Der Prophet Jesaja, Band 1 - Johannes Calvin - E-Book

Der Prophet Jesaja, Band 1 E-Book

Johannes Calvin

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Beschreibung

Johannes Calvin (10. Juli 1509 - 27. Mai 1564) war ein französischer Theologe, Pfarrer, Reformator und eine der Hauptfiguren bei der Entwicklung des Systems der christlichen Theologie, das später Calvinismus genannt wurde, einschließlich der Lehren von der Prädestination und der absoluten Souveränität Gottes bei der Rettung der menschlichen Seele vor Tod und ewiger Verdammnis. Die calvinistischen Lehren wurden von der augustinischen und anderen christlichen Traditionen beeinflusst und weiterentwickelt. Verschiedene kongregationalistische, reformierte und presbyterianische Kirchen, die sich auf Calvin als Hauptvertreter ihrer Überzeugungen berufen, haben sich über die ganze Welt verbreitet. Calvin war ein unermüdlicher Polemiker und apologetischer Schriftsteller, der viele Kontroversen auslöste. Mit vielen Reformatoren, darunter Philipp Melanchthon und Heinrich Bullinger, tauschte er freundschaftliche und tröstende Briefe aus. Neben seiner bahnbrechenden "Unterweisung in der christlichen Religion" schrieb er Bekenntnisschriften, verschiedene andere theologische Abhandlungen und Kommentare zu den meisten Büchern der Bibel. In diesem vorliegenden Werk befasst er sich mit dem Propheten Jesaja. Dies ist der erste von zwei Bänden.

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Seitenzahl: 1068

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Der Prophet Jesaja

 

Band 1

 

JOHANNES CALVIN

 

 

 

 

 

 

 

Der Prophet Jesaja 1, J. Calvin

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849662745

 

Der Originaltext dieses Werkes entstammt dem Online-Repositorium www.glaubensstimme.de, die diesen und weitere gemeinfreie Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Wir danken den Machern für diese Arbeit und die Erlaubnis, diese Texte frei zu nutzen. Diese Ausgabe folgt den Originaltexten und der jeweils bei Erscheinen gültigen Rechtschreibung und wurde nicht überarbeitet.

 

Cover Design: 27310 Oudenaarde Sint-Walburgakerk 83 von Paul M.R. Maeyaert - 2011 - PMR Maeyaert, Belgium - CC BY-SA.

https://www.europeana.eu/item/2058612/PMRMaeyaert_ca16ddc552af4d10f3a4c3c4ae25ae9d95d6f453

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Vorwort.1

Einleitung.3

Kapitel 1.8

Kapitel 2.46

Kapitel 3.65

Kapitel 4.80

Kapitel 5.87

Kapitel 6.110

Kapitel 7.128

Kapitel 8.149

Kapitel 9.173

Kapitel 10.193

Kapitel 11.215

Kapitel 12.232

Kapitel 13.237

Kapitel 14.252

Kapitel 15.274

Kapitel 16.280

Kapitel 17.291

Kapitel 18.301

Kapitel 19.307

Kapitel 20.330

Kapitel 21.335

Kapitel 22.346

Kapitel 23.368

Kapitel 24.381

Kapitel 25.397

Kapitel 26.409

Kapitel 27.432

Kapitel 28.444

Kapitel 29.466

Kapitel 30.482

Kapitel 31.509

 

Vorwort.

 

Im August 1901 hat der Unterzeichnete eine Vorbemerkung „über Zweck und Einrichtung des Unternehmens“ niedergeschrieben, als wir uns anschickten, mit den ersten Proben des Calvinischen Bibelwerkes vor die deutsche Öffentlichkeit zu treten. Vorliegende Zeilen, welche an der Spitze des ersten, in der Zeitfolge des Erscheinens aber letzten Bandes stehen sollen, werden im Oktober 1919 abgefasst. Über 18 Jahre hat sich die Arbeit an der verdeutschten Bibelerklärung Calvins und der Druck hingezogen, zuerst mehrfach aufgehalten durch Hemmungen der persönlichen Arbeitskraft, zuletzt namentlich durch die Weltkatastrophe des Krieges. Möge es denn in der Entzweiung der Völker ein Zeichen der Gemeinschaft der Heiligen sein, dass der französische Reformator deutschen Christen das Verständnis des Buchs der Menschheit erschließen und vertiefen kann.

Calvin selbst gedachte mit seinen Kommentaren der evangelischen Christenheit aller Länder zu dienen. Er widmete die einzelnen Bände zum guten Teil führenden Männern von Genf bis nach Deutschland hinein, bis Polen, Dänemark und England, Fürsten und Politikern, Theologen, Schulmännern und andern Gelehrten. Wie bei Luther war auch bei Calvin das Rückgrat der gesamten Lebensarbeit die Beschäftigung mit der Bibel. Aus seinen Vorlesungen erwuchsen abgerundete Kommentare. Der erste, zum Römerbrief, erschien 1539. Dann folgten – nur mit Ausnahme der Offenbarung und der beiden kleinen Johannesbriefe – sämtliche Bücher des Neuen Testaments, 1555 mit der Evangelienharmonie abgeschlossen. Inzwischen hatte schon die Arbeit an den alttestamentlichen Kommentaren begonnen: 1554 erschien die Auslegung des 1. Buchs Mose, 1557 der Psalmen, 1559 des Propheten Jesaja, 1563 des 2. bis 5. Buchs Mose und des Buchs Josua. Zu den andern Propheten sowie sonstigen Schriften des Alten Testaments sind Calvins nachgeschriebene Vorlesungen veröffentlicht worden. Unsere Übersetzung beschränkt sich auf die vom Reformator eigens für den Druck bearbeiteten Stücke.

Über die kraftvolle Eigenart der Calvinischen Kommentare geben D. C. von Orelli und D. Siegfried Goebel in den bereits 1901 niedergeschriebenen Vorreden zur alt- und neutestamentlichen Reihe Auskunft. Aus der inzwischen erschienen Literatur sei noch hingewiesen auf: August Lang, Johannes Calvin, Leipzig 1909, S. 177 f. Es ist Calvins besondere Gabe, die Gedanken der biblischen Schriftsteller mit genauer philologischer Achtsamkeit auf den Ausdruck in ihrem eigenen Zusammenhang zu entwickeln. Er arbeitet in dieser Hinsicht viel exakter als Luther, nach einer Methode, die modern anmutet. Und doch erhebt er sich über eine nur geschichtliche Betrachtungsweise und vernimmt aus dem Munde der Propheten und Apostel Gottes Offenbarung zu unserm Heil. Eben diese Vereinigung strenger Sachlichkeit und persönlich-gläubiger Anteilnahme ist kennzeichnend für Calvin.

Selbstverständlich hat uns die Forschung von fast vier Jahrhunderten an vielen Punkten weitergeführt, und von Unfehlbarkeit irgendeiner Auslegung, sie sei im 16. oder im 20. Jahrhundert entstanden, ist keine Rede. Aber Calvin behauptet unter den Bibelauslegern aller Zeiten einen der obersten Plätze. Seine Kommentare haben auch der evangelischen Kirche der Gegenwart in ihren theologischen wie nichttheologischen Gliedern noch eine so reiche Förderung zu bieten, dass es sich wohl lohnt, sie aus dem Lateinischen in eine lebende Sprache zu übersetzen. Für streng wissenschaftliche Studien bleibt natürlich der Originaltext unentbehrlich. Indessen mögen nicht nur des Lateinischen unkundige Leser, sondern auch Pastoren, Kandidaten und Studenten für praktische und eigene exegetische Bedürfnisse lieber unsere Übersetzung zur Hand nehmen, als dass sie bei der unaufhaltsam wachsenden Scheu vor lateinischer Lektüre die überall gerühmten und doch so wenig genützten Schätze Calvins überhaupt ungehoben lassen.

Die Übersetzung wurde nach denselben Grundsätzen bearbeitet wie diejenige der Institutio, die 1909 im gleichen Verlag erschien: „Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion“. Sie gibt also nicht unbedingt jedes Wort des Reformators wieder, sondern übergeht Auseinandersetzungen, die nur für ihre Zeit Wert hatten, zieht auch sonst gelegentlich etwas zusammen. Indessen bietet sie nicht etwa „erbauliche“ Brocken im Auszug, sondern Calvins unzerstückte Gedankengänge. Unter keinen Umständen haben wir uns eine Modernisierung erlaubt, welche dem Reformator etwas unterschöbe, was er nicht selbst gesagt hätte.

Dank sei den zahlreichen Mitarbeitern, Dank dem Verlag, der bis zum Ziel treulich durchgehalten hat! Gott lege Seinen Segen auf Calvins Werk und unsere Arbeit!

Prof. D. E. F. Karl Müller.

 

Einleitung.

 

Über die Aufgabe der Propheten lässt sich gar vieles sagen: die richtigste Auffassung aber dürfte diejenige sein, welche die Propheten aus dem Gesetz versteht. Denn das Gesetz ist die Quelle, aus der sie ihre Lehre schöpfen, es ist die Norm, die sie beständig vor Augen haben; mit Recht kann man sie als Ausleger des Gesetzes bezeichnen, denn sie bieten nichts, was nicht mit dem Gesetz in Zusammenhang stünde.

Der Hauptinhalt des Gesetzes aber ist ein dreifacher. Es enthält erstens sittliche Vorschriften, zweitens Drohungen und Verheißungen, drittens den göttlichen Gnadenbund, der auf Christus gegründet ist und auch alle besonderen Verheißungen in sich befasst. Die vielen Zeremonialgebote nämlich waren nur Übungsmittel, durch die das Volk in der Verehrung Gottes und in der Frömmigkeit erhalten werden sollte: man könnte sie als Anhänge zur ersten Tafel bezeichnen. So führen denn die Propheten die sittlichen Vorschriften weiter aus und erklären ausführlich, was die beiden Tafeln kurz zusammenfassen; sie zeigen zugleich, was in Gottes Augen das Wichtigste ist. Die Verheißungen und Drohungen sodann, welche Mose im Allgemeinen ausgesprochen hatte, wenden sie auf ihre Zeit an und bestimmen sie genauer. Endlich, was bei Mose von Christo und seiner Gnade dunkel angedeutet, das stellen sie in größerer Klarheit an das Licht und bringen zahlreichere und stärkere Zeugnisse für den Bund der frei geschenkten Gnade bei.

Es dürfte sich empfehlen, zur Veranschaulichung des Gesagten etwas weiter auszuholen, und zwar müssen wir auf das Gesetz selbst zurückgehen, das nach Gottes Willen seiner Gemeinde für alle Zeiten zur bleibenden Richtschnur bestimmt war. Gott sah, dass das von Mose gegebene Gebot dem unerzogenen und widerspenstigen Sinn des Volkes schwerlich genügen werde; er sah, dass, um dieses Volk zu lenken, der Zügel straffer angezogen werden müsse. Da er nun gleichzeitig die Befragung von Zauberern, Sterndeutern, Wahrsagern usw. streng verbot, so musste er auch hinzufügen: ich will dafür sorgen, dass es niemals an einem Propheten fehle in Israel. Andernfalls hätte ihm das Volk entgegenhalten können, dass es schlimmer daran sei als die heidnischen Völker. Denn diese könnte wenigstens ihre Priester und Seher, ihre Vogelschauer, Wahrsager, Sterndeuter und Chaldäer usw. befragen, während Israel niemand habe, den man in zweifelhaften und schwierigen Fällen um Rat angehen könne. Um diesen Vorwand dem Volke zu rauben und jede Befleckung mit heidnischen Zaubereigebräuchen zu verhüten, verspricht Gott, er werde Israel Propheten erwecken und durch sie seinen Willen kundtun. Allerdings spricht jene Verheißung (5. Mos. 18, 15. 18) nur von einem Propheten und bezieht sich zunächst und vor allem auf Christus, wie Petrus (Apg. 3, 22. 23) deutlich bezeugt. Denn Jesus ist ja auch wirklich das Haupt der Propheten, von dem sie alle abhängig sind und auf den sie alle einmütig hinzielen; trotzdem aber muss jenes Wort des Mose auch auf die übrigen Propheten bezogen werden, welche hier nur in zusammenfassender Weise bezeichnet sind.

Wenn somit Gott Propheten verhieß, um seinen Willen und Ratschluss durch sie zu offenbaren, so wollte er auch, dass das Volk sich an ihrem Wort und Weisung genügen lasse. Dabei hatten die Propheten jedoch keineswegs die Aufgabe, zum Gesetz Neues hinzuzufügen, vielmehr sollten sie es nur sorgfältig erklären und seine Autorität befestigen. Daher spricht Maleachi (3, 22), wo er zum Beharren im Glauben und zur Beständigkeit in der rechten Lehre ermahnt: „Gedenket des Gesetzes Moses, meines Knechts, das ich ihm befohlen habe auf dem Berge Horeb an das ganze Israel.“ Er weist also seine Zeitgenossen hin auf das eine Gesetz Gottes und heißt sie damit sich zu begnügen. Will er also, dass man das Wort der Propheten verachte? Keineswegs; allein, da dasselbe nur einen Nachtrag zum Gesetz darstellt, und das Gesetz alles schon in sich enthält, so genügte jene Ermahnung. Wer das Gesetz hält, wem es ernstlich darum zu tun ist, seine Gebote, die das Wichtigste und die Hauptsache sind, zu erfüllen, der wird die Worte der Propheten nicht vernachlässigen. Es würde doch einen lächerlichen Eindruck machen, wenn man einesteils sich mit dem Gesetze beschäftigen, zugleich aber die Erklärung desselben, welche die Propheten bieten, beiseite lassen wollte. Freilich heutzutage geschieht dergleichen nicht selten. Man hebt das Wort Gottes hervor, die Ermahnungen aber und den Tadel, welche die Prediger des Wortes daraus entnehmen, weist man von sich.

So bringen denn die Propheten in der Tat nichts Neues, wo immer sie von sittlichen Geboten handeln. Vielmehr stellen sie nur zurecht, was das Volk im Gesetze missverstand. So glaubten die Israeliten z. B. ihrer Pflicht vollständig genügt zu haben, wenn sie nur Opfer darbrachten und Gebräuche pflegten, die auch bei den Heiden üblich waren, - die Welt misst nun einmal Gott nach dem Maßstab ihres Verständnisses und glaubt ihn in fleischlicher Weise verehren zu müssen. Die Propheten verwerfen all dies aufs schärfste. Sie zeigen, dass alle diese Opfer und Gebräuche nichts nützen, wo es an der rechten Gesinnung des Herzens fehlt. Gott dient man durch Glauben und aufrichtige Anrufung. Das war zwar bereits im Gesetz deutlich genug gesagt; allein es war nötig, es immer noch besser einzuprägen und immer wieder daran zu erinnern. Die Propheten mussten die Heuchelei bloßstellen, die mit eifriger Befolgung von rituellen Vorschriften sich gedeckt glaubte. Was die Gebote der zweiten Tafel anlangt, so schöpfen die Propheten hier ihre Ermahnungen unmittelbar aus dem Gesetz; sie zeigen, wie jegliches Unrecht gegen den Nächsten, Gewalttat und Betrug verboten sind. Kurz, sie wollen nichts anderes, als das Volk im Gehorsam gegen das Gesetz erhalten.

Etwas anders steht es bei den Drohungen und Verheißungen. Hier haben die Propheten insofern eine eigentümliche und besondere Bedeutung, als sie, was Mose nur im Allgemeinen angekündigt hatte, bestimmt bezeichnen. Auch erhielten sie besondere Gesichte, in denen ihnen Gott die Zukunft offenbarte. Sie sollten dadurch in den Stand gesetzt werden, Verheißungen und Drohungen unmittelbar auf die Lage des Volkes anzuwenden und Gottes Willen im einzelnen Fall näher kundzutun. So lesen wir bei Mose Drohungen wie (3. Mos. 26, 36; 5. Mos. 28, 25 ff. 65 f.; 32, 25): Der Herr wird dich mit dem Schwert verfolgen, außen sollen die Feinde, innen die Zwietracht dich fressen; dein Leben soll wie an einem Faden hängen, vor dem fallenden Blatt sollst du erbeben usw. Die Propheten aber drohen: Siehe, der Herr stehet wider dich: er rüstet Assur aus (vgl. Jes. 5, 25; 10, 28 ff.); er zischt herbei die Ägypter (Jes. 7, 18); er erweckt die Chaldäer; Israel soll in die Gefangenschaft geführt werden; seine Herrschaft soll vernichtet werden; Jerusalem wird der Feind verwüsten, den Tempel wird er verbrennen (Mi. 3, 12; Jer. 7, 14. 32 ff.). Ähnlich verhält es sich auch mit den Verheißungen. Mose sagt: Wenn du die Gebote halten wirst, wird Gott dich segnen. Dann zählt er die Segnungen Gottes im Allgemeinen auf (vgl. z. B. 5. Mos. 28, 1 ff.). Die Propheten dagegen führen einzeln auf: mit dieser oder jener Wohltat wird Gott dich segnen. Oder Gott verheißt durch Mose: Wenn du auch bis an die Enden der Erde zerstreut und zersprengt wirst, so will ich dich doch wieder sammeln (5. Mos. 30, 4); durch die Propheten aber: Wenn ich dich gleich nach Babel verstoße, so will ich dich doch nach siebzig Jahren wieder erretten.

Endlich sprechen die Propheten auch mit klareren Worten von dem Bund der frei geschenkten Gnade, den Gott einst mit den Patriarchen geschlossen hatte. Sie suchen das Volk in ihm zu befestigen und weisen die Frommen immer auf ihn hin, sei es, dass sie nur im Allgemeinen Trost zusprechen oder bestimmt vom Kommen Christi zeugen wollen. Denn er war des Bundes Grundstein und das Band der Gemeinschaft zwischen Gott und Volk: daher denn auch die gesamte Verheißung, wie sie auf ihn zurückgeht, so auch ihn zum eigentlichen Inhalt hat. Behält man dies im Auge, so sieht man leicht, was man in den Propheten zu suchen hat und was ihre Schriften in Wahrheit wollen. So dürfte, was nunmehr gesagt ist, als vorläufiger Hinweis genügen.

Zugleich ergibt sich hieraus, wie wir es mit der Lehre des göttlichen Wortes halten sollen. Die Propheten können es uns zeigen, wenn wir sehen, wie sie Mahnungen, Tadel, Drohung und Trost aus dem Gesetze schöpfen und je nach dem Bedürfnis der augenblicklichen Lage auf das Volk anwenden. Zwar Offenbarungen und Weissagungen, die sie täglich erhielten, werden uns nicht beschert; aber es lohnt sich der Mühe, die Handlungsweise unseres gegenwärtigen Geschlechts zu vergleichen mit dem Tun jenes Volkes in vergangenen Zeiten, und wir sollen aus Geschichte und Beispiel Gottes Gerichte kennen lernen. Was er damals strafte, wird er gewiss auch heute strafen; denn er bleibt zu allen Zeiten derselbe. In dieser Richtung möge man über die Worte der Propheten nachdenken und sie in verständiger Weise anwenden, wenn ihre Behandlung Frucht bringen soll.

So viel von den Propheten im Allgemeinen. Um nun auf Jesaja zu kommen, mit dem wir es hier zu tun haben, so ergibt sich aus der Überschrift des Buches mit genügender Klarheit, wer er war, und wann er geweissagt hat. Denn hier lesen wir, sein Vater habe Amos geheißen; und man hält dafür, dass dieser Amos ein Bruder des Asarja, des Königs von Juda, gewesen sei. Danach wäre Jesaja königlicher Herkunft; in der Tat ist dies die übereinstimmende Ansicht aller älteren Ausleger. Die Juden erzählen auch, dass er der Schwiegervater des Königs Manasse gewesen sei. Doch weder seine königliche Abkunft noch diese nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zum königlichen Hause vermochten es zu hindern, dass er aus Hass gegen das göttliche Wort umgebracht wurde. Man behandelte ihn nicht anders, als irgendeinen gemeinen Mann aus dem Volke, ja wie einen unbekannten und verächtlichen Menschen. – Die Zeit, zu welcher Jesaja weissagte, ergibt sich aus den Königsnamen der Überschrift. Manche nehmen an, dass er erst gegen Ende der Regierung des Usia als Prophet aufgetreten sei. Sie schließen das aus dem Bericht über das Gesicht Jesajas im 6. Kapitel, wo er bezeugt, dass er als Prophet bestätigt wurde. Doch steht diese Annahme auf sehr schwachen Füßen, wie sich seiner Zeit näher ergeben wird. Jedenfalls aber ergibt sich eben aus der Überschrift dieses 6. Kapitels, dass Jesaja noch gleichzeitig mit Usia geweissagt hat. Ich kann darin nichts Unwahrscheinliches finden. Wie es sich aber auch hiermit verhalten mag: das steht fest, dass Jesaja mindestens 64 Jahre und länger in prophetischer Tätigkeit gestanden hat. Jotham nämlich regierte 16 Jahre, ebenso lang Ahas, Hiskia 29 Jahre, macht zusammen bereits 61 Jahre. Dazu kommt noch die Zeit seiner Tätigkeit unter Usia, sowie die unter Manasse, von dem er getötet wurde. Somit ergibt sich, dass Jesaja mindestens 64 Jahre unausgesetzt als Prophet gewirkt hat; doch ist wahrscheinlich, ja fast sicher, dass man über diesen Zeitraum noch um 10 Jahre hinausgehen darf. Da sich dies jedoch nicht ganz klar aus der Geschichte erweisen lässt, will ich darauf kein Gewicht legen. Immerhin mögen alle Diener Gottes diese lange Dauer der Wirksamkeit Jesajas sich fleißig vor Augen halten! Mögen sie daran lernen, wie man jede Lage, und sei sie noch so hart und schwierig, geduldig tragen muss; mögen sie auch nicht ungehalten sein, wenn es heißt, vieles und Schweres ertragen – nachdem ihnen solche Vorbilder geduldigen Ausharrens vor Augen stehen! Die schwerste Versuchung für sie ist doch die, zu erleben, wie trotz aller Arbeit kein Fortschritt sich zeigen will. Da möchten sie wohl gar oft lieber ihr Amt und alles von sich werfen, als so lange sich vergebens abmühen. Darum ist es gut, das Beispiel dieser Propheten sich häufig vorzuhalten. Jesaja hat wenig erreicht mit der langen und schweren Arbeit seines Lebens, Jeremia hat 50 Jahre lang nicht abgelassen, seinem Volk mit lautem Ruf zu predigen, und es ward nur umso halsstarriger dadurch: dennoch aber ließen sich beide durch keine Schwierigkeit von ihrem Weg abbringen. So müssen auch wir unverrückt unsere Pflicht erfüllen und jegliche Mühsal geduldigen Herzens auf uns nehmen. Beachtenswert ist auch, was aus dem Wechsel der Könige sich ergibt, die in der Überschrift aufgezählt werden. Unmöglich konnten bei so vielen Veränderungen die Zustände dieselben bleiben – auch wir wissen es ja: wenn in einem Staatswesen eine Umwälzung erfolgt, so greifen allgemein neue Sitten um sich – vielmehr musste mit Notwendigkeit Verwirrung jeder Art entstehen. Dennoch blieb Jesaja unbesiegt und unerschütterlich, nie ließ er den Mut sinken, - ein leuchtendes Vorbild für alle Knechte Gottes, die auch ungebeugt stehen sollen bei allem Wandel.

Man könnte fragen, ob die Überschrift des Buches Jesaja vom Propheten selbst herrührt oder von irgendeinem andern. Auf diese Frage geht, so weit ich sehe, keiner der bisherigen Ausleger ein. Obwohl ich eine völlig befriedigende Antwort auch meinerseits kaum geben kann, möchte ich doch wenigstens meiner Meinung Ausdruck verleihen. Die Sache wird sich etwa in folgender Weise zugetragen haben. Wenn die Propheten dem Volke gepredigt hatten, schrieben sie den Hauptinhalt ihrer Worte kurz nieder und hefteten das Schriftstück an die Tempeltüren, damit jedermann es lesen könne und der Inhalt recht allgemein bekannt werde. Nachdem es so einige Tage öffentlich ausgestellt war, nahmen die Priester es ab und legten es in die Schatzkammer, damit es als ein ewiges Denkmal erhalten bliebe. Dann mögen allmählich aus diesen einzelnen Stücken die Schriften der Propheten zusammengestellt worden sein. Dies lässt sich aus dem 2. Kapitel des Propheten Habakuk schließen, wofern man seinen Inhalt sorgfältig erwägt, nicht minder auch aus dem 8. Kapitel unseres Propheten. Wer jedoch genau und mit selbständigem Urteil die Bücher der Propheten durcharbeitet, wird uns zugeben müssen, dass ihre einzelnen Reden nicht immer in der richtigen Ordnung zusammengestellt worden sind. Das Buch wuchs zusammen, wie es eben Gelegenheit und Zufall mit sich brachte. Darin aber erkennen wir die Hand der göttlichen Vorsehung, dass durch die Priester, welche, wiewohl nicht selten die heftigsten Feinde der Propheten, die Weissagungen der letzteren den Nachkommen zu übermitteln hatten, uns die Worte der Propheten dennoch bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben sind.

 

Kapitel 1.

 

V. 1. Dies ist das Gesicht Jesajas. Das Wort „Gesicht“ kommt von Sehen. Wir denken dabei zunächst an ein einzelnes Gesicht, hier jedoch bedeutet es so viel wie Weissagung im Allgemeinen. Zuweilen erwähnt die heilige Schrift auch Gesichte im engeren Sinne des Worts. Es waren Zeichen, die Gott den Propheten gab, wenn er ihnen etwas Außerordentliches bezeugen wollte: in solchen Fällen finden wir stets das Wort Gesicht. Dagegen heißt es z. B. 1. Sam. 3, 1: „Des Herrn Wort war teuer zu derselben Zeit und war wenig Weissagung“, denn hier handelt es sich um Weissagung im Allgemeinen. Umgekehrt ist gleich nachher (V. 15) die Rede von dem Gesicht, in welchem Gott sich Samuel offenbarte. Ähnlich wird 4. Mos. 12, 6 das Gesicht (neben dem Traum) als eine der beiden Unterarten göttlicher Offenbarung bezeichnet. Doch wissen wir aus 1. Sam. 9, 9, dass man die Propheten ehedem „Seher“ hieß: man zeichnete sie dadurch als solche aus, denen Gott in vertrauter Weise seinen Ratschluss kundtue. So soll ohne Zweifel auch hier mit dem Worte „Gesicht“ darauf hingewiesen werden, dass die Lehre des Propheten gewisse Wahrheit sei: in dem nun folgenden Buche wird nichts verkündigt, was nicht göttliche geoffenbart worden ist. So weist uns gleich dies erste Wort darauf hin, dass die Propheten nicht von sich aus redeten, noch eigene Gedanken vorbrachten: nein, Gott erleuchtete sie, dass sie ihre Augen auftun konnten und schauen, was sie von sich aus nicht hätten durchschauen können. Die Überschrift empfiehlt uns den Inhalt des Buchs: ist es doch nicht menschliche Überlegung, sondern Gottes Wort, das wir hier lesen, geoffenbart durch seinen Geist.

Welches er sah von Juda. Es könnte auch heißen: „an Juda“. Dem Sinne nach kommt beides auf dasselbe hinaus: was im Buche Jesaja steht, bezieht sich in erster Linie auf Juda und Jerusalem. Allerdings lesen wir dazwischen auch allerhand Weissagungen über Babylon, Ägypten, Tyrus und andere Städte und Länder, allein es war nicht nötig, dies alles einzeln in der Überschrift aufzuzählen. Es genügt, wenn wir die Hauptsache erfahren und wissen, zu wem Jesaja in erster Linie gesandt war. Das ist aber Jerusalem und Juda. Was seine Weissagungen sonst noch enthalten, war doch von mehr nebensächlicher Bedeutung. Freilich gehörte es mit zu seiner prophetischen Aufgabe, auch andern Völkern das Unheil anzukündigen, das ihnen drohte. Hat doch auch Amos die Judäer nicht geschont, wiewohl er nicht zu ihnen, sondern zu den Israeliten gesandt war. Näher noch liegt ein anderes Beispiel. Petrus ist der Apostel der Juden, Paulus der der Heiden. Petrus aber hat die Schranken seiner Aufgabe nicht überschritten, wenn er gelegentlich einmal auch Heiden predigte, wie z. B. dem Cornelius; und ebenso wenig Paulus, wenn er den Juden seine Hilfe anbot, - was er ja stets tat, sobald er nur in eine Stadt gekommen war. Ganz ebenso ist über Jesaja zu urteilen. Vor allem will er die Juden lehren; auf dieses Ziel richtet sich seine Absicht zuerst, und dieselbe ist auch da vorhanden, wo er gelegentlich andere Völker erwähnt. „Juda“ steht hier für das ganze Volk, „Jerusalem“ ist genannt als die Hauptstadt des Reichs. Sie wird damit nicht vom Volke getrennt, sondern nur, eben als die Hauptstadt, in besonderem Maße hervorgehoben, gerade so wie wenn heutzutage ein Prophet Frankreich und Paris als seine Hauptstadt zusammen anredete. Die Einwohner Jerusalems sollten nicht glauben, sie seien frei von Schuld, oder sie brauchten sich wegen ihrer hervorragenden Stellung nicht um die Gebote zu kümmern, als ob die Worte der Propheten nur die Bauern und das gewöhnliche Volk etwas angingen.

V. 2. Höret, ihr Himmel! Jesaja folgt hier dem Beispiel Moses (5. Mos. 32, 1), wie alle Propheten. Ohne Zweifel spielt er an auf jenes bekannte Lied Moses, welches gleich am Anfang Himmel und Erde zu Zeugen wider sein Volk aufruft: ein Aufruf, der seinen Eindruck nicht verfehlen dürfte. Es ist, wie wenn die Propheten sich deswegen an die stummen und toten Elemente wendeten, weil der Menschen Ohren taub und alle ihre Sinne stumpf geworden sind. So furchtbar, so entsetzlich ist das, wovon Jesaja zu reden hat, dass es selbst die tote Natur mit Schrecken erfüllen muss. Denn was ist furchtbarer als der Abfall Israels von seinem Gott, der es mit so vielen Wohltaten gesegnet hatte? Wer annimmt, dass mit dem Worte Himmel die Engel, mit der Erde die Menschen gemeint seien, schwächt die Gewalt solcher Worte ab und nimmt ihnen ihre Schärfe und ihren Ernst. Auch will der Prophet nicht nur, wie meist gesagt wird, dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass, sobald Gott seinen Mund auftue, alles bereit sein müsse, ihn zu hören. Aus dem Zusammenhang ergibt sich vielmehr, dass jenes Wort „Höret“ nicht auf jede beliebige Rede bezogen werden darf, sondern nur auf die gleich folgende Herausforderung. Somit ist der Sinn dieser: Höret die Klage, die Gott hier vorbringen muss: Ich habe Kinder auferzogen usw. So schrecklich und unerhört ist, was Jesaja vor Augen sieht, dass er in ungewohnter Weise selbst die tote Kreatur zum Zeugnis aufrufen muss. Und ist es wirklich so verwunderlich, dass hier stumme und leblose Dinge angeredet werden? Hört etwa die stumme Kreatur Gottes Stimme nicht? Ist doch die ganze Naturordnung nichts anderes als der Gehorsam, den alle Geschöpfe der Welt ihm leisten, damit überall seine allmächtige Herrschaft offenbar werde. Nach seinem Wink halten die Elemente das Gesetz, das ihnen gegeben ist, nach seinem Wink erfüllen Himmel und Erde ihren Auftrag. Die Erde bringt Früchte hervor, das Meer bleibt in den Grenzen, die ihm gesteckt sind: Sonne, Mond und Sterne ziehen ihre Bahn; selbst der Himmel wird aufgerollt, wenn die Zeit gekommen ist. In allen Dingen zeigt sich die wunderbarste Ordnung, wiewohl sie Vernunft und Verstand entbehren. Der Mensch aber, der Vernunft und Verstand besitzt, an dessen Ohr und Herz so oft das Wort des Herrn ergeht, bleibt hart und unbeweglich, als wäre er ein toter Stein! Er bringt es nicht über sich, seinen Nacken zu beugen und sich dem Herrn zu unterwerfen! So legt die stumme und unvernünftige Kreatur Zeugnis ab gegen die Hartnäckigkeit und Verstocktheit der Menschen, welche dereinst werden spüren müssen, dass Gott solche Zeugen nicht vergeblich aufrief.

Ich habe Kinder auferzogen, wörtlich: ich habe sie groß gemacht, groß werden lassen. Doch da von Kindern die Rede ist, kann man nicht besser übersetzen, als: auferzogen. Die nächste Aussage, dass Gott sie auch erhöhet hat, deutet auf die besonderen Wohltaten, die er ihnen erwies. Gott erinnert also an ein Doppeltes: einmal, er habe als ein gütiger Vater für den gewöhnlichen Lebensunterhalt gesorgt, sodann aber habe er noch obendrein alles getan, um seine Kinder in hohe und herrliche Stellung zu bringen. Es gab in der Tat keine Wohltat, die er ihnen nicht erzeigt hätte, ganz und gar hatte er sich ihnen ausgegeben. An anderm Ort lesen wir denn auch die vorwurfsvolle Frage (Jes. 5, 4): „Was sollte man doch mehr tun an meinem Weinberge, das ich nicht getan habe?“ Gott könnte allerdings allen Völkern die nämliche Frage vorlegen; denn alle nährt er und krönt sie mit allerlei Wohltaten und Segnungen: die Israeliten aber hatte er sich vor den andern auserwählt, vor ihnen als Vater sich ihrer angenommen, um sie als seine liebsten Kinder zu pflegen und besonders in seinem Schoße zu tragen, ja um sie mit Wohltaten jeder Art zu überhäufen. – Lässt sich das auf unsere Zeit anwenden? Wir brauchen nur darüber nachzudenken, ob unsere Lage dieselbe, ja nicht etwa eine noch bessere ist, als die der Juden. Weil Gott sie als Kinder angenommen, waren sie verpflichtet, ihm reinen Herzens zu dienen: unsere Verpflichtung gegen ihn ist eine doppelte. Denn wir sind nicht nur durch Christi Blut erlöst, sondern wir, die Erlösten, sind auch noch beschenkt mit seinem Evangelium: auf diese Weise hat er uns allen vorgezogen, welche er bis hierher in Blindheit und Unwissenheit bleiben ließ. Geben wir dies zu, - wie viel schwerer wird die Strafe sein, die wir auf uns laden! Je voller und reicher Gottes Gnade sich über uns ergossen hat, desto schwerer wiegt die Undankbarkeit, deren wir überführt werden.

Sie sind von mir abgefallen. Gott will sagen: alle Wohltaten waren umsonst, nichts konnte sie bei Gehorsam erhalten. Sie haben sich abgewendet und sind ganz entfremdet, wie ein Kind, das sein Vaterhaus verlässt und bei dem alle Hoffnung auf Besserung dahin ist. Es ist in der Tat etwas Grauenerregendes, wenn Kinder also aus der Art schlagen, und noch dazu bei einem Vater, der so gütig ist, der die Seinigen mit solch beständiger Fürsorge umgibt. Der heidnische Gesetzgeber Lykurg soll sich geweigert haben, ein Gesetz gegen Undankbarkeit zu erlassen, weil das Unerhörte, dass jemand eine Wohltat nicht erkenne, unter Menschen kaum vorkommen könne. Doppelt schrecklich ist aber die Undankbarkeit des Kindes gegen den Vater, und dreifach schrecklich gegen einen so freigebigen und wohltätigen Vater. Fürwahr, nicht um sie zu ehren, heißt Gott die Israeliten hier „Kinder“, sondern um das Abscheuliche ihres Abfalls recht hervorzuheben und in seiner ganzen nie gesehenen Größe vor Augen zu stellen.

V. 3. Ein Ochse kennet seinen Herrn usw. Der Vergleich, den der Prophet hier anstellt, soll das Unrecht der Kinder Israel noch besonders deutlich machen. Der Herr hätte sein Volk auch mit den Heidenvölkern vergleichen können, aber noch stärker ist es, wenn er es gar mit den stummen Tieren zusammenstellt und zeigt, dass es noch stumpfer an Sinnen ist als sie. Denn diese sind, wenngleich ohne Verstand und Vernunft, doch wenigstens gelehrig. Zum mindesten wissen sie, wer ihnen täglich ihr Futter darreicht. Gott aber hat sein Volk nicht nur geweidet und zur Krippe geführt, sondern ihm alles geschenkt, was ein Vater seinen Kindern geben kann; er hat nicht nur für die leibliche Nahrung gesorgt, sondern auch geistliche Speise ihm täglich dargereicht, - und nun, da sie in diesem Grade gleichgültig sind, verdienen sie es wirklich nicht anders, als dass man mit ihnen wie mit Tieren, nicht als mit Menschen rede. So weist Gott sein Volk hier auf Ochsen und Esel hin, damit es an ihren seine Pflicht verstehen lerne. Und in der Tat: Tiere folgen der Ordnung der Natur oft besser und legen mehr „Menschlichkeit“ an den Tag als die Menschen selbst. Auch das stumpfste und trägste Tier folgt doch seinem Herrn und Leiter. Um außer diesem von Jesaja selbst gebrauchten Beispiel noch andere anzuführen, so lässt sich etwa auf Folgendes hinweisen: Kein Tier wütet gegen seinesgleichen, sondern erkennt die Verwandtschaft und Gleichartigkeit bei den andern Exemplaren seiner Gattung an. Alle Tiere verwenden den größten Fleiß und Sorgfalt auf die Ernährung ihrer Jungen, während menschliche Mütter nicht selten wider alles natürliche Gefühl ihre Kinder verkommen lassen. Kein Tier nimmt mehr Speise und Trank zu sich, als zur Erhaltung des Lebens und Erneuerung der Kraft nötig ist, während Menschen nur zu oft sich übernehmen und zu Grunde richten. Überhaupt kann man sagen, dass die Tiere durchaus die von der Natur ihnen vorgezeichneten Gesetze innehalten. Ein sonderbarer Einfall ist es, - nebenbei bemerkt -, wenn römische Ausleger aus unserer Stelle die Idee entnehmen, dass Ochsen und Esel das Christuskind in der Krippe angebetet hätten. Nicht von solchen Wundergeschichten redet der Prophet, sondern von der Ordnung der Natur, und sagt, dass, wer sie verkehrt, schlimmer ist, als das unvernünftige Tier. Es ist gänzlich überflüssig, hier noch neue Wunder dazu zu dichten, um Christo dadurch Ehre zu erweisen. Wenn man so Wahres und Falsches vermengt, wird schließlich beides gleich unwahrscheinlich.

Israel kennet's nicht. Auf dem Wort „Israel“ liegt ein Nachdruck im Gegensatz zu den vorher genannten Tieren. Wir wissen, was es für eine Ehre war für die Nachkommen Abrahams, diesen Namen führen zu dürfen; denn von Gott selbst hatte ihn Jakob, der Erzvater, erhalten, weil er im Kampf mit dem Engel siegreich geblieben war. Umso schmählicher ist es, wenn so entartete und verderbte Nachkommen ihn tragen. So liegt in dem Wort Israel ein doppelter Vorwurf angedeutet: einmal der, dass sie fälschlich nach einem heiligen Manne sich nennen, dem sie doch ganz unähnlich sind, und sodann, dass sie gegen Gott undankbar sind, der ihnen so viele Wohltaten geschenkt hat. Zugleich aber hören wir aus diesem Wort auch einen Vergleich heraus: je größer die Ehre war, vor allen Völkern ausgezeichnet zu werden, umso tiefer ist die Schande, wenn sie jetzt mit diesem ihrem Ehrennamen vor aller Welt bloßgestellt werden. Eine alte griechische Übersetzung bietet statt „kennet es“ vielmehr „kennet mich nicht“. Allein ansprechender ist es, wenn nur auf das in der ersten Hälfte des Satzes Gesagte zurückgegriffen wird: Israel kennt seinen Herrn und Besitzer nicht, nämlich Gott, noch kennt es seine Krippe, d. i. die Gemeinde, in der es erzogen worden ist und zu der es sich sammeln sollte, - während jene Tiere ihren Herrn, der ihnen Nahrung gibt, wohl kennen und gern an den Ort zurückkehren, wo sie Weide gefunden haben.

V. 4. O weh des sündigen Volks. Obwohl die Sünde des Volkes schon stark genug beschrieben ist, so wird hier doch auch noch ein solcher Ausruf hinzugefügt, um den schändlichen Undank und die Gottlosigkeit noch lauter und eindringlicher zu bezeugen. Das Wehe am Anfang kann ebenso gut Ausdruck der Trauer sein, wie etliche wollen, als Drohung, wie andere es auffassen. Es genügt, dass es ein Ausruf ist, der dem Entsetzen und der Betrübnis zugleich entsprungen ist. Denn in beiden Fällen gebrauchen wir derartige Ausdrücke: wenn etwas so schändlich ist, dass wir es mit gewöhnlichen Worten nicht mehr beschreiben können, oder wenn uns ein Schmerz erfüllt, dessen Größe Worte nicht auszusprechen vermögen. Ein „sündiges Volk“ wird Israel hier genannt, gemeint ist nach dem Grundtext ein solches, das der Sünde ganz und gar ergeben ist, das nicht bloß gelegentlich gesündigt hat. Der Prophet will die gänzliche Verderbtheit und Verlorenheit Israels beschreiben.

Des Volks von großer Missetat. Eigentlich: „schwer belastet mit Missetat“. Die Bedeutung dieses Vergleichs ist nicht zu übersehen. Abgesehen davon, dass sie in ihrer Sünde wie in einem tiefen Sumpf stecken, muss der Prophet ihnen auch vorwerfen, dass sie nicht etwa aus Versehen oder Unbedachtsamkeit sündigen: das könnte man bei dem Wankelmut des menschlichen Herzens begreifen. Nein, mit bewusster Absichtlichkeit beharren sie in ihrer Verstockung, sie haben sich selbst zu Sklaven der Ungerechtigkeit gemacht, sich verkauft zum Böses tun, und müssen sich nun damit schleppen.

Des boshaften Samens. Dieser Ausdruck bedeutet nichts anderes als: „die Bösewichte“. Etwas zu spitzfindig ist die Erklärung, der Prophet wolle mit diesen Worten andeuten, sie seien nicht würdig, Abrahams Kinder zu heißen, sondern stammten von einem anderen Vater, - ähnlich wie sie gelegentlich „Same Kanaans“ genannt oder als unbeschnitten bezeichnet werden, als ob sie von irgendwelchen heidnischen und fremden Völkern stammten. Allein im Hebräischen sagt man sehr oft Söhne oder Samen der Gerechtigkeit für Gerechte: nach dieser Regel ist auch unser Ausdruck zu verstehen.

Der verderbten Kinder. Wörtlich: „verderbende“ Kinder. Gewöhnlich erklärt man: sie verderben sich selbst, oder sie machen ihr Tun zu einem verderbten. Besser aber passt: sie sind verderbt, d. h. entartet. Sie sind so tief gesunken, dass sie ihren Vätern ganz und gar unähnlich geworden sind. Vier Aussagen sind es, so sehen wir, die der Prophet über sein Volk zu machen hat, und sie alle sind nichts weniger als ehrend für dasselbe. Aufs schärfste aber widersprechen sie der Meinung, die das Volk von sich selbst hatte. Nur so können Heuchler entlarvt und aus ihrer Selbsttäuschung aufgeweckt werden; und je mehr sie geneigt sind, in derselben zu verharren und sich um Gott nichts zu kümmern, desto schärfer müssen die Worte sein, wie Blitze müssen sie ihr Gewissen treffen. Mit sachlich kühler Belehrung und einfacher Ermahnung wird bei solchen Leuten nichts erreicht: erst muss jene falsche Einbildung von Klugheit, von Gerechtigkeit, von Heiligkeit, deren sie sich rühmen und mit der sie sich decken zu können glauben, ihnen genommen werden.

Die den Herrn verlassen. Mit diesen Worten wird der Grund angegeben, warum der Prophet sein Volk gar so hart und schwer tadeln muss. Es sollte nicht, wie gewöhnlich, sich beklagen, dass man mit ihm zu streng und unfreundlich umgehe. Das erste, was er ihm vorzuwerfen hat, ist der Abfall von Gott. Derselbe ist in der Tat das innerste Wesen jeglicher Sünde. Die höchste Vollendung der Gerechtigkeit ist es, Gott zu dienen – wie es im 5. Buche Mose (10, 12) heißt: „Nun, Israel, was fordert der Herr dein Gott von dir? Dass du dem Herrn dienest von ganzem Herzen und von ganzer Seele.“ Umgekehrt: wenn wir von ihm abfallen, so ist es mit uns überhaupt geschehen. Und das ist es, was der Prophet sagen will: nicht eines oder des andern besonderen Unrechts sind die Judäer schuldig, nein er will zeigen, dass sie gänzlich abgefallen sind. Die folgenden Worte führen das noch weiter aus. Ob man übersetzt „lästern“ oder „verabscheuen“ macht nicht viel aus; doch ist das letztere nach dem Grundtext vielleicht vorzuziehen. Ein schmähliches Verabscheuen Gottes war in Wahrheit der Undank, mit dem sie seine Gnade für nichts achteten, nachdem er sie allein von allen Völkern zu Kindern angenommen hatte. Absichtlich nennt Jesaja hier Gott den Heiligen in Israel. Denn indem er sich an sein Volk hingibt, geht auf dieses der Glanz seiner Heiligkeit über. Solche Ehre für nichts zu achten, war das nicht Rohheit und Anmaßung zugleich? Will man übersetzen: „lästern“, - so ist der Sinn der: Sie haben Gott so zurückgestoßen, als ob sie mit voller Absicht seinen Zorn hervorrufen wollten: man sieht, wie schändlich ihr Abfall war.

Zurückweichen. Die Meinung ist: Während Gott ihnen Weg und Gesetz für ihr Leben klar vorgezeichnet hat, haben sie in ihrer ausschweifenden Begierde sich davon abbringen lassen. An das Vorhergehende schließt sich diese Bemerkung insofern an, als sie bestätigt, was dort gesagt wurde: so zügellos war ihr eigenwilliger Undank, dass sie sich ganz und gar von Gott losgesagt, dass sie mit vollem Bewusstsein sich abgewendet haben von dem Ziel, auf welches sich ihr Weg hätte richten sollen.

V. 5. Was soll man weiter an euch schlagen? Diese Frage wird meist so aufgefasst, als ob Gott sagen wolle, er habe keine Strafe mehr für sie. Auf alle nur mögliche Weise habe er versucht, sie auf den rechten Weg zurückzuführen, nun aber habe er kein Züchtigungsmittel mehr übrig. Eher aber dürfte zu übersetzen sein: Wozu soll ich euch weiter schlagen? d. h. was soll es für einen Zweck haben, wenn ich es tue? Der Prophet deutet an, dass die Juden in ihrer Gottlosigkeit und ihrem verbrecherischen Treiben so weit gegangen sind, dass eine Besserung durch Züchtigung unwahrscheinlich geworden ist. Wir wissen, wenn ein Mensch in seiner Verstockung aufs äußerste gekommen ist, so kann man ihn zwar noch brechen, kaum aber beugen und bessern. Und so beklagt sich auch Jesaja hier über die Hartnäckigkeit seines Volks. Es ist, wie wenn ein Arzt erklärte, nachdem er alle Mittel angewendet hat: Ich bin mit meiner Kunst am Ende. Zugleich enthalten aber diese Worte auch eine Anklage: denn wo die Strafe einen Verbrecher nicht wenigstens niederbeugt, da ist die Sünde auf den allerhöchsten Grad gestiegen. Gott will gleichsam sagen: Ich sehe, es ist umsonst, wenn ich euch gleich züchtige. Züchtigungen und Heimsuchungen sind sonst Mittel in Gottes Hand, uns zu bessern: wo sie nichts bei uns fruchten, ist keine Hoffnung mehr für uns. Freilich hört Gott darum nicht auf, uns zu strafen. Im Gegenteil, schärfer und schärfer lässt er seinen Zorn gegen uns walten, weil ihm nichts unerträglicher ist, als solche Hartnäckigkeit. Aber gleichwohl kann er mit vollem Rechte sagen, die Mühe ist vergebens, wenn sie uns nicht zur Besinnung und Sinnesänderung bringt; er kann sagen, dass alle Mittel vergeblich seien bei denen, die sich nicht heilen lassen wollen. So lässt er nicht ab, Heimsuchungen und Züchtigungen zu häufen und die äußersten Mittel anzuwenden, ja er wird gezwungen, solches zu tun, bis er endlich gänzlich vernichtet. Aber bei alledem ist sein Tun nicht das des Arztes, der Heilung schafft; und eben das ist's, was er bedauert, dass alle seine Züchtigungen dem Volke keine Heilung bringen werden.

So ihr des Abweichens nur desto mehr machet. Dieser Satz begründet die vorhergehende Frage und hat daher eine selbständige Bedeutung. Die Meinung ist: Ihr werdet doch nicht ablassen von euren Sünden, vielmehr euer Unrecht noch steigern. Denn ihr habt euch förmlich und feierlich verschworen zum Sündigen, sodass keine Hoffnung auf Besserung mehr vorhanden ist. Gott will zeigen, wie unverbesserlich ihr Sinn ist, an welchem jeder Versuch einer Erziehung scheitert, damit sie sich weiterhin nicht mehr entschuldigen können.

Das ganze Haupt ist krank. Andere übersetzen: „jedes Haupt“, und wollen damit die Vorsteher und Leiter des Volkes bezeichnet sehen. Ich neige mich mehr der Anschauung derer zu, welche übersetzen: das ganze Haupt. Es scheint mir nämlich, dass hier nur ein Vergleich mit einem menschlichen Körper angestellt wird, der so schwer erkrankt ist, dass keine Hoffnung mehr vorhanden ist. Die beiden wichtigsten Teile, von welchen die Gesundheit des Körpers vor allem abhängt, werden genannt, Haupt und Herz. Dadurch zeigt der Prophet, wie schwer die Krankheit ist, die das arme Volk bis zum Siechtum verzehrt hat. Nicht nur irgendein einzelnes Glied oder äußere Teile des Leibes sind angegriffen, nein, das Herz selbst ist verwundet und das Haupt ist aufs schwerste erkrankt: kurz die zum Leben notwendigsten Organe sind so durch und durch erkrankt, so beschädigt und zerfressen, dass ihre Heilung ganz unmöglich geworden ist. Übrigens gehen hier die Meinungen der Ausleger noch in anderer Beziehung auseinander: die einen verstehen diese Erkrankung von der Sündhaftigkeit des Volkes, die anderen beziehen sie auf die Strafen, welche ihm zugeschickt worden sind. Im ersteren Fall ist der Sinn folgender: Ihr gleicht einem verfaulenden, stinkenden Leibe, an dem nichts Gesundes und Reines mehr übrig ist. Verbrechen und Frevel gehen unter euch im Schwang, und alles ist dadurch vergiftet und verdorben. Besser aber ist es wohl, diese Worte auf die Strafen zu beziehen; denn ohne Zweifel stehen wir noch im Zusammenhang jener Klage Gottes, dass das Volk so hartnäckig sei und keine Strafe es bessern könne: dem Untergang nahe, durch die Schläge, die es erhalten hat, entstellt und aufs entsetzlichste zugerichtet, will es immer noch nicht sich der Buße zuwenden. Dazu stimmt aufs beste auch der folgende Vers, der denselben Vergleich weiter ausführt und in den Gedanken unseres Verses fortfährt.

Wer V. 5 von der Sünde des Volkes versteht, berücksichtigt den Zusammenhang des Ganzen nicht in der richtigen Weise. Angenommen nämlich, es werde hier das von Sünde verderbte Volk mit einem kranken Körper verglichen, was soll dann das gleich Folgende bedeuten: die Wunden seien nicht geheftet noch verbunden noch mit Öl gelindert? Hier spricht der Prophet doch ganz offenbar von den Plagen, unter denen das Volk nahezu zu Grunde gegangen war, und zeigt, wie seine Gleichgültigkeit angesichts solcher Heimsuchungen ein Zeichen der äußersten Unbußfertigkeit ist. Von Eiterbeulen ist hier die Rede, welche beständig eklige Flüssigkeit ausströmen lassen, einem verborgenen Brunnen gleich, der fortwährend neues Gift ausfließen lässt. Das Bild soll die Krankheit als eine unheilbare bezeichnen, als eine solche, deren Grund und Quelle man mit keinem Heilmittel beikommen kann. Eine nicht geringe Steigerung der Aussage enthält schließlich noch der Satz, dass Heilmittel nicht einmal versuchsweise angewendet worden seien. Die drei Züge des Bildes wirken einheitlich bei der Schilderung zusammen: die edelsten Teile sind angegriffen, im tiefsten Inneren ist der Sitz der Krankheit, Heilmittel sind nicht angewendet worden; so gibt es keine Hoffnung auf Erleichterung, keinen Trost und kein Gesundwerden mehr für dieses Volk, in dessen Heimsuchung und Strafe Gottes ganzer Zorn vor aller Welt sich geoffenbart hat.

V. 7. Euer Land ist wüste, wörtlich: es ist eine Wüstenei. Jesaja spricht hier eingehender und klarer über die göttlichen Strafen, von denen er im letzten Verse bildlich geredet hat. Das Land, heißt es zunächst, sei in der schrecklichsten Weise verwüstet worden. Alle diese Aussagen nämlich sind von der Vergangenheit zu verstehen. Der Prophet weist darauf hin, welche Gerichte bereits über das Volk gekommen sind, nicht aber will er hier die künftige Strafe Gottes drohend ankündigen. Es handelt sich noch immer um einen Tadel ihrer Gleichgültigkeit und ihres stumpfen Sinnes, auf den alle Strafen Gottes keinen Eindruck zu machen imstande sind. Eine Steigerung bedeutet es noch, dass das Land wüste ist, als das, so durch Fremde verheeret ist. Man könnte statt Fremde auch übersetzen: „Feinde.“ Allein eindrucksvoller und bezeichnender ist der Gedanke, wenn man hier bei dem eigentlichen Sinn des Wortes bleibt, und dieser ist „Fremde.“ Das Unheil ist schlimmer, wenn unbekannte, aus fernen Gegenden kommende Fremde ein Land verwüsten: denn solche pflegen noch unbarmherziger und grausamer zu wüten, als Nachbarn. Sie zerstören Städte und Dörfer; Gebäude und Niederlassungen werden angezündet, alles weit und breit verheert. Sie verwüsten aus Lust am Morden und Brennen und wollen weniger für sich etwas Bleibendes gewinnen, als Schaden anrichten. Nachbarn können ein unterworfenes Land besetzt halten und Abfall oder Aufruhr rasch unterdrücken: daher pflegen sie nicht so zu wüten und alles zu verheeren, da sie ja doch selbst aus dem eroberten Land Gewinn zu ziehen hoffen. Somit beschreibt der Prophet an unserer Stelle nicht eine gewöhnliche Niederlage, sondern die schrecklichste und vollkommenste Verwüstung.

Hier wollen wir darauf achten, wie Gott, wenn er uns straft und wir nicht Buße tun wollen, mit seiner Strafe nicht ruht noch innehält. Er sendet vielmehr neue und mannigfache andere Strafen und führt seine Sache unabänderlich gegen uns durch. Hüten wir uns daher vor solcher Hartnäckigkeit, damit wir nicht ähnliche Gerichte über uns bringen! Hüten wir uns, dass uns nicht derselbe Vorwurf treffe, wie die Juden: nämlich der, dass Gott uns wohl ernst gezüchtigt und seine Hand habe fühlen lassen, wir aber seien unverbesserlich und hartnäckig geblieben. Und auch darüber sollen wir uns nicht wundern, dass uns mitunter so schwere und mannigfaltige Heimsuchungen auferlegt werden, deren Ziel und Ende wir nicht absehen können: wir sind es, die in unserer Hartnäckigkeit gegen Gott und seine strafende Hand ankämpfen. Daher muss es uns dann auch ebenso ergehen, wie dem widerspenstig ausschlagenden Pferde, das nur desto mehr Schläge bekommt, dem sich der Sporn nur desto tiefer in die Weichen bohrt, je mehr es ungehorsam und wild zu sein versucht. Wie viele gibt es heutzutage, die sich beklagen über Gott, als der zu streng und grausam gegen sie sei, welche meinen, er könnte wohl etwas milder sein in seinen Züchtigungen, - wie schrecklich aber unsere Sünde ist, beachtet man nicht. Wenn man darüber ernstlich nachdenken wollte, so würde man gewiss bei aller Strenge Gottes doch seine übergroße Milde gegen uns anerkennen müssen. Im vorliegenden Fall braucht man nur an die Sünden zu erinnern, welche nachher aufgezählt werden, um zu erkennen, dass von einer übertriebenen Strenge Gottes nicht die Rede sein kann.

Doch muss hier noch eine andere Frage aufgeworfen werden. Wie kann Jesaja sagen, dass das Volk von so schweren Strafgerichten getroffen worden sei, während er doch, wie oben bemerkt, seine Wirksamkeit unter König Usia begonnen hat, unter welchem im Reiche Juda vollkommener Friede und Ruhe herrschte? Wir wissen allerdings, dass gegen Ende seiner Regierung das Reich Israel schwere Schläge erlitt (vgl. 2. Kön. 15, 19 ff.), doch wurde Juda in keiner Weise davon mit betroffen. Die jüdischen Ausleger beziehen daher unsere Weissagung auf die Zeit Jothams, nicht die des Usia. Wiewohl dies auf den ersten Blick wenig empfehlenswert erscheint, spricht doch eine genaue Erwägung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte sehr zugunsten dieser Annahme. Wir wissen ja bereits, dass bei der Sammlung der prophetischen Aussprüche die zeitliche Aufeinanderfolge nicht immer innegehalten worden ist. Und es ist möglich, dass diese Predigt Jesajas nur deswegen an den Anfang des Buches kam, weil sie den Hauptinhalt des Folgenden zusammenfasst. Andere glauben dieser Schwierigkeit auf einfache Weise entgehen zu können, indem sie alles Gesagte auf die Sünde, nicht auf die Gerichte und Strafen beziehen. Allein was von den verbrannten Städten und dem verwüsteten Lande gesagt wird, lässt sich doch nicht so einfach bei Seite schieben. Will jemand annehmen, der Prophet rede nicht von einem vorliegenden Zustand, sondern von einem zukünftigen, und weissage gleichsam aus Gottes ewiger Gegenwart heraus künftige Plagen, so mag er es tun, - wahrscheinlicher aber bleibt doch, dass er auf bekannte, vor Augen liegende Dinge hinweist. Es handelt sich um eine klare Beschreibung eines gegenwärtigen Zustandes, nicht um Weissagung, wenngleich zugegeben werden muss, dass der folgende Vers darauf hinweist, welches Ende für die Zukunft droht.

V. 8. Was aber noch übrig ist usw. Der Prophet bezieht sich hier, wie auch wir mitunter solche Beispiele anwenden, auf die Hütten in den Weinbergen, welche die Weinbergswächter aufschlagen, sobald die Trauben zu reifen beginnen. Der daneben stehende zweite Vergleich geht auf die damalige Sitte zurück, auch die Gurkenfelder durch Hüter bewachen zu lassen; zum Schluss wird noch erklärt, was mit diesen beiden Bildern gemeint ist. Übrigens kann auch dieser Vers in doppelter Weise erklärt werden. Die Meinung kann sein: die ganze Umgebung werde verwüstet werden und nur die Stadt allein unversehrt bleiben, wie eine Nachthütte im Weinberg; es kann aber auch gemeint sein, die Stadt selbst werde verwüstet und zerstört werden. Die erstere Ansicht ist die der jüdischen Ausleger, welche unsern Vers auf die Belagerung Sanheribs beziehen. Allein es ist wahrscheinlicher, dass der Sinn ein allgemeiner ist, mit anderen Worten, dass auch andere künftige Heimsuchungen und Gerichte gemeint sind. Man könnte ja immerhin daran denken, der Prophet wolle sagen, dass die Verwüstung der Umgegend Jerusalems auch dieser Stadt die schwersten Nachteile bringen werde, allein die eigentliche Meinung ist doch wohl die, dass das Unheil, von welchem bisher stets die Rede war, auch die Hauptstadt treffen werde, ja gerade sie, und so schwer treffen werde, dass sie in ihrem geschwächten und verringerten Zustand einer erbärmlichen unscheinbaren Hütte gleich wird. „Die Tochter Zion“ heißt Jerusalem hier wie oft in der heiligen Schrift, wo diese Ausdrucksweise sich häufig zur Bezeichnung aller möglichen Völker findet: auch von einer „Tochter Babel“, einer „Tochter Tyrus“ ist die Rede, und ist damit die Einwohnerschaft, die Bevölkerung der betreffenden Städte gemeint. „Tochter Zion“ steht aber für Tochter Jerusalem wegen der Bedeutung des auf dem Zion liegenden Tempels.

V. 9. Wenn uns der Herr Zebaoth nicht ein Weniges ließe überbleiben usw. Hiermit wird abgeschlossen, was von den göttlichen Strafen über Juda zu sagen war. So entsetzlich wird die Verwüstung sein, ja sie ist bereits so entsetzlich, dass man sie mit der Zerstörung Sodoms vergleichen könnte, wenn nicht Gott etliche dürftige Überreste aus dem allgemeinen Brand herausreißen würde. Dieser Vers bestätigt, was oben gesagt wurde. Indem der Prophet die Gerichte beschreibt, die bereits eingetroffen sind, berührt er auch das Ende, das unmittelbar bevorsteht. Er will etwa sagen: Lasst euch nur nicht betören durch eitle Reden! Dasselbe Schicksal wie Sodom und Gomorra stünde auch euch bevor, wenn Gott nicht aus Barmherzigkeit einen kleinen Rest von euch errettete. Der Sinn ist etwa derselbe, wie in dem bekannten Wort Jeremias (Klagel. 3, 22): „Die Güte des Herrn ist, dass wir nicht gar aus sind.“

Hierzu ist zweierlei zu bemerken. Einmal dies: Das Gericht, welches gedroht wird, ist gleichbedeutend mit vollkommener Vernichtung. Allein nachdem Gott einmal mit seiner Gemeinde und seinem auserwählten Volk in heilsgeschichtlicher Beziehung getreten war, wird durch besonderen Gnadenratschluss dieses Gericht doch wieder ermäßigt, es werden aus dem allgemeinen Untergang die, welche dem Herrn angehören, gerettet; freilich ist es nur ein geringer Überrest, von dem das gilt. Wenn nun Gott die Sünde der Juden mit so furchtbaren Strafen gerichtet hat, so mögen wir bedenken, dass es uns ebenso ergehen kann, wenn wir ihrer Hartnäckigkeit folgen. Hatte Gott sich dieses Volk geheiligt und aus allen andern auserwählt, warum sollte er uns mehr schonen, wenn wir vermessen in unserer Gottlosigkeit und Untreue beharren? Und vollends: was ist für ein Ende zu erwarten für die schmutzigen Laster, in deren Pfuhl sich weit und breit auf Erden die Leute weiden? Ganz gewiss kein anderes als das Ende Sodoms und Gomorras, die völlige Vernichtung, das endgültige Verderben. Nur dass Gott selbst hier seine Strafe in den Grenzen hält, welche die Rücksicht auf seinen ewigen Gnadenbund ihm zieht: hat er doch versprochen, dass seine Gemeinde ewig dauern werde. Auch ist zu beachten, dass diese schrecklichen und furchtbaren Drohungen an hartnäckige und unverbesserliche Menschen ergehen, an ein Geschlecht, dessen Sünden auch durch Strafen nicht gebrochen werden.

Weiter aber ist zu bemerken, was oben schon mit den Worten des Propheten Jeremia angedeutet wurde, nämlich dass es lediglich ein Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit ist, wenn wir nicht alle mit einem male gänzlich vernichtet werden. Wenn wir nämlich bedenken, wie groß die Gottlosigkeit ist, die überall herrscht, so müssen wir uns in der Tat wundern, dass überhaupt noch ein Mensch am Leben ist, dass sie nicht längst schon alle miteinander dahingerafft worden sind. Gott aber hält seine strafende Hand zurück, damit doch wenigstens eine kleine Gemeinde auf Erden erhalten bleibe. Eben diesen Grund deutet auch Paulus, gewiss der beste Ausleger unserer Stelle, an, wenn er im Briefe an die Römer (9, 29) auf dieses Wort des Propheten Jesajas verweist, um die Anmaßung der Juden zurückzuweisen. Sie sollen, sagt er, nicht wähnen, es genüge, von den Vätern abzustammen; sie sollen sich nicht ihres Namens rühmen, denn Gott könne mit ihnen ebenso ins Gericht gehen, wie mit ihren Vätern. Doch werde allerdings ein Rest durch seine Gnade errettet werden, und wozu? Damit die Gemeinde Gottes nicht gänzlich zu Grunde gehe. Aus Gnaden lässt Gott, wiewohl er um unserer Verstocktheit willen die schwersten Gerichte schicken muss, um uns zu bessern, doch wenigstens einen kleinen Rest übrig. So soll uns dieses Wort Jesajas in den schweren Zeiten der christlichen Kirche, da es oft aussieht, als sei es überhaupt aus mit ihr, ein kräftiger Trost sein; wir können und sollen beim allgemeinen Zusammenbruch unerschütterten Mutes fest stehen und gewiss sein, dass der Herr allezeit für seine Gemeinde sorgen werde.

Ein Weniges. Das hier im Grundtext stehende Wort bedeutet auch „beinahe“, man müsste es in diesem Falle zum Folgenden ziehen und übersetzen: Beinahe wären wir geworden wie Sodom usw. Näher aber liegt es, das Wort zum Vorhergehenden zu ziehen, wie auch in der Übersetzung geschehen ist; es hebt noch besonders hervor, dass der Herr nur einen geringen Überrest übrig ließ. Auch dieser Zug ist wohl zu beachten. Denn zu allen Zeiten pflegt man die Gemeinde des Herrn zu verachten, wenn sie nicht weit und breit die Erde erfüllt. Darum trotzen ihre heuchlerischen Feinde auf ihre eigene Macht, die Schwachen aber werden irre, wenn sich die Feinde so stolz gebärden dürfen. Hier aber können wir aus unserm Propheten lernen, dass man nicht nach der großen Zahl messen soll, es sei denn, dass jemand die Spreu dem Getreide deswegen vorziehen wollte, weil sie mehr ausmacht als dieses. Uns soll es genügen, wenn wir, mag die Zahl der Frommen noch so gering sein, nur überhaupt von Gott zu seinem auserwählten Volk gerechnet werden. Wir können uns trösten mit dem Wort des Herrn (Lk. 12, 32): „Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben.“

V. 10. Höret des Herrn Wort! Dieser Vers erklärt und begründet noch näher, dass Gottes Strafe keine grausame war: hatten sie doch eine viel härtere verdient. Denn allerdings bestand ein Unterschied zwischen der Strafe, die Sodom, und derjenigen, die Juda getroffen hatte, aber zwischen der Sünde beider bestand kein Unterschied. Billig hätte Gott sie ebenso hart strafen können wie Sodom, wenn er nicht Schonung hätte walten lassen. Dies aber geschah nicht, weil sie etwa weniger schwer gesündigt hatten, sondern war einzig und allein Gottes Barmherzigkeit zuzuschreiben. Wenn der Prophet die Leiter des Volks „Fürsten von Sodom“, das Volk selbst aber ein „Volk von Gomorra“ nennt, so will er damit nicht etwa eine Verschiedenheit beider ausdrücken, sondern gerade im Gegenteil ihre Gleichheit. Nur um im Ausdruck abzuwechseln, spricht er so: er will ja gerade sagen, sie seien einander genau ebenso gleich, wie Sodom und Gomorra sich glichen. Zwei verschiedene Klassen der Bevölkerung werden aufgezählt, aber weil Sodom und Gomorra von einander nicht verschieden waren, so werden auch sie eben auf diese Weise in eins zusammengefasst. Wenn man in dieser Meinung ein Urteil über dies Volk fällen soll, so wird man finden: sie passen aufs beste zueinander, wie Sodom und Gomorra; wie ein Ei dem andern, so gleichen sie sich, weder oben noch unten ist eine Spur von Schuldlosigkeit und Reinheit zu finden. – Damit beginnt der Prophet, den Juden die Maske vom Gesicht zu reißen; und er hatte Grund dazu. Alle Heuchler haben es an sich, dass sie die schönsten Mäntelchen sich umzuhängen wissen, um nur ja ihr wahres Wesen zu verbergen. Ganz so machte es auch jenes Volk allezeit. Gegen nichts hatten die Propheten so hart und schwer zu kämpfen, als gegen diese Neigung ihrer Zeitgenossen. Man rühmte sich einer durch und durch erheuchelten Frömmigkeit, man feierte Feste und war auf den Eifer in Zeremonien und äußerlichen Bezeugungen der Verehrung Gottes nicht minder stolz wie auf Abstammung und Zugehörigkeit zum auserwählten Volk. Man kann sich vorstellen, welchen Anstoß die harten Worte Jesajas erregten. Aber es war notwendig, die ganze Schändlichkeit ans Licht zu ziehen. Und darum donnert der Prophet die Heuchler umso gewaltiger nieder, je stolzer sie sich zu erheben gewohnt waren. Eine andere Weise, solchen Leuten gegenüber zu treten, führt auch heutzutage nicht zum Ziel.

Nimm zu Ohren unseres Gottes Gesetz. Das ist das Nämliche, was der Prophet soeben des Herrn Wort nannte. Ohne Zweifel fügte er die Erinnerung an das Gesetz mit Absicht bei, um damit den gänzlich verkehrten Meinungen der Heuchler entgegen zu treten. Sie glaubten nämlich, man könne Gott durch Opfer versöhnen, auch ohne Glaube und ohne Buße. Damit aber verstanden sie das Gesetz gründlich falsch. Wenn er nun sagt: „nimm zu Ohren unseres Gottes Gesetz!“ – so erinnert er daran, dass er nichts anderes vorbringen werde, als was Mose gelehrt habe, nichts Neues, keine Zusätze zum Gesetz. Sie sollten nur hören, was Gottes wahre Forderung sei, davon allein werde er treulich lehren. Sie sollten nicht glauben, sich mit dem Gesetz decken zu können, nicht glauben, sie könnten in ihrer eingebildeten Gerechtigkeit dem Herrn etwas vorspiegeln.

V. 11. Was soll mir die Menge eurer Opfer? Nunmehr lässt Jesaja Gott selbst reden und seinen Willen näher kundtun. Ein Gesetzgeber darf ja in der Tat sich nicht damit begnügen, nur Vorschriften zu erlassen, er muss ihnen auch die richtige Auslegung beifügen, damit kein Missbrauch mit ihnen getrieben werde. Die Vorwürfe, welche der Prophet dem Volke gemacht hatte, waren hart und schwer gewesen; es lässt sich kaum etwas denken, was schärfer und verletzender für sie hätte sein können, als das, was Jesaja gesagt hatte: rühmten sie sich doch ihrer Abstammung von Abraham und erhoben sie sich doch in der anmaßendsten Weise über die anderen Völker. Dem gegenüber scheint es wohl erklärlich, wenn sich der Prophet in besonderem Maß mit der Autorität Gottes selbst wappnet; wenn er ihnen zuruft: Wisset aber, dass ihr es nicht mit mir, sondern mit dem lebendigen Gott selbst zu tun habt!

Hierauf geht er daran, Gottes wahre Meinung bei den Opfergesetzen darzulegen. Gott gab sie nicht, weil er das Opfer als solches schätzte, sondern damit sie Zeichen und Mittel zur Bewährung der Frömmigkeit seien. Darum gehen die Juden gar sehr irre, wenn sie meinten, mit der Darbringung von Opfern sei alles geschehen, was der heilige Gott von seinem Volke fordere. Glaubten sie doch wirklich, ihrer Pflicht aufs beste genügt zu haben, wenn sie nur Opfertiere schlachteten; und wenn die Propheten auf anderem, Höherem bestanden, so beklagten sie sich über ungerechte Vergewaltigung. Der Herr aber spricht: Ich hasse und verabscheue diese Opfer, - fast zu scharf erscheinen uns die Ausdrücke, nachdem er doch selbst sie eingesetzt hatte. Allein zwischen den Geboten Gottes ist ein Unterschied: manche gelten an und für sich, manche weisen über sich selbst hinaus auf einen anderen Zweck. Wir wollen das an einem Beispiel klar zu machen versuchen. Das Gesetz befiehlt, Gott zu dienen und ihn anzubeten, weiter aber unserm Nächsten Gutes zu tun. Dies ist an sich Gott wohlgefällig und wird um seiner selbst willen verlangt. Anders ist es bei den religiösen Gebräuchen: dieselben sind Übungsmittel, die nicht um ihrer selbst, sondern um anderer Zwecke willen gefordert werden. Das Gleich gilt vom Fasten: denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken (Röm. 14, 17). Ebenso hat Gott die Vorschriften über Opfer und dergleichen, welche das Alte Testament enthält, nicht in dem Sinne gegeben, als ob er über ihre äußerliche Erfüllung hinaus überhaupt nichts zu fordern habe. Vielmehr sollte sich das Volk in ihnen üben und erziehen zur Frömmigkeit und allmählich tiefer und tiefer in die rechte Art der Gottesverehrung eindringen. Heuchler aber tun, als ob alles religiöse Leben in diesen äußerlichen Dingen aufgehe, sie erfüllen solche Vorschriften aufs Genaueste und halten sich für die heiligsten Leute, wenn sie sich nur recht lange und oft mit solchen Geboten Mühe machen. Und um den Ruf der Heiligkeit noch zu steigern, fügen sie zu dem, was gefordert ist, von sich aus noch neue Forderungen hinzu und ersinnen alle Tage etwas anderes und Besonderes. In Wahrheit aber treiben sie mit Gottes heiligen Einrichtungen den schändlichsten Missbrauch, weil es ihnen um das wahre Ziel derselben nicht im Mindesten zu tun ist. All ihr Treiben ist in Wahrheit nichts als eine Verkehrung der rechten Verehrung Gottes. Denn wenn es nur auf die leere äußerliche Handlung ankommt, was ist dann noch für ein Unterschied zwischen einem heidnischen Opfer und einem derartigen? Heidnische Opfer aber sind eine Gotteslästerung, weil sie nicht dem wahren Gott und nicht in der richtigen Absicht dargebracht werden. Daher musste Gott alle diese Leistungen des jüdischen Volkes verwerfen, obwohl er selbst in seinem Gesetz sie fordert. Denn das Volk beachtete nicht, in welcher Absicht und zu welchem Zweck diese Gesetze in Wahrheit erlassen waren. In dieser Hinsicht hatten die Propheten einen fortwährenden Kampf mit ihrem Volk zu bestehen, um diese Heuchelei zu entlarven; und immer wieder suchen sie zu zeigen, dass Gott mit solch äußerlicher Verehrung nicht zufrieden sein, mit solchen religiösen Gebräuchen nicht versöhnt werden kann. Die nämlichen Erfahrungen machen übrigens die Diener des Wortes noch heutzutage. Denn die Menschen messen Gott immer nach sich und glauben, dass man durch glänzende Leistungen äußerlicher Art ihn zufrieden stellen könne. Aber schwer, sehr schwer lassen sie sich dazu bringen, ihm rückhaltlos ihr Herz zu schenken. Wollen wir zur Erklärung unserer Stelle ein Wort des Propheten Jeremia (7, 22 f.) beiziehen! Er sagt: „Ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte, weder gesagt noch gebeten von Brandopfern und anderen Opfern; sondern dies gebot ich ihnen und sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein; und wandelt auf allen Wegen, die ich euch gebiete.“ Damit zeigt Jeremia, wie es bei allen solchen Gebräuchen einzig und allein auf den Gehorsam gegen Gottes Wort ankommt, und wie sie ohne diesen Gehorsam völlig eitel und unnütz sind; es ist dann, wie wenn man die Seele aus einem Leibe genommen hätte. Dasselbe sagt der 50. Psalm (V. 13): „Meinest du, dass ich Ochsenfleisch essen wolle oder Bocksblut trinken? Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde!“ Anderwärts spricht Jeremia (7, 4): „Verlasset euch nicht auf Lügen, wenn sie sagen: Hie ist des Herrn Tempel, hie ist des Herrn Tempel, hie ist des Herrn Tempel! Sondern bessert euer Leben und Wesen“ usw. Ebenso sagt der Prophet Micha (6, 7): „Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen Öls?“ Und gleich nachher: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Aus dem allen sieht man, dass diese äußeren religiösen Handlungen deswegen verworfen werden, weil sie vom Wort Gottes, ihrem eigentlichen Kern und Inhalt, ihrer Seele gleichsam, getrennt wurden. Wie blind sind die Menschen, die sich nicht davon überzeugen lassen wollen, dass alles, was sie tun, um Gott zu dienen, ganz unnütz ist, wenn es an der rechten Hingabe des Herzens fehlt! Und diesen Fehler begehen nicht etwa bloß die gewöhnlichen Leute, sondern nahezu alle Menschen, zumal die, welche sich selbst etwas Besonderes zu sein dünken. Wie tief solche Neigungen im Herzen wurzeln, zeigt uns auch die Hartnäckigkeit, mit welcher die römischen Irrlehren dieser Art und dieses Inhalts festgehalten werden. Hier an unserer Stelle aber spricht nicht ein Mensch, sondern Gott selbst, und stellt als seinen unabänderlichen Willen fest: die Menschen mögen tun, was sie wollen, - es ist alles verlorene Mühe und ein unfruchtbares Treiben, wenn sie den Herrn nicht im wahren Glauben anrufen.

V. 12. Wer fordert solches von euren Händen? Die beste Zurückweisung trügerischen Gottesdienstes ist es, zu zeigen, dass Gott selbst von alledem nichts wissen will, und dass es vergebens ist, ihm anzubieten, was er nicht gefordert hat. Er will nicht anders verehrt werden, als er es selbst geboten hat. Würden die Menschen es sich recht klar machen, dass sie dem Herrn nichts Nützliches oder Angenehmes von sich aus anbieten können, so würden sie sich auch nicht in derartigen Einfällen gefallen. Sie müssten sich erinnern, dass es auf den Gehorsam allein ankommt. Sie würden nicht so frevelhaft ihre Leistungen hervorkehren, deren der Herr nur spottet: denn ihm nützen sie wahrlich nichts, und er will auch nicht, dass als seine Forderung erscheine, was ohne seinen Befehl in vermessenem Sinn unternommen wird. Er kann es nicht dulden, dass menschliche Willkür an Stelle seines wirklichen Gebotes trete. Noch beschämender ist es, wenn Jesaja hinzufügt, dass das, womit sie Gott zu dienen meinen, ihn in Wahrheit verletzen muss: Ihr eifriges Besuchen des Tempels ist nichts als ein Zertreten seiner Vorhöfe. Es ist, wie wenn er von ihren heuchlerischen Gebeten sagen wollte: all ihr Schreien ist für mich nichts als unangenehmes Geräusch, das mir die Ohren schmerzen macht.

V. 13. Bringet nicht mehr Speisopfer vergeblich. Eine derartige Mahnung war sehr am Platze, um dem falschen Eifer in eitlem und nichtigem Gottesdienst Einhalt zu tun. Das Volk hätte wenigstens auf solche Mahnung hin zur Einsicht kommen können und sollen, wofern es überhaupt irgendeinem Zuspruch zugänglich gewesen wäre. Aber hier zeigt's sich eben: Wo die Heuchelei einmal von einem Herzen Besitz genommen hat, da wird die Unempfänglichkeit immer größer, so dass sogar Gottes eigene Warnung zuletzt nichts mehr hilft, mag er noch so deutlich es bezeugen, dass all dieser Aufwand und Mühe töricht und zwecklos ist.

Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel