Demonica - Revenant - Larissa Ione - E-Book

Demonica - Revenant E-Book

Larissa Ione

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Beschreibung

Fünftausend Jahre lang hielt Revenant sich für den einzigen gefallenen Engel, der keine Erlösung erfahren kann. Bis er herausfindet, dass er einen Zwillingsbruder hat, dem all die Liebe zuteil wurde, die Revenant nie gekannt hat. Er schwört Rache, doch dann begegnet ihm die schöne Blaspheme, die der Spross einer verbotenen Verbindung zwischen einem Engel und einem gefallenen Engel ist. Revenant erkennt, dass sie für ihn die Erlösung sein kann. Doch Blaspheme wurde jahrelang von den Kräften des Himmels und der Hölle gejagt. Kann sie Revenant vertrauen?

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungDanksagungenBegriffserläuterungen12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334Die AutorinDie Romane von Larissa Ione bei LYXImpressum

LARISSA IONE

Demonica

Revenant

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bettina Oder

Zu diesem Buch

Jahrtausendelang hielt Revenant sich für einen gefallenen Engel, der nie Erlösung erfahren kann. Bis er herausfand, dass dies eine Lüge war – er ist nicht nur ein Engel, sondern hat auch einen Zwillingsbruder, der im Himmel aufwuchs und dem all die Liebe zuteilwurde, die Revenant nie gekannt hat. Hin- und hergerissen zwischen Licht und Finsternis, weiß er auf einmal nicht mehr, was und wer er ist. Er sehnt sich danach, den Klauen Satans zu entkommen, dem er seit Äonen dienen musste, doch der Himmel will nichts von ihm wissen. Die Erlösung scheint genauso unerreichbar wie zuvor, doch dann begegnet ihm die schöne Blaspheme, die ein ungeahntes Verlangen in ihm entfacht. Er erkennt, dass sie der Schlüssel zu seiner Freiheit sein könnte. Aber Blaspheme vertraut niemandem. Als Kind eines gefallenen und eines himmlischen Engels ist sie eine Gejagte – und ihre Feinde sind ihr dicht auf der Spur. Sich mit einem von Satans Dienern einzulassen, ist das Letzte, was sie braucht – ganz gleich, wie sehr Revenant ihr Blut in Wallung bringt. Aber es steht viel mehr auf dem Spiel als ihrer beider Leben: In den Tiefen der Hölle steht die Wiedergeburt Luzifers bevor, der an der Seite des Höllenfürsten ein neues Armageddon heraufbeschwören könnte …

Für meine Leser und Leserinnen. Dieser Weg war wild und aufregend, und ich möchte euch dafür danken, dass ihr ihn mit mir zusammen gegangen seid. Ihr seid genauso ein Teil der Demonica-Welt wie die Figuren, die darin leben. Also auf euch, meine Freunde! Ihr seid bis zum Ende an meiner Seite geblieben.

… aber ist es wirklich schon das Ende?

Danksagungen

Danke. Manchmal reicht dieses eine Wort einfach nicht aus, aber ich muss es zumindest versuchen.

Die Demonica- und Eternal Rider-Bücher zu schreiben, bedeutet für mich, dass ein Traum in Erfüllung gegangen ist, und ohne Roberta Brown, die den genialen Einfall hatte, Tödliche Verlockung an Melanie Murray bei Grand Central Publishing zu schicken, wäre das nie passiert. Roberta und Melanie, ich danke euch dafür, das Risiko einzugehen, euch auf eine Idee für eine Reihe einzulassen, die euch damals völlig verrückt vorgekommen sein muss.

Amy Pierpoint, hättest du, als du mich als Autorin mit Entfesselt unter deine Fittiche nahmst, gedacht, dass wir uns am Ende mit Höllenhunden, Erzengeln und den verdammten apokalyptischen Reitern rumschlagen würden? Nein, ich auch nicht. Danke, dass du mir dabei geholfen hast, immer besser zu werden, und mir jeden Tropfen schreiberischen Talents abgerungen hast, wenn auch manchmal unter heftigstem Protest meinerseits … Ernsthaft – vielen Dank. Wir sind ein tolles Team.

Apropos Teamwork – ich möchte an dieser Stelle gern jeden würdigen, der in den vergangenen Jahren mit mir daran gearbeitet hat, diese Reihe zum Erfolg zu führen: Irene Goodman, Melissa Bullock, Alex Logan, Anna Balasi, Lauren Plude, Claire Brown, Madeleine Colavita, Jessica Bromberg, Marissa Sangiacomo, Jodi Rosoff, Leah Hultenschmidt, Kim Whalen. Ich weiß, sicherlich habe ich noch jemanden vergessen, vermutlich sogar mehrere, und deshalb geht einfach ein riesengroßes Dankeschön an Menschen bei Hachette. Ihr bedeutet für mich die Unterwelt.

Und schließlich stehe ich noch tief in der Schuld meiner Familie und Freunde, die sich allesamt damit abfinden, dass ich mehr Zeit in der Demonica-Welt als in der wahren Welt verbringe. Ohne eure Unterstützung hätte ich es nicht schaffen können. Haltet auch weiterhin zu mir, denn ich verspreche euch, dass dieser Weg noch längst nicht vorbei ist!

Begriffserläuterungen

Agimortus – Auslöser für das Brechen der Siegel der Reiter. Ein Agimortus kann als ein Symbol bezeichnet werden, das auf eine Person oder ein Objekt eingeprägt oder eingebrannt wurde. Bislang wurden drei Arten von Agimorti identifiziert; sie können die Gestalt einer Person, eines Gegenstandes oder eines Ereignisses annehmen.

Daemonica – Die Dämonenbibel und Grundlage von Dutzenden dämonischer Religionen. Einst glaubte man, dass ihre Prophezeiungen bezüglich der Apokalypse – sollten sie denn zutreffen – gewährleisten würden, dass die vier apokalyptischen Reiter auf der Seite des Bösen kämpfen würden. Allerdings haben in jüngster Zeit Ereignisse in den drei Reichen Himmel, Sheoul und Erde dafür gesorgt, dass die Prophezeiungen zum Weltuntergang der Daemonica nur noch von wissenschaftlichem Interesse sind.

Dermoire – Jeder Seminus-Dämon trägt auf dem rechten Arm ein Dermoire, das von der Hand bis zur Kehle reicht und aus Glyphen besteht, die die Geschichte seiner Vorväter darstellt. Die persönliche Glyphe eines jeden Individuums befindet sich am oberen Ende des Dermoires, am Hals.

Emim – Die flügellosen Nachkommen zweier gefallener Engel. Emim verfügen über viele Kräfte gefallener Engel, auch wenn ihre Kräfte schwächer und von begrenztem Umfang sind.

Gefallener Engel – Die meisten Menschen halten gefallene Engel grundsätzlich für böse; allerdings kann man sie in zwei Kategorien unterteilen: wahre Gefallene und Ausgestoßene. Ausgestoßene Engel wurden aus dem Himmel verbannt und leben, an die Erde gefesselt, ein Leben, das weder wahrhaftig gut noch wahrhaftig böse ist. In diesem Zustand ist es ihnen möglich, wenn dies auch nur äußerst selten geschieht, sich die Wiederaufnahme in den Himmel zu verdienen. Oder aber sie wählen das Dämonenreich, Sheoul. Indem sie Sheoul betreten, vervollständigen sie ihren Fall und werden zu wahren Gefallenen, die ihren Platz als Dämonen an Satans Seite einnehmen.

Höllentore – Vertikale Portale, die für Menschen unsichtbar sind und die Dämonen dazu benutzen, um zwischen Orten auf der Erde und Sheoul hin und her zu reisen.

Radianten – Die mächtigste Klasse himmlischer Engel, die existiert, abgesehen von Metatron. Im Gegensatz zu anderen Engeln verfügen Radianten über unbegrenzte Macht in allen Reichen und sind in der Lage, nach Belieben durch Sheoul zu reisen, mit sehr wenigen Ausnahmen. Diese Bezeichnung erhält jeweils immer nur ein Engel. Es können niemals zwei von ihnen gleichzeitig existieren, und sie können nicht ausgelöscht werden, außer durch Gott oder Satan. Das Äquivalent unter den gefallenen Engeln wird Schattenengel genannt. Siehe: Schattenengel.

Rat – Sämtliche Spezies und Rassen von Dämonen werden von einem Rat regiert, der Gesetze erlässt und individuelle Mitglieder seiner Spezies und Rasse bestraft.

Schattenengel: Die mächtigste Klasse gefallener Engel, die existiert, abgesehen von Satan und Luzifer. Im Gegensatz zu anderen gefallenen Engeln verfügen Schattenengel über unbegrenzte Macht in allen Reichen und besitzen die Fähigkeit, sich Zutritt zum Himmel zu verschaffen. Diese Bezeichnung erhält immer nur ein Engel, und sie können niemals ohne ihr Äquivalent, einen Radianten, existieren. Schattenengel können nur von Gott oder Satan ausgelöscht werden. Das himmlische Äquivalent wird Radiant genannt. Siehe: Radiant.

Sheoul – Dämonenreich, tief in den Eingeweiden der Erde gelegen; nur durch Höllentore zu erreichen.

Sheoul-gra – Eine Art Aufbewahrungsbecken für Dämonenseelen. Ein Reich, das unabhängig von Sheoul existiert; es wird von Azagoth regiert, der auch als Sensenmann bekannt ist. Innerhalb von Sheoul-gra befindet sich das Allerheiligste, wo Dämonenseelen in einem qualvollen Schwebezustand warten müssen, bis sie wiedergeboren werden können.

Sheoulisch – Universelle Dämonensprache, die alle Dämonen beherrschen, auch wenn die meisten Spezies darüber hinaus ihre eigene Sprache besitzen.

Ter’taceo – Dämonen, die sich als Menschen ausgeben können, entweder weil ihre Spezies von Natur aus dem Menschen ähnelt, oder weil sie menschliche Gestalt annehmen können.

Ufelskala – Ein Bewertungssystem für Dämonen, das auf deren Grad von Bösartigkeit basiert. Sämtliche übernatürlichen Kreaturen und schlechten Menschen können in einen der fünf Ränge eingestuft werden, wobei die fünfte Stufe die Schlimmsten der Schlimmen enthält.

Vyrm – Die geflügelten Nachkommen eines Engels und eines gefallenen Engels. Vyrm sind mächtiger als Emim und besitzen zudem eine Fähigkeit, die ihre bloße Existenz zu einer Bedrohung für Engel und gefallene Engel gleichermaßen macht. Nur durch Augenkontakt, der nicht länger als eine Sekunde dauern muss, kann ein Vyrm die gesamte unmittelbare Familie eines Engels oder gefallenen Engels auslöschen. Vyrm gelten als extrem gefährlich und werden, genau wie ihre Eltern, erbarmungslos gejagt.

Wachen – Individuen, denen die Aufgabe zugeteilt wurde, ein Auge auf die vier apokalyptischen Reiter zu haben. Ein Abschnitt der Übereinkunft, die während der ursprünglichen Verhandlungen zwischen Engeln und Dämonen geschmiedet wurde, die dazu führte, dass Ares, Reseph, Limos und Thanatos dazu verflucht wurden, als Speerspitze der Apokalypse zu dienen, legt fest, dass einer von ihnen ein Engel und der andere ein gefallener Engel ist. Keiner der Wachen ist es gestattet, die Bestrebungen eines der Reiter, Armageddon auszulösen oder aber abzuwenden, direkt zu unterstützen, allerdings sind sie in der Lage, hinter den Kulissen einzugreifen. Doch wenn sie dies tun, bewegen sie sich auf einem sehr feinen Grat, von dem abzukommen sich als verhängnisvoll erweisen könnte.

1

Der gefallene Engel Revenant war vollkommen im Arsch.

Augenblick mal … von wegen gefallen. Er hatte nur geglaubt, ein gefallener Engel zu sein.

Und das verdammte fünftausend Jahre lang.

Aber er war auch kein Engel. Theoretisch vielleicht, aber wie könnte man jemanden, der in Sheoul – dem Dämonenreich, das manche Menschen Hölle nannten – geboren und aufgewachsen war, für einen ach so strahlenden Engel samt beschissenem Heiligenschein halten? Na gut, einen Heiligenschein mochte er ja sogar noch haben, aber heilig war daran längst nichts mehr. Das Ding war trüb und blind, seit er den ersten Schluck Muttermilch, vermischt mit Dämonenblut, zu sich genommen hatte, und da war er erst wenige Stunden alt gewesen.

Verdammte fünftausend Jahre lang.

Es war zwei Wochen her, dass er die Wahrheit erfahren und die Erinnerungen, die man ihm weggenommen hatte, zurückbekommen hatte. Jetzt erinnerte er sich an alles, was im Laufe der Jahrhunderte passiert war.

Er war ein verdammt schlechter Engel gewesen. Oder ein sehr guter gefallener Engel, je nach Betrachtungsweise.

Hochgiftige Wut rauschte durch seine Adern, während er auf dem unterirdischen Parkplatz vor dem Underworld General auf und ab marschierte. Vielleicht verfügten ja die Ärzte da drinnen über eine magische Pille, die ihm seine Erinnerungen wieder wegnehmen würde. Das Leben war wesentlich einfacher gewesen, als er noch geglaubt hatte, dass er durch und durch böse wäre, ein gefallener Engel ohne irgendwelche erlösenden Eigenschaften.

Okay, die hatte er vermutlich immer noch nicht, aber was er jetzt hatte, waren einander widersprechende Gefühle. Fragen. Und einen Zwillingsbruder, der ihm gar nicht unähnlicher sein könnte.

Mit einem bösartigen Knurren stiefelte er auf den Eingang zur Notaufnahme zu, fest entschlossen, einen gewissen falschen Engel zu finden, eine Ärztin, die ihm, davon war er überzeugt, helfen konnte, die letzten fünftausend Jahre zu vergessen – wenn auch nur für ein paar Stunden.

Die Glasschiebetüren öffneten sich mit leisem Zischen, und genau die Frau, wegen der er gekommen war, schlenderte hinaus. Ihr Wahnsinnskörper steckte in blauen Arztklamotten, die mit gelben Entchen übersät waren. Augenblicklich befeuerte Lust seine Lenden. Oh Mann, scheiß auf die Pillen, sie war genau das, was der Onkel Doktor verschreiben würde.

Bitte zweimal einnehmen, und rufen Sie mich morgen früh noch mal an.

Seit dem Moment, in dem er ihr vor ein paar Wochen im Krankenhaus zufällig über den Weg gelaufen war, war er von ihr besessen; und jetzt, als Blasphemes lange Beine mit weit ausholenden Schritten über den Asphalt auf ihn zukamen, malte er sich aus, wie sie sie um seine Taille schlang, während er in sie hineinstieß. Je näher sie kam, desto härter wurde er, und er fluchte vor Enttäuschung, als sie ihre Schlüssel fallen ließ und kurz stehen bleiben musste, um sie aufzuheben. Dann jedoch entschied er, dass sie ihr Schlüsselbund ruhig so oft fallen lassen durfte, wie sie wollte, weil er so nämlich eine verdammt prächtige Aussicht auf ihren tiefen Ausschnitt ergatterte. Wenn sie sich bückte, klaffte ihr Oberteil auseinander.

Sie richtete sich wieder auf, schlang den Schlüsselanhänger um ihren Finger und ging weiter auf ihn zu, während sie einen Duran-Duran-Song summte.

»Blaspheme.« Er trat zwischen zwei schwarzen Krankenwagen hervor und schnitt ihr den Weg ab.

Sie zuckte zusammen, und ein erschrockenes Keuchen entrang sich vollen, leuchtend roten Lippen, die nur zu dem Zweck geschaffen worden waren, einen Mann auf direktem Weg in die Ekstase zu befördern. »Revenant.« Ihr Blick zuckte zu den Krankenhaustüren zurück, als ob sie gerade ihre Fluchtroute plante. Wie niedlich, dass sie sich einbildete, sie könne ihm entkommen. »Was schleichst du denn hier auf dem Parkplatz herum?«

Herumschleichen? Na ja, vermutlich würde manch einer es so nennen. »Ich wollte dich mal wieder sehen.«

Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Und jetzt hast du mich gesehen. Und tschüss.« Mit fliegendem Pferdeschwanz wirbelte sie herum und machte sich wieder auf den Weg. In die entgegengesetzte Richtung.

Zurück zum Krankenhaus.

Ein einziger Gedanke reichte, um sich neu einzukleiden – Jeans, Cowboystiefel und ein NASCAR-T-Shirt – und seine schulterlangen schwarzen Haare braun zu färben, ehe er sich vor sie blitzte und ihr damit erneut den Weg verstellte. »Vielleicht gefällt es dir so besser?«

Ausdruckslos starrte sie ihn an. Offensichtlich stand sie nicht auf Landeier.

Also versuchte er es noch mal, diesmal mit kurzem, fuchsrotem Haar und einem Straßenanzug. »Wie wär’s hiermit?«

Wieder dieses Starren. Also kehrte er zum Gothic-Biker-Stil zurück und hörte auf, herumzualbern. »Komm mit zu mir nach Hause.«

»Wow.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, was seine Aufmerksamkeit nur wieder auf ihr Fahrgestell lenkte. Nicht üüübel. »Du fackelst nicht lange.«

Er zuckte mit den Achseln. »Spart ’ne Menge Zeit.«

»Hattest du denn wenigstens vor, mich zum Essen einzuladen? Du weißt schon, vor dem Sex.«

»Nö. Nur Sex.« Jede Menge davon.

Er konnte sich schon jetzt vorstellen, wie ihre leicht heisere Stimme auf dem Höhepunkt der Leidenschaft noch tiefer wurde. Wie ihr Kopf zwischen seine Beine tauchte, ihr Mund sich um seinen Schwanz schloss, ihre Hände um seine Eier. Angesichts des Pornos, der sich in seinem Kopf abspielte, hätte er beinahe laut gestöhnt.

»Oh.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. »Du bist ja ein richtiger Charmebolzen.«

In den fünftausend Jahren seines Lebens hatte ihn kein einziges Mal jemand als charmant bezeichnet. Aber selbst wenn es sarkastisch gemeint war, war es doch das Netteste, was jemals jemand zu ihm gesagt hatte.

»Tu das nicht«, knurrte er.

»Was denn?« Sie starrte ihn an, als ob er durchgeknallt wäre.

»Ach, egal.« Er streckte die Hand aus – er konnte es nicht erwarten, sie zu berühren. »Mein Spielzimmer wird dir gefallen.«

Sie zuckte zurück, als ob er ihr die Pest angeboten hätte, und nicht seine Hand. »Fahr zur Hölle, Arschloch. Ich geh nicht mit gefallenen Engeln aus.«

»Dann hab ich eine gute Nachricht für dich: Ich hatte nicht vor, mit dir auszugehen.« Und er war kein gefallener Engel.

»Super. Und ich ficke auch nicht mit gefallenen Engeln.« Sie wedelte mit den Händen, als ob sie ein paar Hühner verscheuchen wollte. »Verschwinde.«

Sie wies ihn ab? Niemand wies ihn ab. Niemand. Nachdem er in einem Kerker aufgewachsen war und Folterspezialisten und Henker seine Spielkameraden gewesen waren, hatte er keine Ahnung von der Kunst der Verführung oder auch nur höflicher Konversation. Aber Sex … diese Sprache beherrschte er fließend.

Als sie erneut Anstalten machte, ihn einfach stehen zu lassen, blinzelte er verwirrt. Da stimmte etwas nicht. Er hatte sie aufs Korn genommen, und sie hatte sich gefälligst zu ergeben. Dies war etwas Neues. Etwas … Aufregendes. Die Verwirrung verwandelte sich in ein Gefühl, das er gut kannte und willkommen hieß: der schwindelerregende Rausch der Jagd.

Augenblicklich schärften und konzentrierten sich all seine Sinne. Sein Geruchssinn fing einen Hauch ihres Dufts nach Vanille und Honig auf. Sein Gehör richtete sich auf ihren stürmisch pochenden Herzschlag aus, und sein Gesichtssinn steuerte den zuckenden Puls an ihrer Kehle an.

Das Verlangen, sich auf sie zu stürzen, sie zu Boden zu ringen und gleich hier und auf der Stelle seine fleischlichen Gelüste auszuleben, war nahezu überwältigend. Stattdessen bewegte er sich langsam auf sie zu, ein Schritt für jeden ihrer Schritte, während sie immer weiter zurückwich.

»Was soll denn das?« Sie schluckte, als sie unerwartet gegen einen massiven Tragbalken stieß.

»Ich werde dir zeigen, warum du unbedingt mit mir nach Hause kommen musst.« Er legte die Hände auf den Träger zu beiden Seiten ihres Kopfs und beugte sich vor, bis seine Lippen die zarte Haut ihres Ohrs streiften. »Du wirst es nicht bereuen.«

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich nicht mit gefallenen Engeln ficke.«

»Das hast du«, murmelte er. »Aber vielleicht küsst du sie ja?«

»Äh … nein, ich –«

Er gab ihr keine Chance, den Satz zu beenden, zog sich ein kleines Stück zurück und drückte seinen Mund auf ihren.

Lipgloss mit Erdbeergeschmack bedeckte seine Lippen, als er sie küsste, und er hätte schwören können, dass er Obst noch nie so sehr gemocht hatte wie in diesem Augenblick.

Ihre Hände packten seinen Bizeps und zogen ihn näher, während sie den Kuss intensivierte. »Du bist gut«, flüsterte sie an seinen Mund gedrückt.

»Ich weiß«, flüsterte er zurück.

Plötzlich zerstörte Schmerz den Augenblick, als ihre Fingernägel sich tief in seine Arme gruben. »Aber so gut nun auch wieder nicht.«

Ehe er auch nur einmal blinzeln konnte, stieß sie ihn mit aller Gewalt zurück und duckte sich unter dem Käfig seiner Arme hinweg. Mit einem Zwinkern stolzierte sie davon, während ihr unglaublicher Arsch in der eng anliegenden Hose ihres Krankenhaus-Outfits hin- und herwackelte. An der Tür eines Mustangs im leuchtenden Rot eines kandierten Apfels blieb sie kurz stehen und warf ihm einen heißen Blick zu, bei dem sein Schwanz zu pulsieren begann.

»Gib lieber gleich auf, Junge. Ich hab eh den längeren Atem.« Sie sprang in den Wagen, verließ ihre Parkbucht mit quietschenden Reifen und ließ Rev in einer dicken Staubwolke stehen.

Blaspheme bekam praktisch keine Luft mehr, als sie durch New York Citys überfüllte Straßen fuhr. Sie wünschte, sie hätte heute das Höllentor zur Arbeit genommen. Aber nein, sie hatte sich entschieden, noch ein allerletztes Mal mit dem Wagen von ihrer Wohnung in Brooklyn zum Underworld General zu fahren, eine sentimentale Dummheit, die sie nicht nur kostbare Zeit gekostet, sondern auch noch direkt in die Arme eines gefallenen Engels katapultiert hatte, der sich nach einem kurzen, unangenehmen Schlagabtausch aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt hatte, sie müssten sich mal verabreden.

Nein, er wollte gar kein Date. Nur Sex.

Bei diesem Gedanken wurde ihr ganzer Körper heiß – etwas, wozu er überhaupt kein Recht hatte.

Aber bei den Göttern, Revenant war schon unglaublich, wie er da vor ihr auf dem Parkplatz desUG gestanden hatte. Er sah aus wie ein hünenhafter Goth-Biker, von oben bis unten in Leder und Ketten gehüllt; an den Spitzen seiner klobigen Stiefel waren grausam aussehende Klauen befestigt. Selbst die Rückseiten seiner fingerlosen Handschuhe waren an den Knöcheln mit Metallnieten verziert. Sie hatte diesen Machoscheiß immer verabscheut, aber bei Revenant war das etwas ganz anderes. Er vermittelte ihr den Eindruck, dass er sein Leben auf genau diese Weise lebte: Was er wollte, nahm er sich.

Selbst als er sein Aussehen geändert hatte, war er ihr immer noch wie jemand aus einer Zeitschrift oder einem Film vorgekommen. Die Cowboystiefel hatten bei ihr das Verlangen nach einem heißen Ritt ausgelöst – nicht notwendigerweise auf einem Pferd –, und der Geschäftsanzug hatte sie zu ein paar heißen Fantasien rund um den Schreibtisch verlockt.

Es sah nicht so aus, als ob er vorhätte, aufzugeben, oder? Zumindest nicht kampflos. Und sie würde ihm einen Kampf bieten. Sie konnte es sich nicht leisten, dass ein gefallener Engel herumschnüffelte.

Laut vor sich hin fluchend durchwühlte sie ihre Handtasche, bis sie ihr Handy gefunden hatte, und wählte ihren Kontakt in der Umzugsfirma. Sally meldete sich beim zweiten Klingeln.

»Hi, Bonnie«, sagte Sally. Sie verwendete den Namen, den Blaspheme benutzte, wenn sie es mit Menschen zu tun hatte. »Die Möbelpacker meinten, sie würden bis heute Abend damit fertig werden, deine Sachen für den zweiten Transport nach London einzupacken.«

»Gut«, sagte Blas. Es wäre schön, auf direktem Wege in die neue Londoner Klinik desUG zu gelangen, anstatt das Höllentor der Notaufnahme zu benutzen. »Ich sollte in ungefähr einer Stunde da –« Da ertönte der Anklopfton. »Kann ich Sie zurückrufen? Meine Mutter ruft gerade an.«

Sallys fröhliches »Kein Problem« folgte das Versprechen, sich zu vergewissern, dass sich die Möbelpacker auf das Sorgfältigste um Blasphemes Sachen kümmern würden und sie sich keinerlei Sorgen machen müsse. Einen Moment später meldete sich Blasphemes Mutter auf der anderen Leitung.

»Hi, Mom.« Blaspheme trat mit voller Wucht auf die Bremse, um nicht auf einen total verkommenen Truck aufzufahren, der offensichtlich weder mit Blinkern noch mit Bremsleuchten ausgestattet war. Sie zeigte dem Fahrer durch ihre Windschutzscheibe den Mittelfinger.

»Blas.« Die Stimme ihrer Mutter erklang jetzt direkt neben Blaspheme.

Mit einem Schrei ließ Blas das Telefon fallen. »Heilige Scheiße!«

Sie öffnete den Mund erneut, um ihre Mutter anzuschreien, weil sie einfach so aus dem Nichts in ihrem Wagen aufgetaucht war, aber als sie das Blut sah, versagte ihre Stimme. Deva, eine Abkürzung von Devastation, saß auf dem Beifahrersitz, und jeder Quadratzentimeter ihres Körpers war mit Blut bedeckt. Das gebrochene Ende eines Knochens stach durch ihren linken Bizeps, und eine tiefe Brandwunde, die bis auf den Knochen reichte, verunstaltete ihr rechtes Bein.

»Oh ihr Götter«, keuchte Blaspheme. »Was ist passiert?«

Als ihre Mutter die zitternde Hand von ihrem Unterleib hob, erblickte Blas ihre Eingeweide, die durch eine Wunde drangen, die sich von ihrem Nabel bis zum Hüftknochen erstreckte.

Die Verletzung an sich war schon schlimm genug, doch außerdem gingen von ihr noch Schwingungen aus, die Blaspheme einfach nicht identifizieren konnte. Was auch immer es war, es fühlte sich … falsch an. Und äußerst fatal.

»Ich –« Deva holte rasselnd Atem und sackte bewusstlos am Fenster zusammen.

»Mom!« Der klapprige Truck bewegte sich endlich, sodass Blaspheme mit dem Mustang um die nächste Ecke rasen konnte, auf direktem Weg zurück zum Underworld General. Automatisch suchte sie in Gedanken das nächste Höllentor, aber auch wenn sie eins nur einen Block entfernt aufspürte, gab es dort keine Möglichkeit zu parken, und sie würde ihren Wagen auf gar keinen Fall mitten auf der Straße stehen lassen.

Verdammt, es wäre echt nett, sich blitzen zu können, so wie die normalen Nachkommen eines gefallenen Engels, aber das war für Blaspheme keine Alternative und würde es auch niemals sein.

Instinktiv packte sie das Handgelenk ihrer Mutter und versuchte, heilende Energie in sie zu leiten, doch dieses Talent stand ihr schon seit Längerem nicht mehr zur Verfügung.

Verdammt!

»Halt einfach nur durch«, flehte sie ihre Mutter an, während sie ihren Wagen durch die Straßen schlängelte und um ein Haar ein Taxi und einen Fahrradkurier gestreift hätte.

Endlich fegte sie in den unterirdischen Parkplatz, der zum Krankenhaus gehörte, für Menschen aber tabu war, bretterte durch eine falsche Mauer und kam schlitternd in einer Parkbucht auf dem verborgenen Parkplatz des Krankenhauses zum Stehen. Dann aber zögerte sie einen Sekundenbruchteil – oder eine kleine Ewigkeit – lang.

Alle im Krankenhaus hielten Blas für einen falschen Engel. Sicherlich könnte sie eine Erklärung dafür finden, warum ihre Mutter nicht derselben Spezies angehörte, aber damit würde sie gewisse Fragen aufwerfen. Fragen von der einen Person, die vermutlich sowieso schon ziemlich misstrauisch war.

Gerade mal zwei Wochen war es her, dass sich Eidolon, der Gründer des Underworld General und Chefarzt, gerade kryptisch genug ausgedrückt hatte, dass sie seitdem völlig paranoid war.

Als ihre Mutter stöhnte, spielte es plötzlich keine Rolle mehr, was Eidolon vermutete. Ihr Job … ach, zur Hölle, ihr Leben war in Gefahr, aber das traf auch auf Deva zu, und sie konnte ihre Mutter unmöglich sterben lassen.

Rasch sprang sie aus dem Wagen und rannte durch die Schiebetüren in die Notaufnahme. »Ich brauche Hilfe!«, brüllte sie, und im nächsten Augenblick rannten Luc, ein Werwolf-Sanitäter, und Raze, ein Seminus-Dämon und Arzt, schon mit einer Krankentrage hinaus.

Momente später befand sich Blaspheme in einem Untersuchungszimmer und hatte Handschuhe an, während Luc die lebenswichtigen Organe checkte und Raze seine Heilkraft in Deva hineinleitete. Seine finstere Miene wies darauf hin, dass das Ganze nicht glattlief.

»Ihr Magen ist rupturiert«, sagte er. »Verdammt, und im querliegenden Teil ihres Grimmdarms befindet sich ein Riss. Ich kann die Wunden sofort heilen, aber sie muss unbedingt operiert werden, um den Unterleib von den Verunreinigungen zu befreien.« Er blickte zu Blas hinüber. »Das ist allerdings ein großes Risiko. Ich weiß, dir ist klar, dass falsche Engel nicht besonders gut auf Anästhetika ansprechen.«

Scheiße. Blaspheme hatte nicht vor, die Wahrheit über ihre Mutter – und damit möglicherweise sich selbst – zu enthüllen, aber sie durfte Devas Gesundheit auch nicht gefährden, indem sie sie mit Ärzten in den OP schickte, die sie für etwas anderes hielten, als sie war. Vielleicht konnte sie die Tatsachen ja ein wenig verdrehen, in der Hoffnung, dass keiner allzu wissbegierig nachfragte.

Blas, die damit beschäftigt war, einen intravenösen Zugang am Handrücken ihrer Mutter zu legen, blickte auf. »Sie ist kein falscher Engel.«

Raze hob eine Augenbraue. »Aber du hast gesagt, sie wäre deine Mutter.«

»Sie ist meine Adoptivmutter«, log sie. »Sie ist ein gefallener Engel.« Zumindest Zweiteres entsprach der Wahrheit.

Razes Hand zuckte, und er stieß einen leisen Fluch aus. Sie begriff, warum er geschockt war. Gefallene Engel waren selten; meistens waren sie bösartige Arschlöcher, und was die Einwohner von Sheoul betraf, befanden sie sich an der Spitze der Nahrungskette.

Razes leuchtend rotes Haar, das er vorne länger als hinten trug, fiel ihm in die Augen, als er sich vorbeugte, um einen genaueren Blick auf Devas Bauchwunde zu werfen. »Das ist seltsam.«

Das war nicht unbedingt das, was man von einem Arzt hören wollte. Sie versuchte, ihre nützlichste FE-Fähigkeit zu aktivieren; eine, die für gewöhnlich als Röntgenblick bezeichnet wurde und die falsche Engel einsetzten, um Gesundheit oder Potenz ihrer möglichen Opfer einzuschätzen. Seit sie im medizinischen Sektor tätig war, hatte Blas eine bessere Verwendung dafür gefunden.

Bedauerlicherweise flackerte sie nur kurz auf, ehe sie wieder verlosch. Damit versagte eine weitere FE-Fähigkeit. Wie lange noch, ehe sie alle verschwunden waren und ihre wahre Identität zum Vorschein kam?

»Was ist seltsam?«, fragte sie.

»Ich kann sie nicht heilen. Es passiert überhaupt nichts.«

»Was?« Blas, die gerade einen Katheter in Devas Ader einführte, starrte den Inkubus an. »Hast du keinen Saft mehr?«

Er hielt den rechten Arm in die Höhe, der vom Hals bis zu den Fingern mit leuchtenden Glyphen bedeckt war. »Ich bin vollständig aufgeladen. Ich sag dir, es liegt nicht an mir. Es liegt an ihr.«

Diese Ausstrahlung. Was, wenn die komischen Schwingungen, die von ihrer Mutter ausgingen, irgendwie Razes Kräfte beeinträchtigten?

Raze blickte zu ihr hinüber. »Kannst du mal einen Blick in sie hineinwerfen und mir sagen, was da los ist?«

»Hab ich gerade schon versucht«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, ich bin gerade zu emotional.«

Raze nickte. Offenbar kaufte er ihr diese dämliche Story über ihr Versagen ab.

Ihre Mutter stöhnte, und ihre Augen öffneten sich zuckend. Ihre Hand suchte nach Blas’ Hand. »Allein«, krächzte sie. »Ich muss allein mit dir reden.«

Blaspheme sah zu Raze auf. »Bereite die Operation vor. Wir bringen sie sofort in den OP. Und lass Eidolon anpiepen. Ich will ihn dabeihaben.« Trotz ihrer Angst vor Entdeckung brauchte Blas ihn. Als geschicktester und erfahrenster Arzt der gesamten Unterwelt war Eidolon womöglich der Einzige, der imstande war, ihre Mutter zu retten.

Raze und Luc verschwanden und ließen sie mit Deva allein zurück.

»Mom«, sagte sie leise. »Was ist los? Was ist passiert?«

»Engel«, antwortete ihre Mutter.

Blaspheme drehte sich der Magen um.

»Ich wurde von Engeln angegriffen.«

Was die Ausstrahlung und Razes Schwierigkeiten erklärte. Einige Engelswaffen verursachten Verletzungen, die nicht mithilfe übernatürlicher Mittel geheilt werden konnten.

»Wo bist du gewesen?« Blaspheme drückte die Hand ihrer Mutter, als sich Devas Augen schlossen. »Hey, bleib bei mir. Wo bist du gewesen, als sie dich angegriffen haben?«

»Zu Hause«, erwiderte sie heiser. »Sie haben mich gefunden, Blaspheme.«

Ein eisiger Schauder kroch Blasphemes Rücken hinauf. »Sie?« Sie überkam das unerträgliche Gefühl, dass sie wusste, wer sie waren, und sie betete darum, falschzuliegen.

Deva hustete, sodass sich ein Sprühnebel feinster Blutströpfchen verteilte. »Ich glaube … ich glaube, es waren Eradikatoren. Sie haben mich gefunden.« Sie setzte sich auf und griff nach Blasphemes Hand. Verzweiflung und panische Angst durchdrangen den Schleier des Schmerzes in ihren Augen. »Was bedeutet, dass sie auch nach dir suchen.«

2

Eine hochintensive satanische Vorladung höchster Intensität schrillte in Revenants Kopf, als er auf dem Berg Megiddo stand und seine Lungen mit heißer, trockener Luft füllte.

Er ignorierte Satans Befehl und rief stattdessen in Gedanken sowie mit lauter Stimme den höchstrangigen Erzengel im Himmel.

»Metatron.«

Nichts. Eine Brise wehte ein paar Meter entfernt einen kleinen Wirbelsturm auf, doch davon abgesehen bewegte sich nichts.

»Metatron!«

Noch mehr nichts. Selbst der Wirbelsturm starb einen langsamen, qualvollen Tod.

»Metatron!«

Mist. Er hätte wissen müssen, dass er ignoriert werden würde. Die Erzengel hatten ihn vor Tausenden von Jahren im Stich gelassen, warum sollten sie ihm jetzt ihre Aufmerksamkeit schenken?

Arschlöcher. Dabei wollte er doch nur ein paar Antworten. Warum hatten sie seine Mutter und ihn in der Hölle verrotten lassen? Warum hatte ihm fünftausend Jahre lang niemand die Wahrheit gesagt? Ehe er seine Erinnerungen wiedererlangt hatte und befördert worden war … dank der »heldenhaften« Taten seines Bruders und der himmlischen Vorschrift, dass alles, was mit dem einen Zwillingsbruder geschah, auch dem anderen geschehen musste. Und warum hatten sie ihn nicht im Himmel willkommen geheißen? Schließlich war Reaver der Zutritt erlaubt.

Weil du dort nicht willkommen bist. Du bist böse. Verderbt.

Wieder erreichte ihn der Ruf des dunklen Herrschers; diesmal traf er ihn mit solcher Gewalt, dass der Schmerz ihn auf die Knie zwang. Blut spritzte ihm aus Nase und Ohren, und er hätte schwören können, dass ihm gleich der Schädel bersten würde, als er ihn mit beiden Händen umfasste.

Verdammt, er war noch nicht bereit, Satan gegenüberzutreten. Nicht dass er je bereit war. Niemand, der noch bei klarem Verstand war, würde freudig alles stehen und liegen lassen, um sich auf ein Treffen mit dem dunklen Herrscher zu begeben. Und jetzt, da Rev die Wahrheit über seine Vergangenheit kannte – oder zumindest den größten Teil –, verspürte er sogar noch weniger Neigung, sich auf ein Tête-à-Tête mit dem König aller Dämonen einzulassen.

Satan hatte Revenant Tausende von Jahren belogen, hatte sogar angedeutet, dass Rev sein Sohn wäre.

Doch das war alles totaler Mist, und Revenant fragte sich, was sich wohl in Zukunft ändern würde, nachdem inzwischen die Wahrheit herausgekommen war. Doch eines war sicher und stand felsenfest: Er wollte sich mit so viel Wissen wie nur möglich wappnen, ehe er Satan gegenübertrat, und nur eine einzige Person konnte ihm die Antworten geben, die er brauchte.

Unglücklicherweise schien Metatron in keiner Weise geneigt, ihm diese Antworten zu geben, was Revenant nur eine Möglichkeit ließ.

Trotz seiner satanischen Kopfschmerzen beschwor er einen Armvoll Bücher herauf und blitzte sich auf die andere Seite der Erde, in das Heim von Thanatos, dem vierten Reiter der Apokalypse.

Als sheoulische Wache der vier Reiter wurde von Revenant erwartet, sie im Auge zu behalten. Allerdings hatte er sie, seit er seine Erinnerungen zurückbekommen hatte, ebenso gemieden wie ihren Vater. Revenants Bruder.

Reaver.

Seit dem Tag, an dem sie ihre Erinnerungen zurückgewonnen hatten, hatten sie jedes Mal, wenn sie einander begegnet waren, miteinander gekämpft, und Revenants Worte an Reaver während eines speziellen Zusammentreffens hallten immer noch in seinen Gedanken wider.

Noch am selben Tag, an dem ich von dir erfuhr, kam ich als Bruder zu dir. Aber alles, was du sahst, war ein Feind und ein Mörder. Und jetzt ist das alles, was du jemals zu sehen bekommen wirst.

Seit jenem Augenblick vor ein paar Wochen hatte sich Revenant wieder ein wenig beruhigt, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Reaver Revenant vor fünftausend Jahren, bevor ihre Erinnerungen gelöscht worden waren, zurückgewiesen hatte, und bis zum heutigen Tage hatte sich nicht das Geringste geändert.

Also nein, Revenant rechnete nicht damit, dass Reavers vier legendäre Ausgeburten der Hölle Onkel Rev mit offenen Armen empfangen würden.

Und doch stand er jetzt vor Thanatos’ grönländischer Festung und fragte sich, ob der Reiter, der auch unter dem Namen Death bekannt war, ihm wohl bereitwillig die Tür öffnen würde. Viel wahrscheinlicher war, dass Revenant würde hineinplatzen und alle erst mal kurz aus dem Verkehr ziehen müssen, um einen Blick auf die seltenen Bücher zu erhaschen, die Thanatos in seiner Bibliothek hortete.

Ein Prickeln im Nacken bereitete ihn auf die Gegenwart von Engeln vor, wenn auch nur einen Sekundenbruchteil, ehe sich Harvester, die himmlische Wache der Reiter, und Reaver selbst vor ihm materialisierten.

Mist.

»Revenant.« Harvesters rauchige Stimme hatte Rev immer schon an eine in Seide gehüllte Neunschwänzige Katze erinnert. Sie sah auch dementsprechend aus: Sie trug eine enge, schwarze Lederhose und Stiefel mit Stilettoabsätzen, ein Spitzenkorsett schnürte ihre Taille ein und drückte ihre perfekten Brüste nach oben. Allerdings wirkte sie ein wenig blasser als gewöhnlich. Vielleicht vertrug sie den Heiligenschein nicht mehr, nachdem sie Jahrtausende als gefallener Engel gelebt hatte. »Warum bist du hier?«

»Ich bin die böse Wache der Reiter«, erwiderte er. Es freute ihn, dass sein Bruder beim Wort böse zusammenzuckte. »Ich brauche also keinen Grund, und genauso wenig bin ich euch Rechenschaft schuldig.«

»Und doch wirst du mir gegenüber Rechenschaft ablegen«, entgegnete Reaver.

Revenant schnaubte. Reaver schickte ihm schon seit Wochen mentale Einladungen, auf die Revenant nie geantwortet hatte. Und er würde es auch jetzt nicht tun.

»Du kannst mich mal.« Er blitzte sich noch näher an Thanatos’ Festung heran, doch einen Herzschlag später bildeten Harvester und Reaver schon wieder einen Wall vor ihm. Wie ermüdend. »Ich wollte Thanatos ja die Höflichkeit erweisen, an seine Tür zu klopfen, aber ihr lasst mir leider keine Wahl, als mich ohne Vorwarnung in seine Residenz hineinzublitzen. Als ich das das letzte Mal bei einem der Reiter getan habe, erwischte ich Ares und Cara in einer äußerst … kompromittierenden Situation.« Er zuckte die Achseln. »Aber von mir aus. Schauen wir mal, was Thanatos und Regan gerade so treiben, okay?«

Als er begann, sich zu dematerialisieren, packte Reaver mit einem Knurren seinen Arm und verankerte ihn damit in seiner gegenwärtigen Position. »Sag uns einfach, wieso du hier bist.«

Na gut. Vielleicht konnte Reaver ihm ja die Informationen geben, die Rev brauchte. Er hielt die Kopien der Bibel, des Koran und der Daemonica hoch, die er in der Hand hielt. »Ich will Thanatos’ Bibliothek benutzen. Ich suche nach Hinweisen auf Schattenengel und Radianten, und diese kryptischen, widersprüchlichen Dinger hier sind nicht gerade hilfreich.«

Reaver ließ ihn los und trat zurück. »Du willst mehr darüber wissen, was du bist. Was wir beide sind.«

»Ähm. Ja. Du hast es erfasst.« Sein Bruder, das Genie. »Immerhin wird man nicht jeden Tag in den höchsten Rang unter den Engeln befördert, und es ist ja nicht so, als ob es irgendwo ein Handbuch mit ausführlicher Stellenbeschreibung gibt.«

Nein, es hatte überhaupt erst eine Handvoll von Schattenengeln wie Revenant und Radianten wie Reaver gegeben, und da immer nur einer von ihnen zu einer bestimmten Zeit existieren konnte, gab es auch niemanden, den man fragen konnte.

Reaver zuckte mit den Achseln. »Das lernt man halt so mit der Zeit.«

»Wie überaus hilfreich, Bruder.«

Reaver gab einen ungeduldigen Laut von sich und fuhr mit der Hand durch seine perfekte blonde Mähne. Revenant änderte seine Haarfarbe dementsprechend, nur um den Kerl zu nerven.

»Diese Ränge wurden uns zusammen zugeteilt«, sagte Reaver, »und wir können das auch zusammen ergründen.«

Revenant lachte. »Jetzt möchtest du den großen Bruder spielen? Jetzt, da ich dich nicht mehr brauche?«

»Du brauchst mich sehr wohl«, widersprach Reaver. »Wir brauchen einander.«

»Ach wirklich«, sagte Revenant ausdruckslos. »Und warum?«

Reavers Stimme klang tief und unheilverkündend, als er sagte: »Weil Luzifer kurz davorsteht, wiedergeboren zu werden, und seine Geburt sowohl im Himmel als auch auf der Erde dramatische Veränderungen bewirken wird.«

Das schon wieder? Diese Himmelstypen regten sich so schrecklich über wiedergeborene gefallene Engel auf. Okay, sicher, Luzifer war als Satans frühere rechte Hand nicht gerade ein ganz normaler gefallener Engel, und der gefallene Engel, der ihn austrug, Gethel, hatte ihn empfangen, als sie noch Flügel und Heiligenschein besaß. Ach ja, und in Luzifers neuester Inkarnation war er außerdem noch Satans Sohn. Was bedeutete, dass Luzifer etwas ganz, ganz Besonderes war.

Dieses Arschloch. In wenigen kurzen Jahren würde er erneut seinen Platz an Satans Seite einnehmen und ab dann sein Leben damit verbringen, zu versuchen, Revenants zu zerstören. Es würde keine Rolle spielen, dass Rev ihm in puncto Kraft und Fähigkeiten immer überlegen sein würde – Luzifer würde stets über Satans Ohr und damit dessen Macht verfügen. Wenn Luzifer einen Befehl geben würde, würde er genauso befolgt werden, als ob Satan selbst ihn geäußert hätte. Genauso wie es gewesen war, ehe Luzifer vor ein paar Monaten so dämlich gewesen war, sich umbringen zu lassen.

Revenant räusperte sich. »A – ist mir egal. B – als ihr Gethel die Flügel abgeschnitten habt, um zu verhindern, dass Luzifer ausgewachsen auf die Welt kommt, habt ihr seine Kräfte vermindert, also hört endlich mit diesem Scheiß von wegen ›das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen‹ auf.«

Harvester schüttelte den Kopf, sodass ihr pechschwarzes Haar um ihre schmalen Schultern flog. »Das ist kein Scheiß. Wir mögen Luzifers Kräfte verringert haben, aber er ist dennoch der mächtigste gefallene Engel, der jemals reinkarniert wurde. Seine Geburt wird Schockwellen durch den ganzen Himmel senden.«

»Und«, fügte Reaver grimmig hinzu, »er wird mit jedem Tag stärker. Harvester kann ihn fühlen.«

Ah, dann war Luzifers Wachstum vielleicht der Grund, warum Harvester so bleich und womöglich sogar ein wenig hager aussah. Als Satans Tochter war sie mit all ihren Geschwistern, geborenen und ungeborenen, verbunden. Nicht, dass sich Revenant dafür interessierte. Aber es erklärte, warum Reaver es tat.

»Es wird immer schlimmer«, sagte Harvester. »Wenn Luzifer erst auf der Welt ist, wird er immer stärker werden, bis er schließlich den Höhepunkt seiner Macht erreicht hat. Wenn das passiert, können sich Satan und er zusammentun – mit dir. Die Trifecta des Bösen nennen die Erzengel das, weil ihr die drei mächtigsten Wesen in Sheoul sein werdet. Es gibt nur sehr wenig, was euch drei zusammen davon abhalten könnte, die Erde zu verwüsten. Reaver wird durch die biblische Prophezeiung gezwungen sein, alle vier Siegel der Reiter zu zerbrechen und damit das Jüngste Gericht auslösen.«

Von Armageddon waren diese Himmelstypen genauso besessen wie von gefallenen Engeln. Das wurde langsam langweilig. »Und was soll ich eurer Meinung nach dagegen tun?«

Reaver kreuzte die Arme vor der Brust. »Gib uns Gethel, ehe sie Luzifer zur Welt bringt.«

Noch eine Wiederholung. Gähn. Die sollten den Mist als Serie an irgendeinen Privatsender verkaufen. »Warum sollte ich?«

»Weil du ein Engel bist, Revenant. Metratron hat mir gesagt, dass wir zusammenarbeiten müssen –«

»Hat er das? Komisch, denn mir antwortet er nicht einmal auf meine Bitte, ihn zu treffen. Hat er mir eine Einladung in den Himmel geschickt? Nein? Also, von mir aus könnt ihr alle in der Hölle schmoren.« Damit blitzte er sich davon. Es war ihm inzwischen gleichgültig, was es bedeutete, ein Schattenengel zu sein. Außerdem summte Satans Vorladung wie eine wütende Hornisse in seinem Kopf herum.

Interessant, dass sich Satan fast in die Hose machte, weil er Rev unbedingt sprechen wollte, während sich Metatron nicht mal die Mühe machte, auch nur einen Cherub mit einer Nachricht vorbeizuschicken.

Scheiß drauf. Die himmlischen Sorgen wegen Luzifers Geburt machten die Sache gerade erst interessant. Sollten sie recht haben und die Trifecta des Bösen der Schlüssel zur letzten Runde apokalyptischer Bedrohungen sein, dann hatte Revenant eine Machtposition inne.

Und Macht war etwas, womit er sich richtig gut auskannte.

Revenant materialisierte sich in der bergigen Unterweltdomäne Satans. Er überquerte die eiserne Brücke – mit den aufgehängten Leichen von Satans Feinden geschmückt – über einen feurigen Graben zum Tor der mächtigen Burg des Königs der Dämonen. Er wurde augenblicklich eingelassen, und ein uralter gefallener Engel namens Caim führte ihn in den Thronsaal.

In dem Moment, in dem Revenant das höhlenartige Gemach betrat, verwandelte sich sein Blut in Eis. Sicher, die Lufttemperatur war verdammt niedrig, aber was die rote Flüssigkeit in seinen Adern in eine zähfließende Masse verwandelte, war Satan höchstselbst, der inmitten von etwas stand, das die Überreste einiger Dutzend Menschen zu sein schien. Sein nackter Körper war über und über mit Blut bedeckt, doch davon abgesehen hätte er ein männliches Model sein können. Rev fiel eine alte Redensart ein, die besagte, dass das Böse oft in schönen Gewändern daherkomme.

»Es tut gut, dich zu sehen, mein Sohn.« In der Sekunde, in der Satan den Kreis des Massakers verließ, war er wieder blitzblank und trug einen schwarzen Anzug mit einem ziemlich klischeehaften blutroten Seidenhemd und bergeweise protzigen Schmuck.

»Nenn mich nicht so«, presste Rev hervor. »Mein Vater war ein Engel.«

»Sandalphon war ein selbstgerechter Trottel«, höhnte Satan. »Ich hingegen war dir in allen bedeutenden Angelegenheiten immer ein Vater.«

Offenbar kam es bei einem Vater also darauf an, dass er seinen Sohn in einem Käfig wohnen ließ und zwang, dem Missbrauch seiner Mutter zuzusehen. Ach ja, und um ein richtig guter Vater zu sein, sollte man besagten Sohn noch in die Minen der Todesqual schicken, wo dieser dann einige Jahrzehnte lang als Sklave schuften durfte.

Daran musste sich Revenant unbedingt erinnern, für den Fall, dass er selbst je einen Sohn haben würde.

»Einigen wir uns darauf, dass wir uneins sind.«

Satan lächelte. Jenes bösartige Lächeln, das stets Schmerz und Tod vorausging.

Oh, Mist –

Revenant blieb keine Zeit mehr, sich zu wappnen, ehe der dunkle Herrscher, der sich in eine nass glänzende, schwärzliche, skelettartige Bestie verwandelt hatte, ihn auch schon gegen die Wand gedrückt hielt. Satans Klauen gruben sich tief in Revenants Brustkorb, und vom Schmerz gelähmt sah er zu, wie sein Blut in gewaltigen Strahlen auf Satans knochige Brust spritzte. Speichel tropfte aus dem Mund des Dämonenkönigs, der sich zu einer Schnauze verformt hatte, und er knirschte mit seinen gezackten, haiartigen Zähnen.

»Seit deiner Beförderung zum Schattenengel bist du das mächtigste Wesen in Sheoul«, knurrte er. »Abgesehen von mir. Es wären schon tausend von deiner Sorte nötig, um mir etwas anzutun. Hunderttausend, um mich zu vernichten.« Unbeschreiblicher Schmerz erfüllte Rev, als Satan seine X-Man-Klauen aus Revenant zog und ihm dabei sein schlagendes Herz aus der Brust riss. »Vergiss das niemals.«

Machtdemonstration des Alphadämons notiert.

Revenant war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu äußern, als seine Beine ihn im Stich ließen und er langsam an der Wand nach unten glitt. Er konnte nur hilflos zusehen, wie Satan in Revs pulsierendes Herz biss. Nie gekannte Qualen rissen ihn in tausend Stücke. Er hörte Schreie und fragte sich hinter dem schwarzen Vorhang des Leidens, ob da wohl noch jemand anders gefoltert wurde. Vielleicht sogar getötet. Ein todsicherer Weg, um einen Engel umzubringen, sei es ein gefallener oder einer, der noch über seinen Heiligenschein verfügte, war, sein Herz zu verspeisen.

Dann erst wurde Revenant klar, dass die Schreie von ihm stammten.

Die Welt drehte sich in endlosen, elenden Kreisen um ihn. War er tot? Waren die Senslinge von Gevatter Tod in ebendiesem Moment schon auf dem Weg, um seine jämmerliche Seele zu ernten?

Er hatte keine Ahnung, wie lange er wie ein Stück Fleisch auf dem eisigen Boden lag, ehe er hörte, dass der dunkle Herrscher seinen Namen rief.

Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass er in einer Pfütze aus Blut lag. Satan hatte wieder seine gewöhnliche menschliche Gestalt angenommen, stand in einem schicken Anzug vor ihm und leckte sich Blut von den Lippen. Als er sich auf die Knie hievte, musste Revenant ein Stöhnen unterdrücken. Was ihn weitaus mehr Anstrengung kostete, als ihm lieb war.

»Warum bin ich nicht tot?«, murmelte er.

»Du bist ein Schattenengel. Nur ich, das gesamte Kontingent von Erzengeln oder Gott höchstselbst können dich umbringen, und dazu ist schon mehr nötig, als nur ein bisschen auf deinem Herzen herumzukauen.«

Als Satan auf dem Weg zu seinem Thron durch die blutigen Überreste schritt, gaben seine italienischen Lederschuhe schmatzende Laute von sich. »Und solltest du insgeheim auf die Idee gekommen sein, dich in den Himmel abzusetzen, lass mich dem gleich hier und jetzt ein Ende setzen. Sandalphon mag dich wohl ins Leben gefickt haben, aber es ist mein Blut, das durch deine Adern rinnt.«

Revenant rieb sich die Brust, die inzwischen größtenteils abgeheilt war. Er konnte sogar schon ein neues Herz darin schlagen fühlen. »Das verstehe ich nicht.«

»Als du ein Baby warst, wurdest du mit Muttermilch gefüttert, die mit Dämonenblut vermischt war.«

»Das weiß ich.« Jedenfalls wusste er es jetzt. Noch vor zwei Wochen hatte er keine Ahnung gehabt.

Satan ließ sich auf seinen aus Knochen erbauten Thron niedersinken. »Du glaubst doch wohl sicher nicht, dass wir dir etwas gegeben haben, das den Adern irgendeines beliebigen Dämons entstammte? Es war mein Blut. Mit ihm habe ich dich für alle Zeit an mich und dieses Reich gebunden. Du bist durch und durch verderbt, und solltest du den Himmel betreten, wirst du ihn damit ebenfalls verderben. Also ja, ich bin in allem, was zählt, dein Vater.«

Revenant drehte sich der Magen um. Satans »Sohn« zu sein, verschaffte ihm keinerlei Privilegien. Ganz im Gegenteil: Der König der Dämonen erwartete von seinen Kindern mehr als von jedem anderen, und wenn sie ihn enttäuschten, nahm er das ganz und gar nicht gut auf. Seine Tochter Harvester war dafür der lebende Beweis. Wenn Reaver sie nicht aus seinen Klauen gerettet hätte, befände sie sich immer noch in Satans Kerkern, wo sie auf Arten gequält werden würde, die nicht einmal Revs krankes Gehirn zu begreifen vermochte.

»Ist das der Grund, warum du mich herbeigerufen hast, mein Gebieter? Um dich von Tatar vom Herzen zu nähren und mich mit Geschichten meiner Kindheit erfreuen?«

»Vater.« Satans Stimme war die pure Bosheit. »Du wirst mich Vater nennen.«

Scheiß drauf. Das wäre eine Riesensauerei seiner Mutter und seinem echten Vater gegenüber. »Warum hast du mich gerufen?«, wiederholte Rev.

»Warum hast du mich gerufen, Vater?«, knurrte Satan.

Jäh zerquetschte grauenhafter Schmerz Revenants Hirn.

»Sag es.«

Revenant umklammerte mit beiden Händen seinen Kopf. »Warum hast du mich gerufen?« Eine weitere Schmerzwelle erfasste ihn. Blut spritzte aus seinen Ohren.

Der König der Dämonen baute sich vor ihm auf. »Sag es.«

»Warum hast du mich gerufen?«, brüllte Revenant, ehe ihn eine neue Welle unglaublichen Schmerzes in die Knie zwang. Blut spritzte ihm aus der Nase, während sich sein Schädel nach innen wölbte.

Satan ging vor Revenant in die Hocke. »So verdammt störrisch.« Ein hinterhältiges Lächeln umspielte seine dunkelroten Lippen. »Nenn mich Vater. Das ist eine neue Regel.«

Verdammt. Innerlich bebte Revenant vor Verlangen, ihm zu gehorchen. Was man ihm beinahe seit seiner Geburt immer eingehämmert hatte, war das Verlangen, Regeln zu befolgen. Sie zu brechen, bedeutete Schmerz, und wenn Schmerz auch etwas war, mit dem Rev fertigwerden konnte, konnte er es doch niemals verkraften, dabei zuzusehen, wie seine Mutter die grauenhafteste Folter erlitt.

Inzwischen war sie lange tot, doch sein Verlangen, Regeln zu befolgen, war es nicht, und das wusste Satan.

Rev sah dem Dämon in die Augen. Eines Tages würde er sich für alles rächen, was Satan seiner Mutter angetan hatte, aber bis dahin würde er sein Spiel mitspielen. Schließlich musste er unbedingt vertrauenswürdig – und am Leben – sein, um den Dämon für all die Jahre des Leids bezahlen zu lassen.

»Warum hast du mich gerufen … Vater?«, brachte er schließlich heraus.

Satan tätschelte ihm den Kopf, als ob er ein Kind wäre. »Sehr gut. Ich habe dich aus zwei Gründen herbestellt. Erstens braucht Gethel medizinische Versorgung. Sie wird immer schwächer, je stärker Luzifer wird. Er scheint nicht nur Gethel Energie zu entziehen, sondern auch all meinen Kindern. Möglich, dass sie bei seiner Geburt allesamt sterben.«

Das erklärte definitiv, warum Harvester ausgesehen hatte wie ein Haufen Scheiße. »Und?«

Revenant ging es am Arsch vorbei, ob Gethel abkratzte. Er hatte sie gehasst, als sie noch ein Engel gewesen war, und jetzt, als gefallener Engel, der Satans Nachwuchs im Bauch trug, hasste er sie womöglich noch mehr. Sie war ein verdammtes Miststück, das eine Million Regeln gebrochen hatte, als sie noch als himmlische Wache der vier Reiter tätig gewesen war. Und was Satans Kinderlein anging – von denen konnte Rev auch niemanden ausstehen. Allerdings würde es Reaver vermutlich nicht gerade glücklich machen, wenn Harvester starb.

Satan richtete sich wieder auf und kehrte zu seinem monströsen Thron zurück. »Und … Gethel kann nicht ins Underworld General gehen.«

Nein, vermutlich nicht. Die Leute im UG standen dem Treiben von Gut und Böse eigentlich neutral gegenüber, aber die Leute, die das Ding leiteten, wie dieses Arschloch von Seminus-Dämon Eidolon und seine Volltrottelbrüder (und Sin, seine abartige Halbblutschwester), hatten persönlich unter Gethels Machenschaften leiden müssen. Die würden ihr unter gar keinen Umständen helfen. Ganz im Gegenteil, sie würde das Krankenhaus nicht lebendig verlassen.

»Und was willst du von mir?«, fragte Rev. »Ich kann da wohl kaum helfen, es sei denn, ich hätte ein ganzes Medizinstudium vergessen.«

»Du wirst Gethel einen Arzt bringen.«

Das hieß also im Grunde, dass Rev einen Arzt würde kidnappen müssen, denn niemand, der auch nur noch halbwegs bei Verstand war, würde freiwillig einen psychotischen Ex-Engel behandeln, der Satans Sohn in sich trug … einen Sohn, der zufällig die wiedergeborene Seele Luzifers war, des zweitmächtigsten gefallenen Engels, der je existiert hatte.

Bis Revenant.

Nur dass Revenant nicht wirklich gefallen war, also zählte das vermutlich nicht.

Rev wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund und stand auf. »Ist das alles?«

»Nein.« Satan legte die Fingerspitzen aneinander und beugte sich vor. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. »Angesichts deines neuen Wissens und deiner wiederhergestellten Erinnerungen stelle ich deine Loyalität infrage.« Jetzt ergab es einen Sinn, dass er darauf bestanden hatte, von Rev Vater genannt zu werden. Er versuchte, ihre Bindung zu verstärken … oder sie ihm gewissermaßen aufzuzwingen.

»Du hast keinen Grund, meine Treue infrage zu stellen«, versicherte Revenant ihm, während in seinem Kopf das reinste Chaos herrschte, was seinen Platz in der Welt betraf. »Ich wurde hier geboren. Bin hier aufgewachsen. Der Himmel hat mich vor einer Ewigkeit im Stich gelassen.« Er rammte sich einen Finger auf sein Brustbein, direkt über der immer noch schmerzenden Wunde seiner Kardektomie … oder wie auch immer Mediziner die brutale Entfernung des Herzens aus seiner Brust bezeichneten. »Ich befolge seit fünftausend Jahren deine Befehle. Tue, was auch immer du von mir verlangst. Und wenn deine anderen Vasallen sich weigerten, habe ich es getan. Also, warum um alles in dieser beschissenen Welt zweifelst du an mir, wo du es doch selber warst, der mich behalten und Reaver in den Himmel geschickt hat, als wir gerade erst auf die Welt gekommen waren?«

Satan musterte ihn, wie ein Entomologe ein Insekt mustern würde. »Du glaubst, ich hätte Reaver in den Himmel geschickt?« Er lachte. Dieser Scheißkerl lachte doch tatsächlich, weil dieses Thema ja so wahnsinnig komisch war.

»Darf ich vielleicht mitlachen?«, knurrte Revenant.

Mit einem Schlag verschwand jegliche Belustigung aus Satans Miene. Revenant überkam der Verdacht, dass es wohl an der Zeit wäre, seinen Namen auf eine Herztransplantationsliste zu setzen.

»Der Himmel bestand darauf, einen der Zwillinge zu erhalten, also befahl ich deiner Mutter zu wählen.« Revs Magen schlug einen Purzelbaum. Er wollte nichts mehr darüber wissen. »Sie weigerte sich selbstverständlich. Sogar nach Folter und zwei Nächten in meinem Bett.« Er runzelte die Stirn. »Was vermutlich auf ein und dasselbe hinausläuft.«

Übelkeit und hilflose Wut sprudelte in Revenant empor, aber er unterdrückte beides, da er nur zu gut wusste, was für ein schlechtes Ende ein Angriff auf diesen Dämonenarsch nehmen würde. Für Revenant.

»Schließlich war ich gezwungen, damit zu drohen, ihre kostbaren Babys zu foltern«, fuhr Satan fort. »Da gab sie endlich nach und entschied sich, Reaver in den Himmel zu schicken. Sie wusste genauso gut wie ich, dass Reaver der gute Zwilling war. Der, der es wert war, gerettet zu werden.«

Ein Speer des Schmerzes durchbohrte Revenants Brust, die er längst kugelsicher geglaubt hatte. »Nein«, widersprach er, wobei es ihm mit viel Mühe gelang, einen ruhigen, neutralen Ton anzuschlagen. »Sie wusste nur, dass Reaver derjenige war, der hier unten nicht durchhalten würde.«

Als Satan daraufhin ein bellendes Lachen ausstieß, flohen überall Höllenratten aus ihren Verstecken. »Der Himmel hätte dich niemals genommen. Nicht mit meinem Blut in deinen Adern. Warum, glaubst du wohl, ist niemand gekommen, um dich zu retten? Deine Seele ist verdorben, und mit der Zeit wurde sie immer noch verdorbener. Sag mir – seit du deine Erinnerung zurückbekommen hast und in den Status eines Schattenengels erhoben wurdest, hat sich auch nur ein Abgesandter des Himmels mit dir in Verbindung gesetzt, um dich als lange verlorenen Sohn willkommen zu heißen und in eine liebevolle Umarmung zu ziehen? Nein?« Er fletschte die Zähne. »Und das wird auch nie geschehen. Merk dir meine Worte.«

Revenant wusste durchaus, dass Satan nicht imstande war, Gedanken zu lesen, aber es kam ihm vor, als ob er gerade in Revs Kopf geschaut und dessen tiefste, geheimste Wünsche durchschaut hätte. Wie könnte sich Revenant auch nicht wünschen, den Ort kennenzulernen, an dem Reaver und er gemeinsam hätten aufwachsen sollen? Wie könnte er sich nicht wünschen, von jenen akzeptiert zu werden, die Reaver in ihre Familie aufgenommen hatten?

In Revs Kehle stieg ein stilles Knurren auf. Verdammt. Er brauchte seine Engelsfamilie nicht. Er hatte … okay, er hatte keine Familie. Aber hey, solange er nur eine warme Frau in seinem Bett hatte, brauchte er auch keine.

»Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mit einer liebevollen Umarmung im Himmel willkommen geheißen zu werden.« Aber würde es sie umbringen, ihm diese wenigstens anzubieten? Ihm wenigstens die Gelegenheit zu bieten, selbst zu wählen? Schließlich war er ein Engel, genau wie all die anderen Clowns mit ihren Heiligenscheinen. Genau wie sein Bruder.

Satans zweifelndes Lächeln verriet, dass er ihm das nicht abkaufte. Aber schließlich vertraute der Prinz der Lügen niemandem. Lügner gingen immer davon aus, dass auch alle anderen logen. »Dann dürfte es für dich ja kein Problem sein, mir das zu beweisen, richtig?«

»Und wenn ich doch ein Problem damit hätte?«

»Dann solltest du Harvester fragen, was passiert, wenn mich jemand verärgert, der mir nahesteht. Nun frage ich dich also noch einmal: Du hast kein Problem damit, mir deine Loyalität zu beweisen, richtig?«

Mist. Es gab keinen Quadratzentimeter an Harvesters Körper, innen oder außen, den Satan und seine Kumpane nicht gehäutet, zerschmettert, zerschnitten, besudelt oder geschändet hätten … und sie war seine Tochter. Die Einzige seiner Nachkommen, die er gezeugt hatte, als er noch ein Engel gewesen war. Er hatte sie aufrichtig geliebt; also was würde er wohl mit Revenant anstellen, den er nur eben duldete?

»Natürlich nicht«, brachte Rev heraus.

»Dann läuft es also folgendermaßen ab, Sohn.« Sein schwarzer Blick hob sich zu der Wand hinter Revenant, an der Hunderte Knochenringe an Haken hingen.

Sie wurden Glorienscheine genannt, da man sie aus den Schädeln von Engeln herausgeschnitten hatte. Auch Revenants Mutter hing dort oben an einem speziellen Ort der ultimativen Verhöhnung: an einem umgekehrten Kreuz.

»Du«, fuhr Satan fort, »wirst mir den Kopf eines Engels bringen. Und zwar nicht den irgendeines albernen, kümmerlichen Cherubs oder Seraphen. Ich will einen Engel aus den Rängen der Throne oder höher.«

Seine Strategie war wirklich brillant. In dem Moment, in dem Rev kaltblütig einen Engel tötete, würden sich die Tore des Himmels endgültig und für immer vor Revenant schließen.

Was Satan nicht wusste, war, dass der Himmel ihm seine Tore ohnedies niemals geöffnet hatte.

Satan schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Throns – die passenderweise aus menschlichen Armknochen konstruiert worden war. »Deine Antwort!«

Revenant neigte den Kopf. Er hatte Engel sowieso niemals ausstehen können. »Dein Wille ist mir Befehl.«

»Wirklich?« In Satans Augen leuchtete unermessliche Bosheit, als er in Revs Augen blickte. »Enttäusche mich nicht, mein Sohn. Du hast gesehen, wie ich Verräter bestrafe, aber was ich ihnen angetan habe, wird im Vergleich zu dem, was dich erwartet, ein Kinderspiel. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Gut. Denn das Töten eines einzigen Engels ist nur der Anfang. Als Schattenengel hast du Zutritt zu Orten, die ich nicht erreichen kann, und kannst ganze Legionen von Engeln auslöschen. Deine Macht wird mein Schwert sein, und dein vorrangiges Ziel wird sein, die Engelspopulation des Himmels zu dezimieren, einschließlich meiner Lieblingstochter Harvester«, sagte Satan. Damit würde sich Revs Beziehung zu Reaver wohl von feindselig in ein ausgesprochenes Kain-und-Abel-Szenario verwandeln. »Du hast Zeit bis zu den Sanguinalien, um mir den Kopf eines Engels zu bringen.«

Die Sanguinalien, die zu den wichtigsten Feiertagen Sheouls zählten, würden in einer Woche stattfinden. Also blieben Revenant sieben Tage, um alles vom Himmel zu bekommen, was er wollte, ehe er einen Engel umbrachte und damit aller Welt die Bestätigung lieferte, dass er es verdient hatte, der Zwilling zu sein, der in Sheoul zurückgelassen worden war.

»Geh«, fuhr Satan fort. »Kümmere dich um Gethel. Ich will, dass Luzifer gesund und mächtig zur Welt kommt. Ich freue mich schon darauf, ihn wieder an meiner Seite zu haben.«

Dieser Widerling. Luzifer war abgesehen von Satan der größte Mistkerl gewesen, den Revenant je gekannt hatte. Rev hatte eine ganze Woche lange gefeiert, nachdem Reseph Luzifer in Stücke gerissen und seine Seele nach Sheoul-gra geschickt hatte. Und jetzt sollte der Idiot wiedergeboren werden, und in ein paar Jahren würde er Revenant als zweitbedeutendstes Wesen in Sheoul ersetzen.

Es sei denn …

Nein. Das konnte Rev nicht tun. Wenn er Luzifer vernichtete, würde sein Leiden zur Legende werden. Generationen von Dämonen würden einander Gruselgeschichten über seine Qualen erzählen, während sie Sumpfratten am Lagerfeuer rösteten.

Also nein, Revenant konnte Luzifer nicht töten. Nicht, solange er am Leben hing.

Aber jemand anders … Er grinste.

Auch wenn Revenant nicht in der Lage war, Luzifers Geburt zu verhindern, so kannte er doch jemanden, der es war.

3

Devas Operation, die von Eidolon und seiner Schwägerin Gem durchgeführt wurde, dauerte zehn Stunden. Blaspheme hatte sie angefleht, sich ebenfalls für die OP vorbereiten zu dürfen, aber Eidolon hatte sie auf die Zuschauertribüne verdonnert, wo sie nichts tun konnte, als das Ganze durch ein Glasfenster zu beobachten. Sie hatte keinen Zweifel daran gehabt, dass sich ihre Mutter in den besten Händen der Welt befand, aber trotzdem war es schrecklich gewesen, sich so hilflos zu fühlen.

Während ihre Mutter jetzt in die OP-Nachsorge gefahren wurde, wartete Blaspheme voller Angst auf Eidolons Bericht.

Er kam in das Belegschaftszimmer vor dem OP, und als sie seine niedergeschlagene Miene sah, rutschte ihr das Herz in die Hose.

»Was ist los?«, fragte sie. »Was stimmt nicht?«

Das Stethoskop um seinen Hals tanzte auf seiner breiten Brust, während er auf sie zukam. Wie alle Sex-Dämonen war der schwarzhaarige Arzt unglaublich attraktiv, etwas, das sie an jedem anderen Tag genossen hätte. Etwas, das sie an jedem anderen Tag genoss. Er hatte eine Partnerin, aber Blaspheme war schließlich nicht blind.

»Die OP ist gut verlaufen.« Ein Hauch von Mitgefühl machte seine nüchterne Stimme mild.

»Aber?«

Seine Hände fuhren in die Taschen seines Arztkittels. »Ich konnte ihren gebrochenen Arm richten, die Wunden an Magen, Dickdarm und Leber reparieren und die Verbrennung an ihrem Bein behandeln, aber ich konnte meine Heilkräfte nicht einsetzen. Irgendetwas hat mich daran gehindert.«

»Ich weiß.« Sie blickte nach unten, als sie sich an die Tasse Kaffee in ihrer Hand erinnerte, und nahm einen Schluck. Der Kaffee war kalt und abgestanden, aber es fühlte sich gut an, als er ihre verdorrte Kehle hinablief. »Sie hat sich mit einem Engel angelegt.«

Eine dunkle Augenbraue schoss nach oben. »Das erklärt es.«

»Wird sie wieder gesund werden?«

Stille. Sie dauerte nur einen Herzschlag an, reichte aber aus, um den Milchkaffee in ihrem Magen sauer werden zu lassen.

»Ich weiß es nicht. Ich habe repariert, was ich konnte, aber was für eine Waffe dieser Engel auch immer eingesetzt hat, sie hat ihr Inneres vollkommen auf den Kopf gestellt. Sie hat sogar meine Heilkräfte in ihr Gegenteil verkehrt, sodass sie weitere Schäden anrichtete, was bedeutete, dass es eine ganz besondere Waffe war, so wie Grimmlicht oder Nimbusklinge.«

Was wiederum bedeutete, dass ein spezieller Engel diese Waffe gebraucht hatte. Ein spezieller Engel wie ein Vollstrecker. Oder, wie Deva behauptet hatte, ein Eradikator, ein himmlischer Spezialist fürs Töten. Mit seiner Fähigkeit, Zauber zu durchschauen und Dinge zu spüren, die kein anderer Engel zu spüren vermochte – wie Engels-DNA in jemandem, der keine haben sollte –, war er für Wesen wie Blaspheme der Feind Nummer eins.

»Und was willst du damit sagen?« Eigentlich wusste sie es, aber sie musste es hören. Es musste Realität werden, weil sie sonst in einer Fantasiewelt leben würde, in der alles eitel Sonnenschein war und ihre Mutter sich von selbst erholen würde, so wie es gefallene Engel immer taten.