mit dem Bader
Kapitel 13 Im Tross
Kapitel 14 Unter Verdacht
Kapitel 15 Neuigkeiten aus der Heimat
Kapitel 16 Claras Geburtstag
Kapitel 17 Das zerbrochene Rad
Kapitel 18 Das Feuer
Kapitel 19 Der Morgen danach
Kapitel 20 Das Leben geht weiter
Kapitel 21 Auftritt der Gaukler
Kapitel 22 Im Hause des Ratsherrn
Kapitel 23 Das Gasthaus zum Goldenen Adler
Kapitel 24 Neue Freunde
Kapitel 25 Eine unerwartete Begegnung
Kapitel 26 Aufbruch in die Zukunft
Epilog Nick und Carolin
Wahrheit oder Erfindung
Personen – Handelnde und nur Erwähnte, die nicht auftreten
Dringenberg, 1985:
Carolin Hardes, 13 Jahre
hat Carlas Schriften gefunden
Nick Hardes, fast 15 Jahre
Carolins Bruder
Deren Eltern
Bernd, 15 Jahre
Helfer bei der Renovierung d. Burg
Im Mittelalter
Clara, 14 Jahre
hellsichtiges Mädchen
Mathilde
Claras Großmutter
Ludwig
Claras Großvater, verstorben
Dorothea
Claras Mutter
Vinzenz
Claras Vater, ein Schmied
Adrian
Claras Bruder, ein Schmied
Uta
Claras Schwester
Matthias
Claras Bruder
Flocke
Claras kleiner Hund
Cäcilia
die alte Heilerin,
Walburga
Sattlerin, Dorfbewohnerin
Änne
Walburgas kleine Tochter
Beatrix
Claras Freundin in Dringenberg
Fritz
Maurergeselle, Adrians Freund
Friedhelm
Schuhmacher in Dringenberg
Johanna und Hermann
Maurersleute in Dringenberg
Odilia
Heilerin
Reinmar
Odilias Mann
Gabriel
Odilias und Reinmars Sohn
Felix
Odilias und Reinmars Sohn
Selene und Kobold
Odilias Hunde
Händlerfamilie:
Leonard
Kaufmann, Familien-Oberhaupt
Mechthild
Leonards Frau
Elisabeth
Leonards + Mechthilds Tochter
Walter
Leonards + Mechthilds Sohn
Ulrich
Leonards + Mechthilds Sohn
Karl
Leonards Bruder
Norbert
Karls Sohn
Bertram
Leonards Bruder
Roswitha
Bertrams Frau
Susanne
Bertrams Tochter
Theresa
Bertrams neugeborene Tochter
Andere:
Georg von Stenitz
Jugendlicher Rebell in München
Luzius
schließt sich dem Händlerzug an
Gertrud
Bäckerin in Marburg
Lothar
ein fahrender Bader
Gisbert von Grieven
Richter in Ulm
Bernardo
Chef einer Gauklertruppe
Brigitta und Lucianus
Luzius’ Eltern
Martin und Jutta
Luzius’ Onkel und dessen Frau
Ekkehard von Dornau
reicher Ratsherr von Würzburg
Helene von Dornau
Ekkehards Frau, Französin
Erhard, Clemens, Adelaide
Helenes und Ekkehards Kinder
Endres und Konrad
zwei Würzburger
Grundriss von Dringenberg:
Im Jahr 1984 fanden Carolin und Nick bei der Renovierung der Burg Dringenberg alte Schriftstücke. Es stellte sich heraus, dass sie zur Zeit der Gründung von dem Mädchen Clara, der Tochter des Schmieds, geschrieben wurden. Und so tauchen Carolin und Nick in eine längst vergangene Welt ein.
Clara und ihre Familie zogen von der kleinen Siedlung Tryngen in das neue Dorf auf dem Berg, das Bischof Bernhard um seine Burg herum errichten ließ. Die Menschen der umliegenden Ortschaften folgten gerne der Aufforderung des Bischofs, in das Dorf umzusiedeln. Hier waren sie vor Angriffen von Räuberbanden sicher.
Doch Clara hütete ein gefährliches Geheimnis. Sie war hellsichtig und erlebte in Träumen oder plötzlichen Bildern die Zukunft. Dadurch konnte sie der geheimnisvollen Odilia und ihrer Familie, die in den Wäldern fast erfroren wären, das Leben retten.
In dem neuen Bergdorf geriet Odilia schnell ins Gerede. Sie hatte auf verschiedenen Reisen viel über Heilkunst gelernt, aber auch über fremde Kulturen und Religionen anderer Länder. Darüber sprach sie sehr offen. Außerdem lebte bei der Familie ein Hund, den Odilia nach der griechischen Mondgöttin Selene genannt hatte. Die Menschen suchten ihre Hilfe, weil sie eine gute Heilerin war, aber sie fürchteten sie auch.
Ausgerechnet zu ihr fühlte sich Clara hingezogen. Odilia unterrichtete Clara und ihren Bruder Adrian sogar im Lesen und Schreiben.
Clara verliebte sich in deren Sohn Gabriel. Doch der Verdacht, dass Odilia eine Hexe war, erhärtete sich immer mehr. Als einer ihrer Patienten starb, wurde sie verhaftet. Man warf ihr vor, den Mann verhext zu haben.
Clara konnte in der Zwischenzeit durch ihre Hellsichtigkeit dem Stadtgründer Bischof Bernhard das Leben retten. Als Dank erfüllte er ihre Bitte und setzte sich für Odilias Freilassung ein. Doch sie musste mit ihrer Familie weiterziehen.
Als der Pöbel, dem sogar Claras Großmutter folgte, Odilia am Fest von Maria Himmelfahrt erneut gefangen nehmen wollte, hatte sie Dringenberg bereits verlassen. Deshalb griffen sich die Fanatiker Clara - die Hexenschülerin - und trieben sie zum Marktplatz, um sie dort an den Pranger zu stellen. Adrian holte den Priester der Burg zu Hilfe, der gerade noch im richtigen Moment eingreifen konnte, um Clara zu retten.
Nach diesem Erlebnis wollte Clara nicht länger im Dorf leben und blieb auf der Burg. Dort begann sie, alle Erlebnisse aufzuschreiben.
Als ein Händlerzug in das Dorf kam, fasste sie den Plan, die Händler bei ihrem nächsten Besuch zu begleiten. Sie wollte Dringenberg verlassen und selbst die Welt kennen lernen. Sie wollte alle Erlebnisse aufschreiben, so wie es auch Odilia getan hatte.
Und sie wollte Gabriel wieder finden.
Für alle,
die Clara weiterhin
auf ihrem Lebensweg begleiten
Das Telefon läutete.
Herr Hardes hob den Hörer ab.
Nick, Carolin und die Mutter sahen ihm gespannt zu. Es war schon nach den ersten Worten klar, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war. Er zog auf diese ganz besondere Art seine Augenbrauen hoch. Und dann seine Stimme. „Was? Das kann doch nicht wahr sein!“
Pause.
„Das ist ja fantastisch. Ja, vielen Dank. Bis morgen.“
Er legte auf.
„Was ist passiert?“, fragte die Mutter.
„Das glaubt ihr nicht!“
„Nun erzähl schon!“, drängte Carolin.
Alle Drei blickten den Vater erwartungsvoll an.
„In dem Geheimgang von Odilia sind noch weitere Schriften gefunden worden. Den hohlen Baum aus den Aufzeichnungen gibt es ja nicht mehr, aber man hat die Stelle gefunden. Und dort sind tatsächlich weitere Papiere vergraben.“
„Das ist ja – das ist ja unglaublich!“, rief Nick aus.
„Die handeln dann bestimmt von den nächsten Jahren. Ob Clara wohl auf der Burg geblieben ist? Oder ist sie wieder zu ihren Eltern gezogen?“, fragte Carolin.
„Oder ist sie wirklich mit dem Händlertross fort gegangen?“, überlegte Nick.
„Aber wenn sie fort gegangen wäre, wären doch die Schriftrollen nicht dort“, meinte Carolin.
„Wer weiß, welche Wege so etwas geht“, erwiderte Nick.
„Nun wartet doch erstmal ab!“, lachte die Mutter. „Wir werden es erfahren.“
„Oh es ist so aufregend!“ Carolin war ganz zappelig. Sie konnte kaum still sitzen. Sie hatte das Gefühl, Clara richtig kennen gelernt zu haben, als sie die ersten Schriften gelesen hatte.
„Wann können wir sie lesen?“, fragte sie.
„Langsam, langsam.“ Vater lachte. „Du weißt, die Papiere sind sehr empfindlich und können leicht zerfallen.“
„Ja, ich weiß. Trotzdem.“
„Es dauert eine Weile. Du musst Geduld haben.“
Carolin seufzte. Geduld gehörte nun wirklich nicht zu ihren Tugenden. Sie war immer schon jemand gewesen, der sich etwas vornahm und auch für das kämpfen konnte, was sie wollte. Aber es musste passieren. Und zwar schnell! Am besten sofort. Warten, einfach nur warten müssen, ohne selbst etwas tun zu können, war gar nichts für sie.
„Komm, wir gehen zur Burg!“, schlug Nick vor.
Vor wenigen Tagen hatten dort die Arbeiten am nächsten Bauabschnitt begonnen. Nun wurde das alte Brauhaus ausgeräumt – man könnte auch sagen, vom Schutt befreit – und renoviert. Es gab viel zu tun. Wie damals im Rittersaal mussten sie Schubkarrenweise Schutt und Geröll aus dem Raum schaffen, bevor er wieder hergerichtet wurde. Die Geschwister waren nach wie vor fleißig mit von der Partie.
Als sie dieses Mal den Burginnenhof betraten, füllte er sich vor Carolins geistigem Auge mit Leben. Sie sah ganz deutlich Menschen in mittelalterlichen Gewändern herumlaufen, sah Mägde Hühner rupfen und den Hof fegen, sah Wachen auf dem Wehrgang patrouillieren und Händler ihre Waren anbieten.
„Caro!“, rief Nick.
Carolin reagierte nicht.
Das Bild vor ihrem geistigen Auge änderte sich. Sie kam in den Burghof der Gegenwart zurück. Sie sah den fünfzehnjährigen Bernd, der eine Schubkarre Geröll über das Kopfsteinpflaster ruckelte. Er sah sie nicht.
„Carolin!“, rief Nick sie noch einmal an. „Träumst du?“
Plötzlich schrie sie auf! „Bernd!“
Der Junge drehte sich um. Er hob eine Hand und winkte ihr zu.
„Hallo Caro, was gibt es?“
Da schlug hinter ihm krachend eine Holzlatte vom Turm. Erschrocken drehte er sich um, blickte dann wieder zu Carolin. In seinen Augen las sie Verwirrung.
„Das – das hätte dich fast getroffen!“, meinte Nick. „Puh, hast du ein Glück gehabt. Wärst du nur einen Schritt weitergegangen…“
„Ja. Wenn Caro mich nicht gerufen hätte, hätte die Latte mich getroffen.“ erwiderte Bernd. Dann wandte er sich an Carolin: „Was wolltest du eigentlich?“
Auch Carolin war ganz erschrocken. „Ich weiß es nicht mehr“, erwiderte sie.
Das wunderte Bernd überhaupt nicht. Nach einem solchen Schrecken konnte man so etwas schon mal vergessen. „Fällt dir bestimmt bald wieder ein“, meinte er und ging wieder an seine Arbeit.
An Nick ging das Erlebte nicht so leicht vorbei. „Caro, das war ja… Das war wie damals, als du meinen Fahrradunfall irgendwie gespürt hast. Weißt du noch? Als ich mit gebrochenem Bein in den Feldern lag. So schnell hätte mich kein Mensch gefunden, wenn du es nicht geahnt hättest.“
„Ab und zu passiert mir so was“, flüsterte sie.
„Ja, ich weiß.“
„Es ist – es ist wie bei Clara.“
Er lachte. „Wie bei Clara?“
Sie nickte. „Ja. Ich glaube, ich bin eine Hexe.“
Jetzt lachte Nick erst recht.
„Lach nicht!“ Carolin wurde sauer. „Ich meine es ernst.“
„Tut mir leid. Wer weiß, vielleicht gibt es so etwas ja. Du bist natürlich eine gute Hexe, nicht wahr? Oder muss ich befürchten, dass du mich verzauberst?“
„Ach, du bist blöd!“, rief sie und schlug nach ihm.
„Na ja, ich schätze, ich mag den Begriff nicht. Meine Schwester ist doch keine Hexe.“
Sie zuckte die Schultern. „Ich muss zumindest nicht befürchten, verbrannt zu werden. Wie gut, dass ich nicht in Claras Zeit lebe. Was sie wohl noch alles erlebt hat?“
„Wir werden es erfahren. Und jetzt komm! Lass uns an die Arbeit gehen. Oder hast du es vergessen? Wir sind hier, um das alte Brauhaus aufzuräumen.“
Clara hetzte durch den Ort. Sie trug ein knöchellanges, braunes Kleid und einen warmen Umhang aus Wolle darüber. Es wurde kalt, immerhin war schon Oktober. Die Vierzehnjährige war nicht sehr groß und zierlich von Gestalt, aber sie verfügte über große Energie. Ihre dicken roten Haare hatte sie zu einem geflochtenen Zopf gebunden, der ihr weit über den Rücken herab fiel.
Ihre Haut war zart und hell, aber über ihre Wangen und Nase verteilten sich sogar jetzt im Herbst noch einige Sommersprossen, die ihrem Gesicht einen fröhlichen Ausdruck verliehen. Ihre grünen Augen blickten wach und lebendig. In ihnen spiegelte sich die Neugier auf die Welt, die Clara so tief in sich spürte.
In der Hand hielt sie ihren Beutel mit Heilkräutern.
Sie war verstimmt. Gerade hatte sie mit der Großmutter im Garten gearbeitet – seit Ostern lebte sie wieder im Haus der Eltern – als ein Junge mit einer Botschaft der alten Heilerin Cäcilia auftauchte.
Clara sollte sofort zur Sattlerin kommen, sie leide unter Kopfschmerzen und Halsbeschwerden und fühle sich einfach nicht wohl. Nichts Ungewöhnliches in dieser nasskalten Jahreszeit. Clara begriff nicht, warum die alte Heilerin sie dazu rief. Doch Cäcilia machte es sich immer mehr zur Gewohnheit, Clara um Hilfe zu bitten.
Cäcilia war alt, älter als die meisten, die Clara kannte. Sie war sogar älter als Großmutter Mathilde und Clara hatte die Befürchtung, die Alte wollte ihre Aufgaben an sie weitergeben.
Clara seufzte. Sie hatte niemals eine Heilerin werden wollen.
Sie hatte bei Odilia lesen und schreiben lernen wollen. Das war ihr Traum gewesen. Nur ganz nebenbei hatte sie einiges über Heilkunst gelernt und nun sollte ausgerechnet das ihr Lebensinhalt werden? Aber bald würde sicher der Händlerzug kommen. Im Frühjahr waren Leonard, Mechthild und ihr Tross hier gewesen. Zu dem Zeitpunkt hatte Clara sich noch nicht entschließen können, mit ihnen zu reisen. Aber sie hatten ihr versprochen, im Herbst wieder zu kommen und sie dann mit zu nehmen. Clara hatte diesen Plan nicht aufgegeben. Wenn sie im Herbst mitziehen würde, würde sie nur noch kurze Zeit mit ihnen umherziehen und Ware verkaufen, denn die Händlerfamilie verbrachte den Winter immer in Paderborn und sie selbst würde dort bei der Familie leben. Clara stellte sich das sehr schön vor.
Auf jeden Fall wollte sie fort. Sie wollte die Welt kennen lernen. Sie wollte reisen und sehen, was es noch gab. Und sie wollte alles aufschreiben.
Während der Zeit, die sie nach der Hexenjagd in der Burg gelebt hatte, hatte sie auch geschrieben – über alles, was geschehen war, seit sie Odilia getroffen hatte. Sie hatte die Schriften säuberlich in Leinen gewickelt und auf der Burg zurück gelassen. Sie hatte die wertvollen Papiere nicht mit nach Hause nehmen wollen. Die Großmutter hatte schon die Schriften von Odilia verbrannt, das sollte ihr mit ihren eigenen nicht passieren. Der Bischof war ein aufgeschlossener Mann, auf der Burg waren ihre Aufzeichnungen sicher. Und ebenso die wenigen Seiten von Odilia, die sie aus dem Feuer hatte retten können.
Was sie mit ihren Schriften machen wollte, wusste sie selbst noch nicht. Kaum jemand konnte lesen. Wer also würde sich für ihre Berichte interessieren? Ab und zu war eine kleine Stimme in ihr, die ihr sagte, ihre Träume seien sinnlos und überflüssig, ihre Arbeit unbrauchbar.
Die Zeit, die sie damit verbrachte, unnütz.
Aber vielleicht würde sich eines Tages alles ändern und viel mehr Menschen würden lesen können und sich für ihre Schriftstücke interessieren.
Clara konnte gar nicht anders. Die Stimme, die sie dazu drängte, diese Arbeit weiterzuführen, war stärker als die Zweifel.
Ihr großes Vorbild war Roswitha von Gandersheim, die vor fast dreihundert Jahren gelebt hatte und von Frauen geschrieben hatte, die nicht angepasst und unterwürfig waren, sondern Heldinnen.
Das war äußerst ungewöhnlich. Und es machte Clara Mut. Roswitha hatte sich nicht entmutigen lassen, ebenso wenig wie Odilia.
Clara atmete tief durch und schüttelte die Gedanken ab. Sie wünschte, sie kämen nicht immer wieder. Alles wäre soviel einfacher, wenn sie sich nur in ihre vorbestimmte Rolle fügen könnte.
Aber nein, sie musste rebellieren.
Clara war beim Haus der Sattlerin angekommen.
„Clara!“, rief die alte Heilerin aus dem Fenster. „Warum stehst du da herum? Komm rein! Walburga geht es gar nicht gut.“
Drinnen schlug Clara verbrauchte Luft entgegen und der eigenartige Geruch von Krankheit.
Wir müssen lüften, dachte sie. Hier muss dringend frische Luft herein.
Auf dem Bett lag Walburga und in ihrem Arm lag ein kleines Mädchen.
„Sie ist viel kränker, als ich dachte. Und die kleine Änne ist auch krank“, sagte die alte Heilerin.
Clara trat näher. Ich will nicht hier sein, dachte sie dabei. Ich bin nicht dafür geschaffen. Ich will keine Heilerin sein und immerzu Kranke besuchen, die dann vielleicht sterben.
Und mich womöglich anstecken.
Walburga lag ganz ruhig im Bett. Sie glänzte vor Schweiß.
„Sie hat hohes Fieber“, sagte Cäcilia.
Clara nickte. Sie zog aus ihrem Beutel ein Leinentuch und band es sich vor Mund und Nase. Ein Zweites reichte sie Cäcilia.
„Du musst das auch tragen.“
Die Alte schüttelte den Kopf.
„Es nützt niemandem, wenn wir uns anstecken“, beharrte Clara.
„Pah – woher willst du wissen, dass man sich dann nicht ansteckt.“
„Es verringert zumindest die Gefahr.“
Die Alte nahm zögernd das Tuch entgegen.
Clara nickte und blickte auf die Kranken. Die fünfjährige Änne konnte man kaum sehen, so tief verschwand sie im Arm ihrer Mutter.
„Wo ist ihr Mann?“, fragte Clara.
Cäcilia hob die Schultern. „Er arbeitet sicher. Immer gibt es etwas zu tun. Und auch er muss für den Lebensunterhalt arbeiten.“
Clara nickte und kramte Kräuter und Pasten aus ihrem Beutel.
„Gut, lass uns beide kalt abwaschen und kalte Wickel machen. Wir müssen unbedingt das Fieber senken!“, befahl Cäcilia.
„Du hast recht, aber danach sollten wir sie wieder warm einpacken. Sie müssen schwitzen.“
Cäcilia sah Clara durch zusammengekniffene Augen an. „Richtig, die schlechten Säfte müssen aus dem Körper geschwemmt werden. Du kennst dich gut aus. Welche Kräuter verabreichen wir?“
„Mm“, Clara überlegte. „Lindenblüten fördern das Schwitzen.“
Cäcilia nickte.
„Außerdem Schafgarbe und Majoran“, sagte sie weiter.
„Bist du sicher?“, hakte Cäcilia nach.
„Ja. Eine andere Möglichkeit ist Holunder. Oder Thymian.“
Cäcilia nickte wieder.
Oder Galgant, dachte Clara. Odilia hat es als Zauberkraut benutzt, aber es tat auch gute Wirkung gegen Fieber. Clara hatte etwas von Odilia bekommen, doch inzwischen besaß sie nichts mehr davon. Und sie wusste nicht, wo sie etwas bekommen könnte.
Die Alte nickte wieder. „Du kennst dich gut aus. Bereiten wir Ihnen eine Mischung zu. Ich werde morgen wieder nach ihnen sehen. Schade, dass niemand hier ist, dem wir die Pflege zeigen können.“
Als sie das Häuschen des Sattlers wieder verließen, atmete Clara tief die kühle Oktoberluft ein. Wie gut es tat, wieder draußen zu stehen. Cäcilia legte ihre alte, fleckige Hand auf Claras Arm.
„Kind, ich weiß, dass es nie dein Wunsch war, Heilerin zu werden.“
„Ach ja? Bist du eine Seherin, Cäcilia?“, fragte Clara.
Die Alte schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Aber du hast mich niemals aufgesucht und deine Hilfe angeboten, obwohl du bereits viel über Heilkunst wusstest. Du hast diese Aufgabe niemals selbst gesucht, sie ist zu dir gekommen. Es steht dir nicht zu, deine Lebensaufgabe selbst zu wählen. Nimm diese an als dein Schicksal.“
Clara seufzte.
Schicksal. Der ihr bestimmte Platz. Früher hatte sie gedacht, das sei, einen Handwerker zu heiraten, Kinder zu bekommen und das Haus zu führen. Jetzt sollte es die Behandlung von Kranken sein.
Und beides empfand sie nicht als befriedigend.
Oh, sie war schlecht. Immer war sie unzufrieden mit dem, was das Leben für sie bereithielt. Immer wollte sie etwas anderes. Sie war hochmütig und eitel.
„Ich verstehe schon. Es ist nicht immer leicht“, redete Cäcilia weiter. „Immer Krankheit und Elend. Manche Patienten sterben trotz aller Mühe. Und dann die Gefahren - sich anzustecken oder als Hexe angesehen zu werden. Der Medicus blickt schon längst mit missgünstigem Blick auf dich. Ich bin alt. Ich bin keine Gefahr. Aber du… Du hast bei der Fremden gelernt. Bei dieser Heidin.“
„Sie war keine Heidin“, erwiderte Clara müde. Odilia und ihre Familie waren nun schon seit über einem Jahr fort und noch immer musste sie sie ständig verteidigen.
Cäcilia nickte. „Wie auch immer. Du weißt, wie schnell man in Verruf gerät.“
Oh ja, das wusste sie. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, als sie an den Tag von Maria Himmelfahrt im letzten Jahr dachte. Die Bäckerstochter Hildegunde hatte die Leute aufgehetzt.
Sie gab Odilia die Schuld am Tod ihres Verlobten. Diese hatte Richard nach seinem Sturz vom Turm gegen Hildegundes Willen behandelt, aber er war gestorben. Hildegunde behauptete daraufhin, Odilia hätte ihren Verlobten nach seinem Unfall falsch behandelt und sogar verhext. Die Bäckerstochter hatte schnell ein paar Anhänger gefunden, allen voran den Medicus. Sogar Claras Großmutter Mathilde war unter ihnen gewesen.
Als Odilia geflohen war, holten sie sich Clara als vermeintliche Hexenschülerin und hetzten sie durch das Dorf, um sie auf dem Marktplatz an den Pranger zu stellen. Nur weil Adrian den Priester der Burg zu Hilfe geholt hatte, war sie gerettet worden.
Aber noch heute bekam sie einen eiskalten Schüttelfrost und fühlte wieder die Panik, wenn sie an diese Hexenjagd dachte.
„Ich bin alt. Ich kann diese Aufgabe nicht länger erfüllen. Und niemand im Dorf ist geeigneter als du…“, redete Cäcilia weiter auf sie ein.
„Nein! Ich kann das nicht tun!“, widersprach Clara.
„Natürlich kannst du.“
Clara antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie konnte der Alten nicht von ihren Plänen erzählen, das Dorf zu verlassen und mit dem Händlertross zu reisen. Das hätte Cäcilia nicht verstanden. Noch dazu, weil die reisenden Berufsgruppen nicht sehr angesehen waren. Alle freuten sich, wenn sie kamen, weil sie Waren brachten und Neuigkeiten aus der Welt. Aber niemand achtete sie hoch.
Also nickte Clara nur ergeben und verabschiedete sich von der alten Frau.
Am Marktplatz blieb sie stehen. Wie lange war es her, seit sie hierher geschleppt worden war? Ein Leben lang oder erst vierzehn Monate?
Der Marktplatz war inzwischen der lebhafte Mittelpunkt des Dorfes geworden. Der Brunnen förderte längst Wasser. Weil seine Ketten so sehr rasselten, wurde er von den Bewohnern Rumpelborn genannt.
Seit August besaß der Ort Dringenberg sogar Stadtrechte. Das war schon etwas Besonderes. Sie hatten nun bewachte Stadttore, mussten aber auch höhere Abgaben leisten. Aber was bedeutete das schon gegen soviel Sicherheit. Und das wollte sie aufgeben, um mit einem Händlertross zu ziehen! Das konnte niemand verstehen!
Sie seufzte und streifte weiter.
„Clara!“, rief eine Frau.
Sie wandte sich um.
Johanna, die Frau des Maurermeisters Hermann kam auf sie zu. Sie war die Mutter von Richard, der nach einem Sturz vom Turm gestorben war.
Die Bäckersleute waren fortgezogen, aber Richards Familie lebte noch hier. Clara war nicht gut auf sie zu sprechen. Auch sie waren bei der Hexenjagd dabei gewesen.
„Mein Mann ist sehr krank. Er glüht vor Fieber. Kannst du mitkommen?“, fragte die Frau nun leise.
„Ich?“, fragte Clara provozierend.
„Ja, du!“ In ihrem Blick las Clara große Sorge.
Trotzdem zögerte sie. Ausgerechnet diese Familie. Was, wenn sie nun Richards Vater behandelte und der auch starb? Würde man sie dann beschuldigen, ihn getötet zu haben?
„Komm mit!“, flehte die Frau.
„Wäre es nicht besser, den Medicus zu holen?“, versuchte Clara sich herauszureden.
Doch Johanna schüttelte heftig den Kopf. „Der liegt selbst krank im Bett“, gab sie schließlich zu.
Clara seufzte und nickte dann ergeben.
Was sollte sie schon tun? In einem hatte Cäcilia recht. Sie konnte ihre Hilfe nicht verweigern, wenn sie darum gebeten wurde. Und es brachte nichts, den Menschen die Hexenjagd immer wieder vorzuwerfen. Das war nachtragend und unchristlich. Das stand ihr nicht zu.
Selbst Jesus hatte seinen Henkern am Kreuz noch verziehen.
„Liebe deine Feinde“, hieß es in der Bibel. Aber das war so schwer. So schwer.
Sie trotte missmutig der Frau des Maurermeisters hinterher.
Clara wurde an diesem Tag zu zwei weiteren Fällen gerufen.
Ob auch Cäcilia noch andere Krankenbesuche gemacht hatte?
Als sie wieder zu Hause bei der Schmiede ankam, war sie erschöpft.
Sie ließ sich matt auf einen Stuhl fallen. Flocke, das kleine Hündchen, sprang auf ihren Schoß. Der Hund war der Sohn von Odilias Hündin Selene. Clara hatte geholfen, das kleine, weiße Wollknäuel aufzuziehen. Nun reichte Flocke ihr bis zu den Waden und hatte immer noch weißes, wuscheliges Fell. Clara streichelte selbstvergessen das Tier auf ihrem Schoß und Flocke kuschelte sich zufrieden zusammen.
Dorothea betrachtete die kleine Szene. Sie hatte sich inzwischen an den kleinen Hund gewöhnt und an Claras Liebe zu ihm.
„Du warst lange fort“, meinte die Mutter.
Clara nickte. „Ja. Als ich gerade von der Sattlerin auf dem Heimweg war, hat mich die Johanna gerufen. Ihr Mann ist sehr krank.
Und danach war ich bei zwei Bauernfamilien drunten am Hagetor.“
„Es ist Oktober. Da gibt es doch immer viel Krankheit. Da ist die Luft schlecht“, meinte Dorothea.
„Es ist nicht in der Luft, Mutter. Odilia hat mich gelehrt, dass die Krankheit von Mensch zu Mensch übertragen wird.“
„Ach, so ein Unsinn“, wehrte Dorothea müde ab.
„Ich will nichts mehr von dieser Odilia hören!“, maulte Großmutter Mathilde vom Tisch her.
Clara rieb sich müde über die Stirn. Die Großmutter würde ihre Ansicht wohl niemals ändern. Durfte man denn wirklich keine neuen Erkenntnisse erwerben? Clara verstand das nicht.
„Es ist dieses Mal wirklich schlimm. Alle haben hohes Fieber“, erklärte sie schließlich teilnahmslos.
„Konntest du ihnen helfen?“, fragte Dorothea.
„Das weiß ich noch nicht. Ich habe den gesunden Familienmitgliedern gezeigt, wie man einen Fiebertee aus Lindenblüten, Thymian und Schafgarbe kocht. Und ich habe ihnen geraten, einen Saft aus Heidelbeeren zu nehmen. Ich weiß nicht, wie Heidelbeeren helfen, aber sie tun es.“
Dorothea nickte. Sie war besorgt. Sie wusste nicht, ob es an der Luft lag oder ob diese Odilia doch recht hatte, aber wenn erstmal einer krank wurde, wurden immer mehr Menschen krank. Auch das war eine Tatsache.
„Ich hoffe, du wirst nicht krank“, sagte sie zu Clara.
„Odilia hat mir gezeigt, wie ich mich schützen kann. Ich hoffe, es reicht.“
Die Großmutter brummte irgendetwas Unverständliches.
Weder Dorothea noch Clara fragten nach, was sie gesagt hatte. Manches blieb besser unverstanden.
Einige Tage später hatte die Fieberkrankheit das Dorf fest im Griff. Clara kam gerade von den Maurersleuten. Richards Vater Hermann war auf dem Wege der Besserung. Er war noch sehr schwach, aber er hatte bereits kein Fieber mehr. Er würde überleben. Seine Frau dankte Clara überschwänglich.
„Ach Clara, du hast uns geholfen und meinen Mann gerettet, obwohl – obwohl wir...“
„Reden wir nicht mehr darüber“, antwortete Clara etwas missmutig.
Das war wohl wirklich das Beste. Sie wollte einfach nicht mehr an die Hexenjagd erinnert werden. Sie wollte das Grauen nicht mehr fühlen und auch nicht die Wut. Sie musste die Erinnerung tief in sich verschließen und nicht mehr daran rühren.
Jemandem zu vergeben war christlich, aber viel schwerer, als sie gedacht hatte.
Das Wetter war scheußlich. Der Wind war kalt und ein leichter Nieselregen lag in der Luft. Clara zog sich frierend in ihrem Umhang zusammen. Als sie so die Straße entlang eilte, traf sie die alte Cäcilia.
„Clara, geht es dir noch gut?“, fragte die alte Heilerin.
Clara nickte. „Ja, ja. Und dir? Du siehst nicht gut aus.“
Die Alte schüttelte den Kopf. „Ich komme gerade vom Medicus.
Er ist immer noch krank. Er – er… Ich weiß nicht…“
„Soll ich mal zu ihm gehen!“
„Nein!“, rief die Heilerin kräftiger, als Clara es ihr zugetraut hätte. „Nein. Er will dich nicht sehen. Außerdem – er lässt mich den Mundschutz nicht tragen.“
„Was?“
„Er sagt, es sei Gotteslästerung. Niemand darf sich anmaßen, Herr über sein Schicksal, über Krankheit und Gesundheit zu sein. Er sagt, alles sei Gottes Wille und wir dürfen nicht mit solchen Methoden versuchen, seinen Willen zu durchkreuzen.“
„Aber du hast ihn trotzdem getragen?“
Die Alte antwortete nicht.
„Cäcilia! Du hast ihn doch trotzdem getragen?“ Claras Stimme war drängend und voller Sorge.
„Ach Kind!“, seufzte Cäcilia.
„Er hat ihn dir nicht herunter gerissen?“
Die Alte nickte. „Doch, das hat er getan, als ich ihm seinen Tee geben wollte. Und ich bin zu alt, um solche Kämpfe zu führen. Nicht, dass er mich noch als Hexe… Aber er wird nicht wieder gesund.“ Ihre Stimme versagte. Ihre Beine ebenfalls. Sie sackte zusammen wie ein lebloser Sack. Clara stürzte sofort auf die Knie und hockte sich neben sie. Sie legte die Hand auf Cäcilias Stirn, aber sie hatte es schon vorher gewusst. Die alte Heilerin glühte vor Fieber.
Clara ballte ihre Hand zur Faust. Sie spürte schon wieder Wut in sich aufsteigen. Was für eine Ignoranz und Dummheit. Was war das für ein Arzt? Auch er hatte damals zu Odilias Anklägern gehört und damit zu ihren eigenen.
„Geh nicht zu ihm“, krächzte Cäcilia. „Geh nicht zu ihm. Schütze dich. Ich bin eine sehr alte Frau. Aber du – du musst dich schützen. Versuch, den Kranken zu helfen. Aber geh nicht zum Medicus. Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.“
Clara zuckte zusammen. Ihr wurde plötzlich noch viel kälter, als es sowieso schon war. Ihr war eiskalt und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie schluckte schwer. Sie musste sich beruhigen. Ganz ruhig, ganz ruhig, redete sie sich in Gedanken zu.
Sie wurde gebraucht. Sie musste sich um Cäcilia kümmern.
„Ich bringe dich nach Hause!“, sagte sie so fest sie konnte.
„Kannst du laufen?“
„Wenn du mich stützt, wird es schon gehen.“
Clara setzte sich ihren Mundschutz auf und half dann der alten Heilerin auf die Beine. So führte sie die Alte die Straße entlang. Cäcilia war wirklich schon sehr schwach. Wie hatte sie es überhaupt noch geschafft, sich allein durch die Straßen zu schleppen? Clara schleifte sie mehr mit sich, als dass sie selbst lief.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte plötzlich eine dunkle Stimme.
Clara blickte überrascht auf.
„Adrian, was tust du hier?“, rief sie erfreut aus.
Ihr Bruder stand vor ihr. Groß, schlank, muskulös von der schweren Arbeit in der Schmiede, mit dunklen, kurz geschnittenen Haaren und ebensolchen Bartstoppeln im Gesicht. Nächsten Monat würde er sechzehn Jahre alt, er war wirklich kein Junge mehr. „Ich musste etwas mit dem Gürtler besprechen. Was ist nun – du brauchst Hilfe, oder?“, fragte er mit seiner tiefen Stimme.
Clara nickte. „Ja. Cäcilia ist auch krank.“
„Ich sehe es. Sie kann sich ja kaum auf den Beinen halten.“
„Hilf mir, sie nach Hause zu bringen. Aber zuerst setz auch einen Mundschutz auf. Hier in meiner Tasche ist ein Tuch.“
Adrian nickte und suchte in Claras Beutel nach dem Tuch.
„Ich finde es nicht!“, sagte er.
„Es muss aber da sein.“
„Nein, ist es nicht. Es wird schon nicht so schlimm sein. Nur das kurze Stück bis zu ihrem Haus.“
Er fasste die alte Frau kurz entschlossen unter dem Arm. Clara blickte ihn skeptisch an. „Dann versuch wenigstens, in die andere Richtung zu blicken, damit du nicht von ihr angeatmet wirst.“
So brachten die Geschwister die alte Heilerin in ihr kleines Haus und legten sie auf das Bett.
„Danke“, sagte Clara zu Adrian. „Aber du gehst jetzt besser – weil du keinen Mundschutz hast. Nicht, dass du noch krank wirst. Ich werde Cäcilia eine Kräutermixtur zubereiten. Danach komme ich auch nach Hause.“
„Clara, sei vorsichtig. Ich habe Angst um dich“, erwiderte Adrian. Sie senkte die Augen. Ja, das wusste sie. Und es war auch nicht völlig unbegründet. Sie beruhigte ihn trotzdem. „Ich werde schon nicht krank. Ich schütze mich.“
Auf ihrem Bett stöhnte die alte Frau.
„Ich muss ihr Fieber senken“, sagte Clara. „Ich werde ihr feuchte Wickel machen. Sie ist wirklich sehr krank. Sie hätte heute nicht mehr rausgehen dürfen.“
Adrian nickte und verließ das Häuschen.
Clara blieb allein mit der Kranken zurück.
Sie versank in Grübeleien. Cäcilia krank, der Medicus krank. Ich werde hier bleiben müssen – als Heilerin, dachte sie. Aber ich will keine Heilerin sein. Ich bin keine kräuterkundige Frau, nur weil ich mich ein wenig damit auskenne. Ich bin nicht mit dem Herzen bei dieser Aufgabe. Ich will fortziehen und aufschreiben, was ich erlebe. Ich will über andere Städte und Länder, über Menschen und andere Bräuche schreiben.
Ihr Kopf schwirrte. Sie wusste es ja immer. Sie war egoistisch und gottlos. Sie war schlecht. Die Menschen waren so krank und sie dachte nur an sich. Warum nur konnte sie nicht einfach zufrieden sein mit dem, was das Schicksal für sie bereit hielt? Adrian war auch noch immer Schmied und er klagte nicht, obwohl er viel lieber ein Tischler wäre.
Clara nahm Tücher und kühlte sie in einer Holzschale voll Wasser. Eines legte sie Cäcilia auf die Stirn und zwei andere wickelte sie um ihre Waden. Sie musste unbedingt das Fieber der alten Frau senken.
Jetzt konnte sie ihr noch eine Medizin zubereiten.
Es kam Clara vor, als bewege sie sich in einem fremden Leben. Cäcilia stöhnte nicht mehr. Sie war in einen tiefen Fieberschlaf gefallen.
Es fiel Clara schwer, Cäcilia allein zu lassen. Die alte Heilerin befand sich in einem Dämmerzustand. Clara flößte ihr die Medizin ein und versprach ihr, am Abend wiederzukommen. Aber sie war sich gar nicht sicher, ob Cäcilia sie überhaupt verstand.
Clara wollte bei ihr übernachten, denn Cäcilia war wirklich ganz allein.
Auch der Medicus ist allein, dachte sie, während sie durch die Straßen streifte.
„Geh nicht zum Medicus“, hörte sie Cäcilias Stimme. „Geh nicht zum Medicus. Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.“
Das wird er sicher nicht, dachte Clara. Er ist krank und ist bestimmt froh, wenn sich jemand um ihn kümmert.
Aber er hatte Cäcilia den Mundschutz vom Gesicht gerissen. Nein, wenn Cäcilia nicht wollte, dass sie zu ihm ging, hatte sie sicher gute Gründe. Andererseits hatte die Alte hohes Fieber. Wusste sie überhaupt, was sie redete?
Verdammtes schlechtes Gewissen. Was interessierte sie der Medicus? Er hatte Odilia gehasst und er hasste sie. Er hatte sich nicht nur an der Hexenjagd beteiligt, er hatte die Menschen sogar aufgewiegelt.
Er war schlecht und gemein.
Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.
Aber sie wäre eine schlechte Heilerin, wenn er ihr gleichgültig wäre.
Ach verflucht, sie war überhaupt keine Heilerin! Sie wollte keine sein.
Sie richtete ihren Blick zum Himmel. „Verzeihung. Ich fluche, das steht mir nicht zu. Ich bin nur so entsetzlich durcheinander. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Was ist mein Weg? Gib mir doch bitte ein Zeichen!“
Und dann stand sie vor dem Haus des Medicus. Sie war selbst überrascht darüber. Ihr Herz klopfte. Sie war tatsächlich hierher gegangen! Als hätte sie jemand geführt.
Sie klopfte an die schmale Holztür.
Keine Antwort.
Sie klopfte erneut.
Stille.
„Meister Medicus!“, rief sie.
Irgendetwas war da im Inneren. Ein Geräusch. Ein Krächzen.
Sie schob an der Tür. Sie ließ sich öffnen.
„Meister Medicus, ich bin es, Clara Schmied. Ich komme, um nach euch zu sehen. Darf ich?“
„Wo ist Cäcilia?“, antwortete eine schwache, krächzende Stimme.
„Sie ist ebenfalls krank. Ich komme gerade von ihr.“
Sie wartete jetzt nicht mehr auf die Erlaubnis, sie legte ihren Mundschutz an und trat näher.
In seinem Bett fand sie den Arzt.
Der alte Mann wirkte noch dünner, als er sowieso schon war. Sein weißes Haar war strähnig und sein Bart etwas zu lang und struppig.
Der Geruch von Tod hing in der Luft.
Cäcilia hat recht, dachte sie. Hier kann man nicht mehr helfen.
Clara erschauderte.
„Warum kommst du vermummt zu mir?“
Clara tastete instinktiv nach ihrem Mundschutz.
„Es ist ein Schutz gegen die Krankheit!“, antwortete sie ruhig.
„Es liegt nicht in deiner Macht, dich vor Krankheit zu schützen. Das ist allein Gottes Recht. Ob du krank wirst oder nicht, ist dein Schicksal. Nimm die Vermummung ab.“
Geh nicht zum Medicus.
Claras Herz schlug bis zum Hals. Wie gebieterisch seine Stimme klang, obwohl sie so schwach war. Sie musste allen Mut zusammennehmen, um zu antworten: „Das werde ich nicht.“
„Du bist eine gottlose Person.“
„Ich kam, um nach euch zu sehen, euch einen Tee zu brauen oder Medizin. Ich kam, um zu helfen. Das ist nicht gottlos.“
„Dein Gebräu will ich nicht. Ich traue dir nicht.“
Die Heftigkeit, mit der ihre Großmutter die Medizin von Odilia abgelehnt hatte, kam ihr in den Sinn. Obwohl sie zum Teil nicht anders war, als Cäcilias Kräuter. Allerdings benutzte Odilia manches als Hexenkraut. „Galgant hilft, sich aus Einengungen zu lösen.“ Und Alant half angeblich gegen Hexen und Dämonen.
Clara schüttelte sich. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Manchmal war Odilia sogar ihr unheimlich gewesen.
Jetzt schlug ihr die gleiche Ablehnung entgegen. Warum war sie nur hierher gegangen?
Geh nicht zum Medicus.
„Wenn du nicht unter dem Schutz des Bischofs gestanden hättest, dann…“ Der Medicus hielt inne. Er atmete schwer. Aber husten tat er nicht.
Es hustete überhaupt niemand. Diese Krankheit war keine Krankheit der Bronchien oder der Lunge wie bei ihrem Großvater.
„Ich würde dich wieder anklagen. Dich, eine Hexenschülerin.“
Wenn er eine Gelegenheit erhält, wird er dich erneut anklagen.
„Odilia ist keine Hexe.“
„Nun bist du selbst die Hexe.“
„Das bin ich nicht.“
„Was ist mit Cäcilia? Warum kommt sie nicht?“
„Ich sagte es schon. Sie ist krank. Sie ist auf der Straße zusammengebrochen. Ich habe sie nach Hause gebracht und ihr Medizin gegeben.“
„W…was?“ Der Alte versuchte hektisch, sich im Bett aufzurichten. „Was hast du mit ihr gemacht? Du hast sie verzaubert, nicht wahr? Du…“
Er fiel entkräftet zurück in die Kissen.
Clara konnte nicht antworten. Sie starrte ihn ein paar Sekunden lang mit weit aufgerissenen Augen an. Dann drehte sie sich unvermittelt um und lief aus dem Haus. Im Laufen riss sie ihren Mundschutz ab.
Sollte er doch ohne Linderung durch einen fiebersenkenden Tee oder eine Schmerzmedizin in seinem Bett liegen bleiben, bis der Tod kam. Sollte er doch allein bleiben. Sie würde nicht noch einmal dieses Haus betreten. Warum hatte sie nur nicht auf Cäcilia gehört! Er wollte ihre Hilfe ja gar nicht.
Sie rannte, bis sie völlig außer Atem war.
Erst da bemerkte sie, dass sie schon vor ihrem Zuhause stand. Sie lehnte sich gegen die Wand und verschnaufte.
Dorothea kam heraus und entdeckte Clara. Sie zog die Haustür hinter sich zu und zog ihre Tochter auf die Bank vor dem Haus, die Adrian gezimmert hatte. Es war eigentlich zu kalt, um hier zu sitzen. Aber sie glaubte, einen Moment mit Clara allein sein zu müssen.
„Kind, du bist ja ganz weiß im Gesicht. Ist dir nicht gut? Du wirst doch nicht krank?“
Clara schüttelte heftig den Kopf.
„Es geht mir gut. Ich - ich - “
„Kind, was ist mit dir?“
Dorothea umarmte ihre Tochter, die sich wie ein kleines Mädchen an ihre Schulter lehnte. „Ich war beim Medicus. Er ist krank und ich dachte, er braucht Hilfe.“
„Oh Jesus, Clara!“
„Cäcilia hat mich gewarnt, aber ich dachte, ich kann ihn nicht einfach allein liegen lassen. Aber er hat mich als Hexe beschimpft. Er würde mich in der Tat sofort wieder anklagen.“
„Du stehst nach wie vor unter dem Schutz des Bischofs.“
„Und der Medicus stirbt. Er wird niemanden mehr anklagen. Und Cäcilia stirbt auch. Was soll ich nur tun? Ich kann nicht die Heilerin dieses Dorfes sein. Und als Hebamme verstehe ich mich überhaupt nicht.“
Dorothea strich ihrer Tochter über das lange, rote Haar.
„Nein, das ist nicht das Richtige für dich. Du bist jetzt vierzehn Jahre alt. Clara, du musst heiraten und eine Familie gründen.“
„Was?“ Clara fuhr entsetzt aus den Armen der Mutter zurück.
„Clara!“, versuchte Dorothea zu beschwichtigen. Sie ließ eine Strähne ihres Haares durch ihre Hände gleiten, aber Clara entzog es ihr abrupt.
„Kind, du bist vierzehn Jahre alt.“
„Du hast erst später geheiratet. Mit sechzehn, oder?“
„Du lebst ein gefährliches, unstetes Leben. Es wird gut sein, es in andere Bahnen zu lenken.“
Ja, dachte Clara. In andere Bahnen lenken will ich mein Leben ja auch. Ich will keine Heilerin sein. Ich will aber auch nicht heiraten. Ich will fortgehen und die Welt kennen lernen.
„Dein Vater wird sich nach einem Bräutigam umsehen.“
„Mutter, ihr könnt mich doch nicht – irgendjemanden…“
„Irgendjemanden! Davon kann wirklich keine Rede sein. Dein Vater wird sich denjenigen schon genau ansehen. Er soll gut zu dir sein und nicht zu alt. Und…“ Sie lachte. „Er muss stark genug sein, deinen Eigensinn zu beugen.“
„Meinen Eigensinn?“, fragte Clara aufgebracht. Aber ihre Stimme war gedämpft. Sie saßen immer noch auf der Bank vor dem Haus und sie wollte nicht, dass dieses Gespräch andere mitbekamen.
„Das bedeutet doch nichts Anderes, als dass ich keinen eigenen Willen mehr haben darf, keine eigene Meinung und kein eigenes Ziel.“
Dorothea nickte. „So ist das nun einmal.“
Clara dachte, sie müsste sich jeden Moment übergeben.
Sie wusste, was das bedeutete. Sie sollte gehorsam sein. Heiraten, Kinder bekommen. Nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben. Sie würde das Leben ihrer Mutter führen. Davor hatte sie schon so lange Angst. Schon bevor sie Odilia getroffen hatte, wusste sie, dass das nicht ihr Lebensziel sein konnte. Alles in ihr sträubte sich dagegen.
„Ich muss noch einmal zu Cäcilia“, sagte sie. „Ich habe ihr versprochen, zurück zu kommen.“
„Du musst zuerst etwas essen.“
Aber Clara schüttelte den Kopf. Nein, sie konnte nicht ins Haus gehen. Sie konnte es einfach nicht. Es kam ihr vor, als würde dann sie ein Gefängnis betreten. Gegen dieses Gefühl kam sie nicht an.
„Sicher hat Cäcilia etwas im Haus!“, erwiderte sie.