DER ORCHIDEENKÄFIG - Herbert W. Franke - E-Book

DER ORCHIDEENKÄFIG E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

»Was sind das für Fäden?« »Mit ihnen leiten wir angenehme Vorstellungen zu: Ruhe, Zufriedenheit, Glück – und anderes, wofür ihr keine Worte habt.« »Denken sie nicht?« »Wozu sollten sie denken? Glück kommt nur durch das Gefühl. Alles andere stört.« Eine tote Stadt auf einem fernen Planeten, zwei Gruppen von Menschen, die sie zu erforschen versuchen. Schritt für Schritt dringen sie ein – in den äußeren Ring mit den Bauwerken einer ultramodernen Technik, in die halbverfallene mittelalterliche Innenstadt und schließlich in das geheimnisumwitterte Zentrum. Aber ist die Stadt wirklich tot? Die Fabriken beginnen wieder zu arbeiten, die Automaten greifen ein, und irgendwo im Hintergrund liegt noch etwas verborgen, das vielleicht wieder erwachen könnte. Sind es Menschen oder fremdartige Maschinenwesen? Herbert W. Franke führt den Leser in eine beklemmend fremdartige Welt, erst nach der verblüffenden Lösung wird klar, was hinter den unheimlichen Abenteuern der Eindringlinge steht – nicht eine kosmische Seltsamkeit, sondern eine bedrohliche Entwicklung, die den Menschen genauso betreffen könnte. Frankes Roman ist somit eine Parabel von der Evolution des Menschen im Zeitalter technischer Kommunikation.

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Herbert W. Franke

DER ORCHIDEENKÄFIG

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 3

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Herbert W. Franke

DER ORCHIDEENKÄFIG

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 3

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 1961 im Wilhelm Goldmann Verlag erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 02 7

Der erste Versuch

1

Immer sind es erregende Sekunden, wenn das Bewusstsein auf einem fremden Planeten erwacht. Wie auf ein Zeichen beginnt sich das Bild aufzubauen, Partie um Partie taucht aus dem Nichts, Detail reiht sich an Detail – manchmal in weichen Wellen, manchmal hart und schlagartig. Über allem liegt die prickelnde Erwartung etwas Unvorstellbarem: vielleicht etwas übermenschlich Gewaltigem, vielleicht etwas tödlich Grausamem.

Als Erstes spürte Al den Geruch von Thymian. Er lag in einer Wiege von würzigem Duft, eingebettet in leises Rauschen und gestaltloses Dämmern. Sachte drang das Gefühl der Schwere in ihn ein; und er spürte, wie ihn etwas hob, und trug, und wieder niedergleiten ließ. Wohlige Wärme breitete sich über ihn. Aus dem Rauschen lösten sich leise knatternde Geräusche. Die Dämmerung wurde orangerot. Wie vom Wind gehoben, lösten sich die letzten Schleier. Das Wünschen und Fragen erwachte.

Al richtete sich auf. Mit einem Gefühl der Zufriedenheit, in das sich ein Anflug Enttäuschtsein mischte, stellte er fest, dass er sich wohlfühlte. Es gab keine sengende Hitze, keine elektrischen Entladungen, keine ihn beschnuppernden Saurier. Es gab keine offensichtliche Gefahr. Die Spannung wich von ihm. Er sah sich aufmerksam um.

Er saß neben der Baracke auf einer Schaumgummimatte. Das Knattern drang aus der Tür des Maschinenraums. Ein Robotwägelchen rollte über die eingeebnete Fläche, einen Schweißbrenner in den Greifzangen. Der Schatten der Relaisantenne lag als Maschenwerk darüber und kroch in seltsamen Verzerrungen an der automatischen Apparatur herauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.

Al hatte noch mit einer gewissen Trägheit zu kämpfen. Jedes Mal schmerzten die Muskeln ein wenig, wenn er sich regte. Auf seinem Gehirn lastete ein dumpfer Druck. Aber von Atemzug zu Atemzug fühlte Al sich beweglicher, freier, tatendurstiger. Er stand auf, ging in die Kniebeuge und reckte sich hoch. Er knöpfte den Kragen seines gelben Buschhemds auf und zog die Luft in vollen Zügen ein. Der Platz ist gut, dachte er. Don hat richtig gewählt.

Die Baracke lag etwa hundert Meter über dem Tal. Gleich daneben hatten die Automaten einen Sendemast aufgestellt. Fünfzig Meter seitlich davon, auf gleicher Höhe, stand der Hangar für den Hubschrauber. Das Auffälligste von allem war der Krater, aus dem die Rohstoffe stammten. Wie eine offene Wunde saß er im Boden, die Ränder aufgewölbt und blutrot gefärbt von oberflächennahen Verwitterungsschichten, das Innere grauschwarz. Hinter der Baracke stieg das Gebirge auf, unten dehnte sich eine Landschaft mit tausend flachen Hügeln und tausend kleinen Seen. Über allem lag der orangerote Schimmer einer fremden Sonne.

Die Schiebetür des Wohnraums der Baracke glitt auf, ein Wagen fuhr heraus, den Körper Katjas in seinem Rücksitz. Mit Dutzenden feinfühliger Greifzangen bettete der Robotwagen das Mädchen auf die Matte, auf der Al vor kurzer Zeit erwacht war. Auch Katja war im Begriff, das Bewusstsein zu erlangen. Immer wieder lief ein leichtes Zucken über ihre Glieder.

»Wo ist Don?«, fragte Al.

Der Robotwagen blieb stehen. »Er schläft noch«, klang es aus seinem Lautsprecher.

Al scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort. »Mach weiter!«, befahl er.

Don schlief also noch, und Katja erwachte. Don und Katja waren von der Kommission für Genetik als Paar zugelassen und würden einmal ein Kind haben. Dadurch waren die beiden miteinander in Verbindung gekommen. Don hatte Katja in den Kreis seiner Freunde eingeführt. Sie war ein guter Kamerad und hatte bei allen Spielen munter mitgetan. Dabei störte Al nur eines: dass Don sie als eine Art Besitz behandelte und sich das Recht herausnahm, ihr Vorschriften zu machen. Mit leichter Schadenfreude malte er sich aus, wie Don reagieren würde, wenn er als Letzter erwachte.

»Hallo, Don!«

Die Stimme klang so leise, dass Al sie kaum vernahm.

»Kat!«, rief er. »Ich bin’s: Al!« Durch einen schnellen Blick überzeugte er sich davon, dass sein kakibraunes Tropenjackett gut saß, und strich die dunkelblonden Haare zurück.

Katja lag auf der Matte und versuchte sich aufzusetzen. Al kniete neben ihr nieder, schob die Hand unter ihren Rücken und stützte sie. Sie blinzelte zwischen den Lidern hindurch.

»Scheußlich, dieses Licht«, flüsterte sie.

»Wie geht’s?«, fragte Al.

»Ich hab’s überstanden. Ich glaube … mir geht’s ganz gut.«

»An das Licht gewöhnst du dich«, erklärte Al. »Bald merkst du nicht mehr, dass es orange ist. Es wird weiß. Alles bekommt normale Farben. Dann schaut es hier nicht viel anders aus als auf der Erde.«

»Aber der Himmel«, sagte Katja. »Der Himmel –«

»Auch der Himmel wird blau – warte nur ab. Es geht ganz von selbst. Es ist, als ob sich ein Nullpunkt auf einer Skala verschöbe.«

Seltsam, dachte Al, die schmutzig graue Färbung des Himmels hat mich überhaupt nicht gestört. Wahrscheinlich empfinden Frauen anders.

Er beobachtete Katja. Ihre blonden Haare bewegten sich im Wind. Das Mädchen war noch etwas blass; ihre Blässe unterstrich die leicht vorstehenden Backenknochen, die ihr ein exotisches Aussehen gaben. Die dunkelblauen Augen waren halb unter den Lidern verborgen. Katja trug rote Jeans und eine schwarze Lederjacke über einem schwarzen Pullover. Sie erholte sich schnell. Ihre Bewegungen wurden zielbewusster, ihr Blick klarer.

»Fein, Al«, sagte sie, »fein, dass ich dabei sein darf! Es ist das erste Mal. Sei nicht böse, wenn ich mich ungeschickt anstelle.« Sie lächelte ein wenig verlegen und kam Al noch netter vor als früher. »Aber was ist mit Don?«

Wieder versuchte sie aufzustehen, doch Al hielt sie zurück.

»Schone dich noch!«, bat er. »Ich sehe nach.« Er ging zur Baracke und trat durch die Tür. Der Helligkeit der Außenwelt gegenüber erschien es ihm hier düster. Er tastete nach einem Schalter und schob den Hebel hinunter. In grellem Weißblau flutete das Licht auf. Unglaublich primitiv hier, dachte Al, und dieser Eindruck verstärkte sich, als er sich umsah. Alles war auf Platzersparnis ausgerichtet. Rechts bot ein Fenster Aussicht ins Tal, darunter standen ein Tisch und drei Hocker. In die Stirnwand eingeschnitten war die Tür zum Maschinenraum, der übrige Flächeninhalt war durch Fächer unterteilt; sie enthielten die wichtigsten Werkzeuge. Alles nicht unmittelbar Erforderliche musste durch die Automaten eigens angefertigt werden. An die Wand links waren drei Liegestätten übereinander montiert. Auf der mittleren lag Don. Sein großer, schwerer Körper war tief in die Luftmatratze gesunken. Die Decke reichte dem Schläfer bis zum Mund. Von Dons etwas grobem Gesicht lag nur die Nasenpartie frei; die Stirn war von kurzen schwarzbraunen Haarfransen versteckt. Er atmete schon.

Al öffnete die Tür zum Maschinenraum und rief nach einem der Automaten.

»Wann wird Don fertig sein?«

»In vier Minuten.« Die Antwort kam präzise und ohne Zögern.

»Dann bring ihn ins Freie!«

Der Automat gehorchte. Al öffnete für ihn die Tür und folgte. »Er ist gleich soweit«, sagte er zu Kat.

Sie hatte sich inzwischen erholt. Während die beiden neben der Matte, auf der Don nun um das Bewusstsein rang, warteten, stellte Katja viele Fragen. Jetzt kam ihr alles interessant vor. Das Neue, das auf sie wartete, war noch weit und ungreifbar; sie befand sich auf einer Insel menschlichen Ursprungs und menschlicher Prägung, aber um sie herum lauerte das Fremde, das Geheimnis. Wie Al vorausgesagt hatte, war zwar der graue Farbton des Himmels verschwunden – er prangte nun in tiefem Blau –, aber Katja erschien dieses Blau ungewohnt, genau wie das Grün der Pflanzen und das Braun der Felswände über ihnen. Sie sah es nun nicht mehr – aber der Himmel war anders, und die Pflanzen waren anders, und die Felsen waren anders als auf der Erde. Sie fühlte es. Und die Tiere? Sie spähte umher, aber sie bemerkte keine Tiere. Morgen, dachte sie, morgen! Sanfter lauer Wind strömte vom Tiefland her den Hang hinan und brachte Wellen von Thymianduft mit. Es roch so wie Thymian – wahrscheinlich war es etwas ganz anderes –, und der Geruch wurde zum Odem des Rätselvollen.

»He!«, rief Don, aber seine Stimme war noch schwach. Mühsam stützte er sich auf die Ellbogen. »Ihr seid schon okay? In mir dreht sich noch alles. Schandbar. Wie sieht es aus?«

»Hübsch«, sagte Katja. »Wie fühlst du dich?«

»Wird schon besser. Ist ja unwichtig. Habt ihr etwas von den andern gesehen?«

Katja streichelte seine Stirn.

»Nichts, Don. Du hast nichts versäumt. Wir sind auch erst seit ein paar Minuten wach.«

»Dann ist es ja gut.« Don seufzte und ließ sich auf die Matte zurückfallen. Er verschränkte die Hände unter dem Hinterkopf und schloss die Augen. »Sagt doch: Wie sieht es hier aus?«

»Ziemlich harmlos«, sagte Al. »Grüne Hügel, Berge, Seen. Die Luft gut, die Temperatur angenehm. Nichts Besonderes. Hoffentlich wird es nicht langweilig!«

»Kaum anzunehmen«, meinte Don. Er sprach mit geschlossenen Augen. »Dafür werden die anderen sorgen. Und dann ist da ja auch noch die alte Stadt!«

»Wo ist sie eigentlich?«, fragte Katja.

Don richtete sich auf. Er trug knöchellange Cordhosen und eine enge Samtjacke mit goldenen Knöpfen. Er sah schon bedeutend frischer aus. »Heute werden wir die Vorräte prüfen. Und morgen geht es los.« Er spähte hinunter auf das Hügelland und weiter, darüber hinweg, bis zum Horizont. Es war Abend. Die Sonne hing als rote Scheibe im Dunst. Und während sie langsam tiefer sank, begann ein ferner Strich zu glitzern. Rote Funken glommen in der Ferne auf und verschwanden wieder.

Don hob die Hand und deutete hinunter: »Dort ist die Stadt.«

2

Am nächsten Morgen hatten sie alle Nachwirkungen der Übertragung überwunden. Sie liefen vor die Baracke und standen im aufdämmernden Tag. Wieder hüllte sie betäubender Thymianduft ein. Sie schauten über das Hügelland und empfanden die gewaltige Lockung, die von den unberührten Weiten ausging.

»Warum wartet ihr noch?«, rief Don. »Kommt, wir fliegen los. Wir dürfen keine Zeit verlieren!«

»Besuchen wir gleich die Stadt?«, fragte Kat.

»Das wäre natürlich das Schönste«, sagte Al, »aber wir sollten doch lieber nach den altbewährten Regeln vorgehen. Zuerst kommen die Untersuchungen. Die Zusammensetzung der Luft. Die Chemie des Bodens. Das Spektrum der elektrischen Wellen. Die Zoologie und die Botanik …«

»Ach was, die Luft lässt sich atmen – dazu brauche ich keine chemische Analyse. Von Tieren ist nichts zu bemerken. Willst du vielleicht Blumen pflücken?«

»Sei nicht langweilig, Al«, bat Kat. »Du hast noch Zeit genug für die Pflanzen. Komm doch mit uns – zur Stadt!«

»Du weißt, worum es geht, Al!«, rief Don. »Wir müssen den anderen zuvorkommen! Wir müssen die Ersten sein!«

Sie gingen zum Hubschrauber hinüber und kletterten hinauf. Don setzte sich auf den Pilotensitz und ließ den Motor anlaufen. Katja und Al nahmen hinter ihm Platz. Das Sausen der Propellerflügel wurde zu einem dröhnenden Rauschen, und der Flugkörper löste sich vom Boden. Sie stiegen auf fünfhundert Meter Höhe.

Die durchsichtige Kanzel gestattete den freien Durchblick in alle Richtungen. Das Land unter ihnen war spielzeughaft und lieblich wie eine Bilderbuchszenerie. Man hätte an den Naturpark von Finnland denken können, wenn es nicht von dem riesigen Gebirge überschattet gewesen wäre, das sich ringsherum aufwölbte. Von ihrem überhöhten Standpunkt konnten sie deutlich die Gipfel und Grate der Berge erkennen, die im Sonnenlicht als dunkler Zackenstreifen über dem Tiefland ein zweites Mal erschienen.

»Wie stehen denn überhaupt die Aussichten, hier etwas zu entdecken?«, erkundigte sich Kat.

»Richtig«, meinte Al, »du hast uns bis jetzt noch nichts Näheres verraten. Tu doch nicht so geheimnisvoll!«

Don drehte jetzt die Nase des Hubschraubers auf das Ziel, in Richtung auf die Stadt. Er drückte den Gashebel kräftig durch, und die Hügel begannen, unter ihnen einherzuwandern.

»Also passt auf«, sagte Don. »Jak und ich – wir haben den Planeten gemeinsam gefunden. Wir hatten vor, uns mit dem Synchronstrahlspiegel im Bereich der Magellanschen Wolken umzusehen. Ich weiß nicht, wie es kam – vielleicht hatte Jak die Entfernung falsch eingestellt –, jedenfalls blickten wir in ein leeres Loch und wollten schon umschalten, da stießen wir auf eine kleine isolierte Sonne. An ihr hing ein Riesenplanet vom Neptuntyp, und daraufhin schauten wir uns weiter innen im System um. Nun – das ist der Erfolg!« Don wies hinunter auf die Hügelketten, die sich wie Laufbänder gegeneinander verschoben.

»Habt ihr auch die Stadt gleich gefunden?«, fragte Kat.

»Es gibt mehrere. Sie waren nicht schwer zu finden. Der Planet ist zu neunzig Prozent mit Gebirge überzogen. Die übrigen zehn Prozent Grünfläche leuchten deutlich aus dem Braun und Grau heraus. Alle Städte liegen unten, im hügeligen Tiefland. Aber die dort« – er wies mit dem Kinn nach vorn –, »die dort ist die größte.«

Vor ihnen wuchs jetzt ein Hügel über dem Horizont empor: ein Hügel, der sich von den anderen erheblich unterschied. Er schnitt einen vielfach gestuften, von Kerben unterbrochenen und von turmartigen Auswüchsen erweiterten Rand aus dem Himmelsblau, während die Silhouetten der anderen Berge und Kuppen sanft geschwungen und glatt erschienen.

»Könnte nicht doch etwas Intelligentes lebendig sein?«, fragte Katja.

»Unsinn«, antwortete Don. »Die Zeit der organischen Evolution ist so gering gegenüber der Entwicklungszeit eines Planeten, dass kaum Aussicht darauf besteht. Bisher hat noch niemand intelligente Wesen getroffen. Nur die Spuren finden sich häufig. Die Stadt ist sicher tot. Sie ist zum Teil verfallen.«

Al hatte das Fernglas erhoben und auf den von Gebäuden bedeckten Hügel gerichtet. Er musste Don recht geben. Das, was aus der Ferne so imposant und märchenhaft aussah, was gestern im streifenden Licht der glühenden Sonne als eine Neuschöpfung der Goldenen Stadt erschienen war und die Erinnerung an Sagen und Träume geweckt hatte, entpuppte sich als ein wüster, vielfach zerstörter Burgkomplex.

Kat wandte sich wieder an Don: »Aber was geschieht denn mit den intelligenten Geschöpfen, wenn sie ihre höchste Entwicklungsstufe erreicht haben?«

»Sie bringen sich gegenseitig um«, erklärte Don. »Dadurch unterscheidet sich unsere Kultur von allen anderen. Zwar hat es auch bei uns schon angefangen – mit Bakterien und Atomenergie; aber wir haben den Krieg rechtzeitig unterbunden.«

Jetzt waren manche Bauten schon mit freiem Auge zu erkennen: Türme mit Quadratmustern von Fensteröffnungen; geschwungene Brücken über Straßenschluchten; Gerüstkonstruktionen und Masten; aber viel davon eingestürzt, verbogen, verrottet …

Al senkte das Glas.

»Warum bist du nicht gemeinsam mit Jak hierhergekommen?«

Don lachte.

»Glaubst du, es geht mir um das alte Gerümpel? Um das Studium der technischen Errungenschaften? Um Fragen der Weltraumarchäologie? Ist doch alles Stumpfsinn. Ich will etwas erleben, verstehst du?! Es soll unterhaltend und spannend werden; das meinte auch Jak.«

»Und darum habt ihr …«

»Darum hat jeder von uns selbst eine Gruppe gebildet. Ja. Wer zuerst weiß, wie die Wesen ausgesehen haben, hat gewonnen. Jede Gruppe arbeitet unabhängig, keine darf die andere stören. Aber wie ich Jak kenne … Wenn er fürchtet, dass wir ihm den Erfolg vor der Nase wegschnappen, wird er alles tun, um das zu verhindern. Darum müssen wir aufpassen. Nehmt euch zusammen – was wir vorhaben, ist nicht einfach!«

Die Fläche unter ihnen war noch immer ein Teppich aus Blau und Grün. Als vielfach zerlappte Blattformen lagen die Seen im Grasland. Vereinzelt ragten daraus bizarre Felsklippen hervor. Darum herum verstreut standen nur einzelne Büsche.

»Was sind das für Punkte?«, rief Katja. »Al, gib mir das Glas!«

Er reichte es ihr. Bisher hatte er nur die Stadt beachtet, jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit dem Landstrich unter ihnen zu. Es handelte sich um frische Wiesen auf einer leicht welligen Oberfläche. Das Grün war nicht völlig gleichmäßig, Al nahm Partien wahr, an denen es ein wenig blasser erschien und ein gewisses Regelmaß aufwies; meist waren es hellere gerade Streifen, gelegentlich krümmten und verzweigten sie sich aber auch. Er erinnerte sich an einen archäologischen Trick, nämlich die Schattenstruktur der Landschaftsoberfläche zu Hilfe zu nehmen, um das Relief von künstlichen Veränderungen zu erkennen, aber die Sonne stand schon zu hoch, als dass er etwas Eindeutiges hätte entnehmen können.

Die Punkte, die Katja aufgefallen waren, lagen wie hingetupfte Farbkleckse verteilt, manche tiefschwarz, manche von Grün überhaucht.

»Es sind Löcher im Boden«, rief das Mädchen.

Al nahm das Glas wieder an sich und überzeugte sich davon. »Es sieht aus wie Einschläge von Geschossen, wie Granattrichter. Sollten es Spuren eines Krieges sein?«

»Wahrscheinlich«, sagte Don. »Irgendwie müssen sie sich ja umgebracht haben.«

Al wiegte den Kopf. Vermutungen genügten ihm nicht, er hätte sich mit diesen Fragen lieber eingehend beschäftigt. Aber er zerstreute seine Bedenken. Schließlich kommt es nicht darauf an, dachte er.

Sie flogen nun in unmittelbarer Nähe der Stadt. Die helleren grünen Streifen verdichteten sich zu einem Netzwerk. Die Vermutung Als, dass es sich um Wege und Straßen handelte, verstärkte sich. Aber wieso sind sie von Pflanzen überzogen, fragte sich Al, während doch die Einschlagtrichter noch unbewachsen sind?

Vom Pilotensitz her kam ein Fluchen. Erstaunt blickten Kat und Al auf Don.

»Irgendwas scheint mit der Steuerung nicht in Ordnung zu sein!«, schimpfte Don. »Die Maschine weicht immer wieder zur Seite ab.«

»Gerade jetzt, wo wir über die Stadt kommen!« Kat blickte durch den Glasboden der Kanzel senkrecht nach unten – dort standen die ersten Gebäude als regelmäßiges weißes Punktmuster in den Grünflächen.

Al beobachtete Don. Es war tatsächlich seltsam. Die Maschine hatte Schwierigkeiten, die Richtung beizubehalten, wie ein Auto auf einer stark überhöhten Straße. Wenn Don zu stark gegensteuerte, schwenkte der Hubschrauber nach der andern Seite um.

»Es liegt nicht an der Steuerung«, sagte Al.

Don schnaubte ärgerlich.

»Zum Teufel, woran denn?«

»Flieg einmal ein Stück tangential – auf einem Kreis um die Stadt herum … Hier hindert dich nichts – merkst du es?«

»Tatsächlich, du hast recht!«

Katja folgte den Versuchen verständnislos. »Was ist geschehen?«

»Irgendetwas bringt uns vom Kurs auf die Stadt ab«, sagte Al. »Stell doch die automatische Steuerung ein, Don!«

Don drückte den rotleuchtenden Knopf hinein, die Farbe wechselte zu Grün. Dann drehte er den Kurszeiger ein Stück herum. Sie warteten gespannt … die Richtung war stabil.

»So geht es«, sagte Don.

»So geht es auch nicht«, sagte Al.

Don blickte den Kameraden beunruhigt an.

»Schau hinunter!«, forderte Al.

»Na und?«

»Wir bewegen uns nicht.«

»Verflucht – es stimmt!«

Es war von oben nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber wenn man einige Zeit hinunterblickte, merkte man, dass sich die Position nicht änderte. Die Landschaft stand unbeweglich, sie lagen wie eingefroren darüber.

Don drückte den Gashebel hinunter.

»Vielleicht eine Gegenströmung?«

Tatsächlich glitt die Maschine ein wenig vor.

Don ließ den Motor aufheulen, die Flügelschraube brauste, und wieder schob sich das Flugzeug ein paar Meter weiter. Dann hielt es einige Sekunden still und begann plötzlich wild zu schwanken – wie ein Holzbohrer, der auf Metall gestoßen ist.

Es schlingerte so stark, dass die drei Mühe hatten, sich aufrecht zu halten.

Don verringerte den Druck auf den Gashebel, das Schaukeln hörte auf, und die Maschine trieb zurück, einige Dutzend Meter vom Zentrum der Stadt fort, mit dem Heck voran.

Wütend schimpfte Don vor sich hin. Er ließ den Einschaltknopf für die Steuerautomatik zurückspringen – sofort fuhr das Flugzeug um hundertachtzig Grad herum. Al und Kat wurden an die Seitenwand gepresst, Don klammerte sich am Steuerknüppel fest. Er gab Gas und flog ein Stück zurück, dann schlug er einen Bogen und raste wieder auf die Stadt zu.

»Halt, nicht!«, rief Al, aber schon bäumte sich die Maschine auf … rutschte seitlich ab … trudelte ein Stück. Wieder gab Don Vollgas und schlug einen Halbkreis.

»Ich komme durch, und wenn alles in Scherben geht!«

Wieder zerrte die Zentrifugalkraft wild an ihnen.

»Bitte nicht, Don!«, rief Katja.

Don hörte nicht und erhöhte die Antriebskraft … es war, als würde das Flugzeug in ein federndes Polster geschleudert. Es knirschte hässlich im Rahmenwerk, dann wirbelten sie abwärts … ging der Fall in Seitwärtsgleiten über … Don gewann wieder Gewalt über den Flug.

Kat hatte den Kopf auf Als Schulter gelegt, ihre Augenlider flatterten. Don sprach kein Wort. Er steuerte zum Lager zurück.

3

Noch waren keine vierundzwanzig Stunden vergangen, und schon hatten sie eine Schlappe einstecken müssen. Don hatte sich verärgert auf sein Lager geworfen, und Katja saß lustlos bei ihm.

Al trug den Untersuchungskoffer den Hang hinunter. Unten, am Rand der Ebene, stellte er ihn ab. Al begann mit den physikalischen und chemischen Routineuntersuchungen an Boden- und Gesteinsproben und wandte sich dann den Gewächsen zu. Er sammelte Proben der Blütenpflanzen, Gräser und Moose und legte die Arten, die stark von jenen der Erde abwichen, zum Präparieren beiseite. Seine Ausbeute blieb aber recht kärglich.

Nach einer Weile kamen Don und Kat hinzu. Don war noch immer missmutig. Träge schlenderte er umher, hin und wieder riss er eine Blume aus und zerrupfte sie.

»Al!«, sagte er nach einer Weile. Al saß über ein Mikroskop gebeugt und brummte etwas Unverständliches als Antwort.

»Hast du was gefunden?«

»Bisher nichts Besonderes.«

»Weißt du, was mir auffällt?«

Al klopfte mit einem Geologenhammer auf einem Felsbrocken herum und sammelte die Splitter.

»Was fällt dir auf, Don?«

»Es ist mir hier ein wenig zu tot. Es gibt keine Vögel und keine Vierfüßler. Keine Ameise, keine Fliege. Nicht einmal einen Floh. Hast du ein Tier gesehen?«

»Schau einmal ins Mikroskop. Was sagst du dazu?«

Don blickte ins Okular.

»Was ist das?«

»Ein Wassertropfen. Ich habe Erde mit Wasser aufgerührt. Das ist ein Tropfen davon.«

»Na und? Ich sehe nichts.«

»Das ist es ja eben.« Al zog das Objektträgerscheibchen unter den Klemmen hervor. »Nichts. Nicht einmal Mikroorganismen. Es muss doch auch hier eine Evolution von den niedrigsten Lebensformen zu den höheren und höchsten gegeben haben. Woher stammen die Erbauer der Stadt?«

Don wusste keine Antwort.

»Ich will dir noch etwas zeigen. Vielleicht revidierst du dann deine Meinung, dass die Routineanalysen etwas Unnützes sind. Kennst du diese Formel?« Er hielt Don einen Zettel hin. »Das Ergebnis einer chemischen Bestimmung. Weißt du, was das ist?«

Noch während Don den Kopf schüttelte, fuhr Al fort: »Das Zeug hat keinen Eigennamen, aber es ist äußerst wirksam. Pass auf: Ich führe dir ein kleines Experiment vor.«

Er schob einen Polypeptid-Objektträger in die Vakuumkammer des Mikroskops, stellte auf ionenoptische Vergrößerung und bat Don, das Bild anzusehen.

»Lang gestreckte Rechtecke. Was ist damit?«

»Bakterien aus unserem biologischen Versuchsmaterial.«

Al tauchte ein Glasstäbchen in ein Reagenzglas und holte einen Tropfen glasklarer Flüssigkeit hervor. Er zog den Objektträger heraus, strich den Tropfen daran ab und schob ihn wieder in den Strahlengang. Durch einen Blick ins Okular überzeugte er sich davon, dass das, was er erwartet hatte, eingetreten war. Dann winkte er Don.

»Was siehst du?«

»Die Rechtecke lösen sich in Fetzen auf. So sprich doch endlich, Al! Was hat das zu bedeuten?«

Al bückte sich und riss ein paar Blätter aus der Grasmatte, auf der sie standen.

»Nach der Formel ist es eine Art Antibiotikum. Es wirkt ungewöhnlich stark und schnell.«

»Wo kommt das Zeug vor?«

»Überall. Es liegt als dünner Überzug auf den Pflanzen, auf dem Gestein. Es ist im Wasser gelöst und fliegt als Staub durch die Luft.«

Don zog ratlos die Schultern hoch.

»Ja, aber, wie erklärst du dir …«

»Ich kann überhaupt nichts erklären. Ich stelle nur fest. Und nun kommt noch eine Überraschung.« Er zeigte einige Splitter, die er von dem größeren Steinbrocken abgeschlagen hatte.

»Es ist eine Probe von dort drüben«, sagte Al und wies auf eine der steilen Felsklippen draußen im Hügelland. »Ich habe sie schon flüchtig untersucht, aber, um sicherzugehen, mache ich jetzt eine vollständige Spektralanalyse.«

Don und Katja folgten seinen flinken und geschickten Bewegungen. Mit einem Stück rauer Platinfolie – sie sah wie eine Nagelfeile aus – rieb er Pulver von dem Probestück ab. Ein wenig davon kam in eine Röntgendrehkristallapparatur, die Folie selbst steckte er in einen Spektrografen. Nun warteten sie auf die Daten, Don mit nervöser Ungeduld, Katja mit verständnislosem Staunen, Al mit gespielter Ruhe. Dann klickten die Transporträder des Lochstreifens, und zwei zehn Zentimeter lange Papierschlangen wanden sich ans Tageslicht. Al griff zu und lächelte dann.

»Lass uns nicht herumstehen wie Idioten«, schrie Don. »Was hast du gefunden?«

Al lächelte noch immer.

»Plastik. Die Felsen bestehen aus Plastik.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Al: »Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Hier gibt es nun einmal einiges, was rätselhaft ist. Keimfreier Boden und künstliche Felsen – das lässt sich in kein vernünftiges Bild einordnen. Aber was ist schließlich Schlimmes daran? Das Bedenklichste sind die Vorfälle über der Stadt. Doch selbst sie geben keinen Grund zur Aufregung. Du hättest ja schließlich nicht wie wild gegen den Widerstand anrennen müssen!«

»Ach, Al, lass das doch!«, bat Katja, und Don blickte böse.

»Warum soll ich nicht davon sprechen?« Sogar dem beherrschten Al war jetzt eine Verärgerung anzumerken. »Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist nun einmal nicht ganz so leicht, wie wir es uns dachten. Wenn wir nicht klein beigeben wollen, müssen wir aufhören, uns kindisch zu benehmen. Oder wollt ihr aufgeben?«

Katja blickte auf Don, und dieser verneinte heftig.

»Ich natürlich auch nicht«, sagte Kat.

»Na schön. Dann wollen wir ein bisschen systematischer vorgehen. Wir haben einige Tatsachen festgestellt, die wir noch nicht verstehen. Künftig werden wir keine Möglichkeit versäumen, weitere Informationen zu gewinnen. Ich bin überzeugt, dass sich alles vernünftig erklären lässt!«

Don hatte sich ins Gras gesetzt und spielte mit ein paar Halmen.

»Kann uns dieses Antibiotikum nicht schaden?«, fragte er misstrauisch, als ein wenig Staub auf seinen Fingern zurückblieb.

»Beruhige dich«, sagte Al. »Es schadet nicht, das weißt du selbst.«

Don berührte Kats Hals mit einem Grashalm und lachte, als sie zusammenfuhr.

»Du hast recht, Al«, sagte er. Er hatte seine gute Laune wiedergewonnen. »Du hast recht. Was wollen wir nun unternehmen?«

»Am besten, wir führen die Untersuchung zu Ende. Dabei können wir überlegen, wie wir in die Stadt kommen können.«

»Meinst du, dass wir die Sperre überwinden können?«

»Was war es eigentlich?«, fragte Al. »Eine Strömung? Ein starker Wind? Oder eine Kraft?«

»Ja, irgendetwas Derartiges. Jedenfalls nichts Hartes. Vielleicht ein weicher unsichtbarer Gegenstand?«

»Ich glaube an keine unsichtbaren Gegenstände. Dann schon eher eine Kraft – eine Art Antigravitation. Aber das ist gar nicht so wichtig. Wichtiger für uns wäre zu wissen, was für einen Zweck sie hat.«

»Na, das ist doch klar – die Stadt ist abgesperrt. Niemand darf hinein. Vielleicht noch eine Einrichtung von früher.«

»Möglich. Hast du aber auch an eine andere Möglichkeit gedacht? Ich glaube es zwar nicht, aber könnte nicht Jak …?«

»Jak? Hm – zuzutrauen wäre es ihm. Aber wie sollte er es gemacht haben?«

Plötzlich war etwas Ungewöhnliches da, zuerst noch nicht erkennbar … helles hohes Klingen erschütterte die Luft. Ein weißglühender Ball schoss wie ein Blitz von oben herab, dann heulte es auf und schloss mit einem dumpfen Schlag. Alles war wie vorher, bis auf eines: In der ihnen zugewandten Flanke der nächsten Erhebung, einer unauffälligen Bodenwelle, gähnte ein neuer schwarzer Trichter.

Die drei Menschen waren bleich geworden, sie spürten ihre Herzen klopfen. Sie standen geduckt da, als hätte sie jemand angegriffen. Nur langsam fanden sie sich wieder. Da rief Al laut in die Stille hinein: »Ich hab’s!«

»Was hast du?«, fragte Don heiser.

»Morgen kommen wir in die Stadt!«

»Wieso? Wie meinst du das?«

»Was wir eben gesehen haben, war ein Meteorit. Die Trichter sind Meteoritenkrater. Hast du welche in der Nähe der Stadt gesehen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Aber ich: Es gibt keine. Und jetzt weiß ich, was das abstoßende Kraftfeld zu bedeuten hat: Es ist ein Abwehrschirm gegen Meteoriten, die es hier offenbar häufig gibt.«

»Klingt logisch. Aber was hat das alles mit unserem Besuch der Stadt zu tun?«

»Ist doch klar!«, sagte Al. »Sie brauchen die Stadt ja nur gegen oben zu schützen. Ich bin sicher: Unter dem Schirm liegt ein freier Rand. Es gab doch früher Wege, die aus der Stadt herausführten. Wir müssen uns am Boden nähern, dann kommen wir hinein!«

Don schlug Al auf die Schulter.

»Mensch, dann ist dieses ulkige Kraftfeld ja gar nicht gegen uns gerichtet! Dann steht uns ja nichts mehr im Weg!«

Al nickte zuversichtlich.

»Scheint so«, sagte er trocken.

4

Am nächsten Tag waren sie wieder mit dem Hubschrauber unterwegs. Don näherte sich der Stadt im Tiefflug und landete, als er die ersten Anzeichen eines Widerstandes bemerkte.

»Du hast recht gehabt«, sagte Don zu Al, »weiter innen sind keine Krater mehr. Hoffentlich hast du auch mit deiner Ansicht recht, dass wir am Boden unangefochten hineinkommen!«

Sie stiegen aus und gingen langsam in Richtung auf die Stadt. Ihre Schritte waren unsicher. Unwillkürlich streckten sie die Hände vor wie Blinde. Irgendwo über ihnen, vielleicht auch vor ihnen, war etwas Unsichtbares und doch Wirksames, das erste Hindernis auf ihrem Weg in die Fremde, das erste Zeichen einer unbekannten Macht, der Beweis einer hohen technischen Überlegenheit. Oben in den Lüften lag es, den Sinnesorganen entzogen und doch real, zu wer weiß welchen Wandlungen und Reaktionen fähig. Bisher hatte sich nichts ereignet, was gegen sie gerichtet gewesen wäre, der Meteoritenfall war ein bekanntes und nicht weiter ungewöhnliches Naturereignis, aber hier, im Begriff, sich ihrem Ziel zu nähern, wurden sie sich zum ersten Mal darüber klar, dass sie sich im Bereich einer undurchschaubaren Welt befanden, in der Sphäre eines zwar erloschenen, aber in seinen Werken noch nicht toten Geistes. Was sie jetzt taten, war anders und mehr, als sie bisher getan hatten, und es war in einer Weise bedeutsam, wie sie es in der Vorschau nicht hatten ahnen können.

Klein und zögernd, ohne die Hilfsmittel der Technik, auf sich allein angewiesen, gingen sie über den grasbewachsenen Boden, der keinem menschlichen Territorium zugehörte. Das Flugzeug blieb hinter ihnen zurück, und es stand schon weiter von ihnen entfernt, als sie gedacht hatten. Al hatte recht gehabt! Hier unten war die Sperre aufgehoben. Mit jedem zurückgelegten Meter gewannen sie Sicherheit, ihre Zuversicht stieg, und schließlich ließen sie die tastenden Hände sinken, sie sahen sich an – und um ihre Mundwinkel lag ein Zug von Stolz und Beschämung zugleich.

Von hier unten sah das Gelände doch anders aus als aus der Vogelperspektive. Die Ähnlichkeit mit irdischen Stadtteilen war stark abgeklungen, nur die lockere Aufteilung der Gebäude erinnerte noch an ein Gartenviertel.

Bald hielten sie vor den ersten Bauwerken und konnten ihre Form und die Art ihrer Anordnung gut überblicken. Der weitaus größte Teil von ihnen hatte abgerundet glatte Vorderfronten aus spiegelndem, irisierendem Material, die, vom Stadtzentrum aus gesehen, in radiale Richtung wiesen. Die Front war der höchste Teil der Gebäude, nach hinten zu erniedrigten sie sich, und im gleichen Maß nahm ihre Breite ab. Die der Stadtmitte zugewandten Enden liefen spitz zu. Über diese Spitzen spannten sich metallisch schimmernde Rundbögen, die von Netzen ausgefüllt waren.

»Sauber gebaut«, sagte Don. »Kein einziges Fenster drin. Sehen aus wie Bunker. Was meinst du?«

»Vielleicht sind es Vorratsräume. Das lässt sich nicht so einfach sagen«, meinte Al.

Katja sah sich mit großen Augen um.

»Schick«, sagte sie. »Wie moderne Garagen.«

»Hier ist alles noch gut erhalten«, sagte Al. »Die Peripherie scheint der neueste Teil der Stadt zu sein. Was man dort im Inneren sehen kann, schaut nicht mehr so neu aus.«

Sie wanderten zwischen zwei der lang gestreckten Bauten hindurch. Das Gras wuchs üppig wie im freien Land, nur an den Häusern liefen schmale grasfreie Streifen entlang. Katja lief ein paar Schritte seitwärts, um eines dieser Bänder zu erreichen.

»Schlechte Wege gibt es hier«, sagte sie.

»Das fällt mir auch auf«, bestätigte Don. »Straßen kannten diese Leute hier wohl überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie …«

Ein pfeifendes Geräusch und ein Aufschrei Kats ließen ihn verstummen. Er fuhr herum, sah Al ein paar Schritte laufen und dann stehen bleiben. Kat war verschwunden.

»Wo ist Kat?«, schrie er.

Al rang vergeblich nach Worten, er konnte nur auf die leere Wand des Gebäudes zeigen. Don rannte auf ihn zu und boxte ihn grob in die Seite.

»Was ist geschehen, Al, so antworte doch!«

»Eben war sie noch da, und plötzlich schrie sie. Ich sah eine dunkle Öffnung zuklappen. Das ist alles.«

»Wo war die Öffnung?«

Beide liefen auf das Gebäude zu und untersuchten die Wand. Al wusste noch ungefähr, wo sich das Loch aufgetan hatte, er tastete die Wand ab, fand aber nichts Auffälliges.

Da ertönte wieder das Zischen, das er schon vorher gehört hatte, jetzt in nächster Nähe, etwas vor ihm schob sich auseinander, und er glitt einwärts. Vergeblich suchte er sich an der Mauerkante zu halten, er drohte das Gleichgewicht zu verlieren, aber etwas drückte ihn sanft in sitzende Stellung … warmes gelbes Licht glühte auf. In einer weichgeschwungenen Spirale fuhr er eine geneigte Fläche empor, und das gelbe Leuchten lief vor ihm her. Wie in einem Kaleidoskop tauchten Bilder auf, Farbmuster, Kakteen, Tastaturen, Drahtplastiken … dann hielt der Fahrstuhl – vor ihm lag die weite Ebene mit den Hügeln, Seen und Felsgruppen, dahinter die braunschwarz gesprenkelte Mauer des Gebirges, und über diesem eine glitzernde Krone aus Eisspitzen, Gletschern und Firnen. Neben ihm saß Kat. Sie hielt das Gesicht in beiden Händen verborgen.

Al vergaß den herrlichen Ausblick, er sah nur mehr Kat. Er wollte aufstehen, doch etwas hielt ihn sanft, aber unnachgiebig fest. Er beugte sich, so gut es ging, zu Kat hinüber, legte seine Hände auf die ihren und flüsterte ihr leise beruhigende Worte ins Ohr. Er spürte, wie ihr Zittern aufhörte und sie sich an ihn lehnte.

Plötzlich dröhnte Dons Stimme: »Das geht zu weit, Al! Bist du verrückt geworden? Kat, was fällt dir ein? Vergesst nicht, was wir vereinbart haben – sonst mache ich Schluss!«

»Schon gut, Don. Sie war doch total erschreckt.«

»Dazu besteht kein Anlass. Sie weiß doch, was wir tun. Sie braucht deinen Trost nicht!«

»Ist ja klar, Don. Es war doch nicht bös’ gemeint.«

Al hatte sich wieder zurückgelehnt. Sie saßen nebeneinander in federnden, kantenlosen Sesseln mit erhitzten Gesichtern und starrten vor sich hin. Vor ihnen, greifbar nahe, lag das Paradies der Hügel und Seen, die Majestät der Berge. Die Formen waren von unglaublicher Tiefenwirkung, scheinbar durch nichts von den Beschauern getrennt. Die Sonne ließ an den Graten glitzernde Ketten aufstrahlen, das Land prangte in einer Harmonie aus Farbe und Licht. Die Wölbung des blauen Himmels schien zum Greifen wirklich, und – auf diesem Himmel waren die Sterne sichtbar. Mit dem Optischen war das Dargebotene aber noch nicht erschöpft: Windbewegtes Gras rauschte leise, Wärme lag wohlig auf den Gliedern. Ein leichter Thymianduft zog auf und zauberte einen Hauch von Weite, Zeitlosigkeit und Freiheit in den Raum …

Die drei Menschen starrten vor sich hin und sahen nichts, hörten nichts, fühlten nichts. Sie waren von diesen Dingen durch mehr getrennt als durch eine Wand aus seltsamem Glas, durch mehr als Millionen Lichtjahre, durch mehr als Jahrzehntausende Fortschritt.

Al fing sich als Erster. Er erlangte das Gleichgewicht, aber nicht die Ruhe derjenigen, die einst, vor undenklich langer Zeit, hier gesessen haben mochten. Er blickte auf und sagte: »Das Land am Rande des Gebirges. Die irisierende Wand ist ein Fenster.«

»Sie ist mehr als ein Fenster«, sagte Katja. »Man sieht die Landschaft nicht nur – man hört und riecht sie auch.«

Don versuchte aufzustehen, aber er brachte es ebenso wenig fertig, wie vorher Al.

»Es ist kein Fenster – eher eine Kinoleinwand, ein Bildschirm. Sagt mir lieber, wie man hier hinauskommt!«