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Landolf Scherzer

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Beschreibung

Als Landolf Scherzers Reportage „Der Erste“ 1988 erschien, war das eine Sensation: noch nie hatte es eine Innenansicht aus dem Parteiapparat gegeben, noch nie waren so anschaulich die inneren Probleme der DDR beschrieben worden. Scherzer, „eine Art Wallraff ohne Maske“ (Der Spiegel), hatte vier Wochen lang den ersten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen begleitet, und dieses bis dahin nicht denkbare Beispiel für Glasnost hatte vor allem die Überforderung der Funktionäre angesichts zunehmender Schwierigkeiten offenbart. Das Buch gehörte zu den meistdiskutierten Publikationen in der DDR. Ende 1989 war Scherzer wieder mit dem Ersten unterwegs und dokumentierte die Auflösung der alten Machtstrukturen.

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Über Landolf Scherzer

Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt als freier Schriftsteller in Thüringen. Er wurde durch Reportagen wie »Der Erste«, »Der Zweite« und »Der Letzte« bekannt.

Im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls seine Bücher »Der Grenzgänger«, »Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten«, »Urlaub für rote Engel. Reportagen«, »Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo«, »Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders«, »Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland«, »Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens« und »Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch« lieferbar.

Informationen zum Buch

Als Landolf Scherzers Reportage »Der Erste« 1988 erschien, war das eine Sensation: noch nie hatte es eine Innenansicht aus dem Parteiapparat gegeben, noch nie waren so anschaulich die inneren Probleme der DDR beschrieben worden. Scherzer, »eine Art Wallraff ohne Maske« (Der Spiegel), hatte vier Wochen lang den ersten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen begleitet, und dieses bis dahin nicht denkbare Beispiel für Glasnost hatte vor allem die Überforderung der Funktionäre angesichts zunehmender Schwierigkeiten offenbart. Das Buch gehörte zu den meistdiskutierten Publikationen in der DDR.

Ende 1989 war Scherzer wieder mit dem Ersten unterwegs und dokumentierte die Auflösung der alten Machtstrukturen.

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Landolf Scherzer

Der Erste

Mit einem weiterführenden Bericht»Der letzte Erste«

Inhaltsübersicht

Über Landolf Scherzer

Informationen zum Buch

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Der Erste

Vorbemerkung

Montag, 10. November 1986: Hübscher Graben

Verschiedene Arbeiter, unterschiedlichen Alters, in der Salzunger »Bierstube«

Dienstag, 11. November: Frische Semmeln

Diane, 22, und Sandro, 18, die Kinder des Ersten

Mittwoch, 12. November: Blinder Kunde

Hans Georg Fischer, 51, Chef über alle Zahlen im Kreis

Donnerstag, 13. November: Rote Reiterarmee

Hans-Dieter Fritschler, 45, erzählt auf der Rückfahrt vom Kissel von seinen ersten politischen Schulen

Freitag, 14. November: Alte Hütte

Hermann Machalett, 52, Dermbach

Montag, 17. November: Verhinderte Bestrafung

Schwester Else Schulz, 74, Feierabendheim Bad Salzungen

Dienstag, 18. November: Schöne Träume

Wilhelm Buch, 48, Parteisekretär im VEB Aluminiumwerk Fischbach

Mittwoch, 19. November: Ungleicher Lauf

Ingrid Fritschler, 46, die Frau des Ersten

Donnerstag, 20. November: Heilige Kühe

Helmut Dell, 32, stellvertretender Meister im Mischraum des VEB Hartmetallwerk Immelborn, Held der Arbeit

Freitag, 21. November: Einsichtige Kripo

Zeitungsbericht der Kreisredakteurin über das Familiengespräch, das der 1. Sekretär der Kreisleitung der SED, Genosse Hans-Dieter Fritschler, am »Tag der politischen Massenarbeit« im Neubaugebiet Salzungen-Allendorf führte

Montag, 24. November: Aufsässiger Kartoffelkönig

Werner Schäfer, 56, Vorsitzender der LPG Pflanzenproduktion Tiefenort

Dienstag, 25. November: Unterschiedliche Wahrheiten

Klaus Martin Luther, 37, Parteisekretär im VEB Kabelwerk Vacha

Mittwoch, 26. November: Eingesparte Ritterrüstung

Genosse Ambrosi, 35, Bürgermeister in Merkers, versetzt nach Tiefenort

Donnerstag, 27. November: Billige Frisur

Reinhard König, 46, Leiter des Staatlichen Sinfonieorchesters Bad Salzungen

Freitag, 28. November: Fehlende Hohlkörper

Jürgen Riese, 42, : 2. Sekretär der SED-Kreisleitung Bad Salzungen

Montag, 1. Dezember: Versäumter Empfang

Alma Fritschler, 66, die Mutter des Ersten

Dienstag, 2. Dezember: Vergilbte Losungen

Martina Daske, 27, Diplomingenieurin, Leiterin eines Jugendforscherkollektivs im Kaltwalzwerk Bad Salzungen

Mittwoch, 3. Dezember: Ökonomische Zwänge

Eberhard Stumpf, 47, Vorsitzender des Rates des Kreises Bad Salzungen

Donnerstag, 4. Dezember: Ängstigende Offenheit

Nachbemerkung

Der letzte Erste

Der letzte Erste

Abkürzungsverzeichnis

Impressum

Der Erste

Vorbemerkung

Ich weiß, daß dieses Buch nur ein zu lang geratener Zeitungsartikel ist. Aber weil solche Artikel auch wegen ihrer Länge noch nicht in unseren Zeitungen stehen können, habe ich die Manuskriptseiten zwischen Buchdeckel klemmen lassen.

Ich weiß auch, daß HDF, mein authentischer Held, beim Erscheinen dieses Buches von der Partei vielleicht schon in eine höhere Funktion versetzt worden sein könnte. Oder, daß er einen Fehler gemacht haben und wieder als Holzfäller arbeiten könnte. Aber das würde nichts an der Person des Genossen Hans-Dieter Fritschler und nichts an der Wirklichkeit ändern, die ich in den vier Wochen mit ihm erlebt habe.

Hübscher Graben

Montag, 10. November 1986

In Telefonbüchern und offiziellen Briefen hatte ich schwarz auf weiß gelesen, daß sich die SED-Kreisleitung Bad Salzungen in der August-Bebel-Straße befindet. Doch auf dieser breiten Hauptverkehrsstraße suche ich vergeblich nach einer Tür zu dem weißgetünchten dreistöckigen Haus mit der roten Fahne – nein, nicht mit der roten Fahne, sondern der zeitgemäßen Parabol-Spiegel-Antenne auf dem Dach. Den Eingang finde ich erst in einer schmalen, holprigen, steilen Seitengasse, und diese Gasse heißt »Hübscher Graben«.

Würde sich die Anschrift immer nach dem Hauseingang richten, stände in Telefonbüchern und auf offiziellen Briefen: »Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Kreisleitung Bad Salzungen, Hübscher Graben«. Und dann hätte die Stadtverordnetenversammlung diese Seitengasse wahrscheinlich schon umbenennen müssen, denke ich und lächle über diesen Gedanken immer noch, als ich schon vor dem uniformierten Pförtner stehe.

Vielleicht lächeln Fremde hier selten, denn auf meine Frage nach dem Ersten sagt der Pförtner unfreundlich: »Der Genosse 1. Kreissekretär befindet sich nicht in seinem Zimmer und ist auch nicht zu sprechen.«

Ich will mich um halb acht nicht schon darauf berufen, daß ich für acht Uhr angemeldet bin, und frage höflich, wo die Kraftfahrer sitzen.

»Im Fuhrpark auf dem Hof. Aber für Betriebsfremde verboten!« Wieder der »Hübsche Graben«.

Dann die Autoeinfahrt. Das Tor steht offen.

Der Cheffahrer muß wissen, wo der Erste steckt, denke ich. Er wird ihn heute morgen zu Hause abgeholt und die Anweisungen für den Tag erhalten haben. Und ich hoffe, daß er nicht zum Bäcker gefahren ist, aber am Montag haben die Privatbäcker geschlossen. Vielleicht poliert er das Auto. Zwar sind die Straßen verschlammt, aber der Wagen des Ersten muß auch beim größten Dreck draußen glänzen. Denke ich.

Im Hof steht nur ein beigefarbener »Lada« mit stumpfem Lack. Ich sehe keinen Fahrer, wahrscheinlich sitzen sie in dem Zimmer mit dem erleuchteten, gardinenverhangenen Fenster neben den Garagen. Unentschlossen bleibe ich vor der Tür stehen, scheue mich hineinzugehen, nach dem Cheffahrer zu fragen und umständlich zu erklären, was ich beim Ersten will. Vielleicht waren die sechs Jahre von dem Tag an, als ich die Bitte ausgesprochen hatte, bis zu diesem Morgen eine zu lange Zeit, um noch ohne Hemmungen unvoreingenommen fragen zu können.

Vor sechs Jahren hatte der Literaturverantwortliche der SED-Bezirksleitung in unserer Verbandsversammlung wissen wollen, wie die Partei die Schriftsteller bei der »Schaffung von Wirklichkeitsbeziehungen noch wirkungsvoller unterstützen« könnte. Einer von uns wollte im Forst arbeiten, einem anderen fehlten Winterreifen, eine Kollegin bat um einen kurzen Studienaufenthalt im Schafstall, einer benötigte ein Telefon, und ich wollte, um hinter die Kulissen der Parteiarbeit schauen zu können, den Ersten vom Bezirk (oder einen Kreisersten) einige Wochen von früh bis abends bei allen Amtshandlungen begleiten.

Das sei eine wichtige kulturpolitische Aufgabe, sagte der Literaturverantwortliche damals und notierte meinen Wunsch.

Die Stippvisite im Schafstall ließ sich am schnellsten realisieren. Die Arbeit im Forst und die Winterreifen konnten die Genossen der Bezirksleitung im zweiten Jahr organisieren. Am längsten dauerte die Angelegenheit mit dem Telefonanschluß, doch als auch dafür die Strippen gezogen wurden, hatte ich außer Vertröstungen noch nichts erfahren, und bei erneuten Fragen nach Wirklichkeitsbeziehungen für Schriftsteller ließ man mich danach immer aus.

In dieser Zeit verwandelte sich meine anfängliche unvoreingenommene Neugierde zum Biertisch-Klischee über die Arbeit und die Person eines Ersten: Wenn er im Winter durch die Stadt läuft, kümmert sich der Bürgermeister persönlich darum, daß die Straßen geräumt und gestreut sind … Nach Wurst und Fleisch steht seine Frau nicht in der Freitagsschlange, das besorgt der Fahrer … Wenn der Wasserhahn im Bad tropft, kommt der Klempner spätestens nach zwei Stunden … Von seinen Mitarbeitern läßt er sich täglich über neue Erfolge sowie Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung informieren … Ansonsten leitet er Versammlungen, arbeitet Reden aus oder hält Reden …

Vor einem halben Jahr kam der Literaturverantwortliche der Bezirksleitung zu mir nach Hause und informierte mich: »Du kannst den 1. Sekretär der Kreisleitung Bad Salzungen, den Genossen Hans-Dieter Fritschler vier Wochen bei seiner Arbeit beobachten.«

Die Wände des kleinen Zimmers neben den Autogaragen sind mit halbnackten Mädchen, die für Suhler Mopeds werben, geschmückt. Ein junger Mann, nicht älter als fünfundzwanzig, sitzt allein am Tisch. Der beigefarbene »Lada« auf dem Hof, erfahre ich, ist der Wagen des Ersten. Ob Genosse Fritschler jedoch schon in seinem Zimmer ist, weiß auch der Cheffahrer nicht.

»Er läuft jeden Morgen zwanzig Minuten zur Kreisleitung und abends wieder zwanzig Minuten nach Hause.«

»Und wenn es nun regnet oder schneit?« frage ich.

»Braucht er wahrscheinlich weniger als zwanzig Minuten.«

»Und wie ist er so, der Erste?« frage ich vorsichtig.

»Besser als sein Vorgänger, der lief nicht mal zweihundert Meter.«

Von diesem Vorgänger erzählt man sich, daß er schon nach einem Jahr als Erster abgesetzt worden sei. Er habe nicht nur die Kollektivität der Leitung mißachtet, sondern sich auch ein Haus bauen lassen (es wurde nach seiner Ablösung an eine kinderreiche Arbeiterfamilie übergeben), das viel zu groß und viel zu teuer für ihn gewesen sei. So etwas spricht sich im Kreis schneller als der Termin eines zentralen Mach-mit-Einsatzes herum. Und der neue Erste mußte auch verlorenes Vertrauen neu gewinnen …

Noch einmal »Hübscher Graben«.

Jetzt sitzen zwei Uniformierte im Pförtnerzimmer. Freundlicher Vorwurf: »Weshalb hast du nicht gleich gesagt, daß du der Schriftsteller bist! Der Genosse 1. Kreissekretär hat angewiesen, ihn bei deiner Ankunft sofort aus der Versammlung zu holen.« Der eine der beiden erledigt das, der andere schaut mich so an, als wolle er fragen, was ein Schriftsteller im Parteihaus verloren hat, aber er fragt nicht. Um die Pause zu überbrücken, zeige ich auf die zwei stattlichen Edeltannen vor dem Eingang. Sie stehen mit einem Rosenstock im Dreieck. »Es würde besser aussehen«, sage ich, »wenn man anstelle des Rosenstockes eine dritte Tanne gepflanzt hätte.«

»Früher standen drei Tannen vor der Kreisleitung«, sagt der Pförtner, »aber am Heiligen Abend hat jemand die dritte Edeltanne geklaut. Da mußten wir den Rosenstock setzen.«

»Geklaut«, frage ich, »die sind doch fast drei Meter hoch.«

»Ja, geklaut. Abgesägt. Einfach abgesägt«, murmelt der uniformierte Pförtner.

Als ich mich erkundige, ob die Genossen den Dieb erwischt haben, schüttelt er traurig den Kopf.

Meine anfängliche Beklemmung vor dem Parteihaus schwindet.

Dann begrüßt mich der Erste. Oben in seinem Zimmer könnten wir uns unterhalten. Ich nehme zwei Stufen auf einmal, um mit ihm Schritt zu halten. Er geht auch den Flur sehr schnell entlang, hastet aber nicht mit der ungesunden Nervosität von gestreßten Leitern, sondern wie einer, der schon immer schnell läuft. Seine Figur paßt zu dieser flinken Gangart. Er ist klein, schlank, wiegt wahrscheinlich nicht mehr als 65 Kilo, der Typ eines Langstreckenläufers. Den Zimmerschlüssel hat er beim Pförtner vergessen. Er trabt noch einmal hinunter, lacht wie ein Kind über seine Schußligkeit. Wären seine Haare nicht schon arg gelichtet, könnte man denken, daß er noch nicht vierzig ist. Die kahlen Stellen machen ihn nicht würdiger, und die sorgfältig gescheitelten Haare passen so wenig zu seinem Jungengesicht wie der graue Anzug und die akkurat gebundene Krawatte.

Er merkt, daß ich ihn taxiere, und sagt: »Ich bin 1941 geboren.« Wir sind also gleich alt. Er gehört wie ich zum ersten Jugendweihejahrgang der DDR.

»Aber ich bin konfirmiert worden«, sagt der Erste.

Eine ledergepolsterte Tür führt zu seinem Zimmer. Das Porträt hängt an der Wand gegenüber. Darunter steht ein großer heller Schreibtisch und daran angefügt wie das Bein des T ein langer Beratungstisch. Wir setzen uns an den Beratungstisch.

In einem Brief hatte der Erste mir vor zwei Monaten geschrieben: »Ich versichere Dir abschließend, ich freue mich auf unsere gemeinsame Arbeit …« Vielleicht sollten wir einen Schnaps auf diese Zusammenarbeit trinken? Aber nur er wird arbeiten, ich werde lediglich zuschauen.

Der Erste ist in den letzten vier Wochen an der Parteihochschule in Berlin qualifiziert worden. Aber seine Sekretäre, die um acht Uhr zur Lagebesprechung kommen, begrüßen ihn nach der einmonatigen Abwesenheit nicht überschwenglich, sondern als hätten sie sich am vergangenen Freitag zum letzten Mal gesehen. Nur der kräftige Jürgen Riese, ich kenne ihn noch von seiner Arbeit als FDJ-Sekretär im Kalikombinat, mustert den spillrigen Ersten, den er in der Zwischenzeit vertreten hat, und sagt kritisch: »Dicker biste geworden!« Und Genosse Fritschler schaut wirklich prüfend auf seinen nicht vorhandenen Bauch. Dann stellt er mich den Sekretären vor.

Helmut Kulosa, der Propagandachef, hat wahrscheinlich ein Augenleiden. Seine Lider zittern. Der Erste erkundigt sich besorgt nach dem Gesundheitszustand. Helmut Kulosa winkt resigniert ab. Die Wirtschaftssekretärin Helga Kleinschmidt sieht trotz des Wochenendes müde aus. »Sie hat ein Leben lang im Staats- und Parteiapparat gekämpft«, sagt HDF. Sie lächelt. An ihren Gesichtsfalten, die sie weich und mütterlich machen, merkt man, daß sie ihr Alter nicht ängstlich zu übermalen versucht. Sie wird sechzig. Dieter Böhm, der Landwirtschaftssekretär, ist um die Fünfzig, sehr ruhig, sehr beherrscht, aber das Profil nicht scharf geschnitten, sondern rundlich, die Gesichtshaut glatt. Sein unruhiger Gegenpol sitzt neben ihm: Peter Rumberg, Chef der Kreisparteikontrollkommission, mausflinke Augen und wohl genauso schnelles Mundwerk, denn während er Helga Kleinschmidt über seine Wochenenderlebnisse berichtet, holt er beim Reden kaum Luft.

Alle Männer tragen Schlips und Sakko. Ich zupfe unentwegt an meinen etwas zu kurzen Pulloverärmeln. Aber trotz der Krawatte reden die Genossen hier am Montagmorgen über das gleiche Thema wie die Kollegen in ölverschmierten Wattejacken und blauen Schlossermonturen: Kali Werra Tiefenort, die einzige in der DDR-Liga spielende Fußballmannschaft des Kreises Bad Salzungen, hat wieder verloren. Jürgen Riese, früher Grubenelektriker: »Im Schacht haben wir Kollegen, die sich zu langsam bewegten, Strom an die Brotbüchsen gelegt. Ihr hättet mal sehen sollen, wie die gesprungen sind. Aber unsere Ligafußballer gehen ja ohne Brotbüchse zum Training.«

Er redet immer noch so, wie er aussieht.

Hans-Dieter Fritschler berichtet von den Lehrgangsfreuden an der Parteihochschule. Unterrichtsbeginn jetzt erst um neun Uhr, und familienfreundlicher sei man auch geworden. Die Jahresschüler dürften alle vierzehn Tage am Donnerstagabend nach Hause. Das U-Boot – die Gaststätte in der Parteihochschule – habe wieder geöffnet.

Aber mittags stände nach wie vor eine Riesenschlange vor der Essenausgabe, und einige »höhere« Genossen, die es gewöhnt wären, serviert zu bekommen, hätten größere Schwierigkeiten mit dieser Schlange gehabt. Sie seien regelmäßig hinausgedrängt worden, hätten sich immer wieder hinten anstellen müssen. »Es fehlt ihnen die praktische Erfahrung«, schlußfolgert der Erste.

Dann holt er einen Schnellhefter, dick wie die Materialsammlung für eine Doktorarbeit, aus dem Schreibtisch.

»Das sind meine Lehrgangsnotizen«, sagt er stolz. Ein fleißiger Schüler, der gelobt werden möchte. Aber keiner lobt. Auf den handgeschriebenen Seiten hat er reichlich und vielfarbig unterstrichen, am meisten mit orangefarbenem Stift. Vielleicht ist Orange seine Lieblingsfarbe? Oder steckt eine sinnvolle Ordnung dahinter? Grün – Landwirtschaft. Gelb – Kultur und Staat. Rot – Ideologie. Orange – Wirtschaft?

Genosse Honecker habe den Ministerrat beauftragt, berichtet der Erste, das Zementproblem sofort zu lösen. Aber hinsichtlich der Ersatzteile für die Landwirtschaft bessere sich demnächst noch nichts. Auch die Transportkapazitäten können erst nach 1990 deutlich vergrößert werden …

»Während des Lehrgangs haben wir das Stickstoffwerk Piesteritz besichtigt. Zuerst den alten Betrieb, wo die Arbeiter noch ohne moderne Technik schuften müssen, also da machste als Parteifunktionär am liebsten die Augen zu. Und dann das neue Werk. Ein Knopfdruck genügt, und du siehst auf Bildschirmen automatische Prozesse ablaufen, Sensoren überwachen die Produktion, nirgends mehr stickige Dämpfe … Und der Parteisekretär fragt uns trotzdem ganz unglücklich: ›Wie ist das nun mit der sozialen Gerechtigkeit? Wen sollen wir bestrafen und von wem verlangen: Du bleibst im alten Werk?‹«

Und hier im Kreis müßten sie diese Frage in allernächster Zeit auch beantworten. Die mittelalterliche Galvanik in Barchfeld sei die leibhaftige Hölle. Und daneben werde eine Halle mit computergesteuerter Produktion gebaut. »Glaubt bloß nicht, daß wir Schonzeit kriegen, um uns die Antworten in Ruhe auszudenken. Und glaubt auch nicht, daß diese Probleme nur in einigen großen Betrieben anfallen werden. Auch in Genossenschaften und kleinen Handwerksbetrieben werden in ein oder zwei Jahren Computer stehen …«

Peter Rumberg unterbricht die Rede des Ersten. Ein Verwandter hätte neulich ein Autoradio gekauft, keins von den Japanern, sondern ein Radio aus der neuesten DDR-Produktion. Als es zum ersten Mal kaputt war, hätte man es ihm sofort gegen ein älteres Modell umgetauscht, weil die Reparaturwerkstätten des Kreises Bad Salzungen noch nicht einmal die Prüftechnik für diese neuen Geräte besitzen.

Wieder der Erste: »Genossen, wir brauchen überall neue Technologien, computergesteuerte Produktion, Schlüsseltechnologie, Roboter, programmierte …« Sein Telefon klingelt. Dieses Telefon ähnelt der verkleinerten Schaltzentrale eines Kraftwerkes. Vom Gespräch sind nur die ersten Worte zu hören … »Das Zentralkomitee möchte …« Der Erste drückt der Reihe nach fünf Knöpfe … wieder sind einige Worte zu hören … erneutes Schweigen … wieder Knöpfedrücken, grüne Lämpchen leuchten auf, dann ein rotes Licht … zu hören ist nichts. Entmutigt legt der Erste auf und flucht: »Diese verdammte neue Technik!«

Jürgen Riese erstattet den Bericht über Ergebnisse und Probleme in der letzten Woche. Seine Hände hat er zu Beginn der Rede noch auf dem Tisch liegen. Schon nach wenigen Sätzen zerwühlt er seine schwarzen, gewellten Haare. »Genossen, mit unseren Diskussionen sind wir zwar in die Breite gekommen, aber nicht in die Tiefe. Sehr viel ideologischer Tagebau, nur an der Oberfläche geschürft. Beispielsweise die Propagandatage bei der Jugend. Es waren Veranstaltungen von Alleinunterhaltern: Unsere Leute standen vorn und redeten und redeten. Und die Jugendlichen stellten keine Frage. Aber die haben doch Fragen, Fragen haben die! Zeigt mir meine Große einen ›ND-Artikel‹ über zusätzliche Produktion in den Jugendmodebetrieben, und dann schleppt sie mich in den Laden, und es hängt nur solcher Fummel auf der Stange, daß man keine müde Mark dafür ausgeben möchte … Auch in wichtigen Betrieben unseres Kreises haben sich die Planschulden vergrößert: Hartmetallwerk Immelborn, Kettenfabrik Barchfeld, Glaswerk Dermbach, Rhönkunst … Und dann die sogenannten Planreduzierungen, das ist, als würde man Rauhfasertapete auf ’ne Wand kleben, in der schon der Schwamm ist. Es kann nicht gut sein, Genossen, daß wir in der vorletzten Sekretariatssitzung vor dem Frühstück über den VEB Alfi Fischbach und dessen Millionen Mark Schulden reden, und nach dem Frühstück haben die Fischbacher plötzlich eine halbe Million Mark Vorsprung, weil der Plan abgesenkt wurde. Leute, davon steht kein Kochtopf mehr im Regal. Es häufen sich die Beschwerden, weil es zu wenig modische Winterbekleidung zu kaufen gibt, dagegen haben wir die Versorgung mit der Frauenunterwäsche endlich wieder stabilisiert. Zum ersten Mal gibt es in diesem Herbst auch keine Eingabe zur Kohleversorgung …«

Helmut Kulosa berichtet sehr kurz, daß die geistig-kulturellen Bedürfnisse im Kreis wiederum gewachsen seien. Allerdings werde es immer schwerer, die zwei Orchester des Kreises zu erhalten. Die Musiker seien zu alt, Wohnungen für eine Ansiedlung fehlten, vom Nachwuchs ganz zu schweigen, schon über 10 Kündigungen …

Während Kulosa spricht, beobachtet ihn der Erste aufmerksam wie ein Arzt.

Helga Kleinschmidt verkündet prophetisch, daß der Winter trotz des milden Wetters bestimmt kommt, denn die da oben würden kontinuierlicher arbeiten als sie hier unten.

»Im Heizwerk Bad Salzungen–Ettmarshausen haben wir zwar durchgesetzt, daß ein höherer Schornstein gebaut wurde, der Staub fliegt also weiter – doch über allen Schornsteinproblemen hat die Leitung vergessen, neue Heizer auszubilden. Arbeitskräfte gibt es genügend im Werk, aber qualifizierte Heizer fehlen. Nun heizen die Leiter selber und reden darüber, als wären sie Helden der Arbeit …«

Dieter Böhm: »Die Mastbullen haben ein Gewicht von acht Zentnern. Bei der Kartoffeleinkellerung, sie ist überall abgeschlossen, gab es lediglich Beschwerden wegen zu kleiner Knollen. Sie werden ausgetauscht, das geht seinen Gang. Aber 1000 Tonnen Futterkartoffeln liegen noch draußen, die müssen schnellstens gedämpft werden. Ein besonderes Vorkommnis im Kreis: 14 Rinder sind von einer Lokomotive überfahren worden. Also die Rinder standen in der Koppel und …«

Hier muß ich unterbrechen. Wenn ich auf meiner Kreissäge zu starkes Holz sägen will, schaltet, um Schlimmeres zu verhindern, ein Schutzrelais den Motor aus. Ein ähnliches Relais befindet sich wahrscheinlich in meinem Gehirn, denn obwohl ich mich auf jede Information der Lagebesprechung konzentriere, alles aufschreibe und jedes Problem verstehen will, kann ich nach zwei Stunden nur noch Bruchteile davon verarbeiten …

»Also die Kühe standen in der Koppel, da muß wohl ein Wildschwein in die Herde gerast sein, die Kühe brachen aus …«

»Es ist sozusagen unmoralisch, daß die Gewerkschaft ausgerechnet am 6. Dezember, an dem die übrigen Werktätigen für Weihnachten vorarbeiten, ihre Kreisdelegiertenkonferenz angesetzt hat …«

»Der Bau der Geschäfte und Wohnungen an der Salzunger Rathausstraße mußte gestoppt werden, weil unter anderem die Heizungsmöglichkeiten immer noch nicht geklärt sind …«

»Die Kühe jagen an der Bahnschiene entlang, kommen bis zum Bahnwärterhäuschen bei Oberrohn …«

»275 Familien des Kreises erhielten in den vergangenen 9 Monaten eine neue Wohnung …«

»Die Wäscherei in Vacha hat schon 13 Tonnen Planrückstände, drei Wochen Wartezeit für die Bevölkerung …«

»Die Kühe rasen am Bahnwärterhäuschen vorbei, der Bahnwärter denkt: Wie im Wilden Westen, mehr denkt er nicht …«

»In der Konservenfabrik braucht man einen neuen Leiter, der Kalibetrieb weigert sich, einen freizustellen, aber saure Gurken wollen die Kumpel auch essen …«

»1987 wird in Salzungen der Bau einer Schwimmhalle für 8,66 Millionen Mark vorbereitet …«

»Die Kühe rennen hinter dem Bahnwärterhäuschen auf den Gleisen entlang, der Lokführer hupt und bremst …«

»Für Hausschlachtungen fehlen im Kreis zur Zeit Wurstdärme …«

»Die Waggonentladung während der Weihnachtstage muß stabsmäßig geplant werden …«

»14 Kühe werden überfahren, die Lokomotive beschädigt, der Lokführer ist unverletzt …«

Als die Lagebesprechung zu Ende ist, habe ich einen Block vollgeschrieben. Der Erste brauchte dazu nur drei Seiten seines Notizbüchleins (ein Vokabelheft mit dem Signum »HDF« – Hans-Dieter Fritschler – auf dem Umschlag). Keiner hat geraucht, trotzdem fühle ich mich wie zerschlagen, mein Kopf schmerzt, und als HDF sagt: »In zehn Minuten gehen wir runter zu Rumbergs Geburtstag«, denke ich, daß er mich verscheißern will, denn der Rumberg saß die ganze Zeit hier oben, ohne daß einer gratuliert hat.

»Gratuliert und gefeiert wird nie bei mir, sonst müßte ich auch noch den Schnaps für meine Sekretäre bezahlen.«

Der Erste trägt den roten Nelkenstrauß, der Zweite ein Päckchen mit ordentlich gebundener roter Schleife. Im Zimmer von Peter Rumberg riecht es wie im Kaffeehaus. Er hat sich neben den Schreibtisch postiert, auf dem heute, zweckentfremdend, Platten mit Schinken und Salami, Gehacktem, kleingeschnittenen Zwiebeln, Butter, Brot und sauren Gurken stehen. Den Schreibmaschinentisch hat die Sekretärin in eine mit blauem Kreppapier geschmückte Theke verwandelt: Rhönbier, Brauner und Weißer. In der Aktenablage daneben liegt nur noch ein Ordner mit dem Etikett »Statistik der Parteiverfahren 1986«. HDF nimmt die Wurstscheiben in die eine Hand, das Brot in die andere und beißt abwechselnd davon ab. Ich frage, ob er in Thüringen aufgewachsen ist. Er nickt. »Und wo arbeiten deine Eltern?« »Meine Mutter hat Kräuterteemischungen beim Tee-Eschrich in Hildburghausen abgepackt.« Mehr sagt er nicht.

Nach der Geburtstagsfeier geht keiner zum Mittagessen. Es gibt Krautsuppe. Das Essen wird in Kübeln vom Rat des Kreises geholt.

Nachmittags will der Erste mit seinem Mitarbeiter für Sicherheitsfragen über Grenzprobleme sprechen. (Der Kreis Bad Salzungen hat die längste Grenze des Bezirkes zur BRD.) »Da kannst du nicht dabeisein«, sagt HDF.

Auf seinem Schreibtisch liegt ein wohl 30 Zentimeter hoher Aktenstapel. »Der Papierkram der vergangenen vier Wochen«, sagt er. »Ich werde mich abends zu Hause durchfressen.«

Verschiedene Arbeiter, unterschiedlichen Alters, in der Salzunger »Bierstube«

Oft soll auch der Lügenbaron am Stammtisch der Neubaukneipe sitzen, die hinter dem Bad Salzunger Lenindenkmal steht. Über dem aus dicken Bohlenbrettern gefügten Stamm- oder Lügentisch hängt ein überdimensionales Schlachtmesser, an dessen Schneide vier Kuhglocken baumeln. Obwohl ich Lügengeschichten liebe, denn sie sind oft wahrhaftiger und durchschaubarer als die gedruckten Halbwahrheiten, habe ich es nie geschafft, an diesem Lügentisch einen Platz zu ergattern. Sobald dort jemand aufsteht, sitzt der nächste Stammgast schon auf dessen Stuhl. Ich saß meist an einem der vier kleinen Tische, die um die blau-weiß gekachelte Säule in der Mitte des winzigen Raumes gruppiert sind. Drumherum, wie unter den Thüringer Dorflinden, eine runde Holzbank, und von dieser Bank aus konnte man fast jedes Wort am Lügentisch hören, ohne selbst Lügen erzählen zu müssen.

Monolog eines fünfzigjährigen, langaufgeschossenen, dünnen Mannes, Arbeiter in der Kettenfabrik Barchfeld: »Wenn der neue Chef, der Tetschner, sich nicht ändert, kriegt er nachts in einer dunklen Straßenecke bestimmt mal eine ordentliche aufs große Maul … Als Einstand hat er zuerst jeden Schluck Schnaps im Betrieb verboten. Dabei hatten sie ihn nur eingeflogen, damit er unseren Betrieb aus dem Schuldenturm herausholt. Einem Kumpel in der Speichenfertigung, kein schlechter Kerl, hat er die Schnapsflasche weggenommen und das teure Zeug in das dreckige Waschbecken geschüttet, das immer aussieht, als hätte man gerade reingeschissen. Zur Desinfektion, soll er gesagt haben. Außerdem strich er dem Meister die Leistungsprämie, und nun will er mit der Gewerkschaft im Betrieb eine Säuferkonferenz organisieren. Aber den lassen wir noch Wasser saufen … Mir hat er letzte Woche gedroht: ›Egon, das ist doch ganz einfach, du mußt dich entscheiden: entweder saufen oder arbeiten. Wenn du arbeitest, kannst du nicht saufen. Wenn du säufst, kannst du nicht arbeiten. Und wenn du nicht arbeitest, hast du kein Geld zum Versaufen!‹ Dialektik nennt er das.«

Sie trinken auf die Dialektik.

Dann fragt der Jüngste am Lügentisch den Arbeiter aus der Kettenfabrik, ob es stimmt, daß der Trabi in zwei Jahren als Viertakter gebaut und die Ölpumpenkette für diesen Motor dann in Barchfeld hergestellt wird.

Ja, die Halle für die neue Produktion werde im Frühjahr stehen, und in einem Jahr müßten die ersten Ölpumpenketten fertig sein. Alles gesteuert von Computern und solchem Zeug. Und wenn das nicht funktioniert, würde nichts mit dem Viertakt-Trabi. Und dann könne sich der Tetschner mehr als vier Takte anhören. Aber sie würden das hinkriegen. Und in sein Bierglas schauend, philosophiert er weise: »Auf alle Fälle werden wir Barchfelder berühmt. Wenn wir es schaffen, und wenn wir es nicht schaffen, erst recht …«

Die »Bierstube« öffnet um acht, dann trinken sich die Nachzügler von der Nachtschicht munter. Später kommen die Handwerker, die in der Nähe zu tun haben. Gegen zwölf Uhr erscheinen die Mittagsschichtler, die vor der Arbeit noch paar Schluck miteinander reden wollen. Und ab vierzehn Uhr beginnt der Kampf um die Plätze in der »Bierstube«. Betrunkene bekommen kein Bier mehr. Hinter dem Lügentisch hängt das staatliche Diplom für »Thüringer Gastlichkeit«. Abends kommen die Škoda-Monteure aus der CSSR, die gemeinsam mit Ungarn und Polen im Bad Salzunger Kaltwalzwerk ein 20-Rollen-Walz-Gerüst, mit dem Bandstahl bis zu 0,1 Millimeter Dicke heruntergewalzt werden kann, aufbauen. Der Kellner bringt allen Gästen halbe Liter. Wer ausgetrunken hat, bekommt sofort ein neues Bier. Die tschechischen Monteure sagen, daß das Rhönpils fast so würzig sei wie ihr Pilsener.

Monolog am Stammtisch. Ein Kollege des Salzunger Kreisbetriebes für Straßenwesen (Gesicht und Bauch lassen eine Verwandtschaft mit Schwejk vermuten) erzählt: »Den Wagner aus Neidhardtshausen, der unseren Einsatzwagen fährt, kennt ihr. Ein Neidhardtshäuser, wie er im Buche steht: Bei anderen nie mehr sehen können, als man selbst hat. Die Zuschläge für Sonn- und Feiertage sind bei uns zwar schon im Lohn mit drin, aber als in diesem Jahr der Direktor die Winterbereitschaft nach oben gemeldet hatte, sagte der Wagner, der auch ein Streufahrzeug fahren sollte: ›Ich steig’ da nur rauf, wenn ihr Zuschläge bezahlt.‹ Die meisten Arbeiter unterstützten den Wagner, aber die Leiter drucksten, man hätte doch schon und könnte nicht … Da holte der Wagner ein Büchlein, auf dessen Umschlag er LOHNKAMPF geschrieben hatte, aus der Tasche, zeigte den Leitern seine Aufzeichnungen über alle Lohnerhöhungen der letzten Jahre und drohte, sich bei der Gewerkschaftszentrale in Berlin zu beschweren. Das solle er man tun, sagte der Direktor lächelnd, denn er dachte, daß Papier geduldig sei. Aber der Wagner sagte, Briefeschreiben sei keine Arbeiterart, sie seien es gewohnt, mit den Händen zu arbeiten und mit dem Mund zu reden. Also schlug er vor, nach Berlin zu fahren.

Wir sammelten das Geld ein, und der Wagner aus dem Rhöndorf Neidhardtshausen reiste 2. Klasse in die Hauptstadt und beschwerte sich. Er bekam recht, der Betrieb mußte zahlen. Wenn man die Winterbereitschaft nach oben meldet, muß der Chef sich nicht nur überzeugen, daß der Streusand bereitliegt. Zuerst muß er wissen, ob die Leute, die den Sand schaufeln sollen, dazu bereit sind, sagte der Wagner und stieg auf sein Streufahrzeug.

In der letzten Woche haben wir den Neidhardtshäuser wieder in die BGL gewählt, aber diesmal hatte er zehn Gegenstimmen.«

Ich stoße mit den tschechischen Monteuren auf Pilsner Bier und Schwejk an.

Als ich gehe, frage ich, ob der Lügenbaron am Stammtisch sitzt.

»Nein, heute ist der Lügenbaron nicht hier«, behaupten die Stammtischler. »Heute wird nur die Wahrheit erzählt!«

Und das haben sie mir jedesmal gesagt, dort am »Bierstuben«-Lügentisch.

Frische Semmeln

Dienstag, 11. November

Fünf nach halb sieben stehe ich vor dem Appartementhaus, in dem ich ein Zimmer gemietet habe, auf dem nur spärlich beleuchteten Leninplatz. Es regnet Bindfäden. Fluchend latsche ich durch die Pfützen, beeile mich, um nicht klatschnaß zu werden und am ersten »Arbeitstag« unpünktlich zu sein. Die Leute, denen ich begegne, scheinen das Sauwetter gleichgültiger hinzunehmen. Sie haben den Kopf wie Schildkröten eingezogen. Sie, die Jahr für Jahr ihren morgendlichen Arbeitsweg gehen müssen, werden nicht über Regen und Dunkelheit fluchen. Für sie ist alltäglich, was für mich außergewöhnlich ist. Selbst, wenn ich vier Wochen zur Kreisleitung laufe, werde ich nicht so fühlen wie sie. Und auch wenn ich täglich mit dem Ersten zusammen bin, werde ich nicht so empfinden wie er, sondern nur die verkümmerten oder ins Kraut schießenden eigenen Gefühle in den Vordergrund drängen. Ich muß versuchen, nicht die vermeintlichen Gefühle meiner Helden, sondern die Ereignisse und Fakten, die die Gefühle hervorrufen, zu beschreiben.

In der Nähe des Marktplatzes duftet es nach frischem Brot. Die Bäcker haben schon geöffnet, es stehen keine Schlangen vor den Türen, die Brötchen sind warm und knusprig. Auch frische Pfannkuchen liegen heute, am 11. 11., in den Regalen. Ich bin versöhnt mit dem nassen kalten Morgen und freue mich, daß ich im Gegensatz zu Hermann Kant keine erotischen Bücher für frische Schrippen besorgen muß, sondern meine Brötchen noch für einen Fünfer bekomme. In Salzungen hätte er seinen »Dritten Nagel« nicht schreiben können, denke ich, denn in Salzungen ist man unserer Zeit nun schon wieder ein gutes Stück voraus, weil man ihr in der Forderung hinterherhinkte, private Bäcker und Fleischer durch Großbetriebe zu ersetzen.

Überpünktlich, zehn Minuten vor Arbeitsbeginn, erreiche ich den Hübschen Graben. Im Vorzimmer des Ersten sitzt niemand, die ledergepolsterte Tür ist geöffnet. – Wie im Theater oder bei der Armee, sage ich, die würden auch einmal im Jahr den Tag der offenen Tür feiern … HDF entgegnet, daß früh vor sieben Uhr seine Tür immer offen sei, damit die Genossen wissen, daß sie reinkommen und fragen können.

Ich habe eine Vision: An den Sprechtagen stehen alle Zimmertüren von Wohnungsämtern, Meldestellen, Katasterbüros, ABI-Sekretariaten, Bürgermeisterstübchen weit offen. Und vor den Haustüren der Behörden fordern hübsche Sekretärinnen die Vorübergehenden lächelnd auf: Tretet ein, liebe Mitbürger, und vertraut euch uns an, damit wir gemeinsam eure Sorgen vertreiben können …

Der Erste stört meine Tagträume. Er behauptet, daß es für mich interessanter wäre, beispielsweise über einen Erfinder zu schreiben. Der mache Versuche, die ganze Produktionszweige verändern könnten. In diesem Zimmer dagegen, er winkt ab, spannend sei das nicht, nur Alltagsarbeit, Fleißarbeit … spannend sei es draußen …

Vor ihm liegt der dicke Aktenstapel. Das erste Drittel habe er gestern bis 24 Uhr »abgearbeitet«.

Mit orangefarbenem Stift hat er seine Bemerkungen an den Rand der Berichte und Protokolle geschrieben: Konkreter! Denken die Arbeiter wirklich so? Nachgehen! Kleinigkeiten! Nicht den Blick für das Ganze verlieren!

Er zeigt mir ein Beispiel für das Verhältnis von Kleinigkeit zum Ganzen. Im Leiterbericht des Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebes Bad Salzungen wird gemeldet, daß es trotz großer Anstrengungen noch nicht gelungen sei, Filzstiefel zu besorgen.

»Ich habe im Forst gelernt, später als Holzfäller gearbeitet. Damals, 1957, sind wir noch ohne Filzstiefel in den Wald … Was also macht der Betriebsleiter? Er fährt selbst umher, telefoniert, bittet und droht. Und dann hat er endlich die Filzstiefel. Aber da stockt die Arbeit, weil Ketten für die Motorsägen fehlen. Und wieder fährt er umher, telefoniert, bittet, droht …« Dabei müßte er sich um ganz andere Dinge kümmern, um Jahrhundertaufgaben.

Aus dem Bericht über »Situation und Maßnahmen in der Forstwirtschaft«: »Auf Grund der Schadstoffemission der Kaliindustrie und der grenzüberschreitenden Belastung sind im Bereich des StFB Bad Salzungen ca. 7000 ha Waldfläche betroffen … Im Nahbereich treten Schädigungen durch Chlorionen und im Fernbereich durch SO2 auf … So nimmt an der Sauerstoffproduktion in der Regel nur ein Jahrgang Nadeln teil, die anderen 5–7 Jahrgänge fehlen, die Vitalität und damit der Zuwachs der Bestände gehen zurück, im Extremfall erfolgt durch mangelndes Reproduktionsvermögen Totalausfall … wurde ein langfristiges Stickstoffdüngeprogramm konzipiert … so nehmen von den zusätzlich mit Stickstoff versorgten Beständen 2–4 Nadeljahrgänge an der Assimilation teil und sichern eine Mindestvitalität und einen teilweisen Rohholzzuwachs. Ergänzt wird diese Düngungsmaßnahme durch den Ersatz von 30–40% der am stärksten gefährdeten Fichte … durch rauchresistentere Holzarten …« HDF sagt, er müßte den Direktor loben, weil er Filzstiefel organisiert habe, damit der Plan erfüllt wird, denn die Dresche werde er (und im übertragenen Sinn auch der Erste) nur für das Holz kriegen, das heute der Volkswirtschaft nicht planmäßig geliefert wird. Für das fehlende in achtzig Jahren dagegen …

Außer solchen im Moment kaum lösbaren Problemen bekomme er natürlich auch noch Krimskrams auf den Tisch, wie von den »Vachesen«, die sich beschwerten, daß ihre Fußball-Bezirksliga-Mannschaft »Kabelwerk Vacha« während des Auswärtsspieles bei »ESKA Hildburghausen« von den Zuschauern angepöbelt worden sei. Die SED-Kreisleitung sollte sich einsetzen, daß man die Hildburghäuser zur Verantwortung ziehe.

»Ausgerechnet ›ESKA Hildburghausen‹! In dieser Fußballmannschaft – damals hieß sie noch ›Eintracht Hildburghausen‹ – habe ich als Schüler meine besten Spiele gemacht!« Ein kleiner, aber schneller Linksaußen sei er gewesen, die Mannschaft sogar im Endspiel um die DDR-Meisterschaft. In der Jugend habe er in der Mitte gestürmt und schließlich bei den Männern von »ESKA« auf der linken Seite verteidigt …

Und nun solle er nach dem Protest der Vachesen wohl als Erster von Bad Salzungen den Ersten des Kreises Hildburghausen zum Elfmeterschießen herausfordern.

Das Telefon klingelt. Ein Kalikumpel wartet im Vorzimmer. »Wohnungsprobleme«, sagt der Persönliche. Der Arbeiter bleibt stehen, als der Erste ihn bittet Platz zu nehmen. Also steht auch HDF auf. Er sei in den letzten Kriegsjahren in Magdeburg geboren worden, erzählt der Kumpel, bei einem Bombenangriff habe er die Eltern verloren; nach der Armeezeit sei er hier unten geblieben, habe wie viele Kollegen eine Neubauwohnung bekommen. Von den vier Kindern seien die Mädchen schon aus dem Haus, die zwei Jungen wohnten noch bei ihm, einer habe jetzt geheiratet, ein Baby sei geboren, und nun müßten sie zu sechst in den vier Räumen wohnen. Aber er brauche seinen Schlaf, wenn er von der Nachtschicht komme.

Der Erste sagt ihm, daß 1987 in der Kreisstadt wahrscheinlich kein Neubaublock gebaut werde, lediglich in Merkers neben dem Kalibetrieb sei ein 96-WE-Komplex vorgesehen.

Dort möchte er nicht hinziehen, sagt der Kumpel, der Dreck, wenig Geschäfte, die Kinder wohnten hier in Salzungen, außerdem habe er hier einen Garten, und mit dem Bus fahre er nur 15 Minuten bis zur Arbeit nach Merkers.

»Wenn du wirklich eine Wohnung brauchst, gehst du auch nach Merkers!« Der Erste sagt diesen Satz strenger und lauter, als ich es bisher von ihm gehört habe, so als wolle er sich selbst überzeugen.

Nachdem der Kalikumpel unzufrieden gegangen ist, frage ich, wie viele dringende Wohnungsprobleme es in der Kreisstadt gibt.

Knapp sechshundert. In Merkers dagegen nur 14, und wenn man 1987 dort und nicht in Salzungen bauen werde, dann vor allem, weil dieses Arbeiterzentrum zuerst fertiggestellt werden soll. So, wie das sein Freund, der Waldemar Liemen, Parteisekretär des Kalibetriebes und ZK-Mitglied, schon auf dem Parteitag gesagt und der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung versprochen habe.

Trotzdem sei es unlogisch, denn die Kumpel würden nun mal hier in Salzungen wohnen. Er wolle in Suhl noch einmal intervenieren …

Dann bricht HDF das Thema sehr schnell ab. Wahrscheinlich spricht er nicht gern darüber, denke ich.

Telefon. Genosse Mosché, der zur Zeit wegen Krankheit beurlaubte Direktor des Glaswerkes Dermbach, fragt, was nach der Krankheit mit ihm geschehen solle, ob die Partei ihm eine andere Aufgabe stellen werde.

HDF sagt: »Horst, geh jetzt erst mal spazieren und erhole dich. Hast 16 Jahre keine Zeit dazu gehabt. In zwei Wochen komm her, dann sprechen wir über alles.«

16 Jahre habe Horst Mosché das Glaswerk geleitet, sich aufgeopfert, sei vielleicht manchmal etwas zu weich gewesen, habe sich deshalb auch nicht durchsetzen können, als neue Technologien gebraucht wurden. Nun sei der Betrieb seit Jahren Planschuldner. Der Horst Mosché krank … Wahrscheinlich werde der KD ihn absetzen. Natürlich werde er wieder Arbeit finden, aber um Arbeit gehe es doch in erster Linie nicht …

HDF sucht nach einem freien Termin im Kalender, aber er findet kaum eine noch unbeschriebene Zeile im November.

»Entscheide ich mich für Gespräche mit den Genossen, muß ich oft gegen diese Papierstapel entscheiden. Entscheide ich mich für das Papier, muß ich mich oft gegen Gespräche entscheiden.« Da habe man im letzten Jahr beispielsweise eine Konzeption für eine HO-Kaufhalle im Neubaugebiet Salzungen-Allendorf ausgearbeitet. Vom Rat des Kreises sei sie schon beschlossen worden, aber die älteren Leute hätten geschimpft, weil dafür die Konsum-Verkaufsstelle dicht gemacht werden sollte. Die Handelsleute jedoch sagten bei allen Einwänden: Was beschlossen ist, kann nicht mehr verändert werden: Konsum weg und HO-Kaufhalle gebaut! »Eines Tages kamen einige Rentnerinnen zu mir. Bisher kannte ich nur das Papier – und das las sich gut. Aber sie klagten, daß sie dann, um im Konsum kaufen zu können, bis in die Stadt laufen müßten. Schiedsrichter wollte ich nicht spielen, also sagte ich den Handelsleuten: Macht eine Einwohnerversammlung! Nun murrten die. Inzwischen ist der Beschluß geändert worden: Im Neubaugebiet wird eine Konsum-Kaufhalle gebaut.«

»Und wenn die Rentnerinnen nicht bis zu dir gekommen wären?«

Peter, der Cheffahrer, bringt ein neues Telefon für die Wohnung des Ersten. Ein rotes.

»Am besten, wir schaffen es gleich noch zu mir«, sagt HDF. Er wohnt in Allendorf, jenem Salzunger Neubaugebiet, das die Architekten und Ökonomen großzügiger geplant haben als Neubauten andernorts. Die Blocks hocken nicht beängstigend dicht beieinander wie in vielen Thüringer Städten. Inmitten der Neubauten hat man auch dem tennisplatzgroßen, eisengitterbewehrten alten Friedhof von Allendorf Asylrecht gewährt. Aber die Toten werden unten in der alten Stadt begraben.