Die Psalmen, Band 2 - Johannes Calvin - E-Book

Die Psalmen, Band 2 E-Book

Johannes Calvin

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Beschreibung

Johannes Calvin (10. Juli 1509 - 27. Mai 1564) war ein französischer Theologe, Pfarrer, Reformator und eine der Hauptfiguren bei der Entwicklung des Systems der christlichen Theologie, das später Calvinismus genannt wurde, einschließlich der Lehren von der Prädestination und der absoluten Souveränität Gottes bei der Rettung der menschlichen Seele vor Tod und ewiger Verdammnis. Die calvinistischen Lehren wurden von der augustinischen und anderen christlichen Traditionen beeinflusst und weiterentwickelt. Verschiedene kongregationalistische, reformierte und presbyterianische Kirchen, die sich auf Calvin als Hauptvertreter ihrer Überzeugungen berufen, haben sich über die ganze Welt verbreitet. Calvin war ein unermüdlicher Polemiker und apologetischer Schriftsteller, der viele Kontroversen auslöste. Mit vielen Reformatoren, darunter Philipp Melanchthon und Heinrich Bullinger, tauschte er freundschaftliche und tröstende Briefe aus. Neben seiner bahnbrechenden "Unterweisung in der christlichen Religion" schrieb er Bekenntnisschriften, verschiedene andere theologische Abhandlungen und Kommentare zu den meisten Büchern der Bibel. In diesem vorliegenden Werk befasst er sich mit der Auslegung der Psalmen. Dies ist der zweite von zwei Bänden.

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Die Psalmen

 

Band 2

 

JOHANNES CALVIN

 

 

 

 

 

 

 

Die Psalmen 2, J. Calvin

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849662738

 

Der Originaltext dieses Werkes entstammt dem Online-Repositorium www.glaubensstimme.de, die diesen und weitere gemeinfreie Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Wir danken den Machern für diese Arbeit und die Erlaubnis, diese Texte frei zu nutzen. Diese Ausgabe folgt den Originaltexten und der jeweils bei Erscheinen gültigen Rechtschreibung und wurde nicht überarbeitet.

 

Cover Design: 27310 Oudenaarde Sint-Walburgakerk 83 von Paul M.R. Maeyaert - 2011 - PMR Maeyaert, Belgium - CC BY-SA.

https://www.europeana.eu/item/2058612/PMRMaeyaert_ca16ddc552af4d10f3a4c3c4ae25ae9d95d6f453

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Psalm 74.1

Psalm 75.10

Psalm 76.14

Psalm 77.19

Psalm 78.26

Psalm 79.49

Psalm 80.55

Psalm 81.61

Psalm 82.69

Psalm 83.74

Psalm 84.80

Psalm 85.85

Psalm 86.91

Psalm 87.97

Psalm 88.103

Psalm 89.108

Psalm 90.127

Psalm 91. 136

Psalm 92.144

Psalm 93. 150

Psalm 94.152

Psalm 95.161

Psalm 96.167

Psalm 97.173

Psalm 98.178

Psalm 99.180

Psalm 100.184

Psalm 101.186

Psalm 102.191

Psalm 103.203

Psalm 104.212

Psalm 105.224

Psalm 106.240

Psalm 107.259

Psalm 108.269

Psalm 109.270

Psalm 110.282

Psalm 111.288

Psalm 112.293

Psalm 113.298

Psalm 114.301

Psalm 115.303

Psalm 116. 312

Psalm 117.319

Psalm 118.320

Psalm 119.330

Psalm 120.398

Psalm 121.402

Psalm 122.405

Psalm 123.410

Psalm 124.413

Psalm 125.416

Psalm 126.420

Psalm 127.424

Psalm 128.429

Psalm 129.433

Psalm 130.437

Psalm 131.443

Psalm 132.446

Psalm 133.456

Psalm 134.459

Psalm 135.461

Psalm 136.467

Psalm 137.470

Psalm 138.475

Psalm 139.479

Psalm 140.486

Psalm 141.490

Psalm 142.496

Psalm 143.498

Psalm 144.505

Psalm 145.511

Psalm 146.519

Psalm 147.524

Psalm 148.530

Psalm 149.534

Psalm 150.539

 

Psalm 74.

 

Inhaltsangabe: Die Heiligen klagen über die Verwüstung der Gemeinde, wodurch der Name Israel dem Untergang nahe gebracht worden war. Obschon aber aus ihren demütigen Bitten hervorgeht, dass sie alles Übel, das sie erdulden, ihren Sünden zuschreiben, so halten sie dennoch dem Herrn seinen Bund vor, in den er das Geschlecht Abrahams aufgenommen hat. Sodann erinnern sie sich daran, wie mächtig und herrlich er seine Güte offenbarte, da er die Gemeinde erlöste; und in der Hoffnung, die sie daraus schöpfen, bitten sie, Gott möge dem verderbten und kläglichen Zustande endlich abhelfen.

V. 1. Eine Unterweisung Asaphs. Die Bezeichnung des Psalms als eine „Unterweisung“ stimmt aufs Beste mit seinem Inhalt überein. Denn wenn dieser Ausdruck auch zuweilen angewendet wird, wo es sich um freudige Dinge handelt (z. B. Ps. 45), so deutet er doch meistens an, dass von Gerichten Gottes die Rede ist, durch welche die Leute gezwungen werden, in sich zu gehen und ihre Verfehlungen zu prüfen, auf dass sie sich vor Gott demütigen. Der Psalm ist nicht von David verfasst, wie aus der Inhaltsangabe leicht zu ersehen ist. Denn er war zu seinen Lebzeiten nicht in der Lage, eine solche Zerstreuung und Niederlage der Gemeinde beklagen zu müssen. Die, welche anderer Meinung sind, erklären, David habe hier von prophetischem Geiste Dinge ausgesprochen, die noch nicht geschehen waren. Allein da es wahrscheinlich ist, dass die meisten Psalmen von verschiedenen Verfassern erst nach Davids Tode gedichtet worden sind, so zweifle ich nicht, dass auch dieser Psalm dazu gehört. Von welchem Unglück jedoch hier geredet wird, ist weniger gewiss. Es bestehen darüber zwei Ansichten. Einige denken an jene Zerstörung von Stadt und Tempel, als das Volk unter Nebukadnezar nach Babel entführt wurde, andere an die Tempelschändung, die sich unter Antiochus ereignete. Jede Ansicht hat etwas für sich. Für die letztere spricht, dass die Gläubigen klagen, sie seien der Gnadenzeichen und Propheten nunmehr beraubt, während es ja hinlänglich bekannt ist, dass es zur Zeit der Wegführung des Volkes in die Verbannung viele angesehene Propheten gab. Wenn anderseits bald nachher gesagt wird, der Tempel sei verbrannt, die Schmuckstücke zerstört und nichts unversehrt geblieben, so passt das nicht auf die Zeit, da Antiochus seine wütende Tyrannei ausübte. Wenn nämlich auch der Tempel schmachvoll besudelt ward durch heidnische, abergläubische Gebräuche, so blieb doch das Gebäude unversehrt, und Holz und Steine wurden von keinem Feuer verwüstet. Einige behaupten allerdings, unter den Heiligtümern seien die Synagogen zu verstehen, in denen nicht nur zu Jerusalem, sondern auch in den übrigen Städten Judäas religiöse Zusammenkünfte stattfanden. Es ist auch möglich, dass die Gläubigen angesichts der schrecklichen Entweihung des Tempels sich durch dies traurige Schauspiel an jenen Brand erinnern ließen, durch den er von den Chaldäern zerstört worden war, und nun in Gedanken beide Unglückszeiten zusammenfassten. So wird denn die Vermutung die begründetere sein, nach der diese Klagen auf die Zeit des Antiochus gehen, weil damals die Gemeinde Gottes der Propheten ermangelte. Immerhin, wenn man lieber an die babylonische Gefangenschaft denken will, so ist auch dann der Knoten leicht zu lösen. Denn obgleich damals Jeremia, Hesekiel und Daniel lebten, so schwiegen sie doch bekanntlich für einige Zeit, indem sie ihren Beruf vorläufig erfüllt hatten, - bis dann am Vorabend der Befreiung Daniel wieder hervortrat und die Verbannten zur Heimkehr ermunterte. Darauf deutet offenbar Jesaja (40, 1) mit den Worten hin: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. “ Das zeitweise Schweigen der Propheten zeigt eben an, dass ihnen kein Wort in Betreff der Zukunft gegeben war.

Gott, warum verstößest du uns so gar? Falls diese Klage während der babylonischen Gefangenschaft geschrieben worden ist, so dürfen wir, obschon nach Jeremias Weissagung auf das 70. Jahr die Erlösung zu erwarten stand, uns nicht wundern, dass die Gefangenen vor übergroßem Überdruss an der langen Wartezeit täglich seufzten und der so lange Zeitraum ihnen unendlich dünkte. Diejenigen aber, die unter des Antiochus Grausamkeit litten, konnten, da ihnen keine Zeitbestimmung gegeben war, mit Grund über den unaufhörlichen Zorn Gottes klagen, besonders da sie sahen, wie die Feinde täglich widerwärtiger wurden und ihre eigene Sache immer schlimmer stand, so dass ihnen keine Hoffnung auf Trost mehr blieb. Da sie nämlich durch viele unglückliche Kriege, die bald nacheinander von ihren Nachbarn ausgingen, schon ohnehin geschwächt waren, kam es mit ihnen damals beinahe bis zur völligen Erschöpfung. Es ist aber zu bemerken, dass die Gläubigen, von den heidnischen Völkern gequält, ihre Augen dennoch zu Gott erheben, wie wenn nur dessen Hand ihnen diese Schläge erteilte. Sie wussten eben, dass nur durch Gottes Ungnade den Heiden solche Frechheit gegen sie gestattet war. In der Überzeugung also, dass sie nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern von Gottes gerechtem Gericht geschlagen werden, betrachten sie das als Ursache und Quell aller Übel, dass Gott, unter dessen Gnade sie ehemals glücklich gelebt, sie nun verworfen habe und sie fortan der Zugehörigkeit zu seiner Herde nicht mehr für würdig erachte. So oft wir also von Ungemach bedrängt werden, so sind es nicht blindlings auf uns geschossene Pfeile des Schicksals, sondern Gott ist es, der nach seinem verborgenen Willen diese Geißeln und Ruten über uns schwingt zur Züchtigung wegen unserer Sünden. Dass er „so grimmig zornig“ sich gebärde, ist übrigens aus der Empfindung unseres Fleisches geredet. Gott zürnt ja nicht im eigentlichen Sinne über seine Auserwählten, sondern wendet nur gegen ihre Schäden die Trübsale als Heilmittel an. Die Gläubigen aber, die diese Bedeutung der Strafen erkannt haben, werden vom Geiste beim Worte „Zorn“ an ihre Schuld erinnert. Wo also Gott an uns seine Vergeltung übt, da ist es an uns, zu erwägen, was wir verdient haben. Wir sollen uns sagen: Wenn auch Gott über die Empfindung von Jähzorn erhaben ist, so liegt es doch nicht an uns, wenn er nicht wider uns entbrannte, da ihn doch unsere Sünden so schwer gereizt haben. Nun aber nehmen die Gläubigen, um Erbarmung zu erlangen, ihre Zuflucht zum Gedächtnis des Bundes, in den sie als Gottes Kinder aufgenommen worden sind. Indem sie sich bezeichnen als „Schafe deiner Weide“, erinnern sie an die freie Wahl, durch die sie aus den Heiden ausgesondert wurden. Das wird im Folgenden noch deutlicher ausgedrückt.

V. 2. Gedenke an deine Gemeine. Sie rühmen sich, dem Herrn besonders anzugehören, nicht aus Verdienst, sondern weil Gott sie aus Gnaden angenommen hat. Eben darauf soll es deuten, dass Gott sie schon vor alters erworben hat: sie haben also die Stellung unter Gottes Regiment bereits ererbt, nicht etwa erst seit wenigen Monaten erreicht. Und je längere Zeit Gott gegen den Samen Abrahams seine Liebeserweisung fortgesetzt hatte, desto fester war ihr Glaubensstand begründet. Sie sagen also aus, sie seien von Anfang an Gottes Volk gewesen, d. h. seit der Zeit, da Gott einen unverletzlichen Bund mit Abraham aufgerichtet hatte. Dem wird noch die Erlösung beigefügt, durch welche die Annahme feierlich bestätigt wurde. Denn Gott hatte damals nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat seine Herrschaft geltend gemacht. Diese göttlichen Wohltaten halten die Kinder Israel sich selber vor als Grund ihres Vertrauens; und sie erwähnen sie auch vor Gott als deren Urheber, damit er sein Werk nicht im Stiche lasse. Im Vertrauen darauf nennen sie sich nun weiter den „Stab deines Erbteils“, d. h. das Erbteil, das er sich selbst zugemessen hat. Da man nämlich mit Messruten die Felder abzugrenzen pflegte, so spielt der Psalm auf jenen Brauch an. Andere setzen zwar statt „Stab“ lieber „Stamm“ im Sinne von Volksstamm. Aber ich ziehe jenen Vergleich vor, dass Gott durch einen geheimen Ratschluss Israel wie mit einer Messstange aus den übrigen Völkern zu seinem Eigentum aussonderte. – Zuletzt ist noch vom Tempel die Rede, in dem Gott zu wohnen versprochen hatte; nicht dass er seinem Wesen nach darin eingeschlossen wäre, wie schon öfters gesagt worden ist, - sondern weil die Gläubigen dort spürten, wie er nach seiner Güte und Gnade ihnen nahe und gegenwärtig war. Nun ist uns klar, woher das Volk des Herrn das Vertrauen zum Gebet nimmt, nämlich aus Gottes Gnadenwahl und seinen Verheißungen, sowie aus dem ihm anvertrauten Gottesdienst.

V. 3. Erhebe deine Schläge usw. Die Gläubigen bitten um einen tödlichen Gegenschlag wider die Feinde dafür, dass dieselben so grausam im Heiligtum Gottes gewütet haben. Sie wollen sagen, es sei nicht genug an einer bloß mäßigen Bestrafung für ein so gottloses und lästerliches Toben; die so feindselig gegen Gottes Tempel und Volk gehandelt, müssten vielmehr ganz vertilgt werden, dass ihnen keine Aussicht auf Wiederherstellung überbleibe, denn ihre Gottlosigkeit sei eine verzweifelte. Indem nun der Geist den Gläubigen dieses Gebet in den Mund gelegt, so können wir daraus entnehmen, wie überaus groß Gottes Liebe gegen uns ist, da er die uns zugefügten Beleidigungen so streng rächen will; ferner wir große Stücke der Herr auf seine Verehrung hält, dass er deren Verletzung ernstlich mit seinen Strafen verfolgt. – Was die einzelnen Worte anlangt, so übersetzen einige „Erhebe deine Schritte“ und legen den Sinn hinein: Herr, eile mit hochgehobenen Füßen, also schnell, herbei, die Feinde zu schlagen. Ich habe aber kein Bedenken getragen, mich denen anzuschließen, die statt „Schritte“ „Schläge“ setzen. Das letzte Stück des Verses wird von manchen anders erklärt, nämlich, dass der Feind alles im Tempel verwüstet habe. Mit Rücksicht auf die Satzbildung des Grundtextes wollte ich aber nicht von der bewährten, alten Lesart abweichen.

V. 4. Deine Widersacher brüllten. Mit Löwen werden die Widersacher verglichen zur Bezeichnung ihrer Wildheit, mit der sie überall gewütet und nicht einmal den Tempel verschont haben. Mit den Worten: Sie haben ihre Zeichen hingesetzt, wird die von den Feinden angetane Schmach angedeutet, da sie ihre Siegeszeichen aufrichteten zum hochmütigen Triumpf über Gott selbst. Wer irgend ins heilige Land eindrang, wusste, dass dort besonders der Dienst Gottes in Kraft stand; und der Tempel war sozusagen das Abzeichen der Gegenwart Gottes, wie wenn er dort seine Fahnen ausgesteckt hätte, damit jenes Volk ihm untertänig bliebe. Diesen Abzeichen, die das Volk Gottes von den heidnischen Völkerschaften schieden, setzt nun der Prophet die Zeichen entgegen, welche die Feinde zur Entweihung des Tempels hingesetzt hatten. Und um den Ausdruck der Entrüstung über solches lästerliche Tun der Feinde zu verstärken, setzt er dasselbe Wort zweimal.

V. 5 bis 8. Er war bekannt usw. Diesen besonderen Umstand fügt der Prophet bei, um noch schärfer die barbarische Wildheit der Feinde zu kennzeichnen, in der sie einen Bau, der mit so großem Aufwand aufgeführt, mit so viel Schönheit und Pracht ausgestattet, mit so viel Fleiß und Kunst ausgearbeitet war, auf rohe Weise zerstört haben. Die Worte sind etwas dunkel. Ihr Sinn läuft etwa darauf hinaus, dass beim Baum des Tempels rühmlichst bekannte Künstler beschäftigt waren, die das Holz zurichteten. Im Gegensatz zu dieser Bearbeitung ist dann vom dichten Gehölz die Rede. Es soll hervorgekehrt werden, mit welch ausgesuchter Kunstfertigkeit man den rohen und unebenen Stämmen eine edle Gestalt gegeben hatte. Mehr empfiehlt sich vielleicht noch eine andere Übersetzung: „Es wurde erkannt (und ausgewählt), der zur Höhe erhoben war“, - nämlich der Baum, den man für den Tempelbau aus dichtem Gehölz heraushieb[1].

Der nächste Vers schildert nun gegensätzlich, wie die Chaldäer rücksichtslos mit Äxten und Hämmern in ein solch herrliches Bauwerk eindrangen, als ob es ihr Vorsatz gewesen wäre, durch Zerstörung des prächtigen Baues Gottes Ehre mit Füßen zu treten.

Darauf klagt der heilige Sänger (V. 7) über den Brand des Tempels, wodurch derselbe ganz zerstört wurde, nachdem die Maschinen ihn erst halb in Trümmer gelegt hatten. Das Wort „Heiligtümer“ in der Mehrzahl deutet auf die Dreiteilung des Tempels in das Allerheiligste, das Heilige und den Vorhof. Denn dass nichts anderes als der Tempel gemeint ist, zeigen die unmittelbar folgenden Worte: die Wohnung deines Namens. Von Gottes „Namen“ aber ist die Rede, weil deutlich werden soll, dass er nicht seinem Wesen nach von dem Ort umschlossen war, sondern dass er nach seiner Kraft im Tempel wohnte, damit er daselbst vom Volk mit desto größerem Vertrauen angebetet würde.

Und um die Wildheit der Feinde noch anschaulicher darzustellen, führt uns der nächste Vers vor Augen, wie sie sich gegenseitig ermuntern, damit die Verwüstung keine mäßige sei. Wie wenn sie zum Schaden anrichten noch zu wenig Eifer hätten, stachelt einer den anderen noch an, damit sie ohne Ausnahme das ganze Volk Gottes verwüsten und vernichten. Zuletzt hören wir, dass alle Häuser Gottes im Lande, d. h. alle Synagogen, verbrannt wurden. Die Feinde waren so sehr darauf aus, den Namen Gottes auszutilgen, dass kein Winkel von ihnen unversehrt gelassen wurde. Als Gotteshäuser werden nicht unpassend alle die Orte angesehen, wo religiöse Zusammenkünfte stattfanden, nicht nur zum Lesen und Auslegen der prophetischen Schriften, sondern auch zum Anrufen des Namens Gottes. Die Feinde hatten also nichts unterlassen, um den Gottesdienst in Judäa zu vertilgen.

V. 9. Unsere Zeichen sehen wir nicht. Hier führen die Gläubigen aus, wie schwer ihr Ungemach ist, da es durch keinen Trost gemildert wird. Denn das Eine gereicht den Frommen vorzugsweise zur Aufrichtung des Gemüts, wenn Gott die Hoffnung auf eine Wiederherstellung gewährt mit der Verheißung, dass er noch während der Zornesoffenbarung seiner Barmherzigkeit gedenken werde. Unter den Zeichen verstehen einige die Wunder, durch die Gott einst dem heimgesuchten Volke bezeugte, er werde ihm immerdar gnädig sein. Die Klage der Gläubigen bezieht sich aber eher auf die Gnadenzeichen, die ihnen entzogen waren, indem Gott sein Antlitz gewissermaßen verbarg. Infolgedessen lastet auf ihrem Gemüt so tiefes Dunkel, dass ihnen auch nicht ein Funke von Trosteslicht erscheint. Weil aber eins der vorzüglichsten Gnadenzeichen darin bestand, dass von den Propheten eine künftige Befreiung verheißen wurde, so seufzen sie eben darüber, dass kein Prophet mehr da sei, der irgendein Ende des Unglücks voraussehe. Daraus geht hervor, dass den Propheten das Trostamt anvertraut war, damit sie die in Trauer versunkenen Gemüter mit der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit aufrichteten. Sie waren zwar die Herolde und Zeugen des göttlichen Zorns und hatten als solche die Unbeugsamen und Widerspenstigen mit Drohungen und Schreckworten zur Buße zu zwingen; allein, wenn sie die ganze Rache Gottes ohne Abstrich verkündigt hätten, so hätte ihre Unterweisung zum Untergang des Volkes ausschlagen müssen, während sie doch zum Heil desselben bestimmt war. Darum ist ihnen die Weissagung vom künftigen Ausgang aufgetragen, indem unter den zeitlichen Strafen Gottes väterliche Züchtigung vor Augen gestellt wird, welche die Traurigkeit mildert, wogegen ein unaufhörlicher Zorn Gottes die armen Sünder geradezu umbringen müsste. Darum wollen auch wir, wenn wir unter der Züchtigung Gottes Geduld und Trost suchen, unsere Blicke auf Gottes Milde heften lernen, mit der er uns zur Hoffnung einlädt, und so erkennen, dass Gott nicht so weit zürnt, dass er nicht unterdessen noch immer unser Vater wäre. Die Zurechtweisung aber, die uns das Heil bringt, mischt unter den Schmerz auch die Freude. Auf diesen Hauptpunkt ihre Belehrung zu richten, ließen sich alle Propheten angelegen sein. Denn wenn sie auch oft streng und hart verfahren, um des Volkes Trotz durch Furcht zu bezähmen, so fügen sie doch, sobald sie sehen, dass die Leute sich demütigen, einen Trost bei. Und einen solchen gibt es nicht ohne die Hoffnung einer künftigen Erlösung. Man fragt mich aber, ob denn Gott, wenn er bei seinen Heimsuchungen die Traurigkeit lindern will, den Seinen immer Jahr und Tag der Befreiung vorgerechnet habe. Darauf antworte ich: Die Propheten haben, wenn sie auch die Zeiten nicht immer näher bestimmten, doch öfters ein nahes Heil in Aussicht gestellt. Sie alle aber haben von der zukünftigen Wiederherstellung der Gemeinde gesprochen. Will anderseits jemand einwenden, das Volk habe in seiner Heimsuchung verkehrt gehandelt, dass es nicht die allgemeinen Verheißungen auf sich bezog, die ja sicherlich allen Jahrhunderten in gleicher Weise galten, so antworte ich: Gott pflegte jede Trübsalszeit jeweilen einen Boten der Erlösung beizugeben. Wo nun kein eigens abgesandter Prophet erscheint, da klagt das Volk nicht ohne Grund, dass ihm die gewohnten Gnadenzeichen fehlen. Es war denn auch bis zur Ankunft Christi in erster Linie nötig, in jedem Zeitalter das Gedächtnis der verheißenen Erlösung aufzufrischen, damit die Gläubigen auch in jeder Heimsuchung wüssten, dass Gott noch an sie denke.

V. 10 u. 11. Ach Gott, wie lange usw. Kein Schmerz quält die Gläubigen mehr, als wenn sie sehen, dass der Name Gottes dem Schimpf der Gottlosen ausgesetzt ist. Und so soll die vorliegende Bitte dazu dienen, in unseren Herzen das eifrige Verlangen nach Offenbarung der Herrlichkeit Gottes zu entzünden. Da wir nämlich von Natur gegen alles Übel, das es zu tragen gibt, nur zu empfindlich und weichlich sind, so beweist sich die rechte Frömmigkeit eben dadurch, dass wir die Schmach, die dem Herrn zugefügt wird, peinlicher empfinden als alles, was wir etwa selbst leiden. Ohne Zweifel wurden die unglücklichen Juden unter dem überaus wütenden Tyrannen und seinem rohen Volke auf mannigfache Weise verhöhnt. Aber der Prophet, der im Namen der ganzen Gemeinde spricht, rechnet all die Beschimpfungen, die sich über das Haupt des Volkes entluden, fast für nichts gegen die lästerlichen Beschimpfungen Gottes, ähnlich wie im 69. Psalm (V. 10): „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.“

Weil die lang dauernde Straflosigkeit die Gottlosen in ihrer Frechheit bestärkt, besonders wenn sie Gott lästern, und er doch tut, als hörte er es nicht, so fährt der Psalmist fort: Wie lange wendest du deine Hand ab? Die Absicht des Propheten in diesem Vers ist nicht unklar; doch gehen die Ausleger in der Erklärung der Worte auseinander. Möglichst genau ist der ganze Vers vielleicht am besten zu übersetzen: „Wie lange wendest du deine Hand und deine Rechte ab? Wirst sie doch wohl von deinem Schoß abziehen? Vertilge doch!“ – nämlich jene Gottlosen, die mit solchem Hochmut dich verachten!

V. 12. Gott ist ja mein König. Die Gläubigen mischen, wie wir das öfters beobachten, unter ihre Bitten eine Betrachtung, um daraus ihrem Glauben neue Kraft zuzuführen und sich zu eifrigem Bitten zu ermuntern. Ist es doch bekannt, wie schwer es hält, sich über alle Zweifel zu erheben, dass wir frei und ungehindert im unverzagten Beten fortfahren. Darum gedenken hier die Gläubigen der Beweise von Gottes Barmherzigkeit und Güte, womit er durch die ganze Reihe von Menschenaltern hindurch ununterbrochen sich als den König des erwählten Volkes bezeugte. Und weil ein bloßes Lippengebet, das nicht aus Glauben kommt, nicht genügt, so lehrt uns dieses Beispiel, uns immer wieder auf die Wohltaten zu besinnen, mit denen Gott seine väterliche Liebe gegen uns bestätigt hat, und die uns seine Gnadenwahl bezeugen. Die Bezeichnung „König“, die der Prophet dem Herrn beilegt, will offenbar nicht bloß allgemein besagen, dass Gott herrscht, sondern insbesondere, dass er die Leitung jenes Volkes dazu übernommen hatte, um dasselbe unversehrt darzustellen.

V. 13 bis 15. Du zertrenntest das Meer. Der Prophet stellt einige Heilstaten besonders merkwürdiger Art zusammen, die aber alle in Beziehung stehen zu jener ersten Errettung, wo Gott sein Volk aus der ägyptischen Tyrannei befreite. Von dieser besonderen Gnade, deren Gott seine Gemeinde gewürdigt hat, wendet er sich dann zu dem Wohlwollen, das Gott dem ganzen Menschengeschlecht erweist. Zuerst sagt er, Gott habe das Meer zertrennt oder durchschnitten. Einige halten dafür, die beiden Versglieder seien zu verbinden, so dass es hieße, Gott habe die Wale und andere Seeungeheuer dadurch getötet, dass er das Meer austrocknete. Nach meiner Meinung jedoch wird in bildlicher Rede Pharao und sein Heer bezeichnet. Solche Redeweise ist ja bei den Propheten durchaus gebräuchlich, besonders wo von den Ägyptern die Rede ist, deren Land von einem fischreichen Meer bespült und vom Nil durchflossen ist.

„Leviathan“ (V. 14)[2] ist eine nicht unpassende Bezeichnung für Pharao, der dort seine Herrschaft wie ein räuberisches Wassertier ausübte. Da nun Gott zu dem Zwecke seine Macht durch die Befreiung des Volkes kundgetan hat, damit die Gemeinde auf ihn die Hoffnung setze, dass er beständig über ihrem Heil wachen werde, so gilt diese Lehre nicht nur einem Geschlecht, sondern mit Recht auch den Nachkommen zur Stärkung ihres Glaubens. Wenn der Verfasser übrigens auch nicht alle Wundertaten Gottes beim Auszug des Volkes erwähnt, so meint er damit eigentlich doch all dasjenige, was bei Mose ausführlicher erzählt ist. Dass es heißt, der Leviathan sei dem Volk Israel zur Speise gegeben worden, und zwar in der Einöde, ist eine sinngemäße Anspielung auf Pharaos Untergang, weil die durch die Vernichtung der Feinde gewonnene Sicherheit so gut wie eine Speise zum Lebensunterhalt diente. Unter der Einöde ist aber nicht die Gegend am Meer zu verstehen, obwohl diese auch unfruchtbar und dürr ist, sondern die weit davon entfernten Wüsten. –

Im folgenden Vers wird derselbe Gedanke fortgesetzt, da es heißt: Du ließest Brunnen quellen, nämlich damals, als Wasser aus dem Felsen geholt wurde. Endlich wird beigefügt: Du ließest versiegen starke Ströme. Das geschah mit dem Jordan, als Gott dessen Wasser staute und seinem Volk einen Durchgang verschaffte.

V. 16 u. 17. Tag und Nacht ist dein. Der Prophet geht in seiner Aufzählung über zu den Wohltaten, die sich allgemein auf die Menschheit erstrecken, und erinnert so daran, dass Gott sich nicht nur dem auserwählten Volke als Vater erzeigte, sondern auch allen Sterblichen ein Wohltäter ist. Mit den vorliegenden Worten deutet er an, dass nicht von ungefähr Tag und Nacht in bestimmtem Wechsel aufeinander folgen, sondern dass diese Ordnung durch Gottes Entschluss festgesetzt worden ist. Er führt als Ursache an, dass Gott der Sonne die Kraft und das Amt, die Erde zu beleuchten, zugewiesen habe. Statt des Lichts setzt er nämlich die Sonne als dessen vornehmste Trägerin. Und da in dieser Weltordnung sich die unvergleichliche Güte Gottes gegen die Sterblichen glänzend zeigt, so begründet der Prophet passenderweise damit das Vertrauen auf Gott. Eben darauf zielt auch das, was er hierauf sagt von der Abgrenzung der Erde, von der wechselnden Wiederkehr von Winter und Sommer.

Dass Gott alle Grenzen der Erde setzt, wird schwerlich auf die Grenzen der einzelnen Länder gehen, sondern auf die äußersten Linien des Erdkreises, die durch keine menschliche Willkür verschoben werden können: Gott hat den Menschen ausreichenden Raum auf der Erde zugewiesen, dass sie als Gäste darauf wohnen können. Auch der Wechsel zwischen Winter und Sommer zeugt deutlich davon, wie gütig Gott für die Bedürfnisse der Menschen vorgesorgt hat. Daraus erkennt der Prophet richtig, dass es nichts Ungereimteres gibt, als zu meinen, Gott unterlasse es seines Vateramtes gegen seine Herde, seine Hausgenossen, zu walten.

V. 18. So gedenke doch des usw. Nachdem der Prophet die Macht und Kraft Gottes gepriesen und damit zugleich die Herzen der Frommen erhoben hat, kehrt er nun zum Zusammenhang seiner Bitten zurück und führt zunächst Beschwerde darüber, dass die Feinde Gott ungestraft lästern. Es sind Worte voll Nachdruck, wenn er sagt: „Gedenke doch“, wie es denn auch kein geringes Vergehen ist, mit dem heiligen Namen Gottes Gespött zu treiben. Als ein töricht Volk werden nicht etwa bloß unkluge, sondern verbrecherische und abscheuliche Menschen bezeichnet, Gottesverächter.

V. 19 u. 20. Du wollest nicht dem Tier geben die Seele deiner Turteltaube. Sehr zutreffend ist die Gegenüberstellung der Seele eines wehrlosen, furchtsamen Vögelchens und eines starken Heeres oder eines grausamen Tieres: das Wort im Grundtext ist nämlich doppelsinnig und kann „Schar“ oder Tier heißen. Die Gemeinde wird mit einer Turteltaube verglichen. Wenn nämlich auch die Gläubigen in etlicher Anzahl vorhanden waren, so kamen sie doch bei weitem nicht ihren Feinden gleich, waren vielmehr wie eine Beute in deren Gewalt. In der Fortsetzung des Verses: Gott möge der Herde seiner Elenden nicht vergessen, wo jenes doppeldeutige Wort in sinniger Weise wiederholt wird, ziehe ich vor, es im Sinne von „Schar“, „Herde“ zu nehmen. Denn der Prophet bittet, Gott wolle seine winzige Herde gegen die gewaltigen Scharen der Feinde beschützen.

Um aber Gott desto mehr zur Barmherzigkeit zu bewegen, mahnt er ihn (V. 20) an den Bund; wie das noch immer die Zuflucht der Heiligen in den höchsten Gefahren gewesen ist, dass sie ihre Hoffnung auf Rettung darauf gründeten, dass Gott sich eidlich verpflichtet hatte, ihnen ein Vater zu sein. Daraus entnehmen wir auch, dass es für unsere Bitten keine andere zuverlässige Stütze gibt, als dass Gott durch seine gnädige Erwählung uns zu seinem Volke angenommen hat. – Die Gläubigen erinnern nun wieder daran, welch harte Not sie bedrängt, indem überall Gewalttat und Bedrückung um sich greift, als ob jeder Ort eine Gelegenheit zum Plündern und eine Mördergrube wäre. Die „Schlupfwinkel des Landes“, sagt der Psalmist, weil die Gottlosen, so oft Gott sein Angesicht zu verbergen scheint, überall einen Schlupfwinkel für jegliches Verbrechen finden.

V. 21. Lass den Geringen nicht mit Schanden davongehen. Dieses Davongehen (von Gott weg) bedeutet so viel als leer von dannen gehen. Die Gläubigen bitten also, sie möchten nicht durch eine abschlägige Antwort zuschanden gemacht werden. Sie nennen sich Elende, Arme und Geringe, um Gottes Erbarmen zu erlangen. Es ist aber zu bemerken, dass sie nicht in leerer Einbildung so reden, oder ihr Elend übertrieben schwarz malen; sondern sie wahren durch so viel Kriegsunglück darnieder geworfen, dass nirgends in der Welt mehr Hilfe für sie übergeblieben war. Dieses Vorbild mahnt uns daran, dass, ob wir noch so sehr darnieder liegen, doch immer noch eine Abhilfe für unsere Bedürftigkeit vorhanden ist, indem wir Gott anrufen dürfen.

V. 22 u. 23. Mache dich auf, Gott. Nochmals bitten die Gläubigen, Gott wolle den Richterstuhl besteigen. Er möge sich „aufmachen“, will sagen, dass er nach seinem langen Zuwarten durch die Tat beweisen soll, dass er sein Amt durchaus nicht vergessen habe. Damit er aber mit desto größerem Ernste diese Sache übernehme, rufen sie ihn an als den Rächer seines Rechtes, wie wenn sie sprächen: Herr, hier handelt es sich um deine Sache und deine Angelegenheit. Darum ist ein Zögern nicht am Platz. Wieso es aber um Gottes eigene Angelegenheit geht, erklären die Gläubigen zugleich damit, dass er täglich von den Toren beschimpft werde. Die furchtbare Schwere des vorhandenen Übels wird noch mehr ins Licht gestellt durch den Umstand, dass die Toren, mit einem einmaligen Spott nicht zufrieden, ihre Spöttereien hartnäckig fortsetzen.

Darum bitten die Gläubigen zum Schluss, Gott wolle die Frechheit, mit der jene nicht nur seiner Majestät zu widersprechen wagen, sondern auch wilde Lästerreden gegen ihn ausstoßen, nicht vergessen. Denn auch, wenn sie das in mehr versteckter Weise tun, so missachten sie eben doch Gott und erheben sich gegen ihn in blindem Wahn und maßloser Aufgeblasenheit, wie die Sage es von den Giganten erzählt.

 

Psalm 75.

 

Inhaltsangabe: Der Psalm ist eine allgemeine Freudenbezeugung der Gemeinde auf Grund ihrer Erkenntnis, dass die Welt nur durch Gottes Rat regiert, sie selbst aber durch seine Gnade und Kraft gehalten werde. In diesem Vertrauen spottet sie der Verächter Gottes, die ihr toller Leichtsinn zu zügelloser Willkür treibt.

V. 1 u. 2. „Verderbe nicht“. Zu dieser Überschrift habe ich mich bei Ps. 57 genügend ausgesprochen[3]. Dem Verfasser forsche ich nicht lange nach.

Der Prophet, sei es nun David oder jemand anders, gibt sich gleich von Anfang an der Freude und Danksagung hin. Er wiederholt nachdrücklich die Worte: „Wir danken dir“, um auszudrücken, welch brennender Eifer ihn treibt, Gottes Lob zu singen. Den Zusammenhang der drei Glieder des 2. Verses fassen wir am besten folgendermaßen: „Wir preisen dich, Gott, weil dein Name nahe ist, darum verkündigt man deine Wunder. “ „Und“ steht nämlich öfters im Sinne von „weil“. Dadurch, dass Gott seine Kraft kundtut, öffnet er seinen Knechten den Mund, seine Werke zu erzählen. Zum Lobe Gottes ist also alle Ursache vorhanden, da Gott sich erweist als den, der gern mit seiner Hilfe den Seinen nahe ist. Unter dem Namen Gottes wird bekanntlich seine Macht verstanden, und sein „Nahesein“ bedeutet seine Hilfsbereitschaft gegen seine Knechte in der Not.

V. 3. Denn zu seiner Zeit. Dieser erste Teil des Verses kann auf zwei Arten übersetzt werden, nämlich: „Wenn ich die Gemeinde werde versammelt haben“ – oder wie oben steht. Sicher ist, dass Gott selbst redend eingeführt ist. Dabei haben beide Auffassungen einen guten Sinn, sowohl wenn es heißt, dass Gott sein Volk zuerst versammeln und dann die zerfahrenen Verhältnisse wieder zur gesetzlichen Ordnung zurückführen oder dass er zum Richten die geeignete Zeit sich vornehmen wolle. Wenn er sein Volk zeitweise der Willkür seiner Feinde übergibt, so scheint es, als ob er es sich selbst überlasse, wie eine Herde ohne Hirten. Es wäre also ganz passend, dass der Herr mit der Sammlung seiner Gemeinde den Anfang machte, wenn er die Heilung ihres verwirrten Zustandes in Aussicht stellt. Will man aber lieber übersetzen: „zu seiner Zeit“, dann haben wir es mit einer Mahnung Gottes zu tun: es gilt, geduldig auszuharren, bis er selbst die Zeit zur Abstellung des bösen Wesens für gekommen erachtet. Hat er doch allein Jahre und Tage in seiner Hand und hält die bestimmten Zeiten und Augenblicke aufs Beste ein. Ich neige mich in der Tat zu dieser Erklärung, dass gesagt werden soll, Gott habe seinem Willen vorbehalten, was die Menschen gern für sich in Anspruch nähmen, nämlich dass er dem Übel Zeit und Maß bestimme und zu rechter Zeit, wann er es für gut findet, sich aufmache, die Seinen zu befreien. – Dass hier Gott redend eingeführt wird, um auf die Bitten der Gläubigen zu antworten, darf uns nicht auffallen; denn diese Wendung des Gedankens ist viel wirksamer, als wenn der Prophet einfach gesagt hätte, Gott werde zu seiner Zeit Rächer seiner Gemeinde sein und sie aus der Zerstreuung und Zerrissenheit zusammenbringen. Die Worte deuten hauptsächlich an, dass, wenn Gott den Seinen auch nicht sogleich zu Hilfe eilt, er sie doch niemals vergisst, sondern die bereitstehende Abhilfe nur auf die geeignete Zeit verschiebt. „Recht richten“ heißt so viel als den gestörten und ungeordneten Stand der Dinge zurechtbringen, wie Paulus sagt (2. Thess. 1, 6), es entspreche der Gerechtigkeit Gottes, den Zerschlagenen Erquickung zu geben und die, welche die Unschuldigen quälen, ihrerseits zu schlagen. Gott verkündet also, dass es seine Sache ist, der Verwirrung Einhalt zu tun und die Ordnung herzustellen. Diese Erwartung soll uns in allen Nöten aufrecht halten und trösten.

V. 4. Aufgelöst ist die Erde usw. Dieser Vers, der in engem Zusammenhang mit dem vorigen steht, besagt ganz einfach: Auch wenn die Erde aus Rand und Band geht, steht es dennoch in Gottes Macht, sie zu stützen. So wird die Aussage bekräftigt, dass Gott zu gelegener Zeit sich als einen gerechten Richter erzeigen werde. Sei es ihm doch ein Leichtes, auch ein zerfallenes Weltgebäude wiederherzustellen. Dabei spielt der Prophet ohne Zweifel auf die bestehende Einrichtung der Natur an: obgleich die Erde im Himmelsraum den untersten Ort einnimmt, auf welcher andern Grundlage ruht sie doch, als auf der Luft, in der sie hängt? Ferner: es dringen durch ihre Adern so viele Wasser; müsste sie nicht auch selbst zerfließen, wenn sie nicht durch die verborgene Kraft Gottes festgehalten würde? Aber über diese Anspielungen hinaus steigt der Prophet zu einem noch höheren Gedanken empor: selbst wenn der Weltkreis eingefallen wäre, so stünde es bei Gott, ihm neue Festigkeit zu verleihen.

V. 5 u. 6. Ich sprach zu den Tollen usw. Nachdem der heilige Sänger sich und anderen Gläubigen vor Augen gehalten hat, was Gottes Amt ist, triumphiert er nun über alle Gottlosen, die er mit scharfem Tadel als toll und blindwütig bezeichnet, weil sie Gott verachten und sich selbst ohne Maß erheben. Dieser sein heiliger Stolz stützt sich auf das Gericht, von dem er im Namen Gottes verkündigt hat, dass es bevorstehe. Denn solange die Gläubigen Gottes Gericht erwarten und überzeugt sind, dass es nahe sei, hören sie auch mitten in Bedrückung nicht auf, sich des Herrn zu rühmen. Mag auch die Wut der Gottlosen aufwallen und in Strömen sich gegen die Gläubigen ergießen, um sie womöglich zu überwältigen, so genügt es ihnen, dass Gottes Hand ihr Wohlergehen beschützt und dass er mit Leichtigkeit jeden Stolz unterwerfen und die eitlen Anschläge zunichtemachen kann. Die Gläubigen verachten und verlachen, was irgend Gottlose unternehmen und betreiben, und befehlen ihnen, von ihrer Raserei abzustehen. Sie geben damit zu verstehen, dass solche Leute vergeblich toben wie Irrsinnige, die von ihrem Wahnsinn hin und her getrieben werden. Man achte darauf, dass der Hochmut als die Ursache oder die Mutter der Frechheit dargestellt wird, wie es auch durchaus wahr ist, dass die Menschen auf keinem andren Wege so jählings zu Grunde gehen, als wenn sie in blindem Hochmut sich allzu viel herausnehmen.

Da aber diese Sucht nicht leicht aus den Herzen der Leute herauszureißen ist, sagt der Prophet zweimal: Hebet euer Horn nicht hoch. Weiter sollen sie keine frechen Reden führen; denn das ist mit dem „steifen Halse“ gemeint, indem hochmütige Menschen, wenn sie ihre Drohungen ausstoßen, sich stolz aufrichten.

V. 7 u. 8. Denn weder vom Aufgang usw. Das beste Mittel gegen Stolz. Der Prophet erinnert daran, dass alle wahre Erhöhung nicht von der Erde kommt, sondern von Gott allein. Das nämlich nimmt allermeist die Sinne der Menschen gefangen, dass sie nach allen Seiten hin spähen und von überall her Schätze und Hilfsmittel an sich ziehen, um dann im Vertrauen darauf ihre Lust befriedigen zu können. Weil sie sich also nicht von der Welt scheiden, so versichert der Prophet, dass sie auf sehr falschem Wege sind, indem Erhöhung und Erniedrigung allein in Gottes Hand stehen. Das scheint zwar gegen die allgemeine Erfahrung zu streiten, da ja die meisten Leute, sei es durch ihre Schlauheit, sei es durch Ansehen und Gunst beim Volk oder andere irdische Mittel zu den höchsten Ehrenstellen gelangen.

Auch die Begründung (V. 8): Denn Gott ist Richter – erscheint darum leicht bedeutungslos. Aber wenn auch viele teils durch schlimme Kniffe, teils durch Unterstützungen seitens des Volkes emporsteigen, so geschieht das doch nicht ohne tieferen Grund, sondern nach Gottes verborgenem Rat kommen sie so auf, damit er sie bald hernach wie Auskehricht oder Spreu zerstäube. Nun schreibt der Prophet nicht einfach dem Herrn das Gericht zu, sondern bestimmt näher, wie dasselbe vor sich geht: Gott erniedrigt den einen und erhöht den andern und ordnet auf diese Weise die menschlichen Dinge nach seinem Wohlgefallen. So werden die hochfahrenden Geister am besten gedemütigt, weil die Willkür der Ungläubigen daher rührt, dass sie Gott gleichsam im Himmel einschließen und sich der Meinung hingeben, als würden sie nicht durch seine geheime Vorsehung gezügelt. Auch stellen sie Gottes Regierung in Abrede, um freie, offene Bahn für ihre Lüste zu haben. Damit wir also nüchtern und bescheiden uns mit unserem Stande begnügen lernen, beschreibt der Psalm so deutlich Gottes Gericht und die Weise seiner Weltregierung, wonach es ihm zusteht, unter den Menschen zu erhöhen oder zu erniedrigen, welche er will. Daraus folgt, dass Leute, die in ihrem eitlen Sinn sich vermessen, ohne Umstände sich zu jeder beliebigen Höhe zu erheben, dem Herrn sein Recht und seine Macht, so viel an ihnen liegt, rauben. Das geht nicht nur aus ihren wahnwitzigen Anschlägen deutlich hervor, sondern auch aus ihrer lästerlichen Prahlerei. Wer wird mich hindern, wer wird mir entgegentreten? Als ob nicht Gott mit einem einzigen Winke jeden Augenblick ihnen könnte tausend Hindernisse entgegenstellen und damit die Gewalt ihrer Angriffe brechen! Wie aber gottlose Leute mit ihrer Vermessenheit und ihren verkehrten Ratschlüssen dem Herrn seine königliche Ehre zu rauben suchen, so verfehlen auch wir uns, so oft wir durch ihre Drohungen uns allzu sehr erschrecken lassen. In unserm schlimmen Unglauben halten wir Gottes Regierung für beschränkt. Sobald sich ein Aufruhr regt, entsetzen wir uns, gerade als ob ein Blitz vom Himmel uns getroffen hätte. Eine solche Verzagtheit beweist zur Genüge, dass wir die Bedeutung von Gottes Weltregierung noch nicht recht erfasst haben. Wir würden uns freilich scheuen, ihm den Richtertitel nehmen zu wollen, ja es würden sich alle Gemüter entsetzen ob solcher Lästerung. Aber während die natürliche Empfindung uns das Bekenntnis abnötigt, dass Gott der Richter und König der Welt ist, träumen wir von einer Art von müßigem Weltregiment, bei dem er doch das Menschengeschlecht weder mit seiner Macht noch mit seinem Willen regiert. Übrigens, wer den Grundsatz festhält, dass Gott nach seinem Gutfinden über alle Sterblichen beschließt und den einzelnen ihr Schicksal bestimmt, der wird sich nicht bei irdischen Hilfsmitteln aufhalten. Der Nutzen aber dieser Lehre ist, dass die Gläubigen sich ganz dem Herrn unterwerfen und nicht in eitlem Selbstvertrauen sich überheben. Sehen sie aber die Gottlosen in ihrem frechen Sinn, so sollen sie unbedenklich deren törichte und unsinnige Dreistigkeit verachten. Wiewohl nun Gott die höchste Herrschergewalt innehat, so wird er doch hier als Richter bezeichnet, damit wir wissen, dass er mit vollkommener Gerechtigkeit die Geschicke der Menschen leitet, auf dass ein jeder nicht nur sich aller Unbill und Übeltat enthalte, sondern auch, wo er selbst unrecht leidet, seine Zuflucht zu Gottes Richterstuhl nehme.

V. 9. Denn der Herr hat einen Becher usw. Aus dem Gericht, von dem er soeben sprach, zieht der Prophet nun die genauere Nutzanwendung für die Frommen. Er bestätigt, dass Gott regiert und keine Übeltat ungerächt lässt; wo aber frevlerische Menschen sich zügellos gebärden, da zieht er sie zur verdienten Strafe. Daraus geht wiederum hervor, wie wir uns die Vorsehung Gottes zu denken haben, nämlich dass er unser Leben bis in die kleinen Einzelheiten lenkt. Der Prophet zeigt uns einen Becher in Gottes Hand, mit dem er die Frevler trunken macht. Damit wird ausgedrückt, wie unglaublich schnell die göttliche Rache wirkt, gleich einem starken Wein, der rasch und heftig in den Kopf steigt und Betäubung oder hitziges Fieber verursacht (vgl. Spr. 23, 31 f. ). Auch die übrigen Worte des Verses stimmen dazu und führen aus, wie die Gottlosen dem Schicksal nicht entfliehen, sondern den Zornesbecher, den Gott ihnen vorgesetzt, bis auf den letzten Tropfen ausschlürfen müssen.

V. 10 u. 11. Ich aber will verkündigen usw. Dieser Schluss des Psalms zeigt, dass die Gläubigen sich glücklich preisen, im Ungemach Gott als Retter erfahren zu haben. Denn es ist offenbar ihr eigenes Erlebnis, das sie in Erzählung und Lied kundtun.

Und sie entnehmen daraus auch, dass sie durch Gottes Hilfe alle Hörner, d. h. jegliche Macht, der Gottlosen zerbrechen werden. Denn sie sind ihrerseits durch Gottes Gerechtigkeit und Güte genügend ausgerüstet, um ihr Wohl zu schützen. „Dass die Hörner des Gerechten erhöht werden“, will nämlich sagen, dass die Kinder Gottes durch ein rechtschaffenes und unschuldiges Leben sich mehr Schutz verschaffen, als wenn sie trachten würden, auf allerlei frevelhaften Wegen emporzukommen.

 

Psalm 76.

 

Inhaltsangabe: Hier wird Gottes Gnade und Wahrheit gefeiert, da er gemäß seiner Verheißung, er werde der Wächter der Stadt Jerusalem sein, dieselbe mit wunderbarer Macht gegen kampflustige und überaus kriegskundige Feinde verteidigt hat.

V. 1. Wahrscheinlich ist dieser Psalm lange nach Davids Tod gedichtet worden; so glauben manche, es werde die Geschichte jener Rettung beschrieben, die unter dem König Josaphat im Streit mit den Ammonitern sich zutrug (2. Chron. 20). Aber ich bin zu einer anderen Erklärung geneigt: die Assyrer nämlich drangen unter der Führung Sanheribs nicht nur in Judäa ein, sondern griffen auch die Hauptstadt des Reiches selbst heftig an. Und wir wissen, auf welch wunderbare Weise dieselbe von der Belagerung erlöst wurde. Mit einer fürchterlichen Niederlage zerstörte Gott durch Engelhand jenes Heer in einer Nacht (2. Kön. 19, 55). Der Prophet sagt also nicht unpassend, Gott habe dort Pfeile, Schwerter und Schilde zerbrochen. Das aber ist vor allem zu bemerken, dass Gottes beständige Fürsorge zum Schutze seiner erwählten Gemeinde gepriesen wird, damit die Gläubigen ohne Zaudern sich seines Schutzes rühmen.

V. 2 u. 3. Gott ist in Juda bekannt. Am Anfang des Psalms erinnert der Prophet daran, dass es nicht Menschen zu danken sei, wenn die Feinde in Verwirrung geraten und geflohen waren, sondern der denkwürdigen Hilfe Gottes. Denn woher kam die Kenntnis Gottes und die Herrlichkeit seines Namens, von welcher die Rede ist, als daher, weil Gott seinen Arm in ungewohnter Weise geoffenbart hatte, um öffentlich zu beweisen, dass Stadt und Volk unter seinem väterlichen Schutze stehen. Der Prophet sagt also, die Herrlichkeit Gottes sei öffentlich kund geworden durch die so wunderbare Niederwerfung der Feinde. Im folgenden Vers deutet er den Grund an, warum Gott die Assyrer zu Boden schlug und so die Stadt seiner Verteidigung und seines Schutzes würdigte, nämlich weil er dort sich seinen Wohnsitz erwählt hatte, an welchem sein Name sollte angerufen werden. Überhaupt hätten die Menschen sich keinerlei Verdienst an dieser Befreiung zuzuschreiben, da ja Gott selbst sich geoffenbart und seine Macht sichtbar vom Himmel her erzeigt habe. Allein durch die Rücksicht auf seine freie Gnadenwahl ist Gott bewogen worden, sich den Feinden entgegen zu stellen. Da er nun auf diese Weise bezeugt hat, dass seine Kraft, mit der er die Gemeinde erhält, unbesiegbar ist, so ermuntert hier der Prophet die Gläubigen, sicher und ruhig auf Gottes Schutz zu vertrauen. Denn wenn Gott auf seinen Namen Wert legt, so ist es kein geringes Glaubenspfand, wenn wir hören, er wolle selbst, dass man die Größe seiner Kraft an der Rettung seiner Gemeinde erkenne. Ja, wenn die Gemeinde ein bevorzugter Schauplatz der Herrlichkeit Gottes ist, müssen wir uns beständig sorgfältig hüten, dass die ihr erwiesenen Wohltaten, zumal da deren Gedächtnis durch alle Jahrhunderte hindurch frisch bleiben soll, nicht durch unsern Undank verschüttet werden. Wenn auch jetzt die Verehrung Gottes nicht mehr an einen sichtbaren Tempel gebunden ist, so wohnt er doch durch Christus in unserer Mitte und in uns selbst: darum werden wir, so oft es nötig ist, ohne Zweifel erfahren, dass wir unter seinem Schutz sicher und geborgen sind. Wenn das irdische Heiligtum zu Jerusalem Heil verschaffte, so wird der Herr heutzutage nicht minder Sorge zu uns tragen, da er uns gewürdigt hat, dass wir seine Tempel sein sollen, in denen er durch seinen Geist wohnt. Die Stadt wird mit dem kurzen Namen Salem genannt, den sie vor alters trug (1. Mo. 14, 18).

V. 4 u. 5. Daselbst zerbrach er usw. Der Psalmist gibt nun näher an, auf welche Weise Gott sich bekannt gemacht hat, nämlich indem er durch die Rettung der Stadt ein wunderbares Beispiel von seiner Macht gab. Dabei wird die Niederwerfung der Feinde in bildlich-anschaulicher Rede dargestellt: Gott zerbrach Pfeile, Schild, Schwert, kurz alle für den Streit dienlichen Werkzeuge. Die Meinung ist, dass den Feinden die Kraft entrissen wurde, Schaden zu tun. Diese bildliche Darstellung ist also nicht unpassend, obschon die Feinde selbst niedergemacht und vernichtet wurden, wobei ihre Ausrüstung unversehrt bleiben konnte.

Es wird nun weiter gesagt (V. 5), Gott sei herrlicher und mächtiger denn die Raubeberge. Mit dieser Bezeichnung sind die gewalttätigen und raublustigen Königreiche gemeint, die ja bekanntlich seit Anbeginn ihre Grenzen umso mehr erweitert haben, je besser sie sich aufs Rauben verstanden. Jene großen Könige also, die ihre Herrschaft durch Gewalt und Mord erweitert hatten, vergleicht der Psalmist mit wilden Tieren, die vom Raube leben, und ihre Reiche mit waldigen Bergen, dem Gebiet der Raubtiere. Mochten denn auch die Feinde Jerusalems gewohnt sein, Gewalttat nach allen Seiten zu verüben, so ist doch, wie der Prophet versichert, Gott weitaus mächtiger, als sie alle. Die Gläubigen mögen sich also nicht vom Schreck vor ihnen übermannen lassen.

V. 6 u. 7. Die Stolzen wurden beraubt usw. Mit neuer Redewendung wird die Kraft Gottes erhoben, die er durch die Vertilgung seiner Feinde bewiesen hat. Die weiteren Aussagen des Verses haben denselben Sinn wie die ersten Worte; so wenn wir lesen: die Starken fanden ihre Hände nicht, d. h. sie waren zum Kämpfen nicht fähiger, als wenn ihre Hände verstümmelt und abgehauen worden wären. Der Sinn ist der, dass ihre Kräfte, deren sie sich rühmten, niedergeworfen waren. Und dasselbe bedeuten die Worte: sie entschliefen. Also sie, die zuvor so munter und rüstig gewesen, sind nun durch Mutlosigkeit und Entkräftung wie betäubt. Geraubt ist also, sagt der Prophet, den Feinden ihre Heldenkraft, auf die sie pochten und die sie so dreist gemacht hatte. Sie ist ihnen so ganz genommen worden, dass Verstand und Herz und Hände und alles andere an ihnen den Dienst versagte. Damit empfangen wir die Erinnerung, dass alle Tüchtigkeit, die man irgend an Menschen sieht, in Gottes Hand steht, so dass er imstande ist, stückweise bald die Überlegungskraft, die ja von ihm verliehen ist, ihnen wieder zu entreißen, bald die Herzen zu entmutigen oder die Hände kriegsuntauglich zu machen und die ganze Kraft aufzureiben. Und absichtlich wird an den Feinden sowohl ihre Beherztheit als ihre Macht hervorgehoben, damit die Gläubigen, im Gegensatz dazu, lernen, Gottes Vollkommenheit zu rühmen.

Denselben Gedanken bestätigt der Psalmist aufs Neue, indem er sagt, vor dem Schelten Gottes seien Wagen und Ross betäubt worden. Mit anderen Worten: Was die Feinde an Tüchtigkeit besaßen, wurde durch einen einzigen Wink Gottes niedergeworfen. Ob uns also auch alle Hilfsmittel verlassen, - die Gunst Gottes soll uns genug sein. Er bedarf ja nicht großer Kriegsscharen, um die Angriffe selbst einer ganzen Welt zurückzuwerfen: mit einem bloßen Hauch kann er sie zerstreuen.

V. 8. Du, du bist erschrecklich. Das wiederholte „du“ hat einen ausschließenden Sinn, wie wenn es hieße, alle Macht auf Erden werde ohne Mühe ausgeblasen und sinke in nichts zusammen, wenn Gott sich kundgibt. Also sei mit Recht nur er zu fürchten. Das wird auch bestätigt durch die Vergleichung, die in den folgenden Worten ausgesprochen ist. Da sagt nämlich der Psalmist: wenn auch die Gottlosen zum Bersten voll Hochmut sind, so können sie doch Gottes Anblick nicht von fern aushalten. Aber weil Gott sich zuweilen den Anschein gibt, als sei er ein müßiger Zuschauer, so betont der Prophet mit Nachdruck, dass allen Gottlosen, sobald Gott anfängt zu zürnen, der Zusammenbruch bevorstehe. Wenn sie also auch eine Zeitlang nicht nur bestehen, sondern mit ihrer Raserei sich bis über die Wolken erheben, so ermahnt uns der Prophet, die Zeit der Offenbarung des göttlichen Zorns abzuwarten. Auch dies wollen wir uns einprägen, dass er den Gottlosen mit dem Schrecken droht, um die Gläubigen freundlich zum Herrn zu locken.

V. 9. Wenn du das Urteil lässest hören vom Himmel usw. Dass Gottes Urteil „vom Himmel“ ergeht, deutet mit großem Nachdruck auf seine unverkennbare Deutlichkeit: man kann es nicht auf Rechnung des Zufalls oder menschlicher Bemühungen setzen. Manchmal übt nämlich Gott seine Gerichte im Verborgenen aus, wie wenn sie aus irdischen Zuständen erwüchsen. Wenn er z. B. einen frommen und verständigen Fürsten erweckt, so ist die reine und gesetzestreue Regierung, die alsdann in Kraft tritt, auch eine gnädige Heimsuchung Gottes; aber diese erscheint dann nicht als ein glänzendes, vom Himmel hervorgehendes Gericht. Weil also jene Hilfstat Gottes von ungewöhnlicher Art war, wird sie auch mit besonderer Lobpreisung ausgezeichnet. Darauf bezieht es sich auch, dass Gott sein Gericht „hören“ lässt. Denn es ist wirksamer, wenn die göttlichen Gerichte mit deutlichem Schalle, wie etwa mit Donnergetöse ergehen und mit Krachen an aller Ohren dringen, als wenn sie nur mit den Augen geschaut würden. Nach meiner Überzeugung spricht aber der Prophet von einer innerlichen Erschütterung, wo die Menschen vor Furcht wie angedonnert sind. Denn wenn es heißt, dass das Erdreich stille werde, so geht das eigentlich auf die Gottlosen, die in ihrem Schrecken dem Herrn den Sieg zuerkennen und nicht mehr wagen, sich gegen ihn aufzulehnen, wie es sonst ihr Brauch ist. Da sie sich also nur durch Furcht zur Ordnung zwingen lassen, so bezeichnet der Psalmist richtig ihr Stillewerden als die Folge ihres Schreckens. Denn sie fügen sich nicht freiwillig, sondern Gott zwingt sie wider ihren Willen dazu. Kurz, wenn Gott aus dem Himmel sich hören lässt, dann legt sich der Aufruhr, den die Frechheit der Gottlosen in schlimmen Zeiten angerichtet hat. Zugleich aber werden wir daran erinnert, was Menschen durch ihre Halsstarrigkeit erreichen, indem Gottes Blitze jeden treffen müssen, der Gottes väterliche Stimme verachtet.

V. 10. Wenn Gott sich aufmacht zu richten. Dieser Vers erläutert, wozu jenes Gericht dienen soll: Gott wollte einen Beweis seiner väterlichen Liebe gegen alle Frommen geben. Darum stellt er den Herrn dar, wie er nicht mit dem Mund, sondern mit der Hand redet, um recht öffentlich zu zeigen, wie teuer ihm das Heil der Gottesfürchtigen ist. Dass Gott „sich aufmacht“, deutet zurück auf sein vorheriges Zuwarten, woraus die Gottlosen Veranlassung zu so großer Zügellosigkeit genommen hatten. Es heißt von ihm, er besteige den Richtstuhl, wo er mit deutlichem Erfolg zeigt, dass seine Gemeinde ihm am Herzen liegt. So will der Prophet zeigen, dass Gott ebenso wenig die Elenden und Unschuldigen verlassen, als sich selbst verleugnen kann. Denn es ist zu bemerken, dass Gott darum ein Richter heißt, weil er den unterdrückten Armen zu Hilfe kommen will. Und die Gläubigen werden die „Sanftmütigen auf Erden“ genannt, weil sie, von Trübsalen drunten gehalten, nicht nach hohen Dingen trachten, sondern unter Flehen und Seufzen die Last des Kreuzes geduldig tragen. Das ist nämlich die beste Frucht der Trübsale, dass unsere Gemüter, von aller Wildheit gereinigt, sich zur Sanftmut und Bescheidenheit neigen; denn dann können wir gewiss sein, dass wir Gottes Schützlinge sind und er uns Hilfe leisten will.

V. 11. Die Empörung der Menschen muss zu deinem Preise dienen. Einige verstehen darunter, die Feinde würden nach ihrer Niederlage Gott, als dem Sieger, die Ehre geben, indem sie zu dem Bekenntnis gezwungen würden, dass seine mächtige Hand sie geschlagen habe. Andere finden darin einen tieferen Sinn: Indem Gott die Ungläubigen reize und ihre Wut anstachle, verherrliche er umso mehr seine Ehre, wie es denn von Pharao heißt, dass Gott ihn zu diesem Zweck erweckt habe (2. Mo. 18, 4; Röm. 9, 7). Aber wenn auch diese Auffassung eine gute Lehre enthält, so halte ich sie doch für zu spitzfindig und erkläre einfach: Obschon vorerst die Wut der Feinde alles in Unordnung bringt und gleichsam das Land verfinstert, so muss sie doch hernach dem Ruhme Gottes Platz machen; denn durch den Ausgang wird es vor aller Augen bewiesen werden, dass sie gegen Gott nichts vermögen, sie mögen unternehmen, was sie wollen.

Auch der zweite Teil kann auf doppelte Weise verstanden werden. Das Wort, welches wir mit „bändigen“ übersetzt haben, könnte auch heißen, „sich gürten“. Dies beziehen einige auf Gott selbst in dem Sinne: Wenn auch noch nicht alle Feinde der Kirche niedergeworfen sind, so wirst du doch, Gott, dich gürten, um zu vernichten, was von ihnen noch übrig ist. Aber die andere Auslegung ist einfacher: Ob auch die Feinde unaufhörlich nach Feindseligkeit trachten, so wirst du sie doch hindern und fesseln, dass ihre Unternehmungen fehlschlagen. Wenn also die Gottlosen die Herrschaft Gottes anzweifeln, dann lasst uns lernen, geduldig warten, bis durch einen günstigeren Erfolg Gott seine Ehre an den Tag bringt und jene mit ihrer wahnwitzigen Dreistigkeit zuschanden macht und vernichtet. Und wenn sie sich aufs Neue regen, so möge uns in den Sinn kommen, dass Gott es sich vorbehalten hat, auch die Überreste von Empörung zu bezwingen, dass sie sich nicht weiter verbreiten. Unterdessen wollen wir uns aber nicht verwundern, wenn immer neue Zeichen der Feindschaft auftauchen, weil Satan bis zum Ende der Welt immer Leute zur Hand haben wird, die er aufstacheln kann, die Kinder Gottes zu quälen.

V. 12. Gelobt und haltet. Nunmehr werden die Gläubigen zur Dankbarkeit ermahnt. Da man aber zur Zeit des Gesetzes für einzelne besondere Wohltaten Gottes Opfer gelobte und damit bekannte, dass man seine Rettung ihm verdanke, so ruft der Prophet die Gläubigen auf, diesem frommen Brauch zu folgen. Die weitere Mahnung: „Haltet es“ – fordert beständige Treue. Man soll nicht nur in plötzlicher Aufwallung ein Bekenntnis tun, sondern anhaltend bezeugen, dass das Andenken an erfahrene Errettung dem Herzen dauernd eingeprägt ist. Das Wichtigste ist ja freilich, dass wir im Herzen Gott als den Urheber unseres Heils anerkennen. Aber es ist auch nicht überflüssig, den Glauben feierlich zu bekennen, wodurch nicht nur jeder sich selbst, sondern einer den anderen zur schuldigen Dankbarkeit ermuntert. –

Im zweiten Versglied scheint der Prophet auch die benachbarten Völker anzureden, als wollte er sagen, diese Art von Gnadenerweisung sei es wert, dass sie auch von den außenstehenden, unbeschnittenen Heiden gepriesen werde. Mir scheint es aber dem Sinne des Propheten angemessener, dass er, sei es die Leviten, sei es die Nachkommen Abrahams überhaupt anredet; auf beide passt ja die Bezeichnung: die ihr um ihn her seid. So lange die Israeliten in der Wüste wanderten, stand ja die Stiftshütte in der Mitte ihres Lagers; und als der Berg Zion zum Standort der Bundeslade erwählt wurde, sollte das Volk von allen Seiten her dorthin zusammenströmen. Den Leviten aber war das Amt aufgetragen, um den Tempel her Wachdienst zu tun. – Als den „Schrecklichen“ bezeichnet der Prophet Gott, der mit Recht zu fürchten sei, nachdem er seine Kraft in so hervorragender Weise bewiesen hatte.

V. 13. Der den Fürsten den Mut nimmt. Im ersten Teil des Verses bezeugt der Prophet, Gott nehme den Fürsten Verstand und Überlegungskraft; hierauf wird allgemein ausgesprochen, dass Gott jenen schrecklich sei, weil er sie jählings aus ihrer Höhe herunterstößt. Weil aber die Grundlage alles Gedeihens eine gesunde Überlegung ist, deren die Gläubigen oft entbehren, indem sie in ihren Bedrängnissen verwirrt und ratlos werden, während die Gottlosen in ihren Ränken nur zu scharfsinnig sind, so verkündigt der Prophet hier, dass es in Gottes Hand steht, Leute, die mehr als andere schlau scheinen, des Geistes zu berauben und zu verblenden. Und weil von den Fürsten eher die Mehrzahl gegen die Gemeinde Gottes feindlich gesinnt ist, so sagt der Prophet klar und bestimmt aus, Gott habe genug Schreckmittel, um alle Könige der Erde unterzuzwingen. Doch ist das, was er vom Entreißen oder – wie es buchstäblich heißt – „Abschneiden“ ihrer Geisteskräfte sagt, nur auf die Tyrannen und Räuber zu beziehen, die Gott zu Toren macht, weil er sieht, dass sie ihren Verstand und alle ihre Ratschläge darauf anlegen, Schaden zu tun.

 

Psalm 77.

 

Inhaltsangabe : Wer auch der Verfasser des Psalms sein mag, jedenfalls hat der Geist ihm das Muster eines gemeinsamen Gebetes für die schwer betroffene Gottesgemeinde in den Mund gelegt, damit man in den schwersten Verfolgungen nichtsdestoweniger Gebete zum Himmel sende. Denn nur der Schmerz einer einzelnen Person, sondern das Seufzen und Klagen des erwählten Volkes wird hier ausgesprochen. Doch verkündigen die Gläubigen auch die Erlösung, die einmal geschehen ist, und die ein Denkmal der fortwährenden Gnade Gottes war. Dadurch sollen sie sich ermuntern und im Gebetseifer noch mehr bestärken.

V. 1 bis 3. Ich schreie mit meiner Stimme zu Gott. Ich halte nicht dafür, dass das Folgende, wie einige Ausleger meinen, eine bloße Klage der Gläubigen in dem Sinne sei, dass sie sich wundern, dass Gott, der doch sonst ihre Gebete zu erhören pflegte, nun taub sei und man ihn umsonst anrufe. Wahrscheinlicher ist mir, dass der Prophet entweder von seiner gegenwärtigen Gemütsbewegung spricht, oder dass er sich ins Gedächtnis zurückruft, wie geneigt und willig nach seiner Erfahrung Gott ist zur Erhörung seiner Bitten. Ich neige mich aber zur ersteren Auffassung, nämlich dass der Prophet angibt, welch große Traurigkeit ihn, und zwar anhaltend, drücke. Zuerst führt er aus, dass er nicht ins Blaue hinein geklagt habe, wie so viele, die planlos ihrem unmäßigen Schmerz Luft machen, sondern er habe sich mit seiner Rede geradeswegs an Gott gewandt, als die Not ihm die Angstrufe auspresste. Zugleich zeigt er an, dass er sich im Anhalten nicht habe beirren lassen, obschon das Rufen öfters wiederholt werden musste. Was nun unmittelbar folgt, ist eine Bestärkung des Glaubens. Denn das Bindewort „und“ im zweiten Versteil steht, wie auch anderswo öfter, für „weil“, so dass er Prophet sagen will: Ich schreie zu Gott, weil er mir gnädig zu sein und mich zu erhören pflegt. -

Im folgenden Vers spricht er sich deutlicher darüber aus, wie schwer und hart die damalige Unterdrückung der Gemeinde war. Wenn er aussagt, er suche Gott am Tage der Trübsal, und nachts seien seine Hände ausgestreckt, so will er damit andeuten, dass er mit unermüdlichem Eifer aufs Bitten bedacht ist. Die Schlussworte des Verses schließen sich in gegensätzlicher Weise daran an: obschon die Seele des Propheten keinen Trost zur Linderung seiner Pein finde, so strecke er dennoch die Hände aus zu Gott. Ebenso müssen auch wir gegen die Verzweiflung kämpfen, so dass der Schmerz, ob er auch unheilbar wäre, doch unsern Gebeten die Türe durchaus nicht verschließen darf.

V. 4 u. 5. Ich denke an Gott und bin unruhig. Weiter drückt der Psalmist seinen heftigen Schmerz und zugleich die Schwere des Unglücks aus. Und zwar klagt er, dass das, was doch das einzige Heilmittel zur Stillung der Traurigkeit sein sollte, ihm eine Ursache der Beunruhigung gewesen sei. Es könnte zwar widersinnig erscheinen, dass gläubige Gemüter durch das Gedenken an Gott verwirrt werden. Aber der Prophet will einfach sagen, seine Beunruhigung sei, obwohl er an Gott dachte, doch nicht gewichen. Es geschieht zwar oft, dass frommen Leuten in der Widerwärtigkeit das Denken an Gott die Qual geradezu vermehrt, indem sie nämlich die Empfindung haben, Gott zürne ihnen. Aber der Prophet will nicht sagen, dass sein Herz bei jeder Erinnerung an Gott aufs Neue angefochten worden sei. Er klagt nur, dass ihm kein Trost von Gott zu seiner Beruhigung zuteil geworden sei, und das ist eine überaus schwere Art von Anfechtung. Wenn Ungläubige von schrecklichen Leiden gequält werden, so wundert uns das nicht; sie leiden damit nur die gerechte Strafe für ihren Abfall von Gott. Wenn aber das Andenken an Gott, worin wir eine Linderung unseres Ungemachs suchen, unserm Gemüt keinen Frieden bringt, dann scheint es, als ob er unser spotte. Dagegen lehrt uns diese Stelle: wir sollen selbst, wenn das Herz voll Murren, Traurigkeit und Verwirrung ist, auch unter solchen Hemmnissen fortfahren, Gott anzurufen.

Denselben Sinn zeigt auch der folgende Vers, wo der Prophet sagt, er habe ganze Nächte durchwacht, weil Gott ihm keine Erleichterung gewährte. Der anhaltende Gram ließ keinen Schlaf in seine Augen kommen. Da er aber soeben gesagt hat, er rufe zu Gott mit flehentlicher Stimme, nun aber ausspricht, dass er nicht mehr reden kann und will, scheint er sich zu widersprechen. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass die Gläubigen unter dem Druck der Traurigkeit nicht immer dasselbe Verhalten beobachten, sondern bald brechen sie in Seufzer und Klagen aus, bald verstummen sie, als ob ihnen die Kehle zugeschnürt wäre. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn der heilige Sänger bekennt, er sei von seinen Leiden so gedrückt und gleichsam verschlossen gewesen, dass er kein Wort hervorbrachte.

V. 6 u. 7. Ich denke der alten Zeit. Ohne Zweifel hat er versucht, seinen Schmerz durch den Gedanken an die Freuden vergangener Zeiten zu mildern; aber dass er bald einen Erfolg verspürt hätte, kann er nicht sagen. Und doch bezeichnet er mit dem Ausdruck „alte Zeit, vorige Jahre“ offenbar nicht bloß den kurzen Lauf seines eigenen Lebens, sondern umfasst damit mehrere Menschenalter. Und gewisslich sollen Gläubige nicht nur die Wohltaten Gottes, die sie selbst erfahren haben, sondern alle, die er im Lauf der Jahrhunderte seiner Gemeinde erwiesen, sich in trüben Zeiten vor Augen halten und ins Gedächtnis zurückrufen. Immerhin legt der Zusammenhang die Annahme nahe, dass der Prophet bei der Erinnerung an die früheren Gnadenerweisungen Gottes von der eigenen Erfahrung ausging.

Es steht mir nämlich außer Zweifel, dass er mit seinem „Saitenspiel“ die Danksagungen bezeichnet, in denen er sich in Zeiten der Freude und des Wohlergehens geübt hatte. Aber wenn es auch, wie ich bereits sagte, kein geeigneteres Mittel zur Heilung unserer Leiden gibt, so hält uns doch oft gerade Satans List die ehemaligen göttlichen Wohltaten unter Augen, um uns dadurch die gegenwärtige Entbehrung desto schmerzlicher fühlen zu lassen. Wahrscheinlich hat also der Prophet in seiner Seele herbe Stiche empfunden, als er die frühere, fröhliche Zeit mit den gegenwärtigen Leiden verglich. Sehr eindrücklich ist, dass er der Nacht gedenkt, die ja noch mehr Sorgen und Grübeln gebiert, weil wir dann einsam und den Blicken der Menschen entzogen sind. Denselben Sinn haben die folgenden Worte: Ich rede mit meinem Herzen. Das bringt nämlich das Alleinsein mit sich, dass man sich sammelt, sich selbst gründlich erforscht und ganz ungestört mit sich redet. Bei solchem Nachsinnen, da sein Geist forschte, überlegte der heilige Sänger, aus was für Ursachen er wohl geplagt würde, dann, welchen Ausgang die Leiden nehmen würden. Und es ist sicherlich etwas Heilsames um dieses Nachsinnen, wozu uns auch Gott selbst durch Ungemach reizen will; denn es gibt nichts Verkehrteres als die Stumpfheit derer, die unter den Schlägen Gottes ihr Herz verstocken. Nur gilt es Maß halten, damit uns nicht der Schmerz ganz hinnehme, und dass wir nicht, indem wir allen Gerichten Gottes auf den Grund zu kommen suchen, uns ins Bodenlose verlieren. Der Prophet gibt zu verstehen, es sei ihm bei solchen Überlegungen kein Trost mehr erschienen, der ihm den Schmerz gestillt hätte.

V. 8 u. 9. Wird denn der Herr usw. Das war ohne Zweifel ein Teil der Erwägungen, die der Psalmist in seinem Geiste bewegte. Dazwischen deutet er an, er sei durch die lang andauernden Leiden beinahe verzehrt worden. Denn er bricht in solchen Ruf nur aus nach langem Dulden, da er kaum noch zu hoffen wagte, dass Gott ihm jemals gnädig sein werde. Mit Recht überlegt er aber bei sich selbst, ob denn Gott nicht in seinem Wohlwollen fortfahre. Denn wenn Gott uns mit seiner Güte umfängt, so will er das nicht anders als bis ans Ende tun. Doch fordert das der Sänger nicht geradezu, sondern kommt auf Grund von Gottes Wesen zu dem Schluss, es sei nicht anders möglich, als dass Gott beharre in seiner freien Gunst gegen die Frommen, denen er sich einmal als Vater geoffenbart hat. Wie er nun aus dem Gnadenratschluss Gottes wie aus einer Quelle alle die Wohltaten herleitet, welche die Gläubigen aus seiner Hand empfangen, so fügt er auch gleich wieder Gottes Güte bei und will damit sagen: „Wie, sollte Gott, der sein Wesen nicht ablegen kann, in Erzeigung seiner Vatergunst auf einmal einhalten?“ Wir sehen hier, wie er die Anfechtungen dadurch aus dem Felde schlägt, dass er ihnen die Güte Gottes entgegenhält.

Wenn er fragt (V. 9): „Hat die Verheißung ein Ende?“, so drückt er damit aus, dass er jedes Trostes ermangle, weil seinem Glauben keine stützende Verheißung entgegenkomme. Das aber führt zum Abgrund der Verzweiflung, wenn Gott seine Verheißungen, in denen ja unser Heil beschlossen liegt, hinwegnimmt. Wenn jemand einwendet, die Aussprüche Gottes seien ja dem nicht entzogen, der das Gesetz zur Hand hat, so antworte ich: Um der zeitweiligen Schwachheit willen waren damals besondere Verheißungen notwendig. Darum haben im 74. Psalm (V. 9) die Gläubigen geklagt, dass sie die gewohnten Zeichen nicht mehr sähen und kein Prophet mehr da sei, der unter ihnen die Erkenntnis vermittle. Wenn David der Verfasser dieses Psalms ist, so wissen wir, dass er gewohnt war, in zweifelhaften und verwickelten Lagen Rat bei Gott zu suchen, und dass ihm Antworten zuteilwurden. Und wenn ihm nun diese Unterstützung im Leiden entzogen wurde, so beklagt er füglicherweise, dass ihm kein Ausspruch als Stütze seines Glaubens entgegenkomme. Ist aber der Verfasser ein anderer, so passt diese Klage auf die Zwischenzeit zwischen der Rückkehr aus der Gefangenschaft und der Ankunft Christi, weil damals gewissermaßen die Kette von Prophezeiungen unterbrochen und niemand vorhanden war, der, durch besondere Geistesgabe erleuchtet, die verzagten Gemüter aufgerichtet hätte. Man könnte auch anführen, dass bisweilen das Wort Gottes, obwohl es gepredigt wird, uns doch nicht erreicht, weil wir, in Kleinmut befangen, keinen Trost annehmen. Ich ziehe aber den ersteren Sinn vor, nämlich dass die Gemeinde der besonderen Prophezeiungen entbehrte, während sie doch einer täglichen Unterstützung ihres Glaubens bedurfte, da sie auf bloß schattenhafte Offenbarungen angewiesen war. Doch geht daraus die nützliche Mahnung hervor, dass wir nicht allzu sehr bestürzt sein sollen, wenn uns Gott einmal seinen Zuspruch entzieht; wie er denn etwa die Seinen außerordentlich schwer plagt, so dass sie meinen, die Schrift gehe nur andere an; und während sie wünschen, Gottes Sprache zu vernehmen, sind sie doch nicht dazu zu bringen, seine Worte sich zu eigen zu machen. Es ist dies zwar, wie gesagt, ungemein betrübend, soll uns aber am Bitten nicht hindern.

V. 10. Hat Gott vergessen gnädig zu sein?