Der Schatten einer Lüge - Marie Francoise - E-Book

Der Schatten einer Lüge E-Book

Marie Francoise

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Beschreibung

Dr. Daniel ist eine echte Erfolgsserie. Sie vereint medizinisch hochaktuelle Fälle und menschliche Schicksale, die uns zutiefst bewegen – und einen Arzt, den man sich in seiner Güte und Herzlichkeit zum Freund wünscht. Der Tag war für Anke Richter bis jetzt ein einziger Streß gewesen. Schon vor fünf Uhr morgens hatte sie ihr Bett in dem kleinen Gasthof, in dem sie die letzte Nacht vor der Hochzeit verbracht hatte, verlassen. Kurz darauf war die Schneiderin gekommen, um ihr beim Ankleiden zu helfen, und dann hatte die Friseuse geklopft. Zu zweit waren sie um Anke herumgeturnt, so daß diese oft nicht mehr gewußt hatte, wo ihr der Kopf stand. »Sie sehen aus wie eine Prinzessin, Fräulein Richter«, erklärte die Schneiderin jetzt und zupfte pro forma an den perfekt sitzenden Ärmeln herum, strich noch einmal an der geraden Linie des Rückens entlang und nickte dann. »Prinzessin Diana hat bei ihrer Hochzeit um keinen Deut besser ausgesehen.« Aber vermutlich hatte sie ein reineres Gewissen als ich, mußte Anke unwillkürlich denken, während sie sich im Spiegel betrachtete. Irgendwie kam sie sich so fremd vor. Das bodenlange weiße Kleid mit dem enggeschnittenen Oberteil und dem weit ausladenden Rock ließ sie so erwachsen wirken. Dazu der zarte Schleier auf dem schwarzen Haar – sie kam sich vor wie das Dornröschen in dem Bilderbuch aus Kindertagen. »Sie sehen wirklich ganz bezaubernd aus«, versicherte die Schneiderin noch einmal, dabei hatte Anke jedesmal, wenn sie in den Spiegel blickte, das Gefühl, ein Gespenst sehe sie an. Weder Make-up noch ein Hauch von Rouge waren fähig gewesen, die fast krankhaft wirkende Blässe aus ihrem Gesicht zu vertreiben. Ich hätte es ihm sagen müssen, dachte sie wieder einmal. Schon längst hätte ich es ihm sagen müssen, aber… ich liebe ihn doch so sehr! »Kindchen, bist du soweit?« Die tiefe Stimme ihres Vaters riß Anke aus ihren trüben Gedanken. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, Vati, wir können gehen.«

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Dr. Daniel – 8 –

Der Schatten einer Lüge

Marie Francoise

Der Tag war für Anke Richter bis jetzt ein einziger Streß gewesen. Schon vor fünf Uhr morgens hatte sie ihr Bett in dem kleinen Gasthof, in dem sie die letzte Nacht vor der Hochzeit verbracht hatte, verlassen. Kurz darauf war die Schneiderin gekommen, um ihr beim Ankleiden zu helfen, und dann hatte die Friseuse geklopft. Zu zweit waren sie um Anke herumgeturnt, so daß diese oft nicht mehr gewußt hatte, wo ihr der Kopf stand.

»Sie sehen aus wie eine Prinzessin, Fräulein Richter«, erklärte die Schneiderin jetzt und zupfte pro forma an den perfekt sitzenden Ärmeln herum, strich noch einmal an der geraden Linie des Rückens entlang und nickte dann. »Prinzessin Diana hat bei ihrer Hochzeit um keinen Deut besser ausgesehen.«

Aber vermutlich hatte sie ein reineres Gewissen als ich, mußte Anke unwillkürlich denken, während sie sich im Spiegel betrachtete. Irgendwie kam sie sich so fremd vor. Das bodenlange weiße Kleid mit dem enggeschnittenen Oberteil und dem weit ausladenden Rock ließ sie so erwachsen wirken. Dazu der zarte Schleier auf dem schwarzen Haar – sie kam sich vor wie das Dornröschen in dem Bilderbuch aus Kindertagen.

»Sie sehen wirklich ganz bezaubernd aus«, versicherte die Schneiderin noch einmal, dabei hatte Anke jedesmal, wenn sie in den Spiegel blickte, das Gefühl, ein Gespenst sehe sie an. Weder Make-up noch ein Hauch von Rouge waren fähig gewesen, die fast krankhaft wirkende Blässe aus ihrem Gesicht zu vertreiben.

Ich hätte es ihm sagen müssen, dachte sie wieder einmal. Schon längst hätte ich es ihm sagen müssen, aber… ich liebe ihn doch so sehr! Und er würde mich niemals heiraten, wenn er wüßte, daß ich…

»Kindchen, bist du soweit?«

Die tiefe Stimme ihres Vaters riß Anke aus ihren trüben Gedanken. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Ja, Vati, wir können gehen.«

Herbert Richter bedachte sie mit einem langen, prüfenden Blick.

»Wenn ich nicht ganz genau wüßte, daß Rainer deine große Liebe ist, dann würde ich denken, du gehst eine Scheinehe ein«, erklärte er, während er liebevoll nach der Hand seiner einzigen Tochter griff. »Was ist denn nur los mit dir, Kleines? Heute ist doch dein Hochzeitstag. Da solltest du vor Glück nur so strahlen.«

Anke seufzte leise. »Ach, Vati, ich bin ja auch glücklich, und ich liebe Rainer mehr als alles andere, aber…« Sie zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich bin ich einfach nur nervös. Mach dir keine weiteren Gedanken darüber.«

Wieder blickte Herbert Richter in das blasse, ernste Gesicht seiner Tochter, und er spürte, daß Anke ein schweres Problem mit sich herumschleppte. Doch solange sie sich ihm nicht anvertraute, konnte er ihr nicht helfen – so sehr er es sich auch gewünscht hätte.

Eine blumengeschmückte weiße Kutsche, vor die vier prächtige Schimmel gespannt waren, brachte Vater und Tochter zum Standesamt, denn eine Sondergenehmigung erlaubte es dem jungen Brautpaar, an diesem Samstag sowohl standesamtlich als auch kirchlich zu heiraten.

Die Kutsche hielt vor dem alten, mit sehr plastisch wirkenden Wandmalereien versehenen Rathaus an, und Herbert Richter half seiner Tochter beim Aussteigen. Und dann war auch schon Rainer Bergmann an ihrer Seite.

»Wunderschön siehst du aus, Liebling«, flüsterte er ihr zu, und dabei fühlte er sich neben seiner bezaubernden Braut nahezu unscheinbar, obwohl er in seinem anthrazitfarbenen Anzug und dem blütenweißen Hemd blendend aussah.

Überhaupt war Rainer Bergmann ein ausgesprochen gutaussehender Mann. Dichte hellbraune Locken umrahmten ein scharfgeschnittenes Gesicht mit markanten, sehr männlichen Gesichtszügen. Tiefblaue Augen blickten so forschend in die Gegend, als könnte ihnen nichts verborgen bleiben. Diese Augen waren auch der Spiegel seiner Seele –  kalt und unerbittlich, wenn es um die Firma ging, zugleich aber zärtlich und liebevoll seiner Verlobten und baldigen Ehefrau gegenüber.

Jetzt legte er Ankes schmale Hand in seine linke Armbeuge und betrat mit ihr das Rathaus. Die wenigen auserwählten Gäste, die bei der standesamtlichen Trauung zugegen sein durften, folgten dem jungen Brautpaar.

Und während Anke an Rainers Arm die Treppe ins erste Stockwerk hinaufging, wurde ihr richtiggehend übel bei dem Gedanken, daß sie ihre Ehe mit einer Lüge begann.

*

Dr. Robert Daniel war – wie jeden Samstagmorgen – der erste, der in dem rustikal eingerichteten Eßzimmer erschien. Gewohnheitsmäßig griff er nach der Tageszeitung, die schon für ihn bereit lag, und überflog die Schlagzeilen, während seine ältere Schwester Irene in der Küche werkelte, um das Frühstück auf den Tisch zu bringen.

Dr. Daniel war ein sehr attraktiver Mann, dem man seine fünfzig Jahre nicht ansah. Er war groß und hatte sich durch regelmäßigen Sport seine athletische Figur bewahrt. Dichte blonde Haare umrahmten sein markantes Gesicht, und es gab so manche Frau, die nach einem Blick in seine tiefblauen Augen förmlich dahinschmolz. Nun war Dr. Daniel keinesfalls ein Frauenheld –  ganz im Gegenteil. Die Tatsache, daß er beim weiblichen Geschlecht solche Reaktionen hervorrief, machte ihm oft schwer zu schaffen, zumal er durch seinen Beruf praktisch ausschließlich mit Frauen zu tun hatte: Er arbeitete nämlich schon seit vielen Jahren als Gynäkologe in Steinhausen.

»Guten Morgen, Robert«, grüßte Irene und stellte das Frühstückstablett auf dem großen runden Tisch ab. Hätte man nicht gewußt, daß Irene Hansen und Robert Daniel Geschwister waren, so wäre man bestimmt nicht auf diesen Gedanken gekommen, denn mit ihren ehemals dunklen, jetzt schon leicht ergrauten Locken und den üppigen Körperformen war Irene das genaue Gegenteil ihres Bruders.

Dr. Daniel legte die Zeitung zur Seite.

»Guten Morgen, Irene«, erwiderte er. »Schlafen die Kinder noch?«

Für ihn waren es noch immer »Kinder«, obwohl sein Sohn mittlerweile vierundzwanzig Jahre alt war und seine Tochter in wenigen Monaten zweiundzwanzig werden würde. Im übrigen wohnten die beiden schon seit ein paar Jahren nicht mehr bei ihrem Vater, sondern in einer gemeinsamen Studentenwohnung in Schwabing.

Irene schüttelte den Kopf. »Karina ist im Bad, und Michael mault, weil er auch hinein möchte.«

Dr. Daniel schmunzelte. »Wie immer, wenn die beiden daheim sind. Aber nachdem sie schon aus den Federn gefunden haben, warten wir mit dem Frühstück wohl besser auf sie.«

Irene nickte. »Ich habe das Stövchen gleich mitgebracht. Schließlich wollen wir ja keinen kalten Kaffee trinken.«

Mit einem fröhlichen »Guten Morgen allerseits« kam Karina Daniel ins Eßzimmer.

Dr. Daniel lächele sie liebevoll an, und dabei wurde ihm wieder einmal bewußt, daß Karina ihrer verstorbenen Mutter immer ähnlicher wurde. Das goldblonde Haar, das in weichen Wellen um ihre schmalen Schultern fiel, die ausdrucksvollen blauen Augen und die zierliche Figur –  ja, so hatte Christine damals auch ausgesehen, als Robert Daniel sie kennengelernt hatte.

Doch der Arzt hatte keine Gelegenheit, sich noch länger seinen Erinnerungen hinzugeben, denn in diesem Augenblick kam auch Stefan ins Eßzimmer und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf seinen Stuhl fallen. Er trug einen bunt gemusterten Morgenmantel und schien auch geduscht zu haben, doch seine dunklen Locken sahen nicht so aus, als hätte er sie gekämmt. Jetzt murmelt er ein mißmutiges »Morgen« vor sich hin.

Dr. Daniel zog etwas mißbilligend die Augenbrauen hoch. Er schätzte ein solches Benehmen nicht besonders.

»Wie wär’s, wenn du dich zu einem anständigen Gruß aufraffen würdest?« tadelte er seinen Sohn.

Stefan errötete. »Guten Morgen, Papa, guten Morgen, Tante Irene.« Dann wies er zu seiner Schwester hinüber. »Die da habe ich schon begrüßt.«

Seufzend schüttelte Dr. Daniel den Kopf, dann wandte er sich Irene zu. »Sag mal, haben wir beide uns auch immer ständig in den Haaren gelegen?«

Seine Schwester schmunzelte. »Sag bloß, du weiß nicht mehr, welch ein Flegel du damals warst.«

»Danke, daß du mir das in Anwesenheit meiner Kinder sagst«, entgegnete Dr. Daniel mit einer Spur von Sarkasmus. »Jetzt ist meine Autorität vollständig dahin.«

»Unsinn, Papa«, mischte sich Karina lächelnd ein. »Glaubst du vielleicht, wir wüßten nicht, daß du ein ganz normaler Junge warst? Immerhin hast du selbst uns schon etliche deiner Lausbubenstückchen erzählt.«

Dr. Daniel mußte lachen, dann griff er nach einer Semmel, schnitt sie auseinander und bestrich sie mit Butter und Marmelade. Karina und Irene taten es ihm gleich, nur Stefan saß ein wenig trübsinnig vor seinem leeren Teller.

»Na, Stefan, was ist denn los mit dir?« wollte Dr. Daniel wissen. »Keinen Appetit?«

Der junge Mann seufzte. »Ach, Papa, es ist… nun ja … wegen dieser Hochzeit heute.« Bittend sah er seinen Vater an. »Muß ich da mitgehen?«

Dr. Daniel bedachte seinen Sohn mit einem kurzen, strengen Blick. »Ich dachte, dieses Thema wäre ein für allemal vom Tisch.«

»Ach, Papa«, wiederholte Stefan. »Da werden mindestens zweihundert Gäste zugegen sein. Ich bin sicher, daß keiner bemerkt, wenn ich nicht…«

Dr. Daniel unterbrach ihn mit einer energischen Handbewegung. »Als wir die Einladung zu Rainer Bergmanns Hochzeit bekommen haben, habe ich es dir und Karina freigestellt, ob ihr mitkommen wollt oder nicht, und ihr habt beide zugestimmt. Daraufhin habe ich die Einladung angenommen und mitgeteilt, daß wir zu viert kommen werden. Nun haben die Bergmanns alles arrangiert, und da kannst du nicht plötzlich abspringen. Das verlangt schon der Anstand, und ich dachte immer, den hätte ich dir beigebracht.« Er schwieg kurz, dann fügte er hinzu: »Es ist erstaunlich genug, daß Rainer uns überhaupt eingeladen hat, wenn man bedenkt, wie oft ich die Fabrik seines Vaters kritisiert habe. Und ich habe absolut keine Lust, mich zu blamieren, nur weil mein Herr Sohn zuerst eine Einladung annimmt und es sich am Tag der Hochzeit dann plötzlich anders überlegt.«

Stefan schluckte. Es gefiel ihm gar nicht, daß er von seinem Vater so zurechtgewiesen wurde –  noch dazu vor seiner Tante und seiner Schwester. Aber schließlich hatte er das Thema ja selbst angeschnitten.

»Wenn ich krank wäre, dann könnte ich auch nicht…«, begann Stefan, doch sein Vater unterbrach ihn: »Du bist aber nicht krank.«

Stefan senke den Kopf, dann wagte er einen letzten Versuch.

»Meine Freunde gehen heute ins Kino. Da läuft der neueste Film mit Arnold Schwarzenegger, und den möchte ich auch gern sehen.«

Doch Dr. Daniel blieb unerbittlich. »Was du möchtest, mein Sohn, steht heute ausnahmsweise nicht zur Debatte.«

In diesem Augenblick beschloß Karina, ihrem Bruder zu Hilfe zu kommen.

»Der Film läuft doch sicher erst abends, oder?« Sie wartete Stefans zustimmendes Nicken ab, dann wandte sie sich ihrem Vater zu. »Wenn sich Stefan so gegen sieben Uhr verabschieden würde, könnte doch niemand etwas dagegen einzuwenden haben.«

Gegen seinen Willen mußte Dr. Daniel lächeln. »Du bist genauso diplomatisch, wie deine Mutter es einst war, und ich schätze, du wirst einmal eine gewiefte Rechtsanwältin, die alle Richter über den Tisch zieht.« Dann sah er Stefan an. »Also schön, ich bin einverstanden. Du kannst heute abend mit deinen Freunden ins Kino gehen.«

In Stefans Gesicht ging die Sonne auf. »Danke, Papa!«

Doch da hob Dr. Daniel abwehrend beide Hände. »Bedank dich lieber bei deiner Schwester.« Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »So, und jetzt zieht euch um. Schließlich wollen wir nicht die letzten sein, die vor der Kirche erscheinen.«

*

Unmittelbar nach der standesamtlichen Trauung begab sich die kleine Gesellschaft, die daran hatte teilnehmen dürfen, zum Mittelpunkt des Ortes, den die romanische Dorfkirche St. Benedikt darstellte. Ihr schlanker Glockenturm überragte die kleinen Häuser Steinhausens wie der Zeigefinger Gottes, und nicht einmal die riesigen Kamine der Steinhausener Chemiefabrik konnten ihrer ehrfurchtgebietenden Ausstrahlung etwas anhaben.

Vor dem Kirchenportal hatten sich die meisten der nahezu zweihundert Gäste bereits eingefunden, als mit rhythmischem Hufgeklapper nun der Vierspänner einbog und vor der Kirche stehenblieb.

Galant half Rainer Bergmann seiner jungen Braut aus der Kutsche, dann geleitete er sie zum Kirchenportal, wo der Pfarrer Klaus Wenninger schon auf sie wartete. Jetzt kam er dem Brautpaar entgegen und reichte der jungen Frau mit einem wohlwollenden Lächeln die Hand.

»Wunderhübsch sehen Sie aus, Fräulein Anke«, meinte er und wandte sich anschließen dem Bräutigam zu, den er vor fast achtunddreißig Jahren in dieser Kirche getauft hatte. Damals hatte der kleine Rainer gebrüllt wie am Spieß. »Na, Herr Bergmann, sehr aufgeregt?«

»Es geht«, entgegnete Rainer, dann grinste er. »Und bitte, Hochwürden, bleiben Sie doch bei Rainer und du. Immerhin kennen Sie mich seit meiner Geburt, und so vor fünfundzwanzig Jahren etwa sind Sie mir noch mit dem Rohrstock nachgelaufen, weil ich aus dem Pfarrgarten Kirschen gestohlen hatte.«

Klaus Wenninger schmunzelte. »Und das, obwohl ihr drei Kirschbäume in eurem Garten hattet.«

»Gestohlen schmeckt’s eben immer besser«, entgegnete Rainer.

»Scheint so«, meinte Hochwürden Wenninger, dann warf er einen Blick in die Runde, entdeckte ein paar seiner Schäfchen, die er in der Kirche normalerweise nur selten zu Gesicht bekam, und beglückte vor allem diese mit einem ausgesprochen weihwasserreichen Segen, bevor er dem Brautpaar voran in die Kirche schritt. Ihnen folgten die Trauzeugen und die dann übrigen Gäste.

Nachdem das Scharren von Füßen und das gelegentliche leise Hüsteln verstummt war, wandte sich Hochwürden Wenninger um und begann mit einer seiner bildhaften Predigten über Sinn und Zweck der Ehe, dann nahm er Anke und Rainer das Ehegelöbnis ab, und nachdem sie sich gegenseitig die Ringe angesteckt hatten, beugte er sich ein wenig zu Rainer vor.

»Du darfst die Braut jetzt küssen«, meinte er und sah schmunzelnd zu, wie Rainer die hübsche Anke mit nahezu scheuer Zärtlichkeit umfing und einen Kuß auf ihre Lippen hauchte.

Mit den Worten »Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen«, beendete der Pfarrer die Trauungszeremonie.

An Rainers Seite verließ Anke die Kirche und hatte dabei das Gefühl, als liege ihr ein Zentnergewicht im Magen. Die Worte des Pfarrers klangen ihr noch immer in den Ohren nach.

»Bist du bereit, die Kinder, die Gott euch schenken wird, anzunehmen und im christlichen Gauben zu erziehen?«

Und sie hatte mit Ja geantwortet, dabei…

Es war Anke nicht möglich, diesen Gedanken fortzuführen, denn jetzt kamen die ersten Gratulanten auf sie zu. Und fast alle wunderten sich über das ernste Gesicht der Braut. Es war doch angeblich eine Liebesheirat, jedenfalls hatte der Vater des Bräutigams das immer sehr beton –  ein untrügliches Zeichen dafür, daß er mit der Wahl seines Sohnes nicht einverstanden gewesen war.

Das war auch tatsächlich der Fall. Martin Bergmann, der Gründer des Chemiewerkes CHEMCO, war alles andere als erfreut gewesen, als sein einziger Sohn ihm die aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Anke Richter vorgestellt hatte. Damals hatte der alte Bergmann noch gehofft, die momentane Verliebtheit seines Sohnes würde sich wieder geben, doch Rainer hatte seine Meinung nicht mehr geändert. Vor einem halben Jahr hatte er sich mit Anke verlobt, und heute fand nun die Hochzeit statt, dabei hätte Martin Bergmann viel lieber die junge Chemikerin Silvia Westphal an der Seite seines Sohnes gesehen. Schon von Berufs wegen hätte sie –  nach Martin Bergmanns Ansicht –  viel besser zu Rainer gepaßt, von dem Vermögen, das hinter ihr stand, ganz zu schweigen. Aber Rainer hatte eben schon immer einen Dickkopf gehabt, und so sah sich sein Vater gezwungen, sich mit Anke als Schwiegertochter abzufinden.

Jetzt bestieg das Brautpaar wieder die Hochzeitskutsche, und unter den Klängen der eben eingetroffenen Blaskapelle begab sich der Hochzeitszug auf seine traditionelle Runde durch das Dorf, ehe er am Goldenen Löwen anhielt. Hier sollte die große Hochzeitsfeier stattfinden. Die Mitglieder der Blaskapelle wurden im Nebenraum mit Essen und Getränken versorgt, anschließend verabschiedeten sie sich, denn zum Tanz würde eine Vier-Mann-Band aufspielen.

Mit einer formvollendeten Verbeugung forderte Rainer seine junge Braut zum Tanz auf. Es war der traditionelle Brautwalzer, den das Paar zur Musik des »Gold- und Silberwalzers« tanzte. Ein Großteil der Gäste hatte sich dabei kreisförmig um die Tanzfläche gestellt und klatschte den Rhythmus des Liedes mit.

»Sehr passend, findest du nicht?« raunte Stefan Daniel seiner jüngeren Schwester zu. »In Gold und Silber werden sie förmlich schwimmen.«

Karina lächelte. »Das klingt ja, als würdest du Rainer um seinen Reichtum beneiden.« Dann zuckte sie die Schultern. »Geld ist nicht das Wichtigste im Leben.«

»Wenn man es hat«, ergänzte ihr Bruder trocken.

»Ach komm, Stefan, du kannst dich doch wirklich nicht beklagen«, meinte Karina. »Uns geht’s doch gut. Und außerdem…«

Stefan erfuhr nicht mehr, was seine Schwester noch hatte sagen wollen, denn in diesem Moment beendete die Band den Brautwalzer, und Rainer Bergmann kam mit seiner hübschen jungen Frau zu ihnen.