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Der Engel Reaver begibt sich auf eine gefährliche Reise in die Hölle, um die schöne Harvester aus Satans Fängen zu befreien. Nie hätte er gedacht, dass er sich dabei in sie verlieben könnte. Doch Harvester plagt ein unerwartetes Verlangen nach Engelsblut ...
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Seitenzahl: 539
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Begriffserläuterungen
Prolog
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Danksagungen
Über die Autorin
Die Romane von Larissa Ione bei LYX
Impressum
LARISSA IONE
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Bettina Oder
Zu diesem Buch
Der Engel Reaver erfährt, dass Luzifer, den er für vernichtet hielt, bald wiedergeboren werden wird – mächtiger und grausamer als je zuvor. Reaver ist überzeugt, dass allein die schöne Harvester die Rückkehr des Dämons verhindern kann. Doch die Mächte des Himmels weigern sich, den gefallenen Engel aus der Hölle zu befreien, würden sie doch damit eingestehen, dass sie eine Spionin in Satans Reich hatten. Denn Harvester begab sich vor langer Zeit als Undercover-Agentin in die Hölle und opferte dabei ihre Flügel. Als sie schließlich enttarnt wurde, bestrafte Satan sie mit endlosen Qualen. Reaver beschließt, auf eigene Faust die gefährliche Reise in die Hölle zu wagen, obwohl er Harvester jahrhundertelang als Feindin ansah. Da er nur wenige Erinnerungen an seine Vergangenheit besitzt, ahnt er nicht, dass Harvester ihn einst geliebt hat und ihre gemeinsame Geschichte vor langer Zeit ihren Anfang nahm. Unter größten Gefahren gelingt es ihm, die geschwächte Harvester aus Satans Fängen zu befreien. Während ihrer Flucht aus der Hölle, erwacht zwischen beiden eine ungeahnte Leidenschaft. Doch Harvester hat zu lange im Dienste Satans gestanden und ist überzeugt, dass sie nie wieder ganz zum Licht zurückfinden kann. Vermag sie die Dunkelheit zu überwinden, die so lange ein Teil von ihr war?
Für meine Leser und Leserinnen und meine Freunde und Freundinnen. Was für ein Glück ich habe, dass sich diese Gruppen so oft überschneiden. Ich liebe euch!
Begriffserläuterungen
Agimortus – Auslöser für das Brechen der Siegel der Reiter. Ein Agimortus kann als ein Symbol bezeichnet werden, das auf eine Person oder ein Objekt eingeprägt oder eingebrannt wurde. Bislang wurden drei Arten von Agimorti identifiziert; sie können die Gestalt einer Person, eines Gegenstands oder eines Ereignisses annehmen.
Daemonica – Die Dämonenbibel und Grundlage von Dutzenden dämonischer Religionen. Ihre Prophezeiungen bezüglich der Apokalypse – sollten sie denn zutreffen – werden gewährleisten, dass die vier apokalyptischen Reiter auf der Seite des Bösen kämpfen werden.
Dermoire – Jeder Seminus-Dämon trägt auf dem rechten Arm ein Dermoire, das von der Hand bis zur Kehle reicht und aus Glyphen besteht, die die Geschichte seiner Vorväter darstellen. Die persönliche Glyphe eines jeden Individuums befindet sich am oberen Ende des Dermoires, am Hals.
Gefallener Engel – Die meisten Menschen halten gefallene Engel grundsätzlich für böse; allerdings kann man sie in zwei Kategorien unterteilen: wahre Gefallene und Ausgestoßene. Ausgestoßene Engel wurden aus dem Himmel verbannt und leben, an die Erde gefesselt, ein Leben, das weder wahrhaftig gut noch wahrhaftig böse ist. In diesem Zustand ist es ihnen möglich, wenn dies auch nur äußerst selten geschieht, sich die Wiederaufnahme in den Himmel zu verdienen. Oder sie wählen das Dämonenreich, Sheoul. Indem sie Sheoul betreten, vervollständigen sie ihren Fall und werden zu wahren Gefallenen, die ihren Platz als Dämonen an Satans Seite einnehmen.
Höllentore – Vertikale Portale, die für Menschen unsichtbar sind und die Dämonen dazu benutzen, um zwischen Orten auf der Erde und Sheoul hin und her zu reisen.
S’genesis – Abschließender Reifezyklus, den ein Seminus-Dämon im Alter von einhundert Jahren durchläuft. Ein männlicher Seminus-Dämon, der dieses Stadium durchlaufen hat, ist zur Fortpflanzung fähig und besitzt die Fähigkeit zur Gestaltwandlung, sodass er das Aussehen eines Angehörigen jeder beliebigen Dämonenspezies annehmen kann.
Sheoul – Dämonenreich, tief in den Eingeweiden der Erde gelegen; nur durch Höllentore zu erreichen.
Sheoulghule – Kleine, extrem seltene Kristallsphären, die es Engeln gestatten, sogar in Sheoul neue Energie zu laden. Der Ursprung dieser Kristalle ist ein streng gehütetes Geheimnis, und es ist nur wenig über sie bekannt, doch einige Verwender behaupten, eine Art Weinen gehört zu haben.
Sheoul-gra – Eine Art Aufbewahrungsbecken für Dämonenseelen, die dort warten, bis sie entweder wiedergeboren werden oder in die Qualen der Vorhölle geschickt werden.
Sheoulisch – Universelle Dämonensprache, die alle Dämonen beherrschen, auch wenn die meisten Spezies darüber hinaus ihre eigene Sprache besitzen.
Ter’taceo – Dämonen, die sich als Menschen ausgeben können, entweder weil ihre Spezies von Natur aus dem Menschen ähnelt oder weil sie menschliche Gestalt annehmen können.
Wachen – Individuen, denen die Aufgabe zugeteilt wurde, ein Auge auf die vier Reiter zu haben. Ein Abschnitt der Übereinkunft, die während der ursprünglichen Verhandlungen zwischen Engeln und Dämonen geschmiedet wurde, die dazu führte, dass Ares, Reseph, Limos und Thanatos dazu verflucht wurden, als Speerspitze der Apokalypse zu dienen, legt fest, dass einer von ihnen ein Engel und der andere ein gefallener Engel ist. Keiner der Wachen ist es gestattet, die Bestrebungen eines der Reiter, Armageddon auszulösen oder aber abzuwenden, direkt zu unterstützen, allerdings sind sie in der Lage, hinter den Kulissen einzugreifen. Doch wenn sie dies tun, bewegen sie sich auf einem sehr feinen Grat, von dem abzukommen sich als fatal erweisen könnte.
Wandeltore – Portale, die es Dämonen erlauben, innerhalb von Sheoul zu reisen. Die Vorläufer der Höllentore. Wandeltore sind entweder unvorhersehbar oder unflexibel. Einige verbinden zwei Reiche, während andere die Reisenden an einen zufällig ausgewählten Ort bringen.
Prolog
Schicksal war kein Wort, das Engel leichtfertig verwendeten, doch als Zachariel, Erster Engel der Apokalypse, das Schlusskapitel von Verrine/Harvester: Eine nicht autorisierte Biografie schrieb, dachte er unwillkürlich darüber nach, wie sehr das Schicksal sie beschissen hatte.
Und es begab sich also vor fünftausend Menschenjahren, dass sich der Engel Verrine in den Engel Yenrieth verliebte. Doch in ihrer Unschuld floh Verrine vor seiner Zuneigung und sandte ihn in die Arme einer anderen.
Als Verrine schließlich ihren Fehler einsah, war es zu spät. Sie überraschte ihren geliebten Yenrieth dabei, wie er mit dem Sukkubus Lilith Unzucht trieb.
Yenrieth aber wusste nicht, dass Lilith schwanger war. Verrine war sich jedoch der Schwangerschaft bewusst, und aus Gründen, die nur ihr allein bekannt waren, enthielt sie Yenrieth dieses Wissen vor. Allerdings schwor sie einen Eid, Yenrieths Nachkommen zu finden und über sie zu wachen.
Als es an der Zeit war, gebar Lilith vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen: Reseph, Ares, Limos und Thanatos.
Nachdem sie viele Jahre insgeheim nach ihnen gesucht hatte, spürte Verrine endlich die Jungen auf, die in menschlichen Familien aufgewachsen waren, in deren Obhut Lilith sie gegeben hatte.
Doch das Mädchen, Limos, war Satan versprochen worden und fristete sein Leben in der Unterwelt. Erst als Limos aus den dunklen Tiefen der Hölle emporstieg, glaubte Verrine wagen zu können, Yenrieth endlich von der Existenz seiner Kinder zu berichten.
Doch wie das Schicksal es wollte, erwies sich Limos’ Ankunft im Reich der Menschen als katastrophal.
Als Yenrieths Kinder von Limos erfuhren, dass sie keine Menschen, sondern halb Engel und halb Dämon waren, begannen sie einen Krieg zwischen dem irdischen Reich und dem Reich der Dämonen, der zu einem Ausmaß an Zerstörung und Chaos führte, wie es nur Armageddon allein übertreffen könnte.
Zur Strafe wurden Yenrieths Nachkommen dazu verflucht, die Vier Reiter der Apokalypse zu werden, deren Schicksal durch Prophezeiung bestimmt war. Sollten die Siegel, die sie an den Fluch banden, brechen, würden sie zu Pestilence, War, Famine und Death werden, doch ob sie auf der Seite des Guten oder des Bösen kämpfen würden, musste noch bestimmt werden.
Niemand weiß, was hiernach aus Yenrieth wurde, aber Verrine, die fest entschlossen war, ihren persönlichen Eid, über seine Kinder zu wachen, zu halten, wandte sich mit einem Plan an drei Erzengel: Sie schlug vor, die Hölle zu unterwandern und jegliches Mittel einzusetzen, das ihr zur Verfügung stand, um eine der meistbegehrten Aufgaben Sheouls zu übernehmen: Wache über die Reiter. Ihre Absicht war, als Spionin die Ereignisse dergestalt zu manipulieren, dass die Version apokalyptischer Prophezeiung der Dämonenbibel verhindert würde.
Drei Erzengel – Metatron, Raphael und Uriel – befürworteten ihr Ersuchen, und so wurde aus Verrine der gefallene Engel Harvester, in dem Wissen, dass sie den Himmel niemals wiedersehen würde.
Es dauerte dreitausend Jahre, ehe sie sich ihrem Vater, Satan, dem gefallenen Engel und Herrn der Unterwelt, bewiesen hatte und ihr das Amt der Wache übertragen wurde. In den nächsten zweitausend Jahren half sie den Reitern insgeheim dabei, deren Siegel vor dem Brechen zu bewahren, während sie vorgab, den jeweiligen himmlischen Wachen der Reiter – Shiresta, Barabus, Gethel und Reaver – Steine in den Weg zu legen.
Und als im Jahre des Herrn 2010 eine Seminus-Dämonin namens Sin unbeabsichtigt Resephs Siegel brach und ihn in den Dämon verwandelte, der unter dem Namen Pestilence bekannt war, begann der wichtigste Teil von Harvesters Arbeit. Die Version der Apokalypse, wie die Daemonica sie schilderte, hatte begonnen.
Harvester, die durch Tausende von Jahren inmitten des Bösen korrumpiert war, verrichtete Aufgaben, die an ihrer Seele fraßen und auch noch den letzten Rest von Güte vernichteten, der in ihrem Herzen verblieben sein mochte. Doch am Ende retteten ihre Taten die Menschheit, und die Apokalypse wurde abgewendet. Alles lief nach Plan … bis Gethel, die den Himmel verraten hatte, Harvester an Satan preisgab.
Und Harvester, unfähig, die Personen um Hilfe zu bitten, die sie gerettet hatte, wurde nach Sheoul verschleppt, um eine Ewigkeit der Qualen unter Satans eigenen Händen zu erleiden.
Zachariel hielt inne, um seine Engelsfeder in die heilige Tinte zu tauchen, die aus dem Blut von zwanzig Erzengeln gemischt war. Dunkelrote Tropfen fielen von der Spitze hinab, als er sie aus der Kristallflasche hob, und er fragte sich, wie viel er noch schreiben sollte. Yenrieth war aus den Geschichtsbüchern getilgt worden sowie aus den Erinnerungen aller, bis auf einige wenige Auserwählte, und Zachariel war nicht sicher, wie viel er offenbaren sollte. Seine eigenen Erinnerungen an Yenrieth waren erst vor Kurzem zurückgekehrt, und nur, damit er Harvesters Geschichte aufzeichnen konnte.
Bluttinte bespritzte den Schreibtisch. Erst jetzt wurde Zachariel die Endgültigkeit der Situation klar. Harvester war für immer fort. Es gab nichts mehr zu schreiben. Dank Harvesters Opfer befand sich die Menschheit in Sicherheit, so wie auch Yenrieths Kinder. Sie hatte die Zukunft aller Reiche mehr als jeder Engel in der Geschichte geformt.
Harvester war ein gefallener Engel. Und eine gefallene Heldin.
Zachariel ließ die Feder in das Tintenfass zurückfallen, und mit einem stummen Gebet für Harvesters Seele schloss er das Buch.
In jedem anderen Gebäude auf der ganzen Welt wären die Leute angesichts eines Höllenhunds, der auf dem Boden lag und ein Baby im Maul hatte, vor Entsetzen schreiend auseinandergestoben oder auf der Suche nach einer Waffe losgerannt.
In einer Burg, die einem der vier apokalyptischen Reiter gehörte, brachte dies nicht einmal ein Wimpernzucken hervor.
Reaver ignorierte die struppige schwarze Bestie, die ihn mit gefletschten Zähnen beobachtete, während er die große Halle durchschritt. Höllenhunde hassten Engel, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Thanatos«, rief Reaver. »Cujo sabbert deinen Sohn voll.«
Thanatos streckte den blonden Kopf durch die Tür der Bibliothek. »Darum wird Logan ja auch ziemlich oft gebadet.«
Der Hund – mit seinen hundert Kilo selbst noch ein Welpe – warf sich auf die Seite und gestattete Logan, ihm an Fell und Ohren zu ziehen, während das Kleinkind auf den Hund hinaufkletterte. Logan würde von Kopf bis Fuß mit Sabber und Haaren bedeckt sein, wenn seine Mutter Regan nach Hause kam.
In den Monaten, die Reaver nicht mehr hier gewesen war, hatte sich nicht viel geändert. Das Feuer, das praktisch das ganze Jahr über im Kamin brannte, loderte auch jetzt, Vampirdiener eilten zwischen den höhlenartigen Räumen hin und her, und der Duft von frischem Brot, der aus der Küche waberte, ließ einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Regan hatte ihrem neuen Heim hier und da eine persönliche Note verliehen und hatte einige von Thanatos’ alten Waffen und blutrünstigen Gemälden an der Wand durch Wandbehänge und Bilder einheimischer Landschaften ersetzt. Die harten, kalten Böden waren nunmehr mit Teppichen bedeckt, und überall lag Babyspielzeug verstreut, wie bunte Landminen, die in schrillem Protest quietschten, wenn Reavers in Stiefeln steckende Füße versehentlich auf eines von ihnen traten.
Plötzlich flogen die massiven Holztüren der Festung hinter Reaver auf, und ein eisiger Windstoß trug die Kälte des späten Frühlings in Grönland herein sowie Ares, Reseph und Limos. Ares trug Shorts, ein T-Shirt und Flipflops; Reseph nur Jeans und Limos ein luftiges Schwangerschaftskleid in leuchtendem Orange. Als sie Reaver sah, grinste sie, und obwohl sie schon im fünften Monat war, sprang sie ihn an und zog ihn in eine heftige Umarmung.
Er hatte ihren Enthusiasmus schon immer geliebt, schon bevor er erfahren hatte, dass sie seine Tochter war, und zog sie eng an sich. Er wünschte nur, er hätte ihr solche dringend benötigten Umarmungen schenken können, als sie noch ein Kind gewesen war. Wünschte, er hätte da sein können, als sie ihre ersten Schritte getan, ihre ersten Worte gesprochen hatte.
Wenn er doch nur von ihr gewusst hätte. Und von Ares. Und Thanatos. Und Reseph.
»Was gibt’s, Papa?« Limos löste sich von ihm und nahm ihren tropischen Piña-Colada-Duft mit sich. »Wo bist du gewesen? Wir haben dich schon seit Monaten nicht mehr gesehen.«
Im Himmel verging die Zeit anders, darum hatte Reaver das Gefühl, es seien nur wenige Tage gewesen. Vielleicht hatte er seinen Besuch aber auch ein wenig hinausgezögert. Jahrelang war er die himmlische Wache der Reiter gewesen, doch die Dynamik ihrer Beziehung hatte sich verändert, seit er herausgefunden hatte, dass sie seine Kinder waren. Als Wache war er gefeuert worden, und was noch wichtiger war: Er war sich keineswegs sicher, wie man sich als Vater von fünftausend Jahre alten Legenden verhielt.
Schlimmer noch, er wusste nicht, wie man sich als Großvater verhielt.
»Ich war in der Akasha-Bibliothek, um etwas zu finden … irgendetwas, das dabei helfen könnte, Gethel aufzuspüren«, sagte Reaver.
Thanatos knurrte, als die Ex-Wache der Reiter erwähnt wurde, ein Engel, der den Himmel verraten hatte und beinahe Thans Sohn umgebracht hätte.
»Ich habe sogar ihr Heim im Himmel durchsucht, aber es war bereits von Vollstreckern auf den Kopf gestellt worden.«
Die Vollstrecker, die Gesetzeshüter des Himmels, hatten der Suche nach dem abtrünnigen Engel höchste Priorität eingeräumt, wobei ihre enthusiastische Verfolgung durch die Tatsache angespornt wurde, dass die gesamte Unterwelt zurzeit kein anderes Thema kannte, als dass sie höchstwahrscheinlich in eine Verschwörung gegen den Himmel verwickelt war. Das himmlische Spionagenetzwerk berichtete, dass es dabei auch um einen Countdown ging. Aber ein Countdown wofür?
»Es dürfte nicht dermaßen schwierig sein.« Frustration erfasste Reaver bis in die Spitzen seiner Schwingen. Schon seit acht Monaten suchte er nun, ohne einen einzigen Hinweis gefunden zu haben. »Formal gesehen ist sie kein gefallener Engel, also kann sie sich nicht in Sheoul verstecken –« Er brach ab, als ihn auf einmal eine Emanation des Bösen erfasste, die von der Tür ausging.
»Mir klingeln ja die Ohren.« Winzige Lichtpunkte materialisierten sich zu einer Gestalt. Gethels Gestalt.
Augenblicklich fuhren die Finger der Reiter über die halbmondförmigen Narben an ihren Hälsen, die ihre Rüstungen und Waffen aktivierten. Der Höllenhund sprang knurrend auf, während er gleichzeitig Logan unter seinem massigen Körper in Sicherheit brachte. Alle anderen bezogen zwischen Gethel und dem Kind Aufstellung.
»Limos!«, schrie Than. »Bring Logan hier raus!«
Reaver zögerte nicht. Er bombardierte den Engel mit Düsterlicht von nuklearer Qualität. Der blaue Speer glühend heißen Lichts fuhr flüsternd durch Gethels Körper und ließ die massiven Holztüren der Festung explodieren. Gethel, unversehrt, lächelte lediglich, selbst als er einen Feuerbogen auf ihren Kopf lenkte. Die Flammensäule schoss durch sie hindurch wie ein Pfeil durch Nebel.
»Wie zum Teufel hast du das gemacht?« Thanatos ging auf sie los und legte ihr sein Schwert an die Kehle, doch Reaver befürchtete, dass sich die Waffe des Reiters als genauso nutzlos erweisen würde wie seine eigene. Die Seelen, die Than in seinem Panzer beherbergte – die Seelen derjenigen, die er getötet hatte –, wirbelten um seine Füße, begierig darauf zu töten. »Wie bist du hier hereingekommen? Meine Festung ist dagegen geschützt, dass sich irgendjemand außer meinen Wachen und Reaver hineinblitzt.«
»Das Kind, das ich in mir trage, hat mir seine Macht verliehen.« Gethel berührte ihren Bauch, und Reavers Mund fühlte sich mit einem Schlag staubtrocken an, bei dem Anblick der Beule unter ihrer Handfläche.
Was für ein Kind konnte sie empfangen haben? Es gab so gut wie keine Spezies, die über eine derartig gewaltige Macht verfügte.
Dann traf ihn die Antwort wie eine Axt zwischen die Augen. Ein Radiant oder auch Schattenengel, wie einige ihn nannten, wäre mächtig genug, um Thans Schutzzauber zu durchbrechen. Doch es hatte seit Jahrhunderten keine Engel dieser Klasse mehr gegeben. Sollte Gethel wirklich mit einem Engel schwanger sein, der nach Belieben sowohl durch den Himmel als auch durch die Hölle reisen konnte, mussten die Erzengel unbedingt davon erfahren.
Die Härchen in Reavers Nacken richteten sich auf. Eine halbe Sekunde später blitzten sich die sheoulischen und himmlischen Wachen der Reiter, Revenant und Lorelia, herein.
Ares’ Lederpanzer knarrte, als er näher an Gethel herantrat, den Zweihänder erhoben und bereit, einen tödlichen Schlag auszuteilen. »Erkläre dich.«
Gethel machte eine dramatische Pause. »Ich werde Luzifer gebären.«
Scheiße! Luzifer, die rechte Hand Satans, war tot. Reaver hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der gefallene Engel in Stücke gerissen worden war. Was für ein Spiel versuchte Gethel zu spielen?
»Du meinst Luzifers Kind?« Reaver hoffte von ganzem Herzen, dass das nicht der Fall war. Jeglicher Nachwuchs Luzifers würde genauso mächtig sein wie die meisten Erzengel.
»Luzifer höchstpersönlich«, sagte sie mit lieblicher Stimme.
Reavers Magen zog sich ungläubig zusammen.
»Ich wurde auserwählt, das Gefäß zu sein, durch das er erneut physische Gestalt annimmt.« Sie beäugte Thanatos’ Schwert. »Versuche ruhig, mich damit zu durchbohren. In Wirklichkeit bin ich gar nicht hier. Mein kostbarer Luzifer besitzt die Macht, mein Bild auf den Mond zu projizieren, wenn ich es wünsche.«
Ein grollendes Donnern ließ die Burg erbeben; gleich darauf landeten zwei Erzengel, beide mit Stoffhose und Hemd bekleidet, in identischen Strahlen goldenen Lichts in der großen Halle. Ehe jemand reagieren konnte, wischten Raphael und Metatron die Reiter und Revenant, deren böse Wache, zur Seite wie Fliegen, sodass diese bewusstlos auf dem Boden landeten. Lorelia stand fassungslos daneben, offenbar dankbar, noch bei Bewusstsein zu sein.
Reaver packte Raphaels Arm. »Was habt ihr ihnen angetan?«
Ärger blitzte im Gesicht des Engels auf. Reaver wusste, dass er kurz davorstand, von irgendeiner übermächtigen Erzengelwaffe umgehauen zu werden.
»Sie werden sich wieder erholen.« Raphael zeigte auf Gethel. »Im Gegensatz zu dir, wenn wir dich erwischen.«
»Du bist ein Engel, Gethel.« Metatrons silberblaue Augen schienen Blitze zu schleudern, doch seine Worte waren gemäßigt. Kontrolliert. Die Ruhe vor dem Sturm. »Du kannst diesem Wahnsinn noch Einhalt gebieten, ehe es zu spät ist.«
»Warum sollte ich das tun? Ich trage das zweitmächtigste Wesen von Sheoul in mir.« Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Bauch. »Seine Macht wird es mit der euren aufnehmen können.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Lorelia, die die ganze Zeit über wie besessen den Rubinring an ihrem kleinen Finger drehte. »Reseph hat Luzifer vor Monaten vernichtet.«
In Wahrheit hatte Resephs dämonische Hälfte, Pestilence, ebenfalls eine Schlüsselrolle bei Luzifers unappetitlichem Ableben gespielt, doch Reaver hatte nicht vor, ausgerechnet jetzt Haarspalterei zu betreiben.
»Luzifer wurde vernichtet«, stimmte Metatron zu, ohne den Blick von Gethel abzuwenden. »Doch seine Seele wurde nach Sheoul-gra gesandt. Unter den richtigen, wenngleich unwahrscheinlichen Bedingungen –«
»Könnte er wiedergeboren werden«, beendete Raphael mit säuerlicher Stimme den Satz. »Aber unter welchen Bedingungen?«
Metatron schloss die Augen, während Gethel mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht darauf wartete, dass er das Rätsel löste. »Nur Satan ist mächtig genug, einen reinkarnierten gefallenen Engel von Luzifers Status zu zeugen. Die Mutter müsste jemand sein, der rein und heilig war, ehe er in Ungnade fiel.«
»Oder ein Engel, der Erde und Himmel verriet«, sagte Reaver grimmig. »Gethel.«
Gethel applaudierte. »Bravo.«
Raphael starrte Reaver aufgebracht an. »Wenn du sie getötet hättest, als du die Gelegenheit hattest, wäre all das nie passiert.«
Ja, dreh das Messer ruhig noch einmal um, damit es richtig wehtut, Besserwisser. Reavers Unvermögen, die Frau mit dem goldenen Haar bei ihrem letzten Kampf zu töten, fraß wie Säure an ihm. Doch das hieß noch lange nicht, dass er sich deswegen von einem aufgeblasenen Erzengel abkanzeln lassen musste, der seinen Hintern hinter einem monströsen Schreibtisch in Sicherheit geparkt hatte, während das menschliche Reich unter einer Dämoneninvasion von nahezu apokalyptischem Ausmaß gelitten hatte.
»Wenn irgendeiner von euch mal seinen verhätschelten Arsch hochgekriegt hätte, um … ich weiß auch nicht, zu helfen, dann wäre sie vielleicht schon längst tot!« Reaver fragte sich, ob er zur Unterstreichung seines Arguments vielleicht noch einige Kraftausdrücke hinzufügen sollte, beschloss dann aber, sein Glück nicht überzustrapazieren. Jedem der beiden Erzengel wäre es ein Leichtes, ihn in ein Häufchen Matsch zu verwandeln.
»Du hättest mich wirklich töten sollen.« Mit diesen Worten drehte Gethel das Messer herum, das Raphael ihm hineingestoßen hatte. »Jetzt stehe ich unter dem Schutz von Satan und Luzifer.« Wieder tätschelte sie ihren Bauch, als ob sie ein süßes, unschuldiges Baby in sich trüge und nicht – wortwörtlich – die Ausgeburt Satans. »Zugegeben, mein kleiner Junge ist noch nicht so stark, wie er sein könnte, aber ich habe vor, dem schon bald abzuhelfen. Harvesters Blut, gewonnen mithilfe der Pressen des Dunklen Herrschers höchstpersönlich, wird ihn nähren.« Dicke schwarze Adern begannen sich von ihren Fingern bis zu ihren Armen, ihrem Hals und schließlich ihrem Gesicht auszubreiten, und ihre Stimme wurde tief. »Und dann werdet ihr alle seinen Zorn kennenlernen. Der ganze Himmel wird ihn zu spüren bekommen.« Mit diesen Worten schwand Gethels Bild dahin.
Reavers Herz war ihm bei der Erwähnung von Harvester in die Kniekehlen gesackt. Noch bis vor fünf Monaten war er davon überzeugt gewesen, dass sie der Feind war. Raphaels Enthüllung, dass sie die ganze Zeit über für den Himmel gearbeitet hatte, dass sie freiwillig zum gefallenen Engel geworden war, um über die Reiter zu wachen, hatte ihn völlig umgehauen.
Aber was ihm dann erst wirklich den Rest gegeben hatte, war die Weigerung der Erzengel, sie aus dem Gefängnis Satans zu retten. Durch ihren Dienst am Himmel und der ganzen Menschheit hatte sie wahrlich Besseres verdient.
Außerdem wollte Reaver Antworten. Er musste wissen, warum sie alles aufgegeben hatte, um über Kinder zu wachen, die nicht mal die ihren waren.
Lorelia glättete ihre graue Jacke und den dazu passenden Rock mit den Händen, während sie noch auf den Fleck starrte, an dem Gethel gestanden hatte. Reaver fragte sich zum mindestens zwanzigsten Mal, wie man ausgerechnet sie zur Wache hatte ernennen können. Sie hatte auf ihn schon immer ein wenig unscheinbar und sehr neugierig gewirkt – definitiv eher Gelehrte als Kriegerin.
»Was hat Gethel damit gemeint?«, fragte sie.
Metatron meldete sich zu Wort; seine Stimme war nach wie vor ruhig, doch die darunter verborgene Wut lud die Luft um ihn elektrisch auf. »Luzifers Macht war einzig und allein der Satans unterlegen, ehe er starb. Nun als Satans Sohn geboren zu werden, wird ihn noch stärker machen.« Wie die meisten Erzengel faltete Metatron seine Schwingen nur selten zusammen, und jetzt umspielten deren silberne Spitzen, die zu den Streifen in seinem Haar passten, seine Füße. »Schlimmer noch, die äußerst seltene Reinkarnation eines gefallenen Engels verursacht Risse in den Fundamenten des Himmels selbst.«
»Aber Luzifer ist nicht irgendein Engel«, sagte Raphael, dessen Stimme heiserer klang, als ihm die Tragweite von Luzifers Wiedergeburt langsam klar wurde. »Seine Geburt wird Ereignisse kataklysmischen Ausmaßes im Himmel verursachen. Beben. Überschwemmungen. Vulkanausbrüche. Engel sowie Menschen im Himmel werden von diesen Katastrophen überwältigt werden und sterben und für alle Zeit verloren sein.«
»Wie passt Harvester in all das hinein?«, fragte Lorelia.
»Sie ist Satans Tochter«, antwortete Reaver. »Luzifer mit ihrem Blut zu füttern wird ihn noch stärker machen.«
»Sie ist nicht nur seine Tochter«, rief Metatron ihnen mit grimmiger Stimme in Erinnerung. »Sie ist das einzige seiner Kinder, das empfangen wurde, als er noch ein Engel war. Auch wenn sie gefallen ist, wird ihr Blut Luzifer Fähigkeiten und Kräfte geben, die für gewöhnlich ausschließlich himmlischen Engeln vorbehalten sind.«
»Wir müssen Gethel finden und vernichten, ehe Luzifer geboren wird«, sagte Raphael, der verfluchte Engel des Offensichtlichen.
»Und wie sollen wir das deiner Meinung nach anstellen?«, fragte Lorelia.
Metatron und Raphael schienen mit ihrem Latein am Ende zu sein, aber Reaver hatte eine Idee, die nicht nur ihren Sorgen Luzifers wegen ein Ende bereiten, sondern auch noch die Erzengel zwingen würde zu tun, was sie schon vor Monaten hätten tun sollen.
»Wir werden Harvester aus Satans Gefängnis befreien müssen.«
»Auf gar keinen Fall!«, blaffte Raphael.
Metatron schnaubte. »Unmöglich. Jeglicher Rettungsversuch unsererseits würde nur bestätigen, was für eine Rolle der Himmel bei ihrer Spionagetätigkeit gespielt hat, und es würde Krieg geben –«
»Ja, ja«, unterbrach Reaver. »Ein Krieg zwischen Himmel und Hölle bedeutet Tod, Zerstörung und Flüsse voller Engelblut, bla, bla.«
Komisch, wie sehr sich die Erzengel um diesen Krieg sorgten, wo die Möglichkeit einer Apokalypse im menschlichen Reich ihnen keinerlei Kopfzerbrechen bereitet hatte. Aber die meisten Engel zogen es vor, ihre Köpfe in den Wolken zu vergraben und so zu tun, als ob Menschen und Dämonen nicht existierten.
»Es ist nicht richtig, dass sie gefangen gehalten wird«, betonte Reaver. »Schließlich hat sie unserer Seite geholfen.«
Raphael schüttelte den Kopf. »Es war ihr wohl bewusst, dass sie, sollte sie jemals geschnappt werden, als einsamer Wolf gelten würde, der seine eigenen finsteren Pläne verfolgte. Ihre Deckung ist aufgeflogen, sie wurde erwischt, und es ist vorbei.«
»Ich begreife es immer noch nicht«, sagte Lorelia. Eine heraufbeschworene Ausgabe von Eine Geschichte der Wachen der vier apokalyptischen Reiter erschien in ihrer Hand, und sie begann augenblicklich darin zu blättern. Jepp, eine Gelehrte. »Wie wird es unserer Sache helfen, Harvester zu retten?«
Reaver wählte seine Worte sorgfältig. Raphael und Metatron mussten davon überzeugt sein, dass Reaver keine versteckten Absichten hegte. Dass er Harvester nicht auch deshalb retten wollte, um der Vergangenheit auf die Spur zu kommen, die er verloren hatte, als ihm seine Erinnerungen an sein Dasein als Yenrieth aus dem Kopf gerissen worden waren. Immer wieder hatte er darum gebeten, seine Erinnerungen zurückzubekommen, und war doch jedes Mal auf Ablehnung gestoßen.
Aber Harvester hatte Yenrieth gekannt. Sie hatte für seine Kinder ihre Flügel aufgegeben. Offensichtlich hatte ihr Yenrieth einmal etwas bedeutet, selbst wenn sie sich nicht daran erinnerte, wie er aussah.
»Als Satans Tochter«, begann Reaver, »kann Harvester ihre Geschwister spüren. Sie kann Luzifer finden, selbst wenn er sich noch in Gethels Bauch befindet.«
Lorelia stieß ein Schnauben aus. »Was sollte ihre Brüder und Schwestern davon abhalten, Harvester aufzuspüren, sobald sie entkommen ist?«
»Harvesters Fähigkeit, Satans Nachkommen zu spüren, ist einzigartig«, antwortete Metatron, »und zwar aus demselben Grund, aus dem ihr Blut stärker als das ihrer Geschwister ist. Sie wurde im Himmel empfangen, ehe Satan ausgestoßen wurde.«
»Nein.« Raphael kreuzte die Arme vor der Brust und nagelte Reaver mit hartem Blick fest. »Njet. No. Non. Nej. Nu. Na. Shise. Yai. Du wirst Harvester nicht retten. Dringt eigentlich irgendetwas bis in deinen dicken Schädel vor?«
Reaver lächelte. »Du irrst dich in Bezug auf shise. Das bedeutet Pilz auf Sheoulisch. Das Wort, das du meinst, ist shishe.« Idiot.
»Warum überrascht es mich nicht, dass du die universale Dämonensprache fließend beherrschst?« Raphaels eigenes Lächeln war eisig. »Haben dich das deine Dämonenfreunde und -geliebten gelehrt?«
Reaver schluckte den Köder des Erzengels nicht. Seine besten Freunde waren Dämonen, aber er war seit Jahren mit keinem Dämon mehr intim gewesen. Nicht seit dem Tag, an dem er seine Flügel zurückgewonnen hatte. Und in diesem Moment ging es nicht um seine Freunde.
»Wenn ihr Harvester nicht retten wollt, dann lasst es mich tun. Gebt mir das Kommando über eine Heerschar Kampfengel.«
»Du willst das Kommando einer ganzen Heerschar?«, spottete Raphael. »Du taugst ja kaum als Soldat.«
»Ich bin mächtiger als jeder andere Kampfengel, und das weißt du.«
»Aber du bist nicht imstande, Befehle auszuführen. Wie willst du führen, wenn du nicht folgen kannst?« Metatron klang beinahe vernünftig. Falsch, aber vernünftig.
Raphaels listiger Blick heftete sich auf Reaver, als ob er ihn bis aufs Mark entblößen wollte. Tatsächlich sah Reaver an sich hinab, um sich zu vergewissern, dass er nach wie vor Jeans und ein blaues Button-down-Hemd trug.
»Wir wissen dein Hilfsangebot zu schätzen«, sagte Raphael im selben Ton, den man verwendete, wenn man einem Kind den Kopf tätschelte. »Aber selbst wenn wir uns dazu entschieden, Harvester zu retten, wärst du die letzte Person, die wir aussenden würden. Sie hat Yenrieth gehasst. Vermutlich würde sie dich eher Satan ausliefern, als sich von dir retten zu lassen.«
Reaver runzelte die Stirn. »Aber sie hat ihre Flügel für seine – meine – Kinder aufgegeben. Warum sollte sie das tun, wenn sie mich hasst?«
Raphaels Mund zog sich zusammen, als ob er an einer verfaulten Zitrone geleckt hätte. »Ich habe mich schon dasselbe gefragt.« Gleich darauf winkte er ab, tat mit ein und derselben Geste das Thema und Reaver ab. »Wir werden sehen.«
»Das könnt ihr doch nicht tun –«
Raphael wedelte erneut mit der Hand, und Reavers Stimme verstummte abrupt. »Wir können alles tun, was wir wollen.«
Fahr zur Hölle! Reaver hoffte, dass sie seine Gedanken lesen konnten.
»Denk nicht einmal daran, Harvester zu retten«, sagte Metatron. »Es würde euch nicht gelingen, Sheoul zu verlassen, und selbst wenn, würden wir dir deine Erinnerungen noch einmal wegnehmen, aber nicht, ehe wir mit solcher Wucht Feuer auf dich würden regnen lassen, dass du uns anflehen würdest, sterben zu dürfen.«
Normalerweise würde er zu diesem Zeitpunkt trotzig seine Schwingen ausbreiten. Oder ihnen höchst unengelhaft den ausgestreckten Mittelfinger zeigen. Aber wenn es je eine Zeit gab, zu der Reaver Selbstbeherrschung ausüben und Zustimmung vortäuschen sollte, dann war es diese.
Doch auch wenn er hier den braven Jungen gab, hieß das noch lange nicht, dass er sich wie ein getadelter Welpe auf den Rücken werfen musste. »Kann ich dann wenigstens meine Erinnerungen wiederhaben?«
Er hatte es so satt, dass sich niemand an ihn erinnerte und dass er sich an nichts erinnerte, was außerhalb der letzten dreißig Jahre passiert war. Erst vor Kurzem war es ihm gelungen, einige Puzzleteile seiner Vergangenheit zusammenzufügen, aber es gab noch viel zu viele Löcher in seinem Lebenslauf. Wenn er nur ein wenig davon zurückbekommen würde, könnte er sich vielleicht endlich wieder vollständig fühlen. Sein Gedächtnisverlust hatte ihn immer schon gestört, aber seit er erfahren hatte, dass er Vater war – von niemand Geringerem als den vier apokalyptischen Reitern –, hatte es für ihn höchste Priorität, sich seine Vergangenheit zurückzuholen. Wie konnte er ein guter Vater sein, wenn er nicht wusste, warum er seine Kinder fünftausend Jahre lang im Stich gelassen hatte?
Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass es ihm als Vater der Reiter vom Schicksal bestimmt war, deren Siegel zu brechen, um die biblische Apokalypse in Gang zu setzen; eine der extremsten Maßnahmen, um Satan in den letzten Tagen des prophezeiten Kriegs zwischen Himmel und Hölle aufzuhalten.
»Nein«, entgegnete Metatron. »Hör endlich auf zu fragen.« Er ging zu Revenant hinüber, der auf der Seite lag, und stieß ihn mit dem Zeh an. Reaver wünschte, der Erzengel würde der bösen Wache mal eben schnell einen Tritt in die Rippen verpassen.
»Reaver.« Raphaels Stimme klang gedämpft, während er Reaver nun einen Gegenstand in die Handfläche drückte. »Ich mein’s ernst. Halt dich aus Sheoul raus.« Gleich darauf gesellte er sich zu Metatron, sodass sich Reaver Raphaels Gabe ansehen konnte.
Als er den rauen Kristall von der Größe einer Weinbeere in seiner Hand erblickte, stockte ihm der Atem. In den dreißig Jahren, die seine Erinnerung umfasste, hatte er nur einen einzigen zu Gesicht bekommen, und der befand sich in seinem Besitz, nachdem er ihn vor einigen Monaten Gethel abgenommen hatte.
Er fuhr mit dem Daumen über den sheoulghul, eine Vorrichtung, die es Engeln erlaubte, an Orten neue Kraft zu tanken, an denen es ihnen normalerweise nicht möglich war.
Wie Sheoul.
Aber warum sollte Raphael ihm so etwas geben? Wollte er etwa, dass Reaver Harvester rettete?
Wer hätte das gedacht. Waren Erzengel nicht voller Überraschungen? Reaver hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Kerl es leugnen würde, Reaver auf irgendeine Weise geholfen zu haben, aber vorerst war er gewillt, dies als ein Zeichen zu deuten.
Ein Zeichen, das auf direktem Wege in die Hölle wies.
Es war ein weitverbreiteter Irrglaube, dass die Hölle aus Feuer und Schwefel bestand; und wenn es auch sicherlich Gegenden gab, in denen sengende Hitze und fünfzig Stockwerke hohe Flammen vorherrschten, war Harvester fest davon überzeugt, dass die eisige Kälte sehr viel schlimmer war.
Doch das lag daran, dass sie sich in einer Folterkammer befand, deren schneesturmartige Atmosphäre ihr bei jedem Atemzug die Lungen gefrieren ließ. Nicht, dass es leicht gewesen wäre, überhaupt zu atmen, angesichts der Tatsache, dass sie mit dem Gesicht nach unten zwischen zwei Eisblöcken eingequetscht war.
Morgen würde sie vielleicht schon wieder im Feuer schmoren oder in eine Grube voller ausgehungerter Höllenhunde geworfen werden. Oder vielleicht auch auf einen dicken Pfahl aufgespießt, der dann in Satans Wohnzimmer aufgestellt wurde, wo jeder, der eintrat, mit ihr tun konnte, was ihm beliebte.
Und dies waren nur die angenehmsten von Tausenden von Szenarien, die auf sie warteten.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um Luft zu schöpfen, aber das bisschen Luft, das bis in ihre Lungen vordrang, schien aus winzigen Rasierklingen zu bestehen. Blut spritzte ihr aus Nase und Mund, das beinahe augenblicklich auf ihren Lippen und ihrer Haut gefror.
Ein stechendes Prickeln breitete sich in ihren Nackenmuskeln aus, die eigentlich steinhart gefroren hätten sein sollen; daher wusste sie, dass sie nicht länger allein war.
»Harvessster.« Venom, einer von Satans Foltermeistern, sprach sie mit seiner seidigen, zischenden Stimme an. Die schleppenden Schritte des gelbhäutigen Mistkerls näherten sich. »Esss issst Zzzeit, dich zzzu verlegen.«
Ein Schaudern überlief sie. Sie hoffte, er würde sie in eine Zelle verlegen, wo sie sich einige Stunden lang ausruhen könnte und etwas Nahrung bekäme, aber das passierte so selten, dass die Hoffnung einem Traum gleichkam. Höchstwahrscheinlich drohten ihr noch weitere Qualen.
»Ich wette, dasss dein Verlangen zzzu sterben auf einer Ssskala von einsss bisss einhundert schon fassst bei einhundert angekommen issst, hab ich recht?«
Einhundert? Wohl eher bei einer Million.
»Dein Vater wünscht dich zu sssehen.«
Nein. Oh … nein. Eine einzelne Träne bildete sich in ihrem Auge und gefror, ehe sie fallen konnte.
»Er gibt heute Abend ein Fessst. Du wirssst dasss Herzssstück auf ssseinem Tisch sssein. Welche Ehre.«
Vergib mir, dass mich das wenig begeistert, aber das letzte Mal war ich die Belustigung vor dem Abendessen, und dann war ich Teil der Mahlzeit.
»Du hassst auch einen Besssucher.«
Besucher?
Ein weiteres Prickeln gesellte sich zu dem ersten. Als eine weibliche Stimme die Kammer erfüllte, drehte sich ihr der Magen um. »Ach du meine Güte! Du siehst aber gar nicht gut aus.«
Gethel. Dieses verdammte Weibsstück. Der frühere Engel hatte den Himmel auf die schlimmste Art verraten, und wenn Harvesters Sinne sie nicht trogen, war sie jetzt auch noch mit einem von Harvesters Halbgeschwistern schwanger.
Daddy war fleißig gewesen.
»Ich wollte die Erste sein, die dir erzählt, dass ich Luzifer gebären werde.«
Wenn Harvester in der Lage gewesen wäre, sich zu übergeben, hätte sie es getan. Aber ihr zerquetschter Bauch war völlig leer. Luzifers Wiedergeburt würde Schockwellen durch den Himmel senden. Wahrhaftige Schockwellen, die Tod und Zerstörung verursachen konnten.
»Und da kommst du ins Spiel.« Gethel räusperte sich, als wollte sie eine Rede halten. »Er wird ausgewachsen sein, wenn er zur Welt kommt. Die Geburt wird mich selbstverständlich töten, aber ich werde einen glorreichen Tod sterben, meinst du nicht auch?«
Glorreich? Nein, aber mit ein bisschen Glück würde Gethel so viel Leid erfahren, wie sie verdiente.
»Du, Harvester, wirst ihn ernähren, wenn er auf der Welt ist. Anstelle von Milch wird er Blut benötigen. Und anstatt in den Armen seiner Mutter gewiegt zu werden, wird er zwischen deinen bereitwilligen Schenkeln liegen. Und wenn er erst einmal mit dir fertig ist, wird er alles vernichten, was dir lieb und teuer ist. Die Reiter. Ihre Kinder.« Ihre Stimme verwandelte sich in ein tiefes Knurren. »Reaver.«
In diesem Punkt irrte Gethel. Harvester lag überhaupt nichts an Reaver. Sie hasste ihn, und wenn sie ihn niemals wiedersehen würde, wäre das noch zu früh. Okay, ja, sie hatte sich immer heftig zu ihm hingezogen gefühlt und würde ihn auch sicherlich nicht von der Bettkante stoßen, selbst wenn er Knochen anstelle von Zahnstochern benutzen würde, aber trotzdem hasste sie ihn.
Seit dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal in Ares’ griechischer Villa begegnet waren, hatte er diese gegensätzlichen Gefühle in ihr ausgelöst. Er war als himmlische Wache der Reiter eingesetzt worden, kurz bevor Resephs Siegel brach und die apokalyptische Prophezeiung der Dämonenbibel in Gang setzte. Er hatte sich an Ares’ Strand geblitzt, und Harvester hatte ihm einen Blitz um die Ohren gehauen, noch ehe er sich vollständig materialisiert hatte.
»Wer bist du?« Harvester stand da, die Füße mit dem Sand verschmolzen, fassungslos angesichts ihrer Tat. Sie hatte seine Ankunft gespürt, und ihr Instinkt hatte sie veranlasst zuzuschlagen. Sicher, sie war immer schon dafür gewesen, erst zu schießen und später Fragen zu stellen, aber für gewöhnlich war sie nicht ganz so flott.
Der Neuankömmling schälte sich von einer der zahlreichen antiken Säulen ab, die verstreut über Ares’ Insel lagen; von seinem verkohlten T-Shirt stiegen kleine Rauchsäulen auf, und seine saphirblauen Augen glühten vor Wut. Mit einem Fingerschnippen erwiderte er das Feuer und traf sie mit einer Art unsichtbarem Vorschlaghammer mitten zwischen die Augen.
Vernichtender Schmerz zwang sie beinahe in die Knie. Dieser Mistkerl. Sie feuerte einen weiteren Blitz auf ihn ab, aber diesmal war er vorbereitet und wirbelte anmutig aus dem Weg.
»Hör endlich damit auf!«, schrie er. »Du bist Harvester, richtig?«
Sie blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Kann schon sein.« Verdammt, war der Kerl heiß! Im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Jeans rauchte immer noch.
»Ich bin Reaver, Gethels Ablösung.« Er schritt auf sie zu, und je näher er ihr kam, desto stärker wurde ihr Wunsch, ihn gleich noch mal zu grillen.
Irgendetwas an ihm machte sie stinksauer. Sie fragte sich, ob sie einander wohl früher schon einmal im Kampf begegnet waren. Es musste ein Kampf gewesen sein, denn an ein Treffen mit ihm allein hätte sie sich erinnert.
Oder an irgendetwas mit ihm allein.
Sie hob die Hand. »Entweder du bleibst auf der Stelle stehen, oder ich mache Chips aus dir.« Winzige Blitze tanzten zwischen ihren Fingern, die bereit waren, ihren Worten jederzeit Taten folgen zu lassen.
Er ignorierte ihre Warnung und trat unverfroren, ja geradezu aufreizend zwei weitere Schritte vor, ehe er, gerade noch außerhalb ihrer Reichweite, stehen blieb. »Warum hast du mich angegriffen?«
»Du bist ein Fremder.«
»Ein Fremder? Du machst Witze, oder? Schließlich habe ich mich nicht mit einem weißen Lieferwagen mit zugeklebten Scheiben und einem Lolly in der Hand hergebeamt.« Als er noch näher kam, verstärkte sie die elektrische Ladung in ihrer Hand. »Und du bist keine zwölf mehr. Also, warum hast du mich angegriffen?«
»Woher sollte ich denn wissen, dass du mich nicht angreifen wolltest? Schließlich tauchen hier nicht jeden Tag irgendwelche Engel aus dem Nichts auf, um mir einen schönen Tag zu wünschen.«
Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Versuch ja nicht noch einmal, dich mit mir anzulegen, Gefallene.«
Gefallene. Von all den Beleidigungen, die er ihr hätte um die Ohren hauen können, von allen bösartigen Beschimpfungen, wählte er die einzige, dir wirklich schmerzte. Die einzige, die sie traf wie ein Schlag in die Magengrube. All die anderen billigen Verunglimpfungen prallten an ihr ab, weil sie entweder lächerlich waren oder der Wahrheit entsprachen. Aber diese … Sie war in Ungnade gefallen, um höhergestellten Arschlöchern wie dem Engel, der hier vor ihr stand, zu helfen, und sie hatte es so satt, die scheinheilige Selbstgefälligkeit von Idioten wie ihm zu ertragen.
Also verpasste sie ihm eine weitere Ladung, sodass er gleich wieder auf seinem dummen Hintern landetet. Bei Gott, das fühlte sich gut an!
Sie lächelte kurz angesichts der Federn, die überall um sie herum herabschwebten, als ob hier gerade eine Kissenschlacht zwischen Teenager-Mädchen stattgefunden hätte, und sah dann zu, dass sie sich schnellstmöglich davonblitzte.
Also, ja, sie hasste ihn, hasste ihn noch mehr, einfach nur, weil sie ihn auf eine Weise begehrte, wie sie seit beinahe fünftausend Jahren niemanden mehr begehrt hatte.
Nicht seit Yenrieth, dem Engel, der ihr Herz erobert hatte. Und dann auf ihm herumgetrampelt war, ehe er auf geheimnisvolle Weise für immer verschwand – nicht nur aus sämtlichen Reichen, sondern auch aus sämtlichen Erinnerungen. Oh, Harvester erinnerte sich noch, welche Gefühle er in ihr hervorgerufen hatte, doch sein Gesicht war wie ausgelöscht. Er könnte glatt ein Ork mit dem Antlitz einer Kröte sein.
Der Klang schleifender Zahnräder und klirrender Ketten erfüllte die Höhle, und Gethel und ihr widerwärtiges Geschwätz waren vergessen. Als sich der riesige Eisblock erhob, nahm Harvester den ersten vollen Atemzug seit … Tagen? Ihre Lungen füllten sich mit entsetzlich kalter Luft, und der Schmerz entfesselte einen Sturm der Todesqualen in ihr.
Dann setzte der wahre Schmerz ein, als zusammen mit dem Eisblock eine Hautschicht von ihrem Körper abgeschält wurde. Unfähig, durch ihre gefrorene Kehle zu schreien, kreischte sie in ihrem Kopf, bis ihr Schädel zu explodieren drohte.
Der Block schaukelte nun über ihr, während sie zerquetscht liegen blieb, von den Knöcheln bis zum Nacken ohne Haut und unfähig, sich zu bewegen. Venom schlang ihr eine rasiermesserscharfe Kette um die Knöchel.
Gethel trat vor Harvester, sodass ihr mit Rüschen besetztes rotes Umstandsoberteil ihr gesamtes Blickfeld ausfüllte. Hilflos sah Harvester zu, als diese Engelsschlampe ihr das Handgelenk mit einem stumpfen Messer aufschnitt und dann einen Kristallkelch darunter hielt, um das Blut aufzufangen.
Harvesters Kopf drehte sich in unerträglich langsamen Kreisen. Endlich nahm Gethel den Kelch fort und ließ Harvester in eine Rinne im Fußboden bluten. Nicht, dass es etwas Neues wäre, auf den Fußboden zu bluten.
Dann hockte sich Gethel neben sie und setzte den Kelch an ihre Lippen. »Luzifer wird sich selbst von dir nähren, sobald er auf der Welt ist, aber du kannst ihn genauso gut auch schon jetzt füttern. Bei jedem Schluck wird der Himmel erbeben. Ihr beide habt ja schließlich die besten Verbindungen.«
Dieses durchgeknallte Miststück. Die einzige Person, mit der sich Harvester verbunden fühlte, war Yenrieth, und das war gar nicht gut ausgegangen.
»Gib mir deine Hand.«
Verrine zögerte nicht, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was Yenrieth mit der zeremoniellen Klinge vorhatte. Sie vertraute ihm, und sie mochte es besonders, wenn er sie berührte.
Ganz sanft drehte er ihre Hand um und legte die Spitze des silbernen Messers auf die Haut unter ihrem Daumen.
»Ich werde eine Verbindung zwischen uns schaffen, die bis in alle Ewigkeit Bestand hat.«
Sie zuckte zusammen. »Das ist verboten«, keuchte sie. »Nur Kampfengel, die in einer Partnerschaft leben, dürfen das tun.«
»Ich bin ein Kampfengel.«
»Aber ich nicht. Und wir leben auch nicht in einer Partnerschaft.« Nicht, dass sie sich nicht mit ihm vereinigen würde, sollte er sie fragen. Aber in diesem Augenblick schlug er etwas vor, das ganz und gar gegen die Regeln verstieß. Mit rasendem Herzen entriss sie ihm ihre Hand. »Wir werden bestraft werden.«
»Nicht, wenn wir es niemandem sagen.« Er legte die Klinge an seine Handfläche und führte einen langsamen, oberflächlichen Schnitt von der Wurzel seines kleinen Fingers bis zum Daumenballen. »Wir müssen das tun. Den Grund dafür kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass es eines Tages einen Sinn ergeben wird.«
Verrine drehte sich der Magen um. Yenrieth hatte immer schon gewisse Dinge gewusst, und er hatte immer recht gehabt, darum stellte sie weder seine Absichten noch sein Urteilsvermögen infrage. Aber hier ging es um ein ernsthaftes Vergehen unter Engeln. Ganz zu schweigen davon, dass er damit eine dauerhafte Bindung zwischen ihnen schaffen würde, und nachdem Engel unsterblich waren, nahmen sie so einen Akt nicht auf die leichte Schulter. Nicht einmal, wenn man die Person, die einen bat, diesen Bund einzugehen, seit der ersten Unterrichtsstunde über die Grundlagen der Dämonenjagd liebte. Dennoch streckte sie die Hand aus. Gestattete es ihm, ihrer Handfläche den gleichen Schnitt wie seiner zuzufügen. Der Schmerz verging rasch wieder, in dem Moment, in dem seine Finger sich mit ihren verflochten. Ihr Blut vereinigte sich, und Verrine verlor sich in einem Moment solch reiner Wonne, dass sie angesichts seiner Herrlichkeit nur ein Stöhnen ausstoßen konnte.
»Wir sind verbunden«, flüsterte er. »Wir werden einander nun immer finden können, ganz gleich, wo im Universum wir uns befinden.«
Aber er hatte sich geirrt. An dem Tag, an dem er aus dem Himmel und den Erinnerungen verschwand, hatte sie die Fähigkeit verloren, ihn zu spüren. Es war, als ob er nie existiert hätte. Sie hatte jahrelang nach ihm gesucht, hatte sich unbeliebt gemacht, indem sie alle mit Fragen gelöchert hatte, von denen sie geglaubt hatte, dass sie Antworten haben könnten, aber sie hatte nichts erreicht. Nicht einmal die Erzengel hatten ihr eine Erklärung geboten.
Vermutlich konnte die Tatsache, dass sich niemand an Yenrieth erinnerte, den Grund dafür erklären, aber irgendjemand musste doch etwas wissen. Sie hatte die Suche erst aufgegeben, als sie ihre Flügel verloren hatte und nach Sheoul gegangen war, aber das bedeutete nicht, dass sie sich nicht manchmal noch fragte, was wohl mit ihm passiert war.
Gethel leerte den Kelch. Harvester hätte schwören können, dass jetzt eine Aura der Macht um sie herum pulsierte, so ölig und schwarz wie eine Pfütze Teergift im Knochenreich Sheouls. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und seufzte zufrieden.
»Dann bis zum Abendessen«, verabschiedete sich Gethel fröhlich.
Harvester hoffte, dass Gethel wenigstens unter Morgenübelkeit zu leiden hatte. Den ganzen Tag über.
Gethel machte sich davon, als Venom an der Kette riss, die er an Harvesters Fußknöcheln befestigt hatte. Sie glitt von dem unteren Block, während sie eine weitere Hautschicht verlor. Zumindest bewahrte dieser Schmerz sie davor, die Landung auf dem Boden zu spüren.
Harvester fühlte, wie sie über unebenen, felsigen Boden gezerrt wurde. Während ihr Körper auftaute, wuchsen ihre Schmerzen sogar noch weiter an.
Zum zehnmillionsten Mal spielte sie den Moment noch einmal ab, der sich vor Tausenden von Jahren ereignet hatte, als sie vor drei Erzengeln gestanden und gesagt hatte: »Ich will, dass ihr mich aus dem Himmel werft, damit ich Sheoul als Spionin infiltrieren und mir den Posten als Wache der Reiter verdienen kann. Dann könnte ich daran arbeiten, die dämonische Version der Apokalypse zu verhindern.«
Die Erzengel hatten sich halb tot gelacht, bis sie gemerkt hatten, dass es ihr ernst war. Raphael hatte einen ausgewachsenen Erzengelwutanfall bekommen, den die Menschen als Staubsturm erdulden mussten, der durch das Heilige Land fegte. Dann hatten Metatron und Uriel ebenfalls den Versuch gemacht, ihr ihren Plan auszureden, auch wenn sie ihr zugestimmt hatten, dass es der größte Coup in der Geschichte des Himmels sein würde, sollte er funktionieren. Sollte sie versagen, würde sie allerdings auch leiden, wie es noch nie ein Engel vor ihr getan hatte.
Wie sich herausstellte, hatte sie Erfolg gehabt … und trotzdem litt sie, wie noch nie ein Engel gelitten hatte.
»Heute Abend wird der Dunkle Herrscher dich brechen.« Venom ließ die Kette fallen, hockte sich neben sie und packte ihr Gesicht mit seinen schuppigen Händen. »Du wirssst ihm verraten, wie viel der Himmel über deine Taten wussste.«
»Gar nichts«, krächzte sie. »Ich schwöre es.« Die Lüge fiel ihr leicht; zweifellos war das auch der Grund, warum Satan ihr nicht glaubte. Nach Tausenden von Jahren des Lebens in Sheoul war nicht mehr viel von dem Engel übrig, der sie einst gewesen war, was vieles erleichterte. Lügen. Zerstören. Töten.
Sie hatte sich immer nur eines gewünscht: gut zu sein. Was für eine Ironie, dass sie hatte böse werden müssen, um Gutes zu tun. Sie war gezwungen gewesen, jeden, an dem ihr etwas gelegen hatte, dazu zu bringen, sie zu hassen. Sie hatte alles verlieren müssen, von ihrem Selbstrespekt über ihre Schwingen bis zu ihren Träumen von Freunden und einer Familie mit Yenrieth, der einzigen Person, die sie je geliebt hatte.
Das Einzige, was ihr geblieben war, war ihr Wissen, und das war etwas, an dem sie bis zu ihrem letzten Atemzug festhalten würde.
Das Leben, wie sie es gekannt hatte, war vorüber, aber sie konnte immer noch Gutes tun. Dazu musste sie nur den Mund halten, während sie eine Ewigkeit der Folter über sich ergehen ließ.
Reaver stand kurz davor, sich blindlings in ein tollkühnes Abenteuer zu stürzen, aus dem er vermutlich nicht wieder zurückkehren würde. »Ich schätze, jetzt kann man mit Fug und Recht behaupten, dass ich ein –«
»Verdammter Idiot bin.«
Reaver starrte Eidolon an, den Oberarzt des Underworld General Hospital. »Ich ziehe den Ausdruck ›Narr‹ vor. Außerdem würde nur ein verdammter Idiot einen Engel einen verdammten Idioten nennen.«
Der Dämonenarzt starrte zurück; in seinen dunklen Augen glitzerten goldene Tupfen. »Ein Narr würde höchstens darüber nachdenken, die Hölle ohne einen Plan zu betreten. Nur ein verdammter Idiot würde ernsthaft in Erwägung ziehen, einfach so in das Wohnzimmer des Höllenfürsten zu schlendern, um sein kleines Mädchen zu entführen. Und das ganz ohne Plan.«
Harvester war kein kleines Mädchen, aber der Arzt hatte nicht unrecht. Reaver hatte in den Jahrtausenden seines Lebens schon viele verrückte, dumme Dinge getan, hatte mehr Regeln gebrochen, als er zählen konnte. Doch einen Befehl der Erzengel zu missachten, um einen gefallenen Engel zu retten, der zufällig Satans Tochter war, war schlimmer als all die anderen gebrochenen Regeln zusammen.
Na ja, es war wohl auf einem Level mit seiner Großtat von vor fünftausend Jahren, als er Lilith, die Königin der Sukkuben, geschwängert hatte und Vater der vier apokalyptischen Reiter geworden war. Dafür wurde er immer noch bestraft.
Sollte Reaver dieses irre Vorhaben tatsächlich durchziehen, würde er sich glücklich schätzen können, wenn er nur seine Flügel verlöre. Immer vorausgesetzt, er würde überleben, um seine Flügel überhaupt verlieren zu können.
»Ich habe durchaus einen Plan«, murmelte er.
Eidolon stellte ein Tablett voller chirurgischer Instrumente neben den Untersuchungstisch, auf dem Reaver saß, in dem provisorischen Zelt auf dem Parkplatz des Underworld General. Als Engel war Reaver nicht in der Lage, das Krankenhaus zu betreten; darum hatte er Glück, dass dieses Zelt aufgestellt worden war, um mit der neuesten Zunahme der Patientenzahl fertig zu werden.
»Und wie sieht der aus?«, fragte Eidolon.
»Ähm … also, in erster Linie geht es darum, sich hinein- und wieder hinauszuschleichen.«
Wraith, Eidolons blonder, blauäugiger Bruder, schnaubte. »Weil du ja so unauffällig bist.« Reaver konnte nicht glauben, dass diese Worte aus Wraiths Mund kamen. Ausgerechnet Wraith, der ungefähr so unauffällig wie ein Flugzeugabsturz war. Mr Unauffällig stieß sich von dem Träger ab, gegen den er sich gelehnt hatte. »Und was springt dabei für dich raus?«
»Die persönliche Genugtuung zu wissen, dass ich, sollte alles gut gehen, eine himmlische Katastrophe verhindern werde.«
Wraith nagelte ihn mit seinem gerissenen Blick fest. Reaver erfasste augenblicklich, dass der Dämon ihm seinen Grund nicht abnahm.
Aber Mr Unauffällig war außerdem auch Mr Eigenwillig. Anstatt Reaver zur Rede zu stellen, zuckte er mit den Schultern. »Ich komme mit.«
»Sosehr ich deine Hilfe auch schätze, leider weiß jeder in der Unterwelt, wer du bist.« Reaver sah den Seminus-Dämon – eine seltene Inkubus-Spezies mit menschlichem Aussehen – mit hochgezogener Augenbraue an. »Und wo du bist, gibt es Ärger.«
»Hey!« Wraith besaß ein besonderes Talent dafür, den Gekränkten zu geben. »Ich hab die Welt gerettet. Und dabei geholfen, sie so ungefähr eine Million Mal zu retten.«
»Ich liebe es, wie er es so klingen lässt, als ob wir anderen auf unseren Ärschen gesessen und Bier getrunken hätten, während er den Planeten gerettet hat.« Eidolon kreuzte die muskulösen Arme vor der Brust. Sein Dermoire – eine tattooähnliche Darstellung der Herkunft väterlicherseits, das jeder Seminus-Dämon trug – auf dem rechten Arm harmonierte mit seinem schwarzen Arztkittel.
»Wissen die Reiter eigentlich von deinem dämlichen Nichtplan?«, fragte Wraith.
Reaver versteifte sich. »Nein.« Er warf jedem von ihnen einen vielsagenden Blick zu. Sin, die einzige Schwester der Dämonenbrüder, verdrehte die dunklen Augen. »Und ich vertraue darauf, dass ihr es ihnen nicht erzählt.«
Wie erwartet nickte Eidolon respektvoll, wenn auch widerwillig, genau wie Sin, aber Wraith konnte es einem einfach niemals leicht machen.
»Warum nicht?«, fragte er. »Sie sind die mächtigsten Wesen auf der ganzen Erde. Und du bist ihr Papi. Sie werden dir helfen wollen.«
»Genau darum dürfen sie es nicht wissen«, sagte Reaver. »Wenn sie wüssten, was ich vorhabe, würden sie entweder versuchen, mich aufzuhalten oder mir zu helfen. So oder so gibt es keine Macht auf Erden, die sie aufhalten kann, wenn sie sich erst einmal etwas in den kollektiven Kopf gesetzt haben. Aber es gibt Mächte im Himmel, die dazu in der Lage sind, und diese Mächte würden alles tun, um sie davon abzuhalten, Harvester zu befreien, und sie würden auch nicht davor zurückschrecken, ihren Gefährten und Kindern wehzutun.«
Außerdem hatten sie in den letzten Jahren wahrhaftig genug durchgemacht. Es war Zeit, dass sie einmal das Leben mit ihren neuen Familien genossen.
»Dann lass uns helfen«, sagte Sin. »Auf Wraiths kleinen Dummkopf zeigt ein Neonpfeil, aber uns andere werden deine himmlischen Tyrannen nicht erkennen.«
»Du wärst überrascht. Aber nein, ich werde keinen von euch einem Risiko aussetzen.« Er hielt eine Hand in die Höhe, um Wraith davon abzuhalten, das zu sagen, von dem Reaver wusste, dass er es sagen würde. »Ich weiß, dass dein Segen dich vor den meisten Gefahren in Sheoul bewahren wird, aber wenn herauskommt, dass einer von euch mir geholfen hat, wird das Underworld General selbst ein Ziel für Satans Lakaien darstellen.«
»Ich sage es ja nur äußerst ungern«, sagte Eidolon, während er sich Handschuhe überzog, »aber genau das werde ich jetzt tun: dir helfen. Zieh dich aus.«
Reaver knöpfte sein Hemd auf. »Du weißt, was ich meine.«
Eidolon forderte Wraith mit einer Geste auf, ihm eine Glasphiole zuzuwerfen. Die winzigen Objekte darin klirrten, als der Behälter in Eidolons Hand landete.
»Für die hier musste ich drei Streicher umlegen, also geh gut damit um.«
»Drei?«, fragte Reaver. »Ich brauchte doch nur zwei Streicher-Schilddrüsen. Eine für jeden Flügel.«
Wraith in seinem zerlumpten Ledermantel zuckte mit den Schultern. »Der dritte Streicher hat versucht, meine Gefährtin zu enthaupten.«
Ja klar, das hätte der Kerl lieber nicht tun sollen. Wraith war wie alle fünf Seminus-Geschwister seiner Gefährtin und seinem Nachwuchs gegenüber extrem beschützend.
Eidolon nahm Reavers Hemd und warf es Sin zu. »Das wird jetzt ein bisschen wehtun. Oder … schrecklich wehtun.«
Bei Engeln funktionierte eine örtliche Betäubung nicht besonders gut. War ja klar.
»Man sollte nicht meinen, dass Engel solche Heulbabys sind«, bemerkte Wraith.
»Ich halt das aus«, erwiderte Reaver. »So schlimm kann’s ja nicht sein.«
Eidolon tupfte den Ansatz von Reavers Flügeln mit Alkohol ab. »Ich werde dir gleich zwei Drüsensäcke voll konzentriertem Bösen in deine Flügel injizieren. Stell dir vor, jemand bohrt ein Loch in deinen Körper und lässt die Bohrerspitzen drin.«
Ja, das würde wohl nicht so toll werden. Aber wenn er seine »Engelhaftigkeit«, wie Sin es gern ausdrückte, nicht verbarg, würde Reaver jeden Dämon in ganz Sheoul anziehen. Innerhalb eines Tages wäre er tot, sobald seine himmlische Energie verbraucht wäre.
»Also, wenn wir nicht helfen können, warum hast du mich gebeten, dich hier zu treffen?«, fragte Sin.
»Weil du mir einen Gefallen tun könntest. Du hast doch früher eine Assassinenhöhle geleitet. Hast du immer noch Verbindungen zu dem gegenwärtigen Assassinenmeister deiner alten Höhle?«
»Kann schon sein.« Sin spielte mit dem langen, schwarzen Zopf, der ihr über die Schulter fiel. »Warum?«
»Die meisten Höllentore in Sheoul kann ich nicht benutzen, und meine Fähigkeit, mich zu blitzen, ist dort eingeschränkt. Ich brauche einen Führer, um mich rein- und wieder rauszubringen.«
Reaver hasste es, einen Führer zu benötigen, aber bei dieser speziellen Mission brauchte er sämtliche Hilfe, die er kriegen konnte. Ein zusätzlicher Vorteil bestand darin, dass Assassinen geübte Kämpfer waren. Falls Sin das arrangieren könnte, würde Reaver also seine eigene Sheoul-Sondereinheit kommandieren. Raphael und Metatron sollten sich die Heerschar Engel, um die er sie gebeten hatte, sonst wohin stecken.
»Wahrscheinlich kann ich Tavin kriegen. Der war schon überall. Und solange du nur bezahlst, kann man ihm nicht vorwerfen, einem Engel dabei zu helfen, die Hölle zu infiltrieren.«
Ausgezeichnet. Tavin hatte vor einiger Zeit entscheidend dabei geholfen, das Leben von Limos’ Ehemann zu retten. Allerdings hatte er dann ein paar Tage später versucht, Arik umzubringen, aber trotzdem könnte Reaver es schlechter treffen, als Tavin in seinem Team zu haben, was Dämonenassassinen betraf.
»Außerdem werde ich jemanden brauchen, der Harvester nähren kann. Sie wird Blut trinken müssen, damit ihr wieder Flügel wachsen.« Satan hatte ihr die Flügel sicherlich auf der Stelle entfernen lassen, da diese die Energiequelle eines Engels waren. Ohne sie konnte sich kein Engel, sei er ein Gefallener oder nicht, an einen anderen Ort blitzen, und seine Fähigkeit zu kämpfen war extrem eingeschränkt. »Und hast du vielleicht jemanden, der mit der B’lal-Region Sheoul vertraut ist?«
Sin schüttelte den Kopf. »Niemand ist mit Satans persönlichem Spielplatz vertraut, bis auf seinen inneren Kreis. Und tote Leute. Aber ich kenne einen Nachtstreich-Dämon, der immerhin bis zu den Bergen des ewigen Leidens gekommen ist. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich dir einen Werwolfassassinen beschaffen kann, dem es gefällt, wenn sich jemand von ihm nährt.«
Reaver sah zu den Ketten empor, die sich über die Zeltdecke erstreckten, ehe er sich wieder ihr zuwandte. »Wie viel wird mich das kosten?«
Sie schien darüber nachzudenken. »Einen Penny für jeden Assassinen«, zwitscherte sie. »Und einen Gefallen.«
»Was für einen Gefallen?« Er starrte sie eisig an.
»Ich weiß noch nicht. Das könnte alles sein.« Sie blinzelte zurück. »Was? Ich bin eine Söldnerin. Und eine Dämonin. Gegen meinen Instinkt komme ich nicht an.«
Wraith grinste. »Wir könnten glatt Zwillinge sein.«
Eidolon murmelte etwas vor sich hin, während er seine behandschuhten Finger fest auf die Basis der Flügelanker presste. »Reaver, du musst jetzt tief einatmen. Und du darfst nicht zucken oder deine Flügel beschwören.«
Engel »beschworen« ihre Flügel nicht, aber angesichts der Tatsache, dass der Dämon gerade ein Skalpell in der Hand hielt, wäre es dumm gewesen, Eidolon daran zu erinnern, dass Flügel sich in eine Flüssigkeit verwandelten und sich unter die Haut des Rückens zurückzogen, wenn sie nicht gebraucht wurden.
»Ich bin härter im Nehmen, als Wraith glaubt – heilige Scheiße!«
Schmerz bohrte sich tief in Reavers Rücken, ließ seine Wirbelsäule explodieren und ballerte ihm die Fähigkeit, zu sehen, zu hören oder zu denken, aus dem Schädel.
Er fühlte Hände auf seinen Schultern, als jemand ihn von vorne stützte. Eine weitere Schmerzwelle überflutete ihn. E, der die zweite Drüse konzentrierter Bösartigkeit injizierte. Reaver wäre kopfüber gestürzt, wenn ihn nicht jemand aufrecht gehalten hätte.
Jemand anders nahm eine seiner Hände. Sin. Ihre kleinen Handflächen umfassten seine Hand und drückten sanft zu. Während der Schmerz nach und nach zurückging, kehrte seine Sehkraft zurück. Der Umriss von Wraiths riesigem Körper tauchte hinter verschwommenen Wellen grauen Nebels auf.
Es hatte eine Zeit gegeben, vor vielen Jahren, da Reavers Meinung über diese Dämonen alles andere als gut gewesen war. Als ausgestoßener Engel, der beim Krankenhaus beschäftigt gewesen war, war Reaver bis ins Innerste von Bitterkeit und Selbstmitleid erfüllt gewesen. Er war dazu geschaffen, gegen Dämonen zu kämpfen, und stattdessen arbeitete er nun mit ihnen zusammen. Heilte sie.
Mittlerweile waren diese Semini zu seiner Familie geworden, was noch bizarrer war, da er inzwischen wieder zum vollständigen Engel befördert worden war.
»Fertig.« Eidolons Finger strichen besänftigend über die bilateralen Inzisionen, die er unter Reavers Schulterblättern vorgenommen hatte. »Die Streicherdrüsen werden ab sofort nach und nach Hormone abgeben, die deine Engelssignatur maskieren, aber die Uhr tickt. Du hast maximal dreißig Tage, ehe es vorbei ist. Noch weniger, wenn du in Teile von Sheoul gelangst, in denen die Zeit schneller vergeht als hier.« Eidolon ging um Reaver herum, sodass er vor ihm stand, und warf seine Handschuhe in den Müll. »Es könnte eine geringfügige Nebenwirkung geben.«
Das hörte sich für Reaver gar nicht gut an. »Nebenwirkung?«
»Streicherdrüsen sind auf dem Schwarzmarkt der Unterwelt heiß begehrt, da sie die Kräfte einiger Spezies verstärken können. Da du ein Engel bist, ist es möglich, dass sich der Effekt bei dir ins Gegenteil verkehrt. Das könnte dazu führen, dass deine Kräfte sich entweder verändern oder sehr rasch nachlassen.«
Perfekt. Als ob seine Aussichten nicht sowieso schon schlecht genug wären.
»Bist du sicher, dass wir nicht mit dir kommen können?«, fragte Sin.
»Ich bin sicher. Aber, E? Möglicherweise brauche ich einen Job, wenn ich meine Flügel verliere.«
Das war nur zum Teil ein Scherz, wie Eidolon wohl wusste. »Du hast hier immer einen Platz«, sagte Eidolon feierlich. »Das weißt du.«
»Viel Glück, Mann.« Wraith klopfte ihm auf die Schultern. »Für einen Engel bist du gar nicht übel.«