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Landolf Scherzer ist der Letzte, der sich im Januar 1999 als Berichterstatter beim Thüringer Landtag akkreditieren läßt, um die Parlamentarier bei ihrer Arbeit und im Wahlkampf zu beobachten. Neugierig, nachdenklich, mit Humor und entwaffnender Unbekümmertheit dringt Scherzer - wie schon in seinem fesselnden Buch "Der Zweite" - in die Tiefen des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik vor. Dabei legt er nicht nur die Mechanismen der Macht, nicht nur Kungelei und Korruption bloß, sondern entdeckt auch die Menschen hinter den genormten Politikerfassaden. Einfühlsam werden Biographien Ost- und Westdeutscher protokolliert, Wendehälse, Wendeverlierer und -gewinner porträtiert, einzigartige Schicksale berichtet, die dennoch exemplarisch sind für den Zustand der Republik zehn Jahre nach dem Ende der DDR. Ebenso umfangreich wie der Kreis der Gesprächspartner - neben Abgeordneten aller Fraktionen und dem Ministerpräsidenten z. B. auch der Landtagstischler oder eine Rentnerin im Altersheim - ist der aufgeblätterte Problemkatalog: Investitionsschiebereien, Ausländerfeindlichkeit, Parteispenden, Fraktionsdisziplin, Strukturschwachheit, Arbeitslosigkeit.
Ein ungewöhnlicher Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik, geschärft am Beispiel Thüringens, doch übertragbar auf ein System, das den Glanz der Perfektion und Untadeligkeit längst verloren hat.
"Scherzer hält auch der demokratischen Republik einen Spiegel vor, der manchmal schmerzliche Einsichten liefert." Stuttgarter Zeitung.
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Seitenzahl: 422
Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt als freier Schriftsteller in Thüringen. Er wurde durch Reportagen wie »Der Erste«, »Der Zweite« und »Der Letzte« bekannt.
Im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls seine Bücher »Der Grenzgänger«, »Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten«, »Urlaub für rote Engel. Reportagen«, »Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo«, »Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders«, »Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland«, »Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens« und »Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch« lieferbar.
Landolf Scherzer ist der Letzte, der sich im Januar 1999 als Berichterstatter beim Thüringer Landtag akkreditieren läßt, um die Parlamentarier bei ihrer Arbeit und im Wahlkampf zu beobachten. Neugierig, nachdenklich, mit Humor und entwaffnender Unbekümmertheit dringt Scherzer – wie schon in seinem fesselnden Buch »Der Zweite« – in die Tiefen des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik vor. Dabei legt er nicht nur die Mechanismen der Macht, nicht nur Kungelei und Korruption bloß, sondern entdeckt auch die Menschen hinter den genormten Politikerfassaden.
Einfühlsam werden Biographien Ost- und Westdeutscher protokolliert, Wendehälse, Wendeverlierer und -gewinner porträtiert, einzigartige Schicksale berichtet, die dennoch exemplarisch sind für den Zustand der Republik zehn Jahre nach dem Ende der DDR. Ebenso umfangreich wie der Kreis der Gesprächspartner – neben Abgeordneten aller Fraktionen und dem Ministerpräsidenten z. B. auch der Landtagstischler oder eine Rentnerin im Altersheim – ist der aufgeblätterte Problemkatalog: Investitionsschiebereien, Ausländerfeindlichkeit, Parteispenden, Fraktionsdisziplin, Strukturschwachheit, Arbeitslosigkeit.
Ein ungewöhnlicher Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik, geschärft am Beispiel Thüringens, doch übertragbar auf ein System, das den Glanz der Perfektion und Untadeligkeit längst verloren hat.
»Scherzer hält auch der demokratischen Republik einen Spiegel vor, der manchmal schmerzliche Einsichten liefert.« Stuttgarter Zeitung
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Landolf Scherzer
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Drumherum (1)
Schlagzeilen Januar 1999
Drumherum (2)
Schlagzeilen Februar 1999
Drumherum (3)
Drumherum (4)
Schlagzeilen März 1999
Drumherum (5)
Schlagzeilen April 1999
Drumherum (6)
Schlagzeilen Mai 1999
Drumherum (7)
Schlagzeilen Juni 1999
Drumherum (8)
Schlagzeilen Juli 1999
Drumherum (9)
Schlagzeilen August 1999
Drumherum (10)
Schlagzeilen September 1999
Drumherum (11)
Schlagzeilen Oktober 1999
Schlagzeilen November 1999
Schlagzeilen Dezember 1999
Impressum
Mich friert. Ich laufe vom Erfurter Bahnhof sehr schnell bis zum Parlamentsgebäude an der Arnstädter Straße. Schmutzgraue Reste vom Dezemberschnee auf den Bürgersteigen. Nach einer Viertelstunde Fußmarsch stehe ich vor einem vieltürigen, neu verputzten, gelb gestrichenen Häuserblock mit einem in Stein gehauenen und braun ausgemalten Spruch:
Ȇber jeder Leistung
steht der schaffende Mensch.
Über jedem schaffenden Menschen
steht die Gemeinschaft.«
Sehr klug, denke ich und schreibe ihn ab. Eine ältere Frau mit einer blauen Dederon-Kittelschürze über ihrem dicken selbstgestrickten braunen Pullover, die den Mülleimer ausschüttet, fragt: »Was schreiben Sie da? Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«
Als ich ihr sage, daß ich mich im Landtag umschauen und die heutige öffentliche Parlamentsdebatte anhören will und mir der Türspruch als Motto für die neue demokratische Parlamentsarbeit gefällt, verbittet sie sich, daß ich sie verscheißere. »Der Spruch stammt aus der DDR. Und unser Haus gehört nicht zum Landtag, sondern zur über vierzig Jahre alten Erfurter Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft ›Einheit‹.«
Nur um die Ecke finde ich den langen cremeweiß gestrichenen Landtagsbau mit dem repräsentativen Portal, fünf dicke Pfeiler mit dorischem Kapitell, dahinter schwere Eingangstüren. Davor stehen auf gußeisernen Sockeln zwei mit Lorbeerkränzen gekrönte Fahnenmasten.
Der Pförtner am Empfangstresen im Vorraum ruft beim Besucherdienst an, fragt, ob noch Platz auf der Besuchertribüne ist, belehrt mich vorsorglich, daß oben auf der Besucherempore jede Meinungsäußerung untersagt sei – auch klatschen dürften nur die Abgeordneten unten –, und teilt mir schließlich bedauernd mit, daß heute alle Plätze besetzt oder schon reserviert seien.
Ich könnte allerdings für die nächste Sitzung vorbestellen. Das will ich nicht. Auch weil ich an die alten HO-Gaststätten-Schilder »Sie werden plaziert« denken muß.
Der Pförtner rät mir, als er sieht, daß ich wie ein Schneider friere, die Ausstellung im Landtagsflur anzuschauen oder in der Kantine einen Kaffee zu trinken. »Der kleine kostet nur 90 Pfennig.«
Ich bedanke mich, aber ich möchte keinen Kaffee. Dann bestaune ich noch die goldglänzenden Treppengeländer, die stuckverzierten Decken, schreibe mir den ebenfalls vergoldeten Spruch in der Vorhalle auf:
»Es sei dem Lande Thüringen beschieden,
daß niemals mehr im wechselnden Geschehen
ihm diese Sterne untergehen –
das Recht, die Freiheit und der Frieden«,
nehme die ausgelegten Broschüren über Geschichte und Gegenwart des Thüringer Landtages mit und trotte wieder hinaus in die Kälte.
Bei meinem zweiten Versuch der Annäherung an den Landtag tausche ich meine Rolle als frierender, sich aufwärmen wollender Tribünenbesucher mit der eines Journalisten, der als Parlamentsberichterstatter akkreditiert werden will.
Zwei schöne junge Frauen erledigen unbürokratisch die Anmeldeformalitäten, richten mir ein Landtagspressefach ein, raten, Mitglied der Landespressekonferenz, der Vereinigung der Parlamentsberichterstatter, zu werden. Dann würde ich auch sämtliche Protokolle der Landtagssitzungen erhalten, außerdem mit einer Chipkarte wie die Abgeordneten kostenlos (»nur dienstlich«) telefonieren und das Auto auf dem Parkplatz des Landtages abstellen können.
Als ich erzähle, daß ich bis zur Wahl im September das Parlament und die Parteien beobachten und beschreiben und die neue Demokratie begreifen will, zweifeln die beiden, daß die Zeit zum Begreifen ausreicht.
»Sie sind sicher DER LETZTE, der sich kurz vor dem Ende der Legislaturperiode noch als Berichterstatter anmeldet. Bestimmt ist es schon zu spät, um gründlich hinter parlamentarische Arbeit und Politikertricks zu schauen.«
Zuerst solle ich mich jedoch bei ihrem Chef – »wie fast alle Chefs der Landtagsverwaltung ein schwarzer Wessi« – vorstellen.
Der Landtagspressechef, Regierungsdirektor Thomas Schulz, um die vierzig, glatt gescheiteltes Haar, flinke, aber unsichere Augen, steht hurtig von seinem Stuhl auf und kommt mir trotz zweier Fußprothesen sehr schnell entgegen. Überhöfliche Begrüßung. »Herr Scherzer, wir haben hier im Hohen Haus nichts, aber auch gar nichts zu verbergen. Der Thüringer Landtag ist ein gläserner Landtag. Sie können, ohne es bei mir anmelden zu müssen, ungefragt über die Arbeit aller Abgeordneten schreiben, und die Abgeordneten dürfen Ihnen erzählen, was sie wollen.«
Das freut mich. Mein bisheriges »Wissen« über den Thüringer Landtag beschränkt sich auf Angelesenes:
Der höchste Souverän in der parlamentarischen Demokratie ist das Volk … Verfassungsklage der PDS gegen die automatische jährliche Diätenerhöhung für Thüringer Abgeordnete (zur Zeit 7300 DM und 1900 DM Aufwandsentschädigung) … Die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verantwortlich … Die als Stasi-IM verdächtigte PDS-Abgeordnete Almuth Beck will ihr Landtagsmandat nicht abgeben … Der CDU-Abgeordnete Fiedler prügelt sich im Erfurter Kleopatra-Puff …
Regierungsdirektor Schulz sagt, daß er das Verhalten von Abgeordneten nicht kommentiert. Ihr Privatleben nicht und auch nicht, wie oft jemand bei den Landtagssitzungen in der Kantine Kaffee oder Bier trinken würde. Und er wiederholt, daß ich im Gegensatz zu früher heute alles schreiben darf.
Ich sage, daß ich zuerst den Verwaltungsleiter vom Landtag und den Architekten, der seit 1990 den ehemaligen Rat des Bezirkes umbauen läßt, sowie den Hausmeister und die Handwerker interviewen werde.
Er nickt und verspricht, sofort ein Gespräch mit dem Verwaltungsleiter Eberhard Ott und dem Architekten Gottfried Langelotz vorzubereiten. »Alle Interviews im Hause, gleich ob mit dem Schlosser oder dem Direktor, müssen Sie bei mir anmelden. Mit Herrn Ott und Herrn Langelotz machen Sie wegen der Kleiderordnung am besten ein Doppelinterview. Denn wenn Sie zuerst mit seinem Untergebenen, dem Architekten Langelotz, sprechen, könnte sich der Leiter der Inneren Verwaltung übergangen fühlen. Und das Interview selbstverständlich in meinem Beisein.« Aber vorlegen müßte ich das Geschriebene nur, wenn ich wörtliche Rede verwenden würde.
Ich gehe und suche im Keller ohne Genehmigung die Handwerker. Finde die Materiallager, die Heizungsräume, aber keine Werkstätten. Schließlich kommt mir ein sehr großer Mann mit umgehängter Werkzeugtasche entgegen: der Schlosser, der, wie er sagt, nach den Personaleinsparungen auch der Gärtner des Landtages ist.
Ich frage ihn, in welchem der Kellerräume sich früher die Gestapo-Zellen befanden. Das weiß er nicht. Sagt er. »Ich darf über meine Arbeit und den Landtag keine Auskunft geben.«
Das heutige Landtagsgebäude (in der DDR regierte darin der Rat des Bezirkes) wurde von 1936 bis 1939 als Behördenhaus für insgesamt 1514500 Reichsmark errichtet. Das waren zwar 553500 Reichsmark mehr, als der preußische Staat für das neue Regierungs- und Polizeigebäude in seiner Enklave im Land Thüringen ausgeben wollte, aber Preußen ließ sich seine »Manifestation preußischen Staats- und Bauwesens« in Thüringen etwas kosten (der preußische Ministerpräsident Göring 1933 in Erfurt: »Wir werden keinen Fußbreit preußischen Bodens abtreten!«).
Am 10. Oktober 1936 feierlicher Spatenstich. Fahnendelegationen und ranghohe NSDAP-Würdenträger, 8000 Volksgenossen von Arbeitsdienst, NSDAP, Polizei, SA, SS, Kyffhäuserbund, Feuerwehr und anderen Vereinen amüsieren sich nach völkischen Reden bei Marsch- und Schlagermusik, Ritterspielen, Sportübungen, Feuerwerk, Theaterspiel der Städtischen Bühnen und Ochsen am Spieß.
Bei der Schlüsselübergabe am 6. Mai 1939 fällt die Feier bescheidener aus – man spart schon für den Krieg.
Entstanden ist ein im Stil des preußischen Klassizismus gebauter viergeschossiger kubischer Block mit 108 (ich habe sie gezählt) werksteineingefaßten (schmucklosen) akkurat in Reih und Glied angeordneten Fenstern in der Vorderfront. Das scheinbar endlose Gleichmaß der Fensteranordnung soll preußische Ordnung, Disziplin und das Einfügen in die Gemeinschaft ausdrücken. Eben ein Behördenhaus.
Im Keller Diensträume der Geheimen Staatspolizei.
Und Gefängniszellen für die Verhöre …
Ich bin reich geworden. Bislang habe ich weder ein Depot noch einen Geldtresor besessen. Nun aber gehört mir im Landtag eines der über 300 neben der Poststelle angebrachten Schließfächer, das man im Gegensatz zu einem Banktresor nicht von außen mit eigenen Wertsachen füttern muß, sondern das täglich von innen reichlich gefüllt wird. In Breite und Länge geht ein Schnellhefter hinein, übereinandergestapelt 20 Zentimeter Papier. Nach 10 Tagen passe kein Blatt mehr hinein, da müßte ich es unbedingt leeren, sagt mir ein großer, stämmiger Mann in der Poststelle, der so gar nicht wie ein Postbeamter aussieht, sondern mit seinen Haar- und Bartstoppeln einem grauen Wolf ähnelt. Ich frage, wie lange er vor der Anstellung im Landtag bei der Deutschen Post gearbeitet hat.
»Überhaupt nicht«, sagt er. »Ich bin ein Quereinsteiger.« Von Beruf sei er Werkzeugmacher, später Meister für Maschinenbau und Instandhaltung. Er fragt erstaunt: »Interessiert Sie das?«
Ich nicke.
»Also zuerst war ich bei Jena-Pharm. In dieser Zeit, 68 und 69, haben wir dort die Anti-Baby-Pille produziert. Die Verpackungsmaschine, ein BRD-Patent, wurde nachgebaut und verändert. Unsere lief danach besser als die aus dem Westen.«
Von Jena-Pharm zum Erfurter Dienstleistungskombinat. »War 17 Jahre als Werkstattleiter und Hauptmechaniker für alles verantwortlich – von der Autoreparatur bis zur Waschmaschine. Meine Frau arbeitete dort als Meisterin in der Textilreinigung, und nach der Wende – einen von uns beiden hätten sie garantiert entlassen – bin ich gegangen. Zu Bosch nach Stuttgart und dann in den Erfurter Obi-Baumarkt als Einkäufer. Damals dachte ich mir: Holger, das mit den Baumärkten ist nichts für die Ewigkeit, und deshalb habe ich mich 1991 im Landtag für den Inneren Dienst beworben, aber gleich dazugeschrieben: ›Auch offen gegenüber anderen Stellen.‹ Landtag ist ja was Bleibendes. Die Supermärkte kommen und gehen, aber die Bürokratie bleibt bestehen … Ich hatte Glück, die mußten hier die alten Postleute vom Rat des Bezirkes entlassen, waren ja alles Geheimnisträger in so einer SED-Poststelle … Ich bin außerdem ehrenamtlicher Sicherheitsbeauftragter und Brandschutzbevollmächtigter. Ist das gleiche wie früher, nur anstelle TGL muß man nun DIN schreiben …«
Er gibt mir den Schlüssel für mein Schließfach. Ich öffne es andächtig. Es ist bis oben mit Papier gefüllt.
»Neufassung des § 36 Abs. 1 des Baugesetzbuches … Wertmäßig die meisten Einfuhren nach Thüringen: Autos aus Spanien … Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz … Abgeordneter Dittes (PDS) verlangt vom Innenministerium detaillierte Auskunft über Bewaffnung der Thüringer Polizei … Wertmäßig die meisten Ausfuhren aus Thüringen: Autos nach Italien … Außenbereichsvorhaben im Sinne des § 35 Abs. 2 und 4 BauGB … Einladung zum CDU-Sicherheitsforum nach Bonn … Landtagspräsident Dr. Pietzsch besucht das Fußballspiel 1. FC Carl-Zeiss-Jena gegen FC Berlin …«
Fast hätte ich übersehen, daß neben den Schließfächern wie an Müllcontainern ein dicker Einwurfschlitz mit der Aufschrift »Papier« angebracht ist. Aber ich verstaue alles gewissenhaft in meiner Tasche und denke: Je mehr Informationen, um so besser werde ich auch als der Zuletztgekommene die Landespolitik verstehen. Vorsorglich habe ich allen Thüringer Ministerien und Parteien geschrieben, damit man mir per Fax sämtliche Termine und Neuigkeiten schickt.
Die beste Nachrichtenbörse, hatten mir Insider gesagt, ist die Landtagskantine. Sie erinnert mich trotz des Grünpflanzenschmucks, der modernen Kugellampen und Kunstblumen-Usambaraveilchen auf den Sprelacarttischen an einen Rat-des-Bezirkes-Speisesaal. Allerdings stehen Fernseher im Raum. Sie laufen nur während der Landtagssitzung. So können die Abgeordneten die demokratische Willensbildung auch bei Kaffee und Kuchen und Bier und Bockwurst in der Kantine verfolgen. Eine Bockwurst, die man sich aus einem gläsernen Warmhaltegefäß an der Essentheke angeln kann, kostet 2,10 DM mit Brötchen. Ein großer Pott Kaffee 1,70 DM, ein Köstritzer Schwarzbier 2,00 DM. Das Hauptessen, drei Wahlspeisen werden angeboten, 6 oder 7 DM.
Die Kasse steht mitten im Raum. Ein Mann in weißem Kittel und Schlips kassiert. Ich frage ihn, ob er der Chef ist.
»Die Chefin steht in der Küche.«
Sie ist genau wie er bei der hessischen Firma »Aramak« angestellt, die den Zuschlag für die Gastronomie im Thüringer Landtag erhalten hat. Nein, vom ehemaligen Küchenpersonal sei niemand in das neue Team übernommen worden. Er selbst ist erst ein reichliches Jahr hier, war zuvor diplomierter Abteilungsleiter für Finanzen bei der allmächtigen Thüringer Elektrizitätsgesellschaft (TEAG). Trotz Beteuerung »Wir brauchen ihre Erfahrungen!« Entlassung mit 55. Arbeitslos. Schulden wegen seines Hausbaus. »Dazu plötzlich ein Tumor, eine Geschwulst. Ich dachte: ›Das wars.‹ Aber nun wenigstens hier noch an der Kasse …«
Ich bezahle eine Bockwurst und borge mir zum Lesen die »Süddeutsche« aus dem Zeitungsregal.
»Die können Sie aber nicht mitnehmen, die müssen Sie kaufen«, schreit die Chefin aus ihrem Küchentrakt. »Auch im Landtag muß man bezahlen.«
Ich setze mich still an den Tisch der Parlamentsberichterstatter, die gleichzeitig essen, reden, telefonieren, mich, den Neuen, DEN LETZTEN, in ihrer Runde, taxieren, in Papierstapeln blättern, die Vorübergehenden beobachten und Kaffee trinken. Wahrscheinlich kennen sich alle. Holt einer einen Kaffee, fragt er, ob die anderen auch einen möchten. Das gemeinsame Kaffeeritual wiederholt sich in kreislaufbelastender Geschwindigkeit. Informationen werden wahrscheinlich weniger freigiebig verteilt. Denn ab und an steht einer aus der Runde auf und setzt sich mit einer Dame oder einem Herrn (wohl Minister, Staatssekretäre oder informationsschwangere Abgeordnete) an einen Nebentisch. Die übrigen tun so, als ob es sie überhaupt nicht interessiert, was die beiden am Nachbartisch reden, aber mit einem Ohr lauschen sie doch.
Einer lauscht bestimmt nicht oder verstellt sich sehr geschickt. Ein Typ mit Bartstoppeln sitzt lässig auf dem Stuhl, und ich denke: So haben wahrscheinlich die 68er ausgesehen. Aber dafür ist er zu jung. Er gähnt und beschwert sich über die Riten der Politik. Jürgen Kochinke, »Osterländer Volkszeitung«, 1991 aus dem Westen gekommen.
Er bietet mir an, einen Versuch zu machen. »Siehste den mit dem Seehund-Schnauzer, zu DDR-Zeiten noch Dorfschullehrer, später CDU-Innenminister, der Willibald Böck. Befrage ihn zum Müll, und er wird dir wie alle von der CDU antworten: ›Thüringen braucht große Müllverbrennungsanlagen …‹ Und dann befragste am Nachbartisch den Dicken, Hemdsärmligen, Freundlichen, ja, auch mit Seehund-Schnauzer und zu DDR-Zeiten kleiner Schlosser, den, der die Bockwurst schlingt, den Geschäftsführer der SPD-Fraktion Heiko Gentzel. Er wird dir wie jeder von der SPD sagen: ›Keine Müllverbrennung, die schadet Thüringen, man muß die vorhandenen Deponien nutzen …‹ Ihr in der SED nanntet das Parteidisziplin …«
Die Kantinenchefin schimpft sehr laut. Schon wieder sind Salzstreuer und Pfeffermühlen von den Tischen geklaut worden.
Ich hole Kaffee für alle. Steffen Winter, Berichterstatter der »Thüringischen Landeszeitung«, sagt, als ich ihm die Tasse hinstelle: »Ich habe mir die Stasi-Akten der PDS-Abgeordneten Almuth Beck besorgt. Wenn du willst, kannst du reinschauen.«
Am Fenstertisch sitzt inzwischen ein guter Bekannter, den ich lange nicht gesehen habe: Burkhard Stenzel, Literaturwissenschaftler, der bei der Stiftung Weimarer Klassik gearbeitet und ein vielbeachtetes Buch über Graf Keßler geschrieben hat. Danach wurde er persönlicher Mitarbeiter des SPD-Fraktionsvorsitzenden Frieder Lippmann. Er mampft ein Putenschnitzel, dessen Panade mindestens doppelt so dick ist wie das Fleisch, und schiebt es, als ich mich zu ihm setze, halb aufgegessen zur Seite.
Ich sage: »Wie geht es dir?« Und er fragt, was ich hier mache. Als ich ihm verrate, daß ich über den Thüringer Landtag und den Wahlkampf schreiben will, stutzt er ein wenig. Dann sagt er: »Schön! Da muß ich dir mal von der infamen Pressekampagne erzählen, die die CDU wegen der geklauten Computer gegen unseren Dewes inszeniert hat. Nichts Geheimnisvolles war da drauf. Nichts … Und weißt du auch, daß die SPD gegen den Willen der CDU den sinnlosen, Millionen kostenden Neubau des Landtages verhindert hat? … Und diese geplanten teuren Müllverbrennungsanlagen! Keine Müllverbrennung, die schadet Thüringen, man muß die vorhandenen Deponien nutzen …«
Ich unterbreche seinen Redeschwall und sage freundlich, daß ich eigentlich nur wissen wollte, wie es ihm geht.
Er schweigt. Bringt seinen halbleeren Teller zum Abstellregal und sagt, als er zurückkommt: »Hattest du mich nicht nach der SPD gefragt?«
»Nein«, sage ich.
»Wirklich nicht?«
»Nein«, sage ich, »wirklich nicht.«
Der füllige Heiko Gentzel trippelt mit kleinen, schnellen Schritten durch den Saal. Er rudert dabei, wohl um das Gleichgewicht zu halten, mit den Armen wie ein Pinguin, der das Laufen lernt. Setzt sich schnaufend zu uns, und als Stenzel mich vorgestellt hat, sagt der SPD-Fraktionsgeschäftsführer, während er seine schwarze Weste glattzieht: »Ich bin der Heiko. Soll ich dir einen Kaffee mitbringen?«
Danach reden wir über Parteidisziplin. Heiko Gentzel erläutert, daß es keine Parteidisziplin wie in der SED gibt. »Doch auch eine demokratische Partei ist kein Hühnerhof. Außerdem bin ich zum Beispiel kein popliger Reparaturschlosser mehr, sondern ein Landtagsabgeordneter. Man verdient auch anständig Kohle, kann sich endlich ein paar Wünsche erfüllen. Fängt beispielsweise an, ein Haus zu bauen. Meine Frau wollte, daß ich ein Haus baue. Aber ich habe keins gebaut. Vielleicht ist die Ehe auch deswegen auseinandergegangen. War als Abgeordneter jeden Abend unterwegs und habe nicht mal ein Haus gebaut. Na ja … Andere Abgeordnete haben gebaut und vereinbarten mit der Sicherheit ihrer Diäten hohe Rückzahlraten. Aber nach den ersten vier von den fünf Jahren, für die sie gewählt worden sind, kriegen sie plötzlich das große Grübeln und schließlich Schweißausbrüche: Was wird, wenn ich nicht wieder gewählt werde, aber die Raten weiter pünktlich zahlen muß? Da fängt man an zu strampeln, damit man gut dasteht im Wahlkreis. Aber die Leute wählen einen ja meist nicht direkt, sondern eine Partei. Und die Partei bestimmt, wen sie als Abgeordneten wieder haben will! Setzt sie dich ganz vorn auf ihre Kandidatenliste, bist du abgesichert, da kommst du automatisch wieder rein ins Parlament, kannst die hohen Hausraten weiter bezahlen. Auch eine Art Parteidisziplin. Die Wähler müssen dich in so einem Fall nicht mögen – Hauptsache die Partei mag dich.«
Das Geschirr muß jeder in der Landtagskantine selbst abräumen. Nicht alle Abgeordneten tun das, und so nimmt, wenn gerade keiner an der Kasse steht, der ehemalige Finanzchef der TEAG ein Tablett und trägt die dreckigen Teller in die Küche. (Ich habe am ersten Tag das Abräum-Zeremoniell an den einzelnen Parteitischen beobachtet. Das Ergebnis bestätigte sich in den folgenden Monaten. Am trotzigsten oder revolutionärsten wehren sich die Genossen der SPD. Sie lassen das Geschirr zuhauf stehen. Dicht gefolgt vom CDU-Tisch. Am diszipliniertesten, sich gegenseitig ermahnend, sind die Abgeordneten der PDS. Alte Schule oder Respekt vor der Arbeiterklasse in der Küche?)
Als ich meinen Teller zurückbringe, treffe ich den zweiten Bekannten im Landtag. Er trägt einen maßgeschneiderten Zweiteiler und einen grellbunten Schlips. So lief Heinz schon umher, als er noch der Genosse Betriebsleiter in Ilmenau war und mir stolz das Betriebsferienlager, für das er Extragelder vom FDGB erhalten hatte, präsentierte.
Ich frage ihn, ob er Landtagsabgeordneter geworden sei.
»Um Himmels willen.« Er warte hier nur auf einen Beamten vom Wirtschaftsministerium.
»Du hast wohl deinen Betrieb gekauft?«
»Nein, den nicht, aber einen kleineren.«
»Und wie läuft’s, Genosse Kapitalist?«
Er geht nicht auf meinen Spott ein, erzählt ausschweifend, daß er jetzt schwarze Zahlen schreibt, alle Fördermöglichkeiten gut genutzt hat und zur Zeit nur vom Arbeitsamt bezahlte Leute einstellt.
Man müsse heute alle Fördertöpfe kennen und dazu einen guten Draht zum Wirtschaftsministerium haben. »Die verteilen dort nach Recht und Gesetz, aber wenn du das Geld erst mal hast …« Ein Betriebsleiter in Meuselbach hätte ihm erzählt, wie effektiv sie die Fördergelder verwendet haben. »Sie rationalisierten, kauften neue effektivere Maschinen und konnten dadurch Arbeiter entlassen. Danach machte der Betrieb Gewinn.« Aber das müsse ich nicht schreiben. Normalerweise erfahre niemand in der Öffentlichkeit, welcher Unternehmerfreund vom CDU-Wirtschaftsministerium wie viele Millionen Steuergelder für welche Zwecke erhalten habe. »Das fällt unter persönlichen Datenschutz, auch ein Vorteil unserer neuen Demokratie. Niemand erfährt es.«
»Auch die Abgeordneten nicht, denen die Ministerien rechenschaftspflichtig sind?«
»Nein, auch die Abgeordneten nicht.«
Das bezweifle ich.
Genau wie seine »Insider«-Behauptung, daß einige SPD-Abgeordnete, die wegen der Regierungs-Koalitionsvereinbarung gezwungen sind, immer mit der CDU zu stimmen, bei manchen Entscheidungen vor der Wahl den Saal verlassen und auf die Toilette gehen würden.
Jeden Dienstag nach der Kabinettssitzung informiert Regierungssprecher Hans Kaiser die Journalisten der Landespressekonferenz über die Arbeit des Kabinetts. An der hinteren Wand des Tagungsraumes der Landespressekonferenz prangt auf blauem Grund, umkränzt von acht silbergrauen Sternen, der golden gekrönte, aufrecht gehende Thüringer Staatswappenlöwe, der seinem hessischen »Kollegen« zum Verwechseln gleicht. Die lange Zunge leckt gierig, steil stellt er den mit zwei Widerhaken versehenen Schwanz in die Höhe, und an den Tatzen glänzen sechzehn besonders scharfe goldene Krallen.
Hans Kaiser sitzt genau unter dem Wappentier. Er »verkaufte« die Regierungspolitik von Bernhard Vogel schon, als der noch Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz war, begleitete den Abgewählten dann in die Niederungen der Adenauer-Stiftung und folgte ihm bei der erneuten Gipfelbesteigung nach Thüringen, wo er seinen Chef und dessen Politik durch besonders »ausgewählte Informationen« so gut vor Neugier und Journalistenschelte bewahren konnte, daß ihm 1998 die höchste Negativ-Auszeichnung der Landespressekonferenz, der »Goldene Maulkorb«, verliehen wurde.
Freundliche Begrüßung. Und für mich der Bericht über die Regierungsarbeit zum erstenmal aus erster Hand.
»In Sonderheit hat der Ministerpräsident auf die wachsende Bedeutung der Langzeitarbeitslosigkeit hingewiesen … Saisonal bedingt … Ohne die Jahre unter SED-Herrschaft würde Thüringen heute in Deutschland einen der Plätze von 1 bis 6 belegen … Für die Bundesgartenausstellung in Gera wird sich die Wismut in Gänze einbringen … Der Ministerpräsident hat nachdrücklich einen Bericht über die Vorbereitung in der Kulturstadt Weimar angefordert, der wird in Bälde auf den Weg gebracht … In Sonderheit wird die Landesregierung in Gänze mit Nachdruck und in Bälde noch vor der Landtagswahl auf den Weg bringen und gemeinsam händeln, um einen positiven Abschluß zu saldieren …«
Am Schluß informiert er, daß im Kabinett noch einmal über den Wahltermin zum Thüringer Landtag gesprochen worden ist. (Die SPD hatte mit der Drohung, das Koalitionsbündnis zu kündigen, auf einem Wahltermin im Frühling 1999 – um die Sogwirkung des SPD-Bundestagssieges auszunutzen – bestanden, aber schließlich klein beigegeben und dem Termin der CDU für den 12. September 1999 zugestimmt.)
»Nun hat Herr Minister Schuchardt zu bedenken gegeben, daß europaweit der 12. September als ›Tag des offenen Denkmals‹ begangen wird. Und die Thüringer Ehrenamtlichen, die am 12. September rund eine halbe Million Interessierte durch Museen, Kirchen und andere Denkmäler führen werden, sind meist die gleichen Leute, die sich auch ehrenamtlich als Wahlhelfer zur Verfügung stellen.«
Deshalb Verschiebung! Nein, nicht der Wahl, sondern des Denkmaltages.
Nach diesem letzten Wahltermin-Gefecht der SPD sind Denkmäler in Thüringen schon eine Woche eher als im übrigen Europa zu besichtigen.
Als der Regierungssprecher sich freundlich, wie er gekommen ist, von den Journalisten verabschiedet, bitte ich ihn um die nächsten wichtigen öffentlichen Termine von Ministerpräsident Vogel und frage, ob ich den Ministerpräsidenten begleiten darf. Das sei selbstverständlich möglich, sagt Hans Kaiser, das werde er sofort in die Wege leiten und noch in dieser Woche würde ich die Termine in meinem Pressefach finden.
Je undurchsichtiger für mich das Innenleben im Hohen Haus ist, um so häufiger flüchte ich mich in das Leben drumherum. Gaststätte »Zum Schnitzelheinz«. Feierabendheim. Wetterstation. Augenklinik mit in den Putz eingearbeiteten Bildern sozialistischer Menschen. Eisstadion mit VIP-Eingang. AWG-Wohnblock mit dem »Über allem Geschaffenen steht die Gemeinschaft …«-Spruch. AEG-Gebäude. Gerichtsvollzieher. Mercedes-Leasing. Und Trabant-Ersatzteilladen.
In dem kleinen Geschäft wühlen zwei gut angezogene Männer in den Kästen. Der erste will die Stoßstange von seinem Wartburg, »einem 311er Oldie«, verchromen lassen. Kein Problem, sagt die Frau, zwischen vierzig und fünfzig, die ihr rötliches Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hat.
Das Problem des zweiten, dessen Mercedes vor der Tür steht, bereitet dagegen selbst in diesem Laden, in dem mir zu DDR-Zeiten die Augen übergegangen wären (wegen eines fehlenden Teiles mußte ich noch 1988 meinen Trabant drei Monate stehenlassen), enorme Schwierigkeiten. Er sucht Bremsbacken mit Anhängevorrichtung für die Handbremse. Die muß die Rothaarige in Ungarn, wo noch Trabantteile produziert werden, bestellen.
Aber er hat seinen Trabant dem Schwager geborgt, der damit nach Belgien geknattert ist und dort mit defekten Bremsbacken steht. Morgen will er deshalb nach Belgien fahren.
Sie rät ihm, auf dem Schrottplatz zu suchen, obwohl der Schrottplatz ihr gefährlichster Konkurrent ist.
Die technische Einfachheit des Trabi hatte ihrem Lebensgefährten, einem früheren Unternehmensberater bei Thyssen, sofort imponiert. Der grau melierte, an die siebzig Jahre alte Wessi wieselt, während ich mit seiner, wie er sie nennt, »Königin der Nacht«, rede, im Laden umher. »Als ich dem Trabant unter die Haube geguckt habe, sah ich: Der ist solide gebaut, leicht zu reparieren und bringt eine anständige Leistung.«
1997 überredete er seine Lebensgefährtin, diesen Laden für Zweitakter-Ersatzteile zu eröffnen. Erfahrung hatte Bettina Ujlakan. Sie war fast zwanzig Jahre in der Einkaufsliefergenossenschaft für Kfz-Teile in Erfurt beschäftigt gewesen. »Dort, wo man für einen Nachschalldämpfer sogar Fliesen und ungarische Salami eintauschen konnte. Wer in der DDR mit Ersatzteilen handelte, besaß fast mehr Macht als der SED-Parteisekretär. Und ich behaupte immer noch: Wenn man alle Ersatzteile, die in der DDR in den Kellern lagen, zusammengebaut hätte, wären in der Republik doppelt so viele Trabants gefahren.«
Ihr Lebensgefährte hatte sie mit in den Westen nehmen wollen. »Aber ich bin hier zu Hause. Allerdings …«, sie redet langsam, als könnte ich es falsch verstehen, »allerdings bin ich inzwischen furchtbar enttäuscht vom ehemaligen DDR-Volk. Die jammern und klagen und klagen und jammern. Aber sie sind reich genug, um ihr halbes Leben wegzuschmeißen: die zusammengehamsterten Autoersatzteile, die Polstermöbel, fast noch neu, auf die sie viele Jahre geduldig warten mußten, die stabilen und unverwüstlichen Federkernmatrazen … Alles in die Müllcontainer.«
Der mit dem Mercedes vor der Tür hat noch Nieten für die Bremsbeläge gefunden, die er im Keller liegen hat. Er kann also morgen mit dem Mercedes nach Belgien fahren, um seinen Trabant zu reparieren. Er sagt fast entschuldigend, daß er Vertreter für Ansichtskarten sei. »Da muß ich bei den Geschäften im Mercedes vorfahren.« Aber Mercedes, das sei nur Dienst. »Wenn ich richtig Auto fahren will, ich betone, richtig Auto fahren, nicht nur irgendwohin rasen, dann setze ich mich in meinen Trabant. Das ist Autofahren pur.«
»Ein reparierter und vom TÜV abgenommener fünfzehn Jahre alter Trabant kostet heute«, sagt die Frau mit dem Pferdeschwanz, »schon über 1000 DM. Über 1000 Westmark.«
Thüringens CDU-Landesfraktionschef Köckert äußert Verständnis für die Ankündigung des bayrischen Staatskanzleichefs Huber, angesichts der Zusammenarbeit von SPD und PDS die Aufbau-Ost-Hilfen einzustellen.
Das Asylbewerberheim in Mendhausen, in dem 100 Ausländer untergebracht sind, soll wegen rückläufiger Asylantenzahl geschlossen werden. Bei der Bundestagswahl hatten 25 Prozent der Wahlberechtigten in Mendhausen für die Neonazis gestimmt.
Thüringens SPD-Chef Richard Dewes hält sich alle Optionen für eine Regierung nach der Landtagswahl offen, auch eine Koalition mit der PDS.
Die Gemeinde Hellingen (Kreis Hildburghausen) will, um die Abrißkosten zu sparen, ihr Lenin-Denkmal (steinernes Triptychon mit der Lenin-Aufforderung »Lernen, lernen, nochmals lernen!«) verschenken.
Die PDS möchte sich bei der Landtagswahl von 16,7 Prozent im Jahr 1994 auf 20 + x Prozent steigern.
Ministerpräsident Vogel bezeichnet Thüringen in einem Interview als »Bayern der neuen Länder«.
Der ehemalige Meininger Landrat Puderbach ist wegen Korruption zu drei Monaten und drei Wochen Haft auf Bewährung und zur Zahlung von 10000 DM Geldbuße verurteilt worden. Bis zum Jahr 2000 wird der beurlaubte Puderbach allerdings weiterhin monatlich 5000 DM Gehalt vom Land kassieren.
Die Thüringer Kirche vermarktet ihre Kirchtürme als Sendemasten an Mobilfunkfirmen.
Frau Dagmar Schipanski, von MP Vogel überraschend als Kandidatin der CDU zur Wahl des Bundespräsidenten vorgestellt, äußert in der ARD, daß die doppelte Staatsbürgerschaft als kurzfristiger Schritt zur Integration möglich sei. Tags darauf widerruft sie, und CSU-Landesgruppenchef Michael Glos erklärt, Frau Schipanski verstehe sicherlich sehr viel von Festkörperphysik und werde wohl auch bald in der Lage sein, die Feinheiten der Integrationsbemühungen der CDU nachzuvollziehen.
Die 23jährige Jenenser Studentin Antje Jörgens, Mitglied der Kommunistischen Plattform, will für den Thüringer PDS-Landesvorstand und den Landtag kandidieren.
5200 Thüringer Haushalte müssen mit weniger als 1000 DM monatlich auskommen.
54 Prozent der Thüringer Flüsse gelten als mit Schadstoffen unbelastet bzw. wenig belastet. 1991 waren es nur 15 Prozent.
Als erster in Thüringen unterschreibt Ministerpräsident Vogel die Liste gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Es könne nicht sein, so Vogel, daß man im Sommer Deutscher und im Winter Türke wäre.
SPD-Minister Schuchardt warnt seine Partei vor einer Zusammenarbeit mit der PDS. »Sie ist weder koalitions- noch regierungsfähig.«
Die Journalisten in der Landtagskantine streiten sich, ob die Ilmenauer Professorin »Schimpanski« oder »Schimanski« oder »Schipanski« heißt. Einer weiß, daß sie nach der Wende Rektorin an der TU Ilmenau war. Ein anderer vermutet, daß sie offiziell zwar als parteilos gilt, aber heimliches CDU-Mitglied ist, denn ihr Mann sei Stellvertretender CDU-Landrat des Ilmkreises. Konkretes über ihren vorherigen Job als Präsidentin des Deutschen Wissenschaftsrates weiß niemand. Ein Erfurter Journalist erzählt, daß er, als man ihm mitgeteilt hatte, daß Frau Schipanski sich zur Zeit im Kaisersaal aufhalte, für ein Exklusivinterview nachts noch zum Kaisersaal geradelt ist. Es war eine Fehlinformation. Im Kaisersaal probten lediglich die Erfurter Narren ihre Karnevalsveranstaltung.
Aber alle sind sich einig: Die bedauernswerte CDU-Quotenfrau hat wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht die Spur einer Chance gegen den SPD-Kandidaten Johannes Rau.
Und einer der »alten Hasen im Geschäft«, der Parlamentsberichterstatter der »Thüringer Allgemeinen« Eberhardt Pfeiffer (er ähnelt ein wenig dem sympathischen Meister Nadelöhr aus dem DDR-Kinderfernsehen), sagt grienend: »Schlitzohr Vogel wird sich außer dem Frauen- und Ossibonus für die CDU schon was dabei gedacht haben. Und bedauern muß man die Frau nicht. Auch Niederlagen können adeln und werden später belohnt.«
An diesem Tag, an dem alle über die CDU-Kandidatin für die Wahl zum Bundespräsidenten reden, begegne ich auf dem Gang des Landtages dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Das heißt, nicht dem Original, aber seinem leibhaftigen Double. Groß und rank, sehr gerade gehend, weiß gelocktes Haar. Ich schaue ihn erstaunt an, er lacht und nickt: »Langelotz, Gottfried Langelotz, Architekt in diesem Haus.«
Er weiß schon, daß er mir nur gemeinsam mit Verwaltungsleiter Ott, der zur Zeit krank ist, und Pressechef Schulz das gewünschte Interview geben darf. Aber sein Arbeitszimmer könne er mir zeigen, sagt er, und gegen einen kleinen Rundgang – ohne Interview, nur gucken – hätte der Schulz bestimmt nichts einzuwenden.
An der Wand seines Arbeitszimmers hängt der Entwurf seiner Diplomarbeit. Ein Palast aus Aluminium, Glas und Beton, in den siebziger Jahren von den Japanern in Berlin gebaut. Bis heute noch nicht abgerissen.
»Von mir 1962 entworfen. Um die Fenster zu malen, habe ich mir damals besonders gute weiße Farbe vom Cousin aus dem Westen schicken lassen. Und die silberne Aluminiumfassade klebte ich aus dem Silberpapier der Duett-Zigarettenschachteln.«
Wenn Gottfried Langelotz redet, kann ihn kaum jemand stoppen. Erotische Witze und Kindheitserinnerungen. Und die Politik. Er ist Mitglied der CDU und Stadtrat in Erfurt. »Allerdings keiner von den getreuen Gefolgsleuten. Ich sage, was ich als Architekt denke, und nicht, was die CDU-Fraktion will, daß ich es denke. Denn was wir heute für Erfurt beschließen oder ablehnen, hat noch in hundert Jahren Bestand. Ob es dann allerdings noch eine SPD oder eine CDU gibt, bezweifle ich.«
Wir gehen durch das Haus. Den Umbau des Rates des Bezirkes habe er von Anfang an mit geleitet. Zuerst seien die gut bezahlten Berater aus Hessen gekommen, und die hätten verlangt, daß die Wände nicht wie bei den Nazis im Behördenhaus braun und die Fußböden schwarz-weiß-rot gestrichen werden sollten, sondern alles in Orange. »Orange in einem thüringischen, klassizistischen Bau! Da habe ich gegen die Hessen das ruhige Grün durchgesetzt. Sieht gut aus, nicht?«
Ich nicke. Und das Gold von Geländern, Türklinken und Stühlen, das passe dazu. »Habe ich damals alles ziemlich billig bekommen, die Türklinken beispielsweise von 190 DM auf 70 DM runtergehandelt. Und die Stühle, ein bißchen im Bauhausstil, für 800 DM bekommen. Das war ein Schnäppchen.« Er sei bereits als Kind zur Sparsamkeit erzogen worden. »Egal, ob es mein Geld ist oder das vom Staat.«
Vater Langelotz war Landesobermeister der Erfurter Fleischerei-Innung, hatte einige Geschäfte und Angestellte. »Aber zu Hause war nie Fettlebe. Wir haben nur die beim Kochen geplatzten Würste gegessen. Noch als Student mußte ich Bratwürste füllen und haargenau nachwiegen. Jede Wurst 100 Gramm. Und wehe, wenn 10 Würste mal 1 Kilo und 50 Gramm wogen.«
Er zieht sein Jackett aus und zeigt mir das Firmenetikett. »Den Anzug hat uns der Westcousin vor über fünfundzwanzig Jahren geschickt. Aber mein Bruder, der die Familienfleischerei schon übernommen hatte, wollte keine abgetragenen Anzüge aus dem Westen. Da habe ich sie genommen. Und trage sie immer noch.« Seinem Enkel zeigt er heute, wie man krumme Nägel wieder geradeklopft und aufbewahrt.
Als ich im zweiten Stockwerk an der Wand einen klassizistischen Sockel sehe, auf dem niemand thront, sage ich lachend: »Hier waren Sie wohl zu sparsam.«
Er schüttelt den Kopf. »Da stand bis 1945 ein Kopf drauf. Aber wir haben uns 1990 nicht einigen können, wen wir draufstellen. Herr Ott wollte den Goethe, der Landtagsdirektor den Bach, ich eine klassische Amphore. Also blieb der Sockel leer.«
Ich frage den Landtagsarchitekten, ob wir noch hinunter in den Keller gehen könnten. »Mich interessiert, wofür heute die Räume der ehemaligen Gestapo-Zellen genutzt werden.«
»Nein, danach fragen Sie besser Herrn Ott. Das hier ist kein Interview, kein offizielles Gespräch, nur ein Rundgang.«
Ich wechsle das Thema, frage nach dem Fußbodenbelag im langen Flur des Landtagspräsidenten. Mir ist aufgefallen, daß die schöne Regelmäßigkeit der Fußböden, an den Rändern ockerfarben und in der Mitte grün belegt, dort durchbrochen worden ist. Der Flur des Präsidenten ist an den Rändern grün und in der Mitte ockerfarben.
»Das habe ich bewußt gemacht, damit es sich unterscheidet. Schließlich sitzen der Präsident und seine Mitarbeiter hier. Ehre, wem Ehre gebührt.«
Der erste Thüringer Minister, den ich in Aktion erlebe, ist der für Justiz- und Europaangelegenheiten, Otto Kretschmer (SPD). Klein, korpulent, freundliche Augen, ein bißchen väterlich. Der Minister berichtet den Journalisten über eine ministerielle Arbeitsgemeinschaft, die einen Leitfaden zur Verhinderung von Korruption in den Ministerien zusammengestellt habe, unter anderem enthalte das Material die Empfehlung, Beamte, die öffentliche Ausschreibungen vergeben, nach einer bestimmten Zeit auszuwechseln. Außerdem soll ein Antikorruptions-Beauftragter, ein Ombudsmann, ernannt werden, bei dem jeder Bürger anonym Korruptionsfälle anzeigen könne. Der Ombudsmann werde stellvertretend für die ungenannt bleibenden Bürger Korruptionsfälle an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. »Natürlich auch Fälle, in die Regierung oder Staatsbeamte verwickelt seien.«
Ich frage den Minister, wann der Ombudsmann seine Arbeit aufnehmen wird.
»Sehr, sehr bald!« Arbeitszimmer und Telefon wären vorhanden. Aber leider sperre sich ausgerechnet der Finanzminister Trautvetter, der momentan keinen Pfennig für eine Anstellung dieses Antikorruptionsbeauftragten bewillige.
»Aber ich werde nicht lockerlassen, der Ombudsmann muß vor den Landtagswahlen bestätigt werden«, sagt der Minister. Die Bürger hätten ein Recht, vor den Wahlen über eventuelle Korruptionsaffären in der Thüringer Wirtschaft, bei Ministerien oder in den Parteien informiert zu werden.
Immer, wenn ich am Block der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft vorbeilaufe, klingele ich bei irgendeinem Namensschild, habe aber erst Ende Januar am Tag der Landtagssitzung bei »Czech« Glück. Eine ältere Frau mit starker Brille öffnet. Sie wohnt seit über vierzig Jahren hier, ihr Mann war der Bauleiter, als sie 1955 gemeinsam begannen, die Fundamente für diesen Block auszuschachten.
Aber den Spruch hätte nicht er ausgesucht. Sie findet ihn immer noch gültig, liest ihn manchmal sogar laut, so als müßte sie sich überzeugen, daß er noch dort steht. Es sei ein Wunder, daß ihn noch niemand beseitigt habe, heute in dieser Gesellschaft, in der Worte wie »Gemeinschaft« und »Arbeit« unanständig klingen. »Arbeit als der Sinn des Lebens und nützlich sein für die Gemeinschaft gilt vielleicht noch für einige Idealisten. Man sollte besser nicht sagen: Ich gehe arbeiten, sondern: Ich gehe Geld verdienen. Und möglichst, ohne zu arbeiten.«
Sie rät mir, wegen des Spruchs am Nachbareingang zu klingeln. »Dort wohnt der Herr Dorn, der Architekt des Blocks.«
Ich klingele, niemand öffnet.
Die Pförtner im Landtag tragen heute Schlips. Einer schiebt vor der Tür zum großen Sitzungssaal Wache, denn den dürfen während der Tagung des Hohen Hauses nur die Abgeordneten, Minister und Staatssekretäre betreten. Für alle anderen, auch die Journalisten, gibt es den Weg über Hof, Hintereingang und Hintertreppe hinauf zur Besuchertribüne.
Ich setze mich in die erste, für die Presse reservierte Reihe. Hinter mir bugsiert der Besucherdienst Schulklassen auf die Tribüne, ermahnt zu Disziplin und Ruhe. Unten im Saal stehen und schwatzen die Abgeordneten. Nur der Landtagspräsident sitzt, die Fahnen der Bundesrepublik Deutschland, des Freistaates Thüringen und der Europäischen Union im Rücken, bereits an seinem erhöhten Tisch. Vor sich eine goldglänzende Glocke und neben sich zwei goldene Gefäße, die wie Beerdigungsurnen aussehen. Vor dem Podest des Landtagspräsidenten stehen die Tische und Stühle für die Minister und ihre Hintermänner, die Staatssekretäre.
Um 9 Uhr beginnen sich die Damen und Herren Abgeordneten zu setzen. Von oben gesehen, rechts die 29 Abgeordneten der SPD in Vierertisch-Reihen, in der Mitte die 42 Abgeordneten der CDU in Sechsertisch-Reihen und links außen nur an Zweiertischen, wie in einer Schulklasse, die 17 PDS-Abgeordneten. Sie fallen auch dadurch auf, daß einige von ihnen weder Schlips noch Anzug tragen.
Um 9.04 Uhr greift der Landtagspräsident zur Glocke.
»Meine Damen und Herren, ich darf die 91. Plenarsitzung des Thüringer Landtages eröffnen … ich will wirklich nicht stören, auch Herrn Minister Dewes« (der steht noch und unterhält sich) »nicht …«
Heiko Gentzel ruft dazwischen: »Den können Sie nicht stören.«
Der Landtagspräsident entschuldigt sich: »Es tut mir leid, das ist sonst nicht meine Art, die Landesregierung zu kritisieren.« Danach verliest er zwei Anträge auf zusätzliche Tagesordnungspunkte. Die PDS möchte die »Einbürgerung als Menschenrecht« diskutieren und die SPD den »Vertrag über die abschließende Finanzierung der ökologischen Altlasten im Freistaat Thüringen«.
Mit dem Antrag der PDS geht es sehr schnell. Landtagspräsident Dr. Pietzsch: »Ich gebe hier zur Kenntnis, daß ich diesen Antrag für nicht in die Kompetenz des Landtages fallend halte.«
Unterstützung von der CDU: »Wir lehnen es aus kompetenzrechtlichen Gründen ab, diesen Antrag hier zu behandeln.« Die CDU klatscht.
Die SPD schweigt.
Abstimmung. Alle CDU-Abgeordneten lehnen den Antrag ab. Bei der SPD enthalten sich vier der Stimme. Der bärtige PDS-Abgeordnete Dittes ruft noch »Skandal«, aber da verkündet der Landtagspräsident schon:
»Wir kommen dann zur Abstimmung über den nächsten …«, unterbricht, weil sich die PDS-Abgeordnete Tamara Thierbach heftig zu Wort meldet, »bitte, Frau Abgeordnete, zum Abstimmungsverhalten? Bitte.«
»Ich möchte zu meinem Abstimmungsverhalten erklären, daß ich der Meinung bin, daß es dem Landtag guttut, Bürgerinnen und Bürger des Landes Thüringen aufzurufen, für ein tolerantes Miteinander und gegen Fremdenfeindlichkeit einzutreten.« Die CDU-Abgeordneten murren. Die PDS-Leute klopfen auf den Tisch.
Der Präsident: »Danke. Ich komme dann zum Antrag …«
Dittes ruft noch einmal dazwischen: »Das ist skandalös, was hier abgeht.«
»Zum Antrag der SPD-Fraktion und zwar ›Vertrag über die abschließende Finanzierung …‹ auf die Tagesordnung zu nehmen … Danke sehr. Das ist die Mehrheit … Damit ist dies auf die Tagesordnung genommen.«
Nachdem die »Einbürgerungsgefahr« gebannt ist, verläßt der Ministerpräsident sichtlich zufrieden den Saal. Und die meisten Abgeordneten beginnen, sich mit Zeitschriften und Zeitungen unter oder auf den Tischen weiterzubilden. Auch »Neues Deutschland« und »FAZ« sind dabei. Aber die bunten Hefte von »Super-Illu« bis »Praline« und die »Bild«-Zeitung dominieren.
Nur zweimal werden die Abgeordneten ernsthaft gestört. Einmal planmäßig, als sie zwischen »Flugreise von Elefantenbabys nach Thüringen« und »Mord an einem Schulkind« bei der Abstimmung über das »Jugendhilfeausführungsgesetz« aufstehen. Gesetze müssen (wohl wegen der Ehrfurcht vor dem Gesetz) durch Aufstehen angenommen oder abgelehnt werden.
Das zweite Aufstehen allerdings ist außerplanmäßig, denn das »Architektenrentengesetz« wird nach kurzer Aussprache in erster Lesung sofort in die zweite, nun diskussionslose Lesung überwiesen und anschließend angenommen.
Nach der Zeitungsschau lichten sich die Reihen der Abgeordneten im Saal. 88 müßten unten sitzen, aber gegen 10 Uhr zähle ich nur noch 29, und von den Ministern sitzt Otto Kretschmer mutterseelenallein hinter einem einen viertel Meter hohen Aktenstapel (hoffentlich ist die Vorlage für den Antikorruptionsbeauftragten dabei) und arbeitet fleißig. Wenn die Abgeordneten den Saal verlassen, gehen sie sehr schnell und geschäftig wie zu einem wichtigen Termin. Meist tragen sie dicke Papierstapel unter dem Arm. Später kommen sie sehr schnell und geschäftig, die Papiere nun nicht mehr unter dem rechten, sondern unter dem linken Arm, zurück.
Zur vom Präsidenten ausgerufenen Mittagspause haben die meisten Abgeordneten schon gegessen. Am Salatbuffet gibt es deshalb nur noch Kraut- und Blattsalat. Innenminister Richard Dewes holt sich Schichtkraut.
Ich sage ihm: »Das sieht aus wie Koalitionskraut.«
»Ja«, meint er, »wenig Fleisch und viel, viel Kraut.« Aber er verrät mir nicht, wer in der Koalition das Fleisch und wer das Kraut ist.
Vogel holt sich zwei Bockwürste, hat an der Kasse allerdings nicht genügend Kleingeld und borgt sich zwei Mark von einem hinter ihm stehenden SPD-Abgeordneten.
Nach dem Essen bin ich schläfrig und bewundere die Abgeordneten, von denen nur ein PDS-Genosse und ein Unionsfreund kurz einnicken. Die übrigen halten sich mit ihrem drehbaren Stuhl in munterer Bewegung. Am beliebtesten, gleich ob vorn einer von der eigenen oder von einer anderen Partei redet, sind die Drehungen um 180 Grad zum Hintermann. Die Thüringer Schicksalsfragen, vermute ich, werden nicht vorn am Rednerpult, sondern bei Gesprächen mit dem Nachbarn gelöst. Und ich staune, wie die Abgeordneten mitten in ihrer Unterhaltung, ohne hören zu können, was vorn gesprochen wird, immer gleichzeitig ihren Beifall auf die Tische klopfen. Reden weiter mit dem Hintermann, hören nicht, was vorne gesagt wird, aber trommeln. Trommeln wie afrikanische Buschtrommler, doch die übermittelten wirklich Nachrichten. Und oben auf der Besucher- und Pressetribüne steht ein Kameramann, wahrscheinlich der einzige, der immer nach vorn gucken muß, und flucht, wenn einer auf der Tribüne vorbeiläuft, denn dann wackelt sein Kameraaufbau, und der Redner tanzt auf den Bildschirmen.
Das lustige Gleichmaß von Gehen, Drehen und Reden wird noch einmal bei der von der PDS geforderten Debatte über den Krieg im Irak gestört. Denn nach der Debatte (CDU-Abgeordneter Sonntag empört an die PDS: »Sie sind nicht der richtige Anwalt für dieses Thema, schämen Sie sich.«) verlangt die PDS namentliche Abstimmung über ihren Antrag »Thüringer Forderung zur bundespolitischen Bewertung des Krieges gegen den Irak«, und mit dieser Ankündigung verwandelt sich das Hohe Haus in einen Ameisenhaufen. Alle, die gerade noch draußen waren, rennen und hasten nun zur Saaltür herein, denn wer zur namentlichen Abstimmung nicht erscheint, verliert (so hat es beispielsweise die CDU-Fraktion beschlossen) 100 DM seines Abgeordnetensalärs.
Ausgezählt werden 14 Stimmen für den Antrag der PDS, 55 dagegen und fünf Enthaltungen. Einer, der sich beim Urnengang enthalten hat, mit seinem weißen Vollbart ähnelt er einem Philosophen, ist der kulturpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Harald Seidel. Sofort nach der Abstimmung erklärt er, es klingt wie eine Entschuldigung: »Ich habe mich bei diesem Antrag der Stimme enthalten, da ich in dieser Frage die Haltung der französischen Regierung teile …« (Nach der Sitzung – sie ist trotz eines Streites zum Sozialbericht, ob es in Thüringen Armut (PDS) oder nur eine Scheinarmut (CDU) gibt, mit einem Tag Planvorsprung um 18.15 Uhr beendet worden – frage ich Harald Seidel, ob es üblich ist, daß ein Abgeordneter bei namentlicher Abstimmung anschließend dem Hohen Haus seine Entscheidung erläutert. Nein. Aber er hätte deutlich machen müssen, daß er als Mitglied der SPD-Fraktion durch seine Stimmenthaltung nicht die PDS unterstützt.)
Die Sitzung leitet inzwischen der Vizepräsident, ein kleiner, schnauzbärtiger, ein bißchen traurig – so sieht es von oben aus – dreinblickender Mann …
Vor drei Jahren hatte ich beim Walter-Werner-Lyrikwettbewerb in Meiningen einem Nachwuchsdichter mit forschem Schnauzbart, unbändig nach allen Seiten abstehenden kurzen Haaren und Nickelbrille einen der sieben 100-DM-Preise für die besten Gedichte überreicht.
Hiersein und sitzen und
warten geduldig abschnurren
lassen die Zeit
Nur noch Zement
festgetreten und Schotter
grauer auf meiner Netzhaut
ein sichtbarer Riß
Rotfleckige Äpfel verfaulen
im Gras
farblose Fetzen flattern
im Wind.
Als ich am nächsten Morgen sehr zeitig nach Erfurt fuhr, stieg der Lyrikpreisträger in Erfurt aus dem letzten Wagen des Meininger Zuges. Ich tippte wegen der Jeans und dem Parka auf Student, klopfte ihm auf die Schulter und fragte spottend: »Hast die 100 Märker hoffentlich nicht auf einmal versoffen?«
Er guckte sehr verstört.
»Studierst du in Erfurt?«
»Nein.«
»Was machst du dann?«
Er schaute mich sehr lange an, bevor er sagte: »Na ja, das, was ich mache, ist eigentlich kein richtiger Beruf …«
Doch so ein asozialer Dichter, dachte ich, sprach es aber nicht aus, sondern provozierte: »Wohl BND?«
Da blieb er stehen. »Nein, ich bin SPD-Landtagsabgeordneter. Von Beruf Lehrer und im Thüringer Landtag Vorsitzender des Bildungsausschusses.«
Nach dieser Bemerkung stotterte ich. Und entschuldigte mich.
Bevor er in die Straßenbahn einstieg, sagte er: »Kannst aber trotzdem weiter du zu mir sagen.«
Nun habe ich Hemmungen, den Vizepräsidenten Hans-Jürgen Döring (immer noch mit Schnauzer und immer noch mit unbändig nach allen Seiten abstehenden kurzen Haaren) mit »du« anzureden. Er trägt unter dem Anzug jetzt eine Weste.
Schließlich frage ich ihn, ob er noch Gedichte schreibt.
Er nickt und nimmt die Mappe, die vorn auf dem Präsidententisch lag und aus der er Verordnungen und Landtagsdrucksachen zitiert hatte, blättert darin und gibt mir ein Blatt mit sieben Zeilen.
Hin und wieder
steife Glieder
schlechte Wetter
leere Blätter
beständig besoffen
hoffen und hoffen.
Dem Landtag gegenüber steht ein fahrbarer Meßwagen mit den aluminiumglänzenden Geräten einer Wetterstation. In dem Meßwagen sitzt ein junger Wettermacher im dicksten Tabaknebel. Auf seinem Computer liegt ein halbes Dutzend Pfeifen. Er untersucht im Auftrag des Münchner Institutes für Epidemiologie die gefährlichen Schwebstoffpartikelchen in der Erfurter Luft.
Als Paul Misching 1991 zum erstenmal nach Erfurt gekommen ist, war er begeistert von der Schadstoffkonzentration. »Sie war damals so hoch, wie wir sie (weil wir unsere Versuche zu spät begonnen hatten) in der alten Bundesrepublik leider nie messen konnten. Und hier plötzlich fliegende ›Braunkohleklumpen‹. Da bist du glücklich wie ein Biologe, der noch einen lebendigen Flugsaurier findet.« Inzwischen ist Erfurt fast rußfrei. Dafür wimmeln an die 18000 winzig kleine Partikelchen in einem Kubikzentimeter Luft.
»Und diese kleinen Teilchen gab es früher noch nicht?«
Die hätte es gegeben, aber sie konnten damals nicht frei umherschweben, denn sie haben die Eigenschaft, sich immer an die großen Teile zu binden.
Der Münchner, inzwischen ist er mit einer Frau aus dem thüringischen Hettstedt verheiratet, versucht mir die physikalischen Vorgänge politisch zu erklären. Große Schadstoffteile, also Führer, haben die Eigenschaft, kleine Schadstoffteile, also Volk, an sich zu binden. Wenn die Führer aber, also die Braunkohle»klumpen«, verschwinden, wie hier nach der Wende geschehen, suchen die kleinen Teilchen verzweifelt einen neuen Führer, dem sie sich anschließen können. Und wenn sie keinen finden, schweben sie ungebunden und unkontrolliert führerlos umher und sind ungebunden gefährlicher als die großen. »Setzen sie sich in der Lunge ab, können kranke, schon sehr geschwächte Menschen davon sterben«, sagt er, zündet sich eine neue Pfeife an und hofft auf konkrete Ergebnisse seiner Studie über die Gefährlichkeit der frei umherschwebenden, führerlosen, kleinen Schadstoffe.
Als ich nach der Landtagssitzung von der Besuchertribüne herunterkomme, steht Heiko Gentzel schon in der Landtagskantine und leert eine Flasche Bier auf ex. Er stöhnt genußvoll und ist froh, »daß dieser Scheißantrag der PDS auf ›Einbürgerung als Menschenrecht‹ nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Hätten die Kommunisten ihn nicht so weltumspannend allgemein, sondern konkret auf Thüringen bezogen formuliert, also gegen die Unterschriftenkampagne der CDU, dann wäre uns SPD-Genossen der Arsch auf Grundeis gegangen. Wir dürfen nun mal wegen der Koalition nicht mit der PDS gegen die CDU stimmen.«
Ich frage ihn: »Geht dir als Schlosser solches Gekungel nicht gegen den Strich?«
»Quatsch, Arbeiter sein bedeutet doch nicht: blöd sein. Wir haben in unserer Reparaturbrigade im Eisenacher Wartburg-Werk zuvor auch ausgekungelt, wer dran ist mit sozialistischer Hilfe, um im Fleischkombinat die Gabelstapler zu reparieren. Da sprang nämlich immer ein ordentlicher Schinken oder eine Salami raus. Und was rauskommen muß dabei. Alles andere ist moralischer Schwachsinn.«
SPD-Fraktionsgeschäftsführer Gentzel ist das Gegenstück zum SPD-Landtagsvizepräsidenten Döring. »Der Hans-Jürgen hatte als Lehrer vom DDR-System die Schnauze voll, sozusagen ein DDR-Trauma. Nach der Wende Euphorie. Aber dann, als er auch mit der neuen Gesellschaft seine Probleme hatte, fing er wieder an zu grübeln. Ich sage mir immer: Heiko, grübele nur, wenn es eine Lösung gibt, wenn es auch was bringt.«
Als Heiko Gentzel im Landtag begann, neue Gesetze für Thüringen mitzuformulieren, war er dreißig Jahre alt und hatte zuvor nur Gabelstapler, Traktoren, Bagger, Feuerwehrpumpen, W50 und Mistlader repariert.
Bis 1976 wohnte er mit seinen Eltern (Vater arbeitete bei der Wasserwirtschaft), zwei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern auf dem Erfurter Anger. Als gleichzeitig in allen Bezirksstädten Einkaufs- und Flanierstraßen geschaffen wurden, mußte auch der Erfurter Anger »freigezogen« werden. Vater Gentzel spürte, daß aus dieser Situation was zu holen war, lehnte alle angebotenen Ersatzwohnungen ab und verlangte – seinerzeit eine Utopie – eine 5-Raum-Wohnung für die Familie und außerdem eine Einzimmerwohnung für die älteste Tochter. Die Familie zog auch dann nicht aus, als drumherum die Fenster schon gardinenlos und alle Mülltonnen eingesammelt waren.
»Und während eine Staatsdelegation die Baustelle besichtigte, kippte der Vater unseren Müll in die Baugräben. Eine Woche später hatten wir beide Wohnungen.«
Heiko, der 1960 geboren ist, hat seine Kindheit nicht in der großen Wohnung verlebt. »Eine Kindheit, die, wenn ich es aus heutiger Sicht betrachte, sehr ärmlich war, aber deshalb vielleicht auch reicher. Nie vergesse ich, wie Vater zu Silvester einen großen Topf mit Öl füllte und darin Pfannkuchen buk. Ich habe den Geschmack dieser Pfannkuchen heute noch auf der Zunge … Im Frühling legten wir regelmäßig unsere durchgesessene rote Plüschcouch verkehrt herum auf den Tisch. Vater brachte neue Holzverstrebungen an, und wir Kinder befestigten die Sprungfedern mit Bindfäden.«
Er hält inne, schüttelt den Kopf. »Heute schläft unsereiner bei den Bundestreffen der SPD-Fraktionsgeschäftsführer in Hotels, da trauste dich kaum aufs Scheißhaus, so vornehm sind die. So vornehm kann man gar nicht scheißen. Und ich hänge in diesen Hotels immer zwei, drei Anzüge raus, die lasse ich mir reinigen und bügeln, da habe ich wieder was Frisches in meiner Eisenacher Bude.«
Gelernt hat er Landmaschinenschlosser. Eine ordentliche Ausbildung. Schlosser mußten getreu dem DDR-Wirtschaftsmotto »Aus alt mach neu« schmieden, drehen und schweißen können. »Für die Gabelstapler aus Bulgarien gossen wir aus Gummi sogar Dichtungen.«