Der Pakt des Zaren - Asmodina Tear - E-Book
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Der Pakt des Zaren E-Book

Asmodina Tear

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Beschreibung

Russland um 1900: Die Vampire Christo und Drago sind in großer Sorge. Zar Nikolaus herrscht mit fester Hand und scheint keinen Blick für die Nöte seines Volkes zu haben. Vielmehr gilt seine Sorge der Familie, da Sohn Alexei die Bluterkrankheit hat. Auch der mysteriöse Tod seines Onkels Sergeis und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bringen kein Umdenken. Als der vermeintliche Magier Rasputin an den Hof kommt, schließen Christo und Drago Freundschaft mit den Zarentöchtern. Die anfangs zarte Verbindung wird immer stärker. Doch plötzlich sucht Nikolaus das Haus der Vampire auf und bietet ihnen einen Pakt an, der alles verändert. Können sie die Familie retten und die drohende Katastrophe abwenden?

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Die Autorin
Ein Wort des Verlegers

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Die Autorin

Ein Wort des Verlegers

Der Pakt des Zaren

von

Asmodina Tear

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Der Verlag Torsten Low ist Fördermitglied bei

PAN – dem Autorennetzwerk.

Mehr Informationen finden Sie hier:

www.phantastik-autoren.net

© 2023 by Verlag Torsten Low,

Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch

teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages

wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung und Illustrationen:

Detlef Klewer

Lektorat:

Marisa Haufe

Korrektorat:

Torsten Low

Satz: Torsten Low

Druck und Verarbeitung: Winterwork, Borsdorf

Printed in Germany

eBook-Produktion: T. Low

ISBN (Buch): 9783966290388

ISBN (mobi): 9783966293143

ISBN (ePub): 9783966293150

Prolog

Russland, 2022

Langsam glitt das tote Tier zu Boden. Genüsslich wischte die junge Frau mit den kindlichen Gesichtszügen sich den Mund ab, sodass ihre weißen Hände rot glänzten. Vereinzelte Spuren blieben an ihrem Kinn zurück, aber das störte sie nicht.

»Das war gut.«

»Mit Sicherheit.« Liebevoll griff die Ältere ihrer Schwester in die Haare, um die dunkle Pracht zur Seite zu nehmen, damit der rote Lebenssaft sie nicht berühren konnte. »Aber du hast wieder gekleckert.«

Die Jüngere lachte und streckte die Zunge raus.

»Du weißt, normalerweise achte ich auf meine Manieren. Aber heute bin ich zu durcheinander und aufgewühlt.«

Die Ältere atmete tief durch.

»Ich verstehe dich sehr gut. Mir geht es nicht anders. Es ist ein seltsames Gefühl, nach der langen Zeit wieder hier zu sein. Gerade deswegen wundert es mich, dass du dir keinen Menschen ausgesucht, sondern mit einem Tier vorliebgenommen hast. Du bist sonst nicht unbedingt das Beispiel für eine vegetarisch lebende Person.«

»Das bin ich wirklich nicht.« Die Jüngere stand auf und ihre leicht goldglänzenden Augen wanderten erst zum Mond, welcher in dieser Nacht seine gesamte Schönheit zeigte, und anschließend in Richtung Süden, wo sich die Umrisse einer prächtigen Kathedrale abzeichneten. Eine Gänsehaut legte sich auf ihre Arme, obwohl das seit knapp hundert Jahren üblicherweise nicht mehr zu den Eigenschaften ihres Körpers gehörte. Aber hin und wieder gab es eben doch Situationen. Gerade, wenn sie bestimmte Dinge sah. »Doch … wen hätte ich heute nehmen sollen? Eine der sogenannten neuen Schwarzen Prinzessinnen vielleicht?«

Sie kicherte freudlos und die Ältere fiel ein. Ihre Fangzähne glänzten im Sternenlicht.

»Ja, ich war auch erschrocken und konnte es nicht glauben. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich sogar versucht, die Regeln zu brechen und diesen Damen einer nach der anderen den Kopf abzuschlagen. Wie dumm und naiv kann man sein? Natürlich kann jeder glauben und leben, wie er oder sie will, ich bin die Letzte, welche so etwas verwehren würde. Aber solche Zusammenkünfte sind gefährlich, das haben wir beide am eigenen Leib zu spüren bekommen.«

»Nicht nur wir, sondern auch Mama, Papa und unsere Schwestern«, bemerkte sie. Ihr russischer Akzent wurde immer stärker, ein Zeichen dafür, wie aufgeregt sie war.

»Du hast recht«, schnell griff die Ältere nach ihrer Hand und drückte sie fest. »Wenn es solche geheimen Zusammenkünfte damals nicht gegeben hätte, wären einige Intrigen nicht zustande und ER vor allem nicht zu seiner Macht gekommen. Selbst ich habe mich seiner Faszination teilweise nicht entziehen können. Und glaube Eines: Ich schäme mich heute dafür!«

»Das musst du nicht.« Die Jüngere zog sie in ihre Arme und einige Minuten lang blieben die Schwestern eng umschlungen stehen. »Jeder war von IHM fasziniert und angetan. ER konnte einfach mit den tiefsten Sehnsüchten und Bedürfnissen spielen, dagegen war niemand immun. Nicht, wenn der- oder diejenige menschlich war. Naive Seelen erkennen das wahre Gesicht hinter der Maske oft erst, wenn es viel zu spät ist. Leider.«

»Zum Glück kam die Rettung noch rechtzeitig«, meinte die Jüngere.

»Ja, aber leider nur für uns. Unsere Familie ist tot, sie fiel der Schlange aus dem Paradies zum Opfer.«

»Gräme dich nicht!« Wieder schauten die beiden Frauen zu dem Gebäude, dass sich groß und ohne jeden Makel vor ihnen erstreckte. Selbst jetzt, da der Morgen erst graute, brachten die fahlen Strahlen der Sonne den weißen Stein sowie den Glockenturm zum Leuchten. Niemand, dem der Name und die Geschichte der Kathedrale unbekannt waren, würde vermuten, welch grausames Verbrechen sich hier vor langer Zeit ereignet hatte.

Kathedrale von dem Blute.

Der Name sprach Bände und dennoch wusste es nicht jeder. Die Ältere hob kaum merklich den Kopf und ein beißender Geruch von Verzweiflung, Blut, Schießpulver und Tod stieg ihr in die Nase. Sie verzog das Gesicht.

»Wir müssen nicht reingehen wenn du nicht willst. Wir haben noch sehr viel Zeit, und auf ein paar Monate mehr käme es auch nicht an.«

»Vielleicht nicht.« Die Jüngere straffte die Schultern und bemühte sich um eine aufrechte, würdige Haltung, bevor sie ihre Schwester musterte. »Aber wie lange wollen wir noch zögern? Weder die Umstände noch unsere Erinnerungen werden sich ändern. Und: Macht ein Aufschub es tatsächlich besser?«

Die Ältere dachte nach, während sie den deutlich vernehmbaren Geräuschen des Erdreiches lauschte.

»Nein … du hast ja recht. Es macht keinen Sinn, weiter davonzulaufen. Im Gegenteil … vielleicht haben wir es viel zu lange getan.«

»Wenn wir eines während dieser Zeit gelernt haben, Maria, so ist es, uns solchen Situationen tapfer und mit dem Blick nach vorne gerichtet zu stellen.« Die Jüngere lächelte aufmunternd.

»Du hast ja recht.« Die Angesprochene erwiderte die Geste und gemeinsam legten sie die verbliebenen Meter zurück.

Der Nachtwind spielte mit ihren Kleidern und Haaren, begleitete sie bis zum Ziel. Beide Frauen pressten die Lippen aufeinander, bis diese blutleer wirkten, und sprangen leicht und lautlos über den Zaun. Die Sträucher mit ihren spitzen Dornen waren damals noch nicht hier, aber auch sie konnten die Schwestern nicht aufhalten.

»Damals ist mir gar nicht aufgefallen, wie groß das Haus eigentlich ist. Ebenso hätte ich niemals geglaubt, das auf dem gleichen Platz mal eine Kathedrale stehen würde«, meinte die Jüngere und blickte ehrfürchtig zu der gewaltigen Kuppel empor. Diese war mit liebevoll gemalten Gemälden verziert, welche die Auferstehung Jesu zeigten.

»Unter anderen Umständen hätte man es schön nennen können. Aber dieses Gotteshaus ist eine Farce. Bei allem, was unsere Familie hier erleiden musste«, stellte Maria trocken fest.

Ihre Augen erkannten jedes Detail und gaben ihr zuweilen sogar das Gefühl, dass die Wände pulsieren würden, als hätten sie einen eigenen Herzschlag. Auch die Jüngere blickte sich mit einer Mischung aus Faszination und Grauen um, bevor sie am Fuß der Treppe stehenblieb.

»Hier regiert der Tod«, stellte sie monoton fest. »Spürst du es auch?«

Maria nickte und ihr Blick glitt in Richtung des ersten Stockwerkes. Dort oben wurde … reflexartig wich sie einen Schritt zurück. Gegen diese Angst konnten selbst ihre übermenschlichen Fähigkeiten nichts ausrichten. Sie war da, greifbar, kühl und grausam.

»Maria?«, jene Frage kam sehr zaghaft. Die Angesprochene spürte die Berührung an ihrem Arm und schaffte es nur knapp, nicht zusammenzuzucken.

Dieses Haus war verflucht. Nein, es wurde nicht von Geistern heimgesucht, die wären noch harmlos. Stattdessen troffen Leid, Lügen, Korruption, Skrupellosigkeit, Macht- und Geldgier aus allen Fugen des Hauses.

Wir wollen nicht die Frauen, nur den Vater und den Sohn, hatten sie gesagt.

Ja, von wegen … ich bin sehr froh, dass ihr unter der Erde verrottet.

»Sollen wir wirklich noch nach oben gehen?«, holte ihre Schwester sie in die Wirklichkeit zurück.

Die Angesprochene schluckte. »Ja, wir müssen. Sonst war alles vergebens. Und sagtest du nicht vorhin erst, dass wir nicht mehr weglaufen sollten?«

Beide Frauen schwiegen, als sie die Treppe Stufe für Stufe emporstiegen. Das Holz knarrte wütend unter ihren Füßen, und dann hörten sie in ihrem Kopf wieder diesen Schrei, der sie seit Jahren begleitete.

»Hier … hier … an dieser Stelle waren die Einschusslöcher.«

Zwar hatte die Ältere fest damit gerechnet, trotzdem verstand sie die Fassungslosigkeit ihrer Schwester so gut, als wäre es ihre Eigene. Bis zum Schluss hatte der kleineKobold gehofft, dass die Sache nicht so schlimm werden würde. Bis zu dem Moment, als einer von ihnen dem Hauslehrer, welcher über die Jahre hinweg eine Vertrauensperson geworden war, eine Pistole vor das Gesicht gehalten hatte. Jenen Schrei hatte Maria nie vergessen, und obwohl die Verwandlung zum Vampir ihnen geholfen hatte, mit dem Trauma und den Verlusten zu existieren, kam in diesem Augenblick alles wieder hoch.

Russland 1918

»Bringt die Teufelsbrut hinterher!« Wehrlos und ohne mit der Wimper zu zucken ließen sich die beiden ältesten Schwestern wegführen.

Nicht nur wegen der unverkennbaren Gefahr, sondern wegen des lüsternen Grinsens ihrer Peiniger. Es war offensichtlich, was sie dachten oder auch tun wollten.

»Nur über meine Leiche«, dachte Maria erbost. »Und wenn es sein muss, werde ich meine kleine Schwester vor euch Bastarden schützen.«

Zum Glück konnte die Mutter ihre Gedanken nicht hören, sie hätte ihre zweitjüngste Tochter trotz der Situation gerügt. Mit Schaudern dachte Maria an ihr kleines Geheimnis, welches zum Glück niemand ahnte, oder doch? Sie schüttelte den Gedanken ab und nahm nunmehr ihre jüngere Schwester in die Arme, da diese hysterisch zu werden drohte.

»Ein schönes Weibsbild … schade, dass sie so herumheult.«

»Du wirst dir deine Finger doch nicht dreckig machen wollen, oder?«, fragte sein Kamerad und schüttelte den Kopf.

»Genau, lasst uns lieber über diese Brut richten. Solange sie am Leben sind, ist die Demokratie nicht sicher.«

»Lasst meine Familie …«, versuchte ihr Vater eine Gegenwehr. Zu mehr war er selbst zu schwach.

Ein lautes Krachen hallte durch den Raum.Maria zuckte zusammen und wandte eilig den Blick ab, während sie ihre Schwester schützend umklammert hielt. Sie wollte sich nicht machtlos fühlen und ihre Familie sterben sehen …

Ein markerschütternder Laut unterbrach Marias Gedanken und sie wandte sich ruckartig um. War ihnen jemand gefolgt? Ein Mensch vielleicht? Landstreicher suchten gerne überall Zuflucht. Selbst hier. Aber es war nur ihre Schwester, die zitternd auf dem Boden kauerte, die Erinnerungen waren wohl über sie hereingebrochen.

»Ruhig … Anastasia … kleiner Kobold. Unsere Familie ist tot, aber die Mörder sind es auch«, sprach Maria beruhigend auf sie ein.

»Ich werde es nie verstehen«, kam die erstickte Antwort. »Wieso musste das passieren? Weder Vater noch wir waren böse Menschen.«

»Das interessierte sie nicht«, murmelte Maria. Manchmal schien es ein wenig mühsam, dass Anastasia zuweilen noch Anwandlungen von einer 17-jährigen Jugendlichen zeigte.

Verurteile sie nicht, jeder geht damit anders um.

Maria stieß die Luft aus. Seit Beginn ihres zweiten Lebens, wie die Zarentochter es nannte, hatte die Zeit ihre Bedeutung verloren. Aber manchmal fiel besonders die Jüngere in ihre Vergangenheit zurück.

Plötzlich erregten Schritte in der unteren Etage, die langsam näherkamen, ihre Aufmerksamkeit. Wer war das?

Kapitel 1

Russland, 1896

Laut schmatzend hob Drago den Kopf und ließ die Leiche wie einen Sack zu Boden gleiten. Anschließend wischte er sich arglos über das Kinn, so dass die weiße Haut sowie seine rechte Hand vom Blut befleckt waren.

»Das war gut«, meinte er und ließ seine Fangzähne im fahlen Mondlicht aufblitzen. Bemerken würde es eh niemand, und wenn doch, genügte ein bisschen Telepathie, wofür die meisten Menschen sehr empfänglich waren. »Obwohl ich den regelmäßigen Wodka-Konsum deutlich geschmeckt habe. Unser Freund hier …«, Drago warf einen abschätzigen Blick auf den regungslosen Körper und einen Moment lang schien es, als wolle er auf ihn spucken. »… war dem Alkohol ein bisschen zu sehr zugetan, wenn du mich fragst. Fast hätte er damit sein Blut verdorben und es ungenießbar gemacht.«

Mit der sauberen Hand rückte er seinen Zylinder zurecht und musterte den jungen Mann, welcher nur knapp drei Schritte von ihm entfernt stand und das makabre Tun ohne mit der Wimper zu zucken, beobachtete.

»Es ist deine eigene Schuld«, wies dieser ihn leicht schroff zurecht und strich sich durch die blonden Haare, die der Wind zuvor ein bisschen durcheinandergebracht hatte. »Warum nimmst du auch Menschen, die in Spelunken hängen und diesem Teufelszeug frönen.« Abfällig verzog der junge Mann das Gesicht. »Dann darfst du dich nicht wundern, wenn ihr Blut mit schlechten Aromen durchzogen ist und dir nicht mehr mundet.«

Dragos Augen glühten dunkelrot auf. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit überwand er den Abstand zwischen ihnen, packte den anderen am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. Für den Bruchteil einer Sekunde rang der andere nach Luft, wirkte aber sonst lediglich überrascht.

»Du weißt, dass dieser Mensch viel mehr war als ein Saufbold, Christo.« Drago ließ den anderen los, machte jedoch keinen Schritt rückwärts. »Er war ein Taschendieb und Mörder, wenngleich auch nicht offiziell gesucht. Wenn ich seine Gedanken richtig gelesen habe, hat er auf seinem letzten Beutezug eine junge Frau im Affekt getötet und ihre kleine Tochter schwer verletzt. Du selbst …« Wieder funkelten seine Augen in einer Mischung aus Zorn und Belustigung. »… hast mir beigebracht, dass wir uns, sofern es möglich ist, von bösen Menschen ernähren sollen. Auf diese Art und Weise würden eventuelle Gewissensbisse länger ausbleiben. Das waren deine Worte.«

Christo schnaubte leise und drängte sich schließlich an dem Jüngeren vorbei.

»Das sagte ich wohl und mein Wort gilt jetzt und für immer. Was mir allerdings Sorgen bereitet …« Er warf einen Blick auf die Straße, in der sich auch um diese mitternächtliche Stunde sehr viele Menschen tummelten. »… ist die Tatsache, dass es immer mehr davon gibt. Hier in Russland gibt es viel Dunkelheit und Tod.«

Drago senkte leicht den Kopf und rieb sich das nach wie vor blutverschmierte Kinn.

»Du magst recht haben.« Auch die schwarzen Augen des Jüngeren glitten besorgt umher. »Denkst du, wir hätten nicht zurückkommen, sondern in Westeuropa bleiben sollen? Wenn dem so ist, schaue mich nicht an. Es war nicht meine Idee, nach Russland zu reisen, zumal es in den Wirren des Krieges nicht ganz einfach war.«

»Da hast du recht.« Trotz des ernsten Gesprächsthemas hallte Christos Lachen durch die Straße, so dass einige Leute sich nach ihm umdrehten und nichts sahen als einen außergewöhnlich schönen jungen Mann in schwarzer Kleidung, der jeden, Männer wie Frauen, faszinieren konnte. »Krieg ist immer ein tragisches und gleichzeitig groteskes Schauspiel, bei dem sich die Frage stellt, wie dumm Menschen eigentlich sein können. Aber ich hatte einfach Heimweh … weißt du. Außerdem ist es hier in Russland, im Vergleich zum sonstigen Europa, noch recht ruhig.«

»Fragt sich, wie lange noch«, warf Drago ein und schlug ein paar Mal mit seinem Gehstock auf den unebenen Straßenbelag, welcher aufgrund der Jahreszeit mit einer Schneedecke überzogen war, um einen nahenden Taschendieb zu vertreiben.

Die beiden Vampire erhaschten einen flüchtigen Blick auf den Jungen, der kaum älter als dreizehn Jahre sein konnte, und sich nun erschrocken und unverrichteter Dinge trollte. Auf Christos weichen Gesichtszügen zeichnete sich Mitgefühl ab und er packte Drago an der Schulter, um ihn daran zu hindern, den kleinen Dieb zu verfolgen. Wenn es um diese Bevölkerungsgruppe ging, zeigte sein jüngerer Bruder manchmal ein wenig zu viel Gerechtigkeitssinn und machte keinen Unterschied, ob es sich bei dem Täter um ein Kind oder einen Erwachsenen handelte. Er selbst war diesbezüglich eher anders gestrickt, denn obwohl die Situation kaum drei Sekunden gedauert hatte, nahm er sich die Freiheit, in die Gedanken des Kindes einzudringen und sie zu lesen.

Er brauchte das Geld, um die armselige Hütte der Familie ein wenig zu heizen. Seine kleine Schwester hustet seit Wochen erbärmlich und es ist keine Besserung in Sicht. Sein Vater gilt schon seit Wochen als verschollen. Er hat in einer der zahllosen Fabriken gearbeitet, in denen katastrophale Bedingungen herrschen. Das Leben der Arbeiter ist dort kaum einen Rubel wert. Kein Wunder, sie sind so ersetzbar wie Spielfiguren. Stirbt einer, kommt innerhalb von Tagen oder Stunden eine neue arme Seele, die bereit ist, sich für den kläglichen Lohn, welcher kaum zum Überleben reicht, kaputt zu arbeiten. Und wenn nicht, so lockt man einfach einige junge Männer mit falschen Versprechungen. So etwas funktioniert immer, weil sie in ihrer Jugend noch naiv sind und von einem besseren Leben träumen. Welches es aber momentan nicht gibt und für sie höchstwahrscheinlich auch niemals geben wird. Der Vater des Jungen war zwar nicht naiv, im Gegenteil, aber er hatte eine Familie zu versorgen und jene Notlage trieb ihn höchstwahrscheinlich in die Fabrik. Was dort mit ihm passiert ist, kann oder will niemand sagen. Deswegen weiß die Familie auch nicht, ob er tot oder noch am Leben ist. Ich vermute eher Ersteres. Deswegen wollte der Junge stehlen, um seiner Schwester und der Mutter ein paar warme Minuten zu schenken. Dabei bräuchte das kleine Mädchen eher einen Arzt, den die Familie sich aber nicht leisten kann. Wie auch?

Christo atmete tief durch, obwohl er es als Vampir nicht mehr nötig hatte. Leben und Tod verloren für ihn, wie auch für Drago, schon lange ihre Bedeutung, was nicht hieß, dass sie beides nicht achteten. Im Gegenteil.

»Ich fürchte, du hast recht, mein Bruder«, sprach er und ihre beiden Augenpaare trafen sich. »Wenn es so weitergeht, werden wir hier bald ähnliche Zustände wie in Deutschland oder auch anderswo haben. Zu einem Krieg wird es hoffentlich nicht kommen …«

»Allerdings«, warf der Angesprochene ein und verzog angewidert das Gesicht. »Zwar können uns weder Gewehrkugeln noch sonstige Waffen schaden. Aber es ist ekelhaft, an den ganzen verstümmelten Leichen vorbei zu spazieren, um nach Nahrung zu suchen. Und außerdem verhalten die Menschen sich, aufgrund ihrer Angst und der negativen Erfahrungen, misstrauischer, was wiederum unsere Tarnung gefährdet.

»Ganz genau«, fuhr Christos fort. »Und bei aller Heimatliebe habe ich hier ein schlechtes Gefühl. Die Menschen sind unzufrieden und wollen bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Noch schweigen sie und stöhnen lediglich unter der Last, welche fast unerträglich ist. Aber ich habe das Gefühl, dass das Volk nicht mehr lange stillhalten wird. So etwas ist der perfekte Nährboden für politische Unruhen.«

Drago hob den Kopf und legte dem Älteren die Hand auf die Schulter. Auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren und sich das eine oder andere Mal stritten, so herrschte zwischen ihnen eine Vertrautheit, die man bei Menschen oft vergeblich suchte.

»Meinst du nicht, dass wir etwas bewirkt haben?«, fragte er und nahm seinen Gehstock in beide Hände. Die Luft war rein, das spürten sie genau.

»Mit unserer Tat?« Ein freudloses Lächeln offenbarte Christos makellose Fangzähne. »Ich weiß nicht so recht. Der alte Zar war zwar sehr auf die Monarchie bedacht und konservativ in seinen Entscheidungen, aber auf seine Art und Weise wusste er, was er tat. Wenn ich dagegen an seinen Sohn denke … Er wird hinter verschlossenen Türen Nicki genannt, wusstest du das?«

»Das ist nicht dein Ernst!« Einen kurzen Augenblick lang entgleisten Drago alle Gesichtszüge und seine Kinnlade fiel auf den Boden. »Du meinst, er könnte Männern mehr zugetan sein als Frauen?«

»Nein.« Gegen seinen Willen musste Christo doch lachen. »Deine Ideen sind jedes Mal so himmlisch kreativ, weißt du das? Und trotzdem gehen sie oftmals in die falsche Richtung. Selbstverständlich meinte ich nicht, dass der zukünftige Zar Nikolaus der Zweite sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, obwohl ich diesbezüglich keine sicheren Informationen habe. Aber sage mir, welcher wirklich gefestigte Herrscher würde sich freiwillig mit Nicki ansprechen lassen und sei es auch nur von den engsten Vertrauten?«

»Keiner, der in seiner Macht und in seinen Überzeugungen gefestigt ist. Ein solcher Mann würde es sich verbitten.«

»Eben, aber Nikolaus senkt nur den Blick und schweigt, anstatt zu kontern. Mit einigen seiner Familienmitglieder verhält es sich genauso. Er tut das, was sie von ihm wollen, und nicht das, was er eigentlich für richtig hält. Der Zar ist kein schlechter Mensch, das will ich nicht sagen, aber vielleicht zu schwach für die Position eines Herrschers. Außerdem zählt er erst achtundzwanzig Jahre.«

»Du meinst …« Drago rieb sich den dezenten Vollbart. »Ja, ich verstehe … hätten wir es vielleicht doch nicht tun sollen?«

»Seinen Vater umbringen? Nein, das war das Richtige. Zumal du dich …«, wohlwollend lächelte Christo den Jüngeren an, »… sehr geschickt angestellt hast. Selbst wenn man das Arsen in seinem Blut nachweisen kann, so wird niemand auf die Idee kommen, dass Kreaturen der Finsternis dafür verantwortlich sind. Vielmehr spricht man von einer kurzen Krankheit, immer noch die beste Erklärung für Dinge, welche niemand genau weiß.« Sein Lächeln wurde breiter, und er legte die Hand auf die Schulter seines Schützlings. »Außerdem war es eine amüsante Idee, die Mumifizierung zu verpfuschen. Ich bedauere, dass wir die Gesichter der Angehörigen nicht sehen konnten, als sie den halb verwesten Leichnam küssen mussten.«

»Nachdem, was ich gehört habe, soll seine Frau danach einen hysterischen Anfall erlitten haben. Was mir für sie irgendwie leidtut. Aber mein Rachedurst war sehr groß.« Er ballte die Hand zur Faust und knurrte wie ein aggressives Tier. »Du weißt, ich kann die orthodoxe Kirche und diesen absurden Glauben nicht leiden. Als junger Mensch haben sie mich gequält. Und uns würden sie jagen, wenn unsere Existenz bekannt wäre. Zum Glück ist dem nicht so«, er blies in die feuchte Luft, die in fast unsichtbaren Schwaden in den nächtlichen Himmel stieg. »Wenn jemand behauptete, Wesen wie wir seien real, würden die Kirchenfürsten ihn zum Schweigen bringen«, Drago grinste teuflisch. »Du weißt, wie schnell sie mit dem Vorwurf der Besessenheit sind.«

Christo nickte. »In der Tat. Mir schauert es bei den ganzen armen, unschuldigen Seelen, die aus diesem Grund den Tod gefunden haben.«

»Das ist bedauerlich«, der jüngere Vampir schaute zu Boden und schien nachzudenken.

»Wirst du hingehen?«, erkundigte er sich nach einer Weile.

Sein Gegenüber hob die Brauen. »Ja, werde ich, und ich möchte, dass du mich begleitest. So sehr es dir widerstrebt, mit den Riten und Bräuchen der Kirche in Berührung zu kommen, so sagt mir mein Gefühl, dass wir lieber dabei sein sollten.«

Beide Vampire schwiegen eine Weile, bis Drago schließlich nickte. »Du hast recht. Es widerstrebt mir tatsächlich. Auch, wenn die Unsterblichkeit meinen Schmerz darüber gelindert hat, vergessen kann ich nicht. Auf der anderen Seite habe ich gelernt …«, er schaute Christo liebevoll an, »… auf dein Gefühl zu vertrauen.«

»Das ist gut«, sie umarmten einander kurz. »Denn auch wenn du im Herzen ein Rebell bist, ist es wichtig, dass du mir vertraust. Jetzt und für alle Zeit.«

»Das tue ich. Also auf nach Moskau!«

***

Es schien, als wäre ganz Russland in Musik getaucht. Überall in den Kirchen und Klöstern läuteten die Glocken, um die Prozession zur Krönung des Zaren einzuleiten. Endlos viele Gebete wurden gesprochen, um Gottes Segen für das Zarenpaar zu erbitten, wenngleich nicht alles davon ernst gemeint war. Nach der Zeit der Trauer, die auf den so unerwartet gekommenen Todesfall gefolgt war, hungerten die Menschen regelrecht nach Feierlichkeiten, zumal viele sich fragten, wie die Zukunft aussehen würde. Schließlich war Nikolaus noch jung, und hinter vorgehaltener Hand tuschelte man bereits über seine Unsicherheit und das Desinteresse an Regierungsgeschäften, welches nur zum Teil seine Schuld war. Schließlich hatte niemand damit gerechnet, dass er so bald das Amt des Zaren würde übernehmen müssen. All das wusste Nikolaus der Zweite nur zu gut und stand aus diesem Grund auch mehr als angespannt vor dem Spiegel. In etwa zwei Stunden würde er sich auf den Weg zur Krönungskirche, der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, machen, um dort die Reichsinsignien anzunehmen. Schweißperlen, welche ihre Ursache nicht in dem aufwendigen, mit Pelz gesäumten Mantel hatten, standen auf seiner Stirn, und er fand keine Möglichkeit, sie wegzuwischen, ohne unelegant zu wirken. Ein Zar, der bei seiner eigenen Krönung schwitzte. So etwas durfte es nicht geben.

»Ich kann das nicht«, sagte Nikolaus zu seinem Ganzkörperspiegelbild. »Ich bin für die Rolle des Zaren nicht geschaffen. Regierungsgeschäfte liegen mir nicht, und mein Leben ist sowieso ein schmaler Steg, von dem ich jeden Moment herunterfalle.«

Das stimmte. Zwar war seine Jugend liebevoll, harmonisch gewesen und besonders das intensive Studium verschiedener Sprachen hatte ihm viel Freude bereitet. Auch die Bindung zu seinen vier jüngeren Geschwistern war bis zum heutigen Tage sehr eng, wofür der zukünftige Zar mehr als dankbar war.

Vermutlich werden die Mitglieder meiner Familie die Einzigen sein, denen ich noch vertrauen kann … abgesehen von meiner geliebten Ehefrau natürlich, dachte Nikolaus verbittert und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Sorge seiner Mutter war schon bei der Trauerfeier offensichtlich gewesen, und an diesem Krönungstag hatte Nikolaus sich dafür gehasst, sie ihr nicht nehmen zu können. So, wie es als guter Sohn seine moralische Pflicht gewesen wäre.

Dass die feindliche Atmosphäre einer der Gründe gewesen war, warum sich sein Interesse an Regierungsgeschäften stets in Grenzen gehalten hatte, wusste kaum jemand. Obwohl es seine von Gott gegebene Pflicht war, eines Tages Zar zu sein, wurde ihm heiß und kalt beim Gedanken an jenes Haifischbecken, wie er den Palast und das höfische Leben insgeheim nannte, welches sich hinter Prunk und Geld verbarg. Die Gier, bekanntermaßen eine der sieben Todsünden, war in diesen Wänden auf dem Vormarsch und verschlang ohne Rücksicht alles, was sich ihr in den Weg stellte.

Selbst der vermeintlich beste Freund könnte dir ein Messer in den Rücken jagen, nachdem er dich vorher umarmt hat. Seine Verbitterung wuchs und Nikolaus musste den Impuls unterdrücken, den Mantel sofort von seinen Schultern zu streifen und zu Boden fallen zu lassen. Solche Kleidungsstücke gebührten einem Herrscher, jemandem, der wirklich zum Zaren geboren war.

Warum nur musste Vater so früh sterben, diese Frage quälte ihn nicht zum ersten Mal und niemand konnte ihm eine Antwort darauf geben.

Alle, selbst die Ärzte, schwiegen sich aus und murmelten etwas von einer unerklärlichen, plötzlich aufgetretenen Krankheit. Was Nikolaus hellhörig werden ließ, denn auch wenn er sich weder in der Rolle des Zaren sah, noch über herausragende Kenntnisse der Medizin verfügte, sagte sein Instinkt ihm, dass etwas daran faul war.

Konzentriere dich auf das Wesentliche, mahnte sein Verstand und Nikolaus schaute zu der prunkvollen Uhr, welche neben dem großen Fenster stand. Noch etwa 40 Minuten. Sein Blick glitt durch die Scheibe in die Ferne. Wie gerne würde er jetzt dort sein anstatt hier? Ohne Zwänge und ohne Verpflichtungen, welche für ihn momentan schwerer wogen als das Kreuz Jesu Christi.

»Ich schaffe es nicht«, wiederholte Nikolaus, diesmal mit schwerer Stimme. »Ich bin kein Zar.«

»Rede keinen Unsinn, Nicki!«

Abrupt zuckte der Angesprochene zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass sein Onkel Großfürst Sergei Alexandrowitsch in Begleitung seiner Gattin Alexandra sowie einem engen Vertrauten namens Sandro, den Nikolaus seit seiner Kindheit kannte, den Raum betreten hatte. Automatisch senkte er den Blick. Schon immer hatte der zukünftige Zar das Gefühl gehabt, im Schatten seines Onkels zu stehen und sich niemals daraus befreien zu können. Der Großfürst verfügte über alle Eigenschaften, die, nach Ansicht der meisten, zum Regieren notwendig waren. Dennoch umgab ihn eine gewisse Kälte, gepaart mit Strenge, was man schon spürte, wenn man ihm nur begegnete oder ihm in die Augen schaute. Seine großgewachsene Erscheinung, die meist militärisch geprägte Kleidung und die Halbglatze vervollständigten das Gesamtbild und flößten dem Gegenüber Respekt, wenn nicht sogar Furcht ein. Außerdem war er ein eiserner Verfechter der sogenannten alten Werte, die sich auf die klassischen Grundsätze der Monarchie bezogen, und hielt nicht viel von dem neuzeitlichen Gedanken der Demokratie oder Reformen. Eine Haltung, welche Nikolaus tief in seinem Innern mit Skepsis betrachtete, jedoch niemals wagte, seine Zweifel zu äußern. War es nicht seine Aufgabe, das Väterchen seines Volkes zu sein und sich dementsprechend darum zu kümmern?

Der Zarewitsch wandte sich ab und suchte stattdessen den Blick seiner Gattin. Das Herz wurde ihm warm, sie war sein Lichtblick in jener düsteren Zeit, obwohl seine Familie und nicht zuletzt auch Onkel Sergei sich gegen die Heirat ausgesprochen hatten. Die junge Frau schien ihnen zu zerbrechlich, sogar ein wenig zu religiös und außerdem von niederer Geburt, obwohl sie selbstverständlich dem Hochadel angehörte und eine Enkelin von Königin Viktoria war.

»Irgendetwas stimmt nicht mit ihr«, hatte sein Onkel immer gesagt und seine Miene hatte dabei deutlich gemacht, dass er sie am liebsten vom Hof gejagt hätte.

In diesem Punkt hatte Nikolaus sich jedoch unerbittlich gezeigt, obwohl Alexandra alles andere als die perfekte Herrscherin war, so gab sie ihm etwas, was er in diesen schweren Tagen bitter nötig hatte: aufrichtige Liebe. Und ja, dessen war er sich gewiss, die würde er mehr brauchen als manche Reichtümer. Nach dem Tode seines Vaters hatte außer Sergei auf einmal niemand mehr etwas gegen die Heirat einzuwenden. Im Gegenteil, alles ging außerordentlich schnell vonstatten und auch die Hochzeitsnacht würde er niemals vergessen.

Am liebsten wäre Nikolaus seiner Gattin in die Arme gefallen und hätte seinen Kopf an ihre Brust gedrückt, aber ein solches Verhalten hätte Sergei wieder als Schwäche gedeutet und dementsprechend reagiert.

Du bist ein Romanow und kein Weichling! Wie sehr ihn solche Aussagen trafen, brachte Nikolaus nie zum Ausdruck.

Auch jetzt begnügte er sich damit, einen vielsagenden Blick mit Alexandra auszutauschen, in der Hoffnung, dass sie ihn verstehen würde. Was die junge Frau offensichtlich tat. Der Zarewitsch seufzte erleichtert und die Last auf seinen Schultern wurde ein wenig leichter. Heute Nacht, wenn die quälende Zeremonie vorüber war, würde er in ihren Armen liegen, sie nach allen Regeln der Kunst lieben und sich anschließend allen Kummer von der Seele reden. Etwas, das er nur bei ganz wenigen Menschen tun konnte, und sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Kreis sich in Zukunft noch verkleinern würde. Dennoch schaffte Nikolaus es, zu lächeln und seinen Onkel sogar anzuschauen.

»Kommt … lasst uns gehen«, er bot Alexandra seinen Arm an, und gemeinsam schritten sie zur Zeremonie.

Das ungute Gefühl in seinem Innern verschwand nicht, im Gegenteil. Es wurde mit jedem Schritt stärker.

***

Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale war hell erleuchtet. Tausende Kerzen, deren Licht durch die zahlreichen Goldbemalungen an Wänden sowie Decken noch verstärkt wurde und dadurch die Wintersonne beinahe überstrahlte. In dem Gebäude selbst war es gespenstisch still, nur einige Würdenträger der orthodoxen Kirche waren anwesend und warteten in stiller Ungeduld auf das zukünftige Kaiserpaar. Dem einfachen Volk war das Betreten der Kathedrale bei Strafe verboten, obwohl nicht wenige von ihnen sich in unmittelbarer Nähe oder auf den Straßen positioniert hatten. Alles schien bereits voller Menschen zu sein, obwohl die Feierlichkeiten erst ihren Anfang genommen hatten. Zumal nicht nur in Moskau gefeiert wurde, sondern auch in allen anderen Teilen des Landes. In solchen Momenten erschien Moskau noch viel größer als ohnehin schon.

»Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?«, zischte Drago zum wiederholten Mal und schnitt eine Grimasse. »Warum konnten wir die Krönung nicht vom Dach aus verfolgen? Wieso müssen wir uns unbedingt im Innern der Kirche aufhalten? Du weißt, dass ich es hier drinnen überhaupt nicht mag.«

Tatsächlich war sein Blick leidvoll, als der jüngere Vampir sein Gesicht gegen die Wände des Beichtstuhls drückte. Physisch gesehen konnten ihm weder das Gotteshaus noch die Kreuze etwas anhaben, auch wenn dieser Aberglaube sich hartnäckig hielt. Trotzdem sorgten die zahllosen negativen Erinnerungen dafür, dass seine Haut noch bleicher wirkte als sonst.

»Beruhige dich, mein Freund«, Christo, der im Beichtstuhl nebenan saß, zeigte sein unwiderstehliches Lächeln. »Diese Dinge gehören zur Vergangenheit und liegen weit hinter dir. Stell dich deinen Ängsten und lasse sie endlich gehen.«

»Leichter gesagt als getan« murmelte der Angesprochene und stützte sich mit den Händen ab.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob sein Schöpfer aus freien Stücken zum Vampir geworden war oder ob es in seiner Vergangenheit ebenfalls den einen oder anderen tragischen Vorfall gab, der ihn bis heute prägte. Nach außen hin ließ Christos sich selten etwas anmerken. Nur wenn er zornig war, schien sein Wesen sich schlagartig zu ändern, seine Augen glühten dann blutrot und die sonst eher gemäßigte, melodiöse Stimme wurde laut und aggressiv. Bis jetzt hatten diese Stimmungen sich von selbst wieder gegeben, ohne dass er hätte eingreifen müssen. Aber, würde es immer so sein? Drago wusste es nicht und obgleich er körperlich durchaus dazu fähig war, legte er keinen Wert darauf, sich mit seinem Schöpfer zu prügeln, schon gar nicht, wenn es sich nicht um einen Konflikt zwischen ihnen handelte. Andererseits …

Christo ist seit mehr als zweihundert Jahren Vampir, er rieb sich den Bart. In diesem Fall ist es fast unmöglich, dass es dort nichts gibt. Alleine schon nach allem, was er gesehen hat.

Der schallende Klang der Kirchenorgel riss Drago aus seinen Gedanken. Er verließ den Beichtstuhl. Sein Kopf, so dachte er, fing an zu schmerzen. Trotzdem richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Ikonostase und sein untotes Herz schlug unruhig.

Wie oft bin ich dort gequält und erniedrigt worden, schrie sein Inneres qualvoll. Und das nicht im Namen Gottes, sondern aufgrund dieser verdammten Würdenträger.

Drago presste die Hand auf seine Brust. Jetzt durfte er bloß nicht den Verstand verlieren. Würden die kirchlichen Würdenträger erfahren, dass es die mutmaßlichen Kreaturen aus der Hölle gab und dass sie mitten unter ihnen lebten, wäre die erbarmungslose Jagd auf Christo und ihn hier und jetzt eröffnet.

Zur Ablenkung richtete der junge Vampir seine Aufmerksamkeit auf das Zarenpaar, welches, begleitet von vierundzwanzig Generaladjutanten, mittlerweile die Kathedrale betreten hatte, wobei der goldene Baldachin draußen zurückgelassen worden war. Unter dem ohrenbetäubenden Geläut der Glocken und dem scharfen Geruch von Thymian verneigten sie sich dreimal vor den Ikonen und küssten diese anschließend, wobei der vampirische Blick überwiegend an Alexandra hing. Die zukünftige Zarin trug ein unschuldig weißes Kleid, welches ihren ganzen Körper verhüllte, und dazu eine Schleppe. Zusammen mit ihren blonden Haaren erweckte sie den Anschein eines unbefleckten Engels, aber Drago wusste es besser.

Tu ruhig unschuldig, so lange du noch kannst! Die Sünde besuchte kurz dein Bett, nachdem du dich deinem Liebsten hingegeben hast, und du warst ebenso willig wie bei ihm. Vielleicht sogar noch ein wenig mehr.

Er kicherte leise und die Versuchung, in die Gedanken der jungen Frau vorzudringen und sie zum Blickkontakt zu zwingen, war groß. Es musste ja nicht für lange sein, nur für ein paar Sekunden und danach würde sie alles vergessen … dafür konnte er sorgen.

Untersteh dich, stachen Christos Worte messerscharf in seine Gedanken und Drago wich, soweit möglich, zurück. Du wirst hier keine Spielchen treiben. Nicht in der Kirche und nicht vor so vielen Leuten … hast du das verstanden?

Der mahnende Tonfall jener mentalen Botschaft duldete keinen Widerspruch und Drago schlug frustriert seine Kiefer aufeinander, so dass die Fangzähne sichtbar wurden. Ein kleines Spiel hätte doch niemandem geschadet, oder? Außerdem hätte er viel darum gegeben, den erschrockenen, beschämten Gesichtsausdruck von Alexandra zu sehen, wenn sie ihn wiedererkannte. Christo hatte er nichts von dieser Episode erzählt und Drago wusste auch nicht, ob er es noch tun würde oder nicht. Andererseits, sein Lächeln wurde breiter, vielleicht konnte man sich dieses kleine Spielchen für einen späteren Zeitpunkt aufheben.

In der Zwischenzeit hatte der Gesang des 100. Psalms begonnen und beide Vampire taten ihr Bestes, die Worte so gut wie möglich zu ignorieren. Heilige oder kirchliche Gegenstände fügten ihnen zwar keinerlei Schaden zu, aber mögen taten sie den Gesang deswegen noch lange nicht.

Schließlich verlas Nikolaus das orthodoxe Glaubensbekenntnis, wobei die zwei Vampire seine Anspannung deutlich sehen konnten, und nach der Segnung krönte er erst sich selbst zum Zaren und anschließend Alexandra zu seiner Herrscherin. Für das Volk ertönten Kanonensalute und Glockengeläut, um das Ende der Krönung aufzuzeigen. Lautes Jubeln drang durch die kräftigen Mauern der Kathedrale und die Vampire wechselten einen Blick.

Was ist, wenn die Leute vor Begeisterung das Gebäude stürmen und alles niedertrampeln?

Schon, als sie sich in die Kathedrale schlichen, fiel Drago und Christo auf, das für die gegebenen Verhältnisse sehr wenig Kosaken, sondern lediglich einfache Wachleute eingesetzt worden waren, die im Ernstfall zwar einzelne Personen, aber keine Meute aufhalten konnten. Für solche Fälle waren sie nicht ausgebildet. Noch während die zwei Vampire einen Blick wechselten, verdrehte Drago plötzlich die Augen, brach zusammen und das letzte, was er hörte, war Christos Fluchen, ehe die Vision ihn überrollte wie eine große Maschine.

Ein großes Feld in der Nähe von Moskau, genannt Chodynkafeld, ist ursprünglich ein Truppenübungsplatz gewesen. Das Feld ist von Gräben durchzogen. Mehr als eine halbe Millionen Menschen ist dort bereits eingetroffen, um eines der 400.000 Geschenke, bestehend aus einem Bündel aus Lebensmitteln und verschiedenen Gegenständen, darunter ein emaillierter Becher mit dem Wappen des Zaren, zu ergattern. Andere verlangen nach den hundertfünfzig Buffets oder nach den zehn Pavillons, in denen Musik- und Theatergruppen für Unterhaltung sorgen sollten.

Es sind größtenteils arme Bauern, für die so etwas weder alltäglich noch selbstverständlich ist, und es gibt zu wenige Menschen, die dort für Ordnung sorgen. Zuerst ist die Stimmung noch ausgelassen und friedlich, doch je näher das Fest rückt, desto mehr erfasst die Gier ihre Herzen. Jene Menschen haben sonst kaum genug zu essen und die Aussicht auf die Lebensmittel lässt sie unvorsichtig und blind gegenüber ihren Mitmenschen werden. Erst versuchen die Herausgeber noch, Ordnung in das anfängliche Chaos zu bringen, stellen jedoch fest, dass sie sich kaum Gehör verschaffen können, lassen es bleiben und werfen die Geschenke einfach wahllos in die Menge, was die aufgeheizten Gemüter noch mehr anfeuert. Einige von ihnen ergreifen gleich die Flucht, weil sie das drohende Unheil spüren. Als das Bauernvolk erkennt, dass es weitestgehend ohne Aufsicht ist, bricht das letzte Bewusstsein für Unrecht und Gefahr. Ohne aufeinander zu achten, stürmen die Bauern die Tische, die Pavillons und reißen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt.

Einige wenige erkennen die Gefahr und versuchen, selbstständig für Ordnung zu sorgen und die Meute zu beruhigen, doch vergeblich. Genau das Gegenteil passiert, denn viele der Bauern haben kleinere Messer bei sich, um sich auf dem langen Weg durch Wälder, Schnee und Eis besser schützen zu können. Diese stoßen sie ohne Rücksicht in die Leiber derer, welche ihnen den Spaß verderben und das nehmen wollen, was ihnen angeblich zusteht. Auch die wenigen noch verbliebenen Kosaken suchen panisch das Weite, in der Absicht, in Moskau sofort Bericht zu erstatten, obwohl es kaum noch etwas nützt.

Die ersten Leichen liegen auf dem relativ unberührten Feld und mit jeder Sekunde werden es mehr. Blut tränkt den Boden oder spritzt in die Luft, aber die Menschen sind weder zu beruhigen noch aufzuhalten. Einige versuchen, besonders den Verwundeten zu helfen, und werden dabei selbst zu hilflosen Opfern. Ein paar Frauen werfen sich abseits der Kämpfe auf die Knie und beten, sie sehen in dem Geschehen das Tor zur Hölle, ein schlechtes Omen für die Herrschaft Nikolaus II. oder beides.

Mit jeder Sekunde gibt es mehr Tote und mindestens genauso viele Verletzte, von denen die meisten, sofern sie nicht im Nachhinein sterben, für ihr Leben gezeichnet sein werden. Ein Großteil der Verletzten wird nie wieder die harte Landarbeit verrichten können.

Stunden dauert es, bis die Lage sich beruhigt, und die Menschen erwachen langsam aus ihrer Trance und erkennen, was geschehen ist. Nahezu alle weinen, wieder andere brechen, von innerem Schmerz erfüllt, zusammen und versuchen anschließend, die Leichen ihrer Angehörigen selbst zu beerdigen oder fortzuschaffen, was kaum möglich ist. Vereinzelte Klagelaute erschallen über das Feld und scheinen fast bis nach Moskau zu dringen. Nach und nach verwandelt die Trauer sich in Zorn, zumal ein Teil von ihnen ahnt, dass keine Reaktion seitens des Zaren erfolgen wird. Langsam, aber sicher verwandeln die Klagen sich in einen Namen, der wie ein Damoklesschwert über dem Feld und auch über der Kathedrale schwebt, obwohl es dort niemand bemerkt.

»Beim Herz der Nacht. Drago verzeih mir«, sagte Christo, während er seinen Schützling halb bewusstlos von der Kathedrale wegtrug.

Das Gebäude unbemerkt zu verlassen, war nicht schwer. Wenn er es wünschte, waren seine Bewegungen so schnell, dass ein menschliches Auge sie nicht erfassen konnte. Trotzdem ließ das Schuldgefühl sein Herz schwer werden. Er wusste doch, dass sein Schützling zu Visionen neigte, und nicht erst seit seiner Verwandlung, wobei diese sie noch verstärkt hatte. Zuvor sah Drago lediglich kurze Fragmente, welche sich kaum interpretieren ließen, jetzt waren es echte Bilder und Abläufe, von den Gefühlen ganz zu schweigen. Letzteres kannte Christo zwar auch, jedoch beschränkte es sich bei ihm auf das Bluttrinken. Wenn er am Hals oder am Handgelenk seines Opfers hing und Lebenssaft in sich aufnahm, sah er die wichtigsten Stationen des jeweiligen Lebens vor sich ablaufen. Ob er wollte oder nicht, Schmerz, Freude, Trauer und Liebe … all das wurde in diesem Augenblick ein Teil von ihm selbst und blieb es manchmal für eine lange Zeit. Aber das stand in keinem Vergleich zu dem, was sein Schützling durchmachte, auch wenn der Ältere wusste, dass er sich wieder erholen würde.

Christo wusste nicht, was Drago gesehen hatte, und würde sich hüten, danach zu fragen. Solche Visionen belasteten den Sehenden fast bis an die Grenzen des Möglichen, und obwohl es durchaus interessant gewesen wäre, wollte er Drago schonen.

»Erzähle es mir von dir aus oder gar nicht«, sprach er ruhig und strich seinem Schützling, welcher langsam wieder zu sich kam, über die Stirn.

Trotzdem hatte er ebenfalls ein schlechtes Gefühl. Es schien, als ob mit dem heutigen Tage eine, selbst ihm unbekannte Dunkelheit in Russland Einzug gehalten hätte, welche einerseits alles verändern, andererseits aber auch alles verschlingen konnte. Zu gerne hätte Christo es als Spinnerei abgetan, aber jene Empfindung war da, tief in seinem Innern und ließ ihn auch nicht los, als er Drago so unauffällig wie möglich durch die Straßen zum gemeinsamen Haus trug. Einen Schluck aus ihrem Blutvorrat und es würde ihm sofort bessergehen. Zumindest hoffte er das. Der Ältere öffnete die Eingangstür und wollte eintreten, als ihn plötzlich ein eiskalter Windhauch berührte, der aus dem Nichts zu kommen schien. Wie in Trance schaute der Vampir nach oben und sah, das der Himmel über den Dächern von Moskau sich blutrot gefärbt hatte.

Kapitel 2

»Manchmal frage ich mich, ob nicht ein Fluch über unserem geliebten Russland liegt«, meinte Drago ein paar Tage später und seine Hände zitterten, weil er dem Drang widerstehen musste, sein Wodkaglas, welches noch zur Hälfte mit der klaren, brennenden Flüssigkeit gefüllt war, an die gegenüberliegende Wand zu schleudern.

Derartige Vorfälle waren in den Spelunken von Moskau zwar nicht unüblich, besonders zu diesen Zeiten nicht, aber beide Vampire lehnten es ab, unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auch, weil Christo heute mitbekommen hatte, dass, trotz ihres leisen Verschwindens von der Krönungszeremonie, Gerüchte über die Anwesenheit finsterer Kreaturen im Umlauf waren, die das Zarenpaar noch während der Segnung verwünscht haben sollten. Somit stand es unter einem schlechten Stern, was die momentane Unruhe im Land instinktiv noch verstärkte. Natürlich wagte niemand, jene Vermutungen öffentlich zu äußern, da niemand für verrückt oder gar besessen erklärt werden wollte. Natürlich wurden diese Gerüchte ziemlich ausgeschmückt, so das Christo schelmisch grinsen musste.

Liebes russisches Volk. So ungern ich euch auch enttäuschen möchte, ich habe keine zwei Köpfe, und mein Weggefährte ist auch keine 3 Meter groß, dachte er und verdrängte die Tatsache, dass einige Aussagen auch in die Richtung gingen, dass sie ein Paar seien.

Solche Gedanken waren Drago und er selbst schon gewöhnt. Es gab sie, seit die beiden gemeinsam durch ihr untotes Leben gingen, und mit hoher Wahrscheinlichkeit würden sie niemals ganz zu ersticken sein. Am Anfang hatte es die beiden gestört, gerade Drago schämte sich diesbezüglich, weil er mit diesem Thema, ebenso wie mit der Kirche, als Mensch extrem negative Erfahrungen gemacht hatte. Seine Wandlung zum Vampir hatte zwar den Schmerz verschwinden lassen, jedoch lebten die Erinnerungen nach wie vor. Oft hörte Christo seinen Schützling des Nachts wimmern und deutete es als die Folge eines Albtraums, aus dem er ihn nicht befreien konnte. Mittlerweile hatte Drago das Gerede soweit akzeptiert, das er es zumindest ignorieren konnte, während Christo zuweilen sogar darüber schmunzelte.

Menschen, die Geschichten erfinden, diese als wahr verkaufen und in Umlauf bringen, versuchen, ihre eigene Sehnsucht zu verdrängen, lautete eine seiner Lebensweisheiten und ähnlich verhielt es sich mit den neuesten Gerüchten. Es würde ihn nicht wundern, wenn ein Großteil der Leute, welche hinter vorgehaltener Hand darüber tuschelten, sich insgeheim wünschten, in seinen oder Christos Armen zu liegen.

Trotzdem konnte er Dragos Sorgen durchaus verstehen, denn wider Erwarten hatte der Jüngere sich doch geöffnet, was seine Vision betraf. Beim Herz der Nacht … Christo hatte schon viel gesehen und erlebt. In seinem Dasein als Vampir war er viel gereist, hatte andere Länder und deren Kulturen kennengelernt, manchmal sogar eine Zeit lang dort gelebt, was ihm neue Erfahrungen und Sichtweisen gebracht hatte. Vor seinen Augen waren Dynastien in den Boden gestampft geworden und selten wiederauferstanden, Weltordnungen verworfen und neu erschaffen worden, wenn auch, wie Christo fand, nicht immer zum Besseren. Vielen Menschen fehlte es in diesem Punkt, wie er fand, an Weitsicht, um die Folgen ihres Handels korrekt zu überblicken und einzuschätzen. Vielleicht weil ihr Unterbewusstsein die begrenzte Lebenszeit berücksichtigte, während ihr Gehirn ihnen einredete, sie seien unsterblich.

Glaubt mir, das wollt ihr nicht sein. Ihr hättet weder die Kraft noch die Ausdauer dafür und würdet schnell aus freien Stücken sterben, dachte Christo und ließ seinen Blick weitläufig durch die Wirtsstube schweifen. Heute war es, im Vergleich zu sonst, relativ ruhig, auch wenn es einige, dem Alkohol geschuldete Zwischenrufe gab, die jedoch nicht weiter beachtet wurden. Prügeleien würde es heute nicht geben, vielmehr lagen ein paar Gäste schon betrunken unter den Tischen.

Sehr gut, dachte Christo. So können sie wenigstens keinen Ärger machen.

Er nahm aus seinem Glas einen großzügigen Schluck Rotwein, welchen er gegenüber dem Wodka bevorzugte, und musterte Drago, der neben ihm saß, nachdenklich. Zwar hatte sein Schützling sich, zumindest von den äußeren Wirkungen der Vision, erholt, aber Christo wagte nicht, das auch für seine Seele anzunehmen.

Mich würde es nicht überraschen, wenn sie Narben davongetragen hat, grübelte er und sah zu, wie die Härchen auf seinen Händen sich aufstellten.

Im Geiste fühlte er sich erleichtert und froh, dass der Jüngere jene Bilder mit ihm geteilt hatte. Alleine wäre das Gesehene nicht zu verkraften gewesen. Christo zog die Luft ein. Als Mensch und Vampir hatte er schon Einiges erlebt und mitangesehen. Aber was Drago ihm beschrieben hatte übertraf alles Bisherige. Ohne es zu merken, schlossen seine Finger sich enger um den schlanken Stiel des Weinglases, während die Fakten durch seine Gedanken rasten.

Bei der Massenpanik vom Chodynkafeld, so wurde die Katastrophe von Boten, Telegrafen und Zeitungen genannt, starben nach ersten Angaben 1389 Menschen, weitere 1300 wurden verletzt und zum großen Teil so schwer, dass sie nicht mehr in der Landwirtschaft arbeiten konnten und ohne Unterstützung der Familien, welche in einigen Fällen zum Glück vorhanden waren, elendig zugrundegehen mussten.

Christo zog die Luft ein. Natürlich hatte es Hungersnöte in der Bevölkerung immer gegeben, aber ein solches Ereignis konnte schnell in Widerstand münden. Obwohl es hier und heute vielleicht zu schnell gedacht war, so wurde er das seltsame, beklemmende Gefühl in seinem Innern nicht los, und Drago erging es ähnlich. Von dem blutroten Himmel, von dem er seinem Schützling aufgrund dessen Zustandes nichts erzählt hatte, ganz zu schweigen. Irgendetwas, das für sie beide noch unerklärlich war, kam auf Russland zu. Nur eines wusste Christo, es würde nicht gut sein … schon gar nicht für Nikolaus II.

Zumal umfangreiche Untersuchungen über die Ursache des Unglücks bereits unternommen wurden, obwohl die ländliche Gegend den Informationsfluss erschwerte. Ebenso wie die Tatsache, dass viele der Beteiligten unmittelbar danach unter Schock standen und nur bedingt Aussagen treffen konnten.

Kein Wunder, einige ihrer Angehörigen sind vor ihren Augen zu Tode getrampelt worden oder auch in ihren Armen gestorben. In beiden Fällen ist man hilflos, kann nichts tun und das ist das Schlimmste. Mit einem einzigen Zug leerte der Vampir sein Glas und bestellte sofort ein neues.

Zwar hatte Alkohol keine unmittelbaren Auswirkungen auf ihren Körper, aber er entspannte doch in gewisser Weise und lenkte außerdem ab. Drago sah es ähnlich und bestellte sich ein doppeltes Glas Wodka.

Nach ersten Erkenntnissen war ein Gerücht, welches besagte, dass die Geschenke bereits verteilt worden seien, für das Unglück verantwortlich.

Innerlich schlug der ältere Vampir sich gegen den Kopf, zögerte aber, sich einen weiteren Schluck zu genehmigen. Es war gefährlich, Menschen, denen mit Glück das Notwendigste zum Leben blieb, so etwas zu erzählen. Denn die Sehnsucht nach einem vollen Magen oder auch nach einem besseren Leben war immer da. Egal, wie sehr man versuchte, sich abzulenken oder auf die Arbeit zu fokussieren. Viele Menschen auf dem Land hatten diesen Traum, und damit dieser sich, wenn auch nur kurz, erfüllte, waren sie bereit, einen hohen Preis zu zahlen.

Nur kommt die Erkenntnis zu spät, wenn es das eigene Leben ist, der Vampir spürte eine vertraute Hitze hinter der Stirn. Wie immer, wenn er heimlich wütend wurde.

Das war ja noch nicht einmal alles. Selbstverständlich hatte man, trotz Sträuben von königlicher Seite aus, im Palast die Leute befragt und dabei selbst die niedrigsten Dienstboten nicht vergessen. Leider schwiegen die meisten sich aus, ob aus falscher Loyalität oder Angst ließ sich schwer feststellen. Vielleicht wurden sie unter Druck gesetzt, auch dies war schwer zu sagen. Eines stand aber ohne Zweifel fest: In diesen harten Zeiten biss niemand in die Hand, welche einen fütterte.

Trotzdem hielt das Gerücht sich hartnäckig, dass Großfürst Sergei etwas mit dem Unglück zu tun habe, in der Form, dass er dem jungen Zaren dringend davon abgeraten habe, aus Kostengründen noch mehr Kosaken zu schicken, die das Unglück aber hätten verhindern oder zumindest eindämmen können. Angeblich sollte Nikolaus sich in einem großen Zwiespalt befunden haben und mit seiner eigenen Entscheidung sehr unglücklich gewesen sein.

Ich hoffe es für dich, Zar Nikolaus. Denn das zeigt wenigstens, dass du kein schlechter Mensch bist und noch ein Gewissen hast.

»Das ist aber dem Volk egal«, riss Dragos Stimme Christo aus dessen Grübeleien und bestellte sich sein mittlerweile drittes Glas Wodka. »Die Menschen sind sauer und nennen ihn ohne Scham Nikolaus der Blutige. Eine Regierungszeit kann nicht unglücklicher beginnen, meinst du nicht auch?«

»Ja«, nickte Christo und schaute dem Jüngeren lange ins Gesicht. »Er hat die falsche Entscheidung getroffen und versäumt, sich gegen seinen Onkel durchzusetzen, wie es als Zar seine Verpflichtung gewesen wäre. Er sitzt auf dem Thron, und nicht dieses narzisstische Großmaul.«

Seine Wortwahl ließ Drago schmunzeln. »Wie recht du hast. Ich kann den Großfürsten auch nicht leiden, und außerdem beschleicht mich ein schlechtes Gefühl, wenn ich nur an ihn denke. Können wir ihn nicht irgendwie aus dem Weg räumen? Bei Nikolaus’ Vater hat es doch ausgezeichnet funktioniert, oder?«

»Bist du wahnsinnig?«, fragte Christo lauter als beabsichtigt und packte seinen Schützling am Handgelenk, um anschließend mit ruhigerer Stimme fortzufahren. »Natürlich könnten wir das. Er ist ein Mensch, wenn auch ein verdammt gut geschützter. Aber meinst du nicht, dass zwei mysteriöse Todesfälle in einer Familie auffällig sind? Ich stimme dir zu, Sergei ist ein Schandfleck, der so schnell wie möglich ausgelöscht werden muss, aber nicht in absehbarer Zeit, hast du verstanden?«, er konnte hören, wie sein Gegenüber die Luft einzog. Ja, es fiel ihnen beiden schwer, die Füße stillzuhalten, aber es gab momentan keinen anderen Weg. »Wenn wir jetzt unvorsichtig werden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen doch misstrauisch werden. Schon bei Nikolaus’ Vater haben einige die Vermutung geäußert, dass es kein natürlicher Tod durch Herzversagen gewesen sei. Wenn wir jetzt schon wieder töten …«

»Ich habe schon verstanden«, erwiderte Drago gereizt und stürzte sein Glas in einem Zug herunter. »Aber nicht nur die Entscheidung an sich, auch das Verhalten danach war ein fataler Fehler, welchen ihm das Volk nicht so schnell verzeihen wird.«

»Wenn überhaupt … Menschen können oft sehr nachtragend sein«, murmelte Christo und nickte anschließend. »Richtig, er hätte die Krankenhäuser besuchen und den verwundeten Menschen Trost spenden müssen. Im Falle eines Todes den Hinterbliebenen seine Hilfe zusagen müssen. Das wäre viel besser gewesen und hätte ihre Einstellung möglicherweise verändert. Stattdessen …«

»Geht er auf einen Ball und amüsiert sich nach allen Regeln der Kunst; und es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn dieses Handeln nicht erneut Großfürst Sergei geschuldet wäre«, der jüngere Vampir spie auf den Boden. »Die Sorgen des Volkes haben ihn noch nie interessiert. Am wichtigsten sind ihm das Ansehen, Reichtum und vor allem Glanz.«

»Ein Kind der alten Zeit«, Christo presste die Lippen aufeinander, bis sie farblos schienen. »Wie wir, nur ohne unsere Macht, und genau das wird ihm früher oder später zum Verhängnis werden. Da bin ich mir sicher.«

»Hoffentlich rechtzeitig«, flüsterte Drago und ließ seine Fangzähne aufblitzen. »Bevor er die ganze Zarenfamilie in den Untergang schickt. Ich meine, du warst doch auf diesem Ball, nicht wahr?«

Der Ältere nickte. »Ja, ich war dort, und du hast recht mit deiner Vermutung. Zwar haben Nikolaus und Alexandra den Ball mit ihrem gemeinsamen Tanz eröffnet, wie die Etikette es verlangte. Doch ihre Gesichter waren wie versteinert, besonders Alexandra merkte man das schlechte Gewissen deutlich an. Ich meine sogar, gehört zu haben, wie Nikolaus seiner Gattin ins Ohr flüsterte: ›Nur ein Tanz … dann haben wir es hinter uns.‹

Ab diesem Moment wirkte die Zarin noch zerbrechlicher als ohnehin schon. Also gefallen hat es ihnen nicht, dass sie so gehandelt haben.«

»Ich denke, Alexandra hat sich leise selbst verflucht. Des Nachts, als die beiden alleine waren.«

»Dessen bin ich mir sicher. Unser junger Zar ist kein Unmensch, aber er besitzt zu wenig Durchsetzungsvermögen und ist zuweilen leichter beeinflussbar als ein kleines Kind.«

»Besonders von der eigenen Familie.«

»Allerdings und wo wir gerade dabei sind: Was, im Namen der Dunkelheit, ging in der Kathedrale in deinem Kopf vor? Du hattest es auf Alexandra abgesehen, und versuche nicht, es zu leugnen, für mich war es offensichtlich. Du wolltest sie trotz des hohen Risikos mental beeinflussen. Warum? Und warum gerade in diesem Augenblick?«

Als die Wangen seines Schützlings hellrot anliefen, hob Christo die Augenbrauen.

»Was hast du getan?«, fragte er gefährlich ruhig, obwohl sein Verstand ihm schon sagte, in welche Richtung die Erzählung steuern würde.

Drago senkte erst den Blick, schaute seinen Schöpfer wieder an.

»Ich habe nichts getan, was sie nicht wollte … glaube mir. Und leider habe ich dadurch etwas erfahren, was die ganze Angelegenheit noch komplizierter, tragischer macht«.

»Das tue ich«, er legte die Hand auf seine Schulter, hob jedoch aufgrund des letzten Satzes die Augenbrauen. »Aber was ist vorgefallen? Und von welcher Angelegenheit sprichst du?«

»Die Zarin nennt ihn den Fluch ihrer Familie«, erklärte Drago und knabberte an seiner Unterlippe. Bis diese sich von weiß zu blutrot färbte. »Wir würden es jedoch anders nennen.«

Endlich verstand Christo, worauf sein Schützling hinauswollte, und seine Gesichtszüge versteinerten regelrecht.

»Du meinst nicht die …« Drago nickte stumm. »Nein. Das kann und darf nicht sein.«

»Es ist aber so«, der Jüngere zog scharf die Luft ein. »Alexandra ist Konduktorin für die Bluterkrankung wie schon ihre Großmutter Königin Viktoria. Eine Tragödie, zumal die Mediziner noch immer denken, dass ausschließlich männliche Familienmitglieder für die Weitergabe der Krankheit verantwortlich sind. Dem ist aber nicht so. Es sind die Frauen, und genau hier liegt die Tücke, sie übertragen die Krankheit, ohne selbst an ihr zu leiden.«

»Deswegen haben sie es auch noch nicht herausgefunden«, überlegte Christo und kratzte sich am Kinn. »Weil die Menschen leider nicht auf eine solche Idee kommen … Aber woher weißt du es? – Du hast nicht etwa von ihr getrunken, oder?«, brauste Christo auf, obwohl er die Wahrheit in den Augen seines Schützlings bereits erkannte.

»Sie wollte es und hat es in vollen Zügen genossen. Ich habe sie nicht gezwungen oder gar beeinflusst.«

Jene Äußerung machte den älteren Vampir hellhörig und er legte die Hände gefaltet zusammen.

»Wie kann das sein? Bisher habe ich immer geglaubt, dass Alexandra Nikolaus von ganzem Herzen liebt. Die Nachricht über diese Liebesheirat hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet und sehr viele kritische Stimmen hervorgerufen. War etwa alles eine Lüge?«

»Nein«, fuhr Drago etwas lauter als beabsichtigt dazwischen, sodass einige Köpfe sich nach ihnen umdrehten. »So verhält es sich nicht. Alexandra liebt ihren Gemahl aus ganzem Herzen, aber da gibt es eben auch noch etwas anderes …«

»Was denn?«, fragte Christo und fast bereute er es, sich nicht näher mit der Zarin beschäftigt zu haben. Sein Augenmerk hatte eher auf Nikolaus’ Familie gelegen, weil sie, in seinen Augen, das größere Problem gewesen war. Offensichtlich hatte er sich getäuscht.

»Du weißt, dass Alexandras Mutter und ihre Schwester Marie kurz hintereinander an einer schweren Krankheit starben?« Als der ältere Vampir den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Unmittelbar danach wurde nahezu ihr ganzes Spielzeug verbrannt, sodass die junge Prinzessin sprichwörtlich in einem leeren Raum stand. Diese Erfahrung hat ein Trauma bei ihr ausgelöst.«

»Verständlich. Sie war ja damals noch ein Kind«, nickte Christo.

»Genau. Nach der Tragödie nahm Königin Viktoria selbst sich ihrer an, und sie tat wahrscheinlich ihr Bestes, das zwischen den Verpflichtungen möglich war. Aber niemand erkannte, dass das Mädchen sich immer stärker in die Religiosität flüchtete. Etwas, das sie bis heute beibehalten hat … selbst Nikolaus konnte diese Sucht, so will ich es nennen, nicht ändern. Im Gegenteil, Alexandra hoffte auf Schutz in seinen Armen, welchen sie auch zum Teil bekam. Aber …«

»Aber?«

»Der Druck des russischen Königshauses auf sie war hoch, meiner Meinung nach zu hoch. Schließlich war Alexandra nur eine unbedeutende deutsche Prinzessin und dazu auch noch Halbwaise. Außerdem entsprach sie mit ihrer schüchternen Art nicht unbedingt der Vorstellung von Nikolaus’ Mutter. Wusstest du eigentlich, dass sie lieber jemand anderen an der Seite ihres Sohnes gesehen hätte?«

»Es gab Gerüchte, dass …«

»Und sie entsprechen der Wahrheit. Die eigentliche Braut war charakterlich das genaue Gegenteil von der Zarin und erledigte alle Aufgaben, selbst die öffentlichen Auftritte, mit Bravour.«

»Im Schatten einer anderen Frau zu stehen und von der Mutter nicht akzeptiert zu werden, daran können sogar starke Seelen zerbrechen. Und dazu zählt die Zarin nicht unbedingt. Dieses wurde ihr in der Hochzeitsnacht schmerzlich bewusst. Obwohl die Vereinigung mit Nikolaus sehr schön und angenehm gewesen war.«

Christo hob die Brauen. »Verführung. Ich hätte es mir denken können.«

Drago zwinkerte. »Ohne Einfluss auf ihre Gedanken zu nehmen.«

Er hörte die Schritte, welche sich dem Fenster näherten und duckte sich noch ein wenig mehr unter den Balkon. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dort entdeckt zu werden, gering war. Die junge Frau mit der schmalen Statur und den langen blonden Haaren, welche sie jetzt offen trug, schaute zum Mond, dessen silberne Sichel auf sie herniederleuchtete. Die Kälte des Winters schien sie nicht zu stören, was ihn einigermaßen überraschte. Menschen waren normalerweise sehr empfindlich, was die Außentemperatur anging, doch vielleicht war sie einfach nur mit den Gedanken woanders.

Als ein heiseres Schluchzen ihre Kehle verließ, hob der junge Vampir irritiert die Augenbrauen. Warum weinte diese junge Frau, welche heute den zukünftigen Zaren von Russland geheiratet hatte? Stand sie aus diesem Grund zu dieser nächtlichen Stunde alleine auf dem Balkon? Weil Nikolaus von ihrem Kummer nichts mitbekommen sollte? Das beunruhigte Drago doch etwas, denn auch wenn er den jungen Mann als Zar nicht unbedingt für geeignet hielt, so gab es keine Zweifel an seiner bedingungslosen Liebe zu Alexandra. Warum vertraute die junge Frau sich ihm nicht an? Hatte sie ein Geheimnis? Drago leckte sich über die Lippen, seine Neugier war geweckt und brachte ihn dazu, bewegungslos in der Position zu verharren.

»Ich kann das alles nicht«, eine Träne lief über Alexandras Wange und sie schlug eilig die Hände vor das Gesicht.

Einerseits, um ihr Schluchzen zu dämpfen, und andererseits, um mögliche äußere Spuren sofort zu beseitigen.

Drago hob die Mundwinkel. Ungewöhnliche Worte aus dem Mund der Braut. Normalerweise neigte sie dazu, ihre Gefühle nicht zu zeigen, sich eher zurückzuziehen und mit niemandem zu sprechen. Aus diesem Grund hatte sie auch schon einige öffentliche Auftritte versäumt, sehr zum Unmut ihrer Schwiegermutter.

»Ich kann nicht Zarin sein.«

Beinahe hätte er den Halt verloren. Woher kamen diese Zweifel? Bei Nikolaus wussten sie es, aber dass Alexandra sie teilte! Weinte sie deswegen? Oder steckte noch mehr dahinter? Drago wollte es unbedingt herausfinden und schwang sich, als die Braut endlose Minuten später endlich zurück in den Palast ging, mit einer einzigen Bewegung über den Balkon.

Zu seiner eigenen Verwunderung war die Balkontür nicht abgeschlossen, so dass Drago problemlos eintreten konnte. Ein großer Schwall Weihrauch schlug ihm entgegen und der Vampir verzog das Gesicht.

»Warum müssen sie das Schlafzimmer noch von einem schleimigen Priester segnen lassen? Glauben sie wirklich, das zerstört die Lust des Ganzen? Abgesehen davon, macht es doch jedes Liebesspiel zunichte«, dachte er angewidert und ließ seinen Blick umherschweifen.