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Der Weg der Wahrheit und des Lebens, des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, wird anders gegangen als die gewohnten Wege in der Welt. Dort bewegen wir uns durch Wissensaneignung (Schulung) und Arbeit (Leistung). Das Ziel ist eine berufliche Position und ein „gutes Auskommen“. Jesus aber führt uns einen Weg, der aus dem Herzen heraus gegangen wird, einen neuen und lebendigen Weg, der uns am Himmel orientiert und mit ihm verbindet. Dieser Weg ist ein fortschreitender Prozess innerer Heilung und Neuordnung. Da heraus öffnen sich neue Perspektiven und findet sich eine „Weggemeinschaft“ aus himmlischen und irdischen Begleitern. Freundliche Engel helfen uns und der Heilige Geist steht uns auf jedem Schritt des Weges bei. Der gute Hirte hält uns an der Hand und der Vater lässt uns nicht aus den Augen. Frank Krause lädt uns ein, ihn auf seiner visionären Reise in den inneren Garten des Herzens zu begleiten. Im „Schlüsselraum“ erkennt er, wie fremd er sich selbst ist. Dann folgt er einem Löwen in seine Vergangenheit und Zukunft. Er lernt die Lektionen der Verbundenheit und auch die des Aufstiegs auf den Berg. Auf dem Gipfel wartet eine neue Berufung auf ihn.
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Seitenzahl: 304
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Frank Krause
Der Schlüssel der Verbundenheit
GloryWorld-Medien
1. Auflage 2023
© 2023 Frank Krause
© 2023 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de
Alle Rechte vorbehalten
Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Elberfelder Bibel, Revidierte Fassung von 2006, entnommen. In Klammern gesetzte Ergänzungen stammen vom Autor.Weitere Bibelübersetzung: Gute Nachricht Bibel, 2002 (GNB)
Das Buch folgt den Regeln der Deutschen Rechtschreibreform. Die Bibelzitate wurden diesen Rechtschreibregeln angepasst.
Anmerkung zu Zitaten: Die vom Autor benutzten Zitate dienen ausschließlich der Erläuterung, Bereicherung und Untermauerung des eigenen Textes. Sie sollen zum Nachdenken anregen, inspirieren, Gedankengänge zusammenfassen und, je nachdem, den Text auflockern und den Leser zum Schmunzeln bringen. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass er weder alle Werke der von ihm zitierten Autoren kennt noch zwingend deren Weltanschauungen oder sonstigen Ansichten teilt.
Lektorat: Brigitte KrauseSatz: Manfred MayerUmschlaggestaltung: Markus AmolschUmschlagmotiv: iStock
ISBN (epub): 978-3-95578-725-7ISBN (Druck): 978-3-95578-625-0
Vorwort
1 Der innere Garten
2 Im Schlüsselraum
3 Der Schlüssel der Verbundenheit
4 Die Büchse der Pandora
5 Mit den Augen eines Löwen
6 Das Kind
7 Die Generationenbrücke
8 Der Weg in die Berge
9 Gipfelerfahrung
10 Von der Vision zur Mission
11 Geschichten am Lagerfeuer
12 Hommage an einen Löwen
Über den Autor
Visionen können uns zu unglaublichen Leistungenanspornen und uns befähigen, Berge zu versetzen.
Frank Krause
Dieses Buch ist ein „visionäres“ Werk, wie schon so viele meiner Arbeiten zuvor. Der Strom der Inspiration reißt nicht ab, über zwanzig Titel sind in den letzten Jahren erschienen. Ich staune und gebe Gott die Ehre dafür. Ihm vertraue ich, mir alle Dinge auf Erden und im Himmel zu erschließen – heilig und intelligent, wie nur der Geist Gottes es vermag, der auch „alle Dinge erforscht“ (1 Kor 2,10).
Habe ich Visionen oder haben sie mich? Das ist die Frage. Zu Anfang meine ich, ich empfange sie, aber später dreht sich diese Einschätzung jedes Mal um. Dann fühle ich mich von der Offenbarung ergriffen und geführt, wohin sie möchte. Immer will sie tiefer, weiter und höher gehen, als ich es mir vorstellen kann. Stets erlebe ich meine menschlich-irdische Auffassungsgabe als ungemein beschränkt und mich als begriffsstutzig. Der Heilige Geist lässt mich weit über mich hinausgehen und dabei unaussprechliche „Dinge“ sehen und hören, die ich in meinen Büchern versuche, in Worte zu fassen, jedenfalls einen kleinen Teil davon. Vieles kann unmöglich gesagt werden und soll es wohl auch nicht.
Während eines „Teachings“ von Jesus zum Thema Vision meinte er: „Ohne eine Vision für dein Leben bist du durch äußere Ereignisse, durch die Medien, Meinungen anderer, die Politik usw. stark manipulierbar. Du gleichst einem orientierungslosen Schiff auf den Wellen des Meeres.“
Wie wahr! Viele Menschen treiben meines Erachtens relativ desorientiert über das Meer. Weder folgen sie einem Kurs noch haben sie einen Anker, um ihre Position wenigstens zu halten und sich darüber klar zu werden, wo sie eigentlich stehen und wohin sie von dort aus gehen wollen. Dann klammern sich viele an die Wege, Ideen und Methoden anderer. Darüber aber verlieren sie sich selbst. Noch einmal Jesus: „Wenn dir ein größerer Blick auf dein Leben fehlt, läufst du Gefahr, dem Lebensplan eines anderen zu folgen: dem deines Partners, deiner Eltern oder was die Gesellschaft dir vorgibt. Du magst auf diesem Weg, der nicht deiner ist, viel schaffen, aber doch nichts Wesentliches.“
Wir mögen fragen: „Was ist wesentlich?“, so wie seinerzeit Pilatus Jesus fragte: „Was ist Wahrheit?“ Die Antwort auf diese beiden miteinander verwandten Fragen erhalten wir nur, wenn wir sie so ernsthaft stellen, wie es uns möglich ist. Legen wir es darauf an, stellen wir bald fest, dass wir in einer Welt leben, die sich im Allgemeinen weder für die Wahrheit noch für das, was wesentlich ist, interessiert. Ganz im Gegenteil bevorzugt sie, sich etwas vorzumachen und mit Nichtigkeit zu beschäftigen. Tag für Tag verbringen Menschen unendlich viel Zeit an Computern, im Internet und am Fernseher. Die virtuelle Welt ist viel interessanter als die echte! Gekonnt hält sie uns gefangen in einem betäubten Zustand, in dem wir nicht merken, wie unser Leben verrinnt, ohne die Antwort auf die wesentlichen Fragen zu finden. Man kann seine Zeit auch wirklich gut ohne deren Beantwortung füllen, gar kein Problem.
Jesus sagte mir: „Möglicherweise fürchtest du dich vor der Konsequenz einer starken Vision, denn sie richtet dein Leben aus, sortiert viele andere Wege aus und zeigt dir, wo du geschlafen und deine Bedeutung als Mensch vergessen, verraten und verkauft hast. Viele leben darum lieber ein unbestimmtes Leben ohne konkrete Ziele und Entscheidungen.“
Dieses „unbestimmte Leben“ hat mich zwar immer wieder eingefangen, aber doch grundlegend abgestoßen. Ich will mein Leben nicht verschlafen, sondern wach sein und bewusst bleiben, um zu erfahren, worum es eigentlich geht. Visionen waren für mich stets wie Leuchtfeuer für den jeweils nächsten Abschnitt meiner Reise. Sie sind eine Art lebendige, multidimensionale Ahnung. Sie weben sich aus Bildern, Botschaften und Fügungen zusammen, wecken Gefühle, Sehnsüchte und Willigkeit. Sie stimulieren mein ganzes Wesen, sind anziehend, motivierend und stehen in Einklang mit mir und meiner tiefsten Wahrheit. Sie erzählen etwas über meine Bestimmung und wer ich sein könnte, würde ich dem Ruf folgen.
Visionen sind häufig verschlüsselt. Sie sind wie Samen, deren Potenzial sich nur entfaltet, wenn sie in uns Wurzeln schlagen und aufgehen können. Es geht nicht darum, sie immer sofort zu verstehen, sondern ihnen Raum zu geben.
Der Leser der Geschichten dieses Buches möge mich begleiten auf dem abenteuerlichen Weg in den „Schlüsselraum“, der mich in einer tiefen Weise öffnet und erkennen lässt, wie fremd ich mir selbst bin. Weiter führt der Weg einem Löwen hinterher in meine Vergangenheit und Zukunft. Ich erkenne, wie beides zusammengehört.
Dann steige ich in die Berge, weil sich der Löwe mir dort oben zeigte. Ich lerne beim Klettern eine Menge zum Thema „Aufstieg“. Schließlich erreiche ich den heiligen Gipfel der Berge und erlebe ein unglaubliches Panorama. Mein ganzes Leben – von Anfang bis Ende – kann „von oben“ betrachtet werden. Dort, in einer heiligen Höhle, werde ich bereit gemacht, auf meinem Weg umzukehren. Nicht alle Ziele sind dafür da, um weiterzugehen. Ist der Zenit erreicht, gewinnt man einen Blick über den ganzen Weg, den man zurückgelegt hat, dann wird man ein Lehrer des Weges für die, die noch im Tal oder auf halber Höhe wandern, um ihnen als Begleiter zu dienen und auf den Gipfel zu helfen, auf dem so vieles im grellen Licht der Höhe sonnenklar wird, was zuvor unverständlich war. Alle meine Bücher verstehe ich als solche Wegbegleiter.
Am Ende feiere ich mit allen himmlischen und irdischen Gestalten, die mir auf meinem Weg geholfen haben, ein Fest der Verbundenheit.
So lade ich den Leser ein, seine Wanderschuhe anzuziehen und mit mir die „Kraft der Vision“ zu erfahren, die uns tiefer, weiter und höher bringt, als wir uns je hätten vorstellen können. Denn das Wesentliche und die Wahrheit sind in dieser Welt Geheimnisse. Gott ist bereit, uns die Schlüssel zu geben, die wir zu ihrer Entdeckung brauchen.
Was dir entsprosst,ist ein Lustgarten von Granatapfelbäumensamt köstlichen Früchten.
Hohelied 4,13
Die innere Welt ist größer als die äußere, hat jemand gesagt, und es stimmt. Es ist wie die TARDIS von Doctor Who1. In unseren Träumen etwa zeigen sich uns „Dinge“, die wir oft nicht fassen können – und manche von ihnen erscheinen uns dermaßen real, dass wir nicht wissen, ob wir wachen oder schlafen.
Vor vielen Jahren habe ich mich entschlossen, diesem inneren Leben mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Nachdem mir klar geworden war, dass Gott dort, im Inneren, zu mir redet und eher selten (akustisch hörbar) im Außen, und zudem Bibelstellen fand, wie etwa die, dass „die Liebe Gottes ausgegossen ist in unser Herz“ (und nicht in unseren Kopf), fiel für mich der Groschen: Gott wohnt und offenbart sich in uns – und wenn wir ihn dort nicht suchen, sondern meinetwegen in Kirchen und Kathedralen mit ihren Gottesdiensten und Messen, dann werden wir ihn womöglich niemals finden. Sein Haus sind wir. Gott schuf den Menschen als sein Gegenüber – und keine Religionen mit ihren Tempeln und Kirchen, Regeln und Lehren. Er redet mit UNS – ganz direkt, es braucht dafür keine vermittelnde Institution.
Wenn unser Inneres also so groß ist, das Gott darin einziehen kann, dann muss es uns doch wundern, warum wir so wenig über dieses Innenleben unserer Seele wissen und noch weniger darüber, wie wir es pflegen und kultivieren gemäß einem Paradiesgarten. Denn Gott begegnet dem Menschen in seinem Garten, so lesen wir es am Anfang der Bibel. Warum sollte sich das geändert haben? Durch den Sündenfall sind wir rausgeflogen, ja, aber durch die Vergebung der Sünden, die Versöhnung mit unserem Schöpfer am Kreuz Jesu Christi, haben wir wieder Zutritt und die Geschichte kann mit uns genau dort weitergehen, wo sie einst bei Adam und Eva abgebrochen ist.
Ich jedenfalls habe Jesus gebeten, mir diesen inneren Garten zu zeigen und zu erschließen. Und er hat angefangen, es zu tun – und über einen Anfang kommen wir meines Erachtens auch kaum hinaus, denn bereits dieser ist so überwältigend, dass wir für mehr in unserer kurzen Lebenszeit auf Erden weder die Kapazität an Zeit und Aufmerksamkeit noch an Hingabe finden.
Eine meine erstaunlichsten Entdeckungen war, dass dieser Garten unendlich ist. Er hat keine Grenzen (obwohl man trotzdem rausfliegen kann). Also trage ich die Ewigkeit im Herzen, ganz so, wie es in Prediger 3,11 steht:
Alles hat Gott schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr (der Menschenkinder) Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk nicht begreift …
In einem unendlichen Garten kann man vieles finden! Berge und Täler, Seen und Landschaften aller Art. Auch „Dinge“, die es auf Erden so gar nicht gibt, kann man dort entdecken – und alles ist lebendig. Die Gesetze der Vergänglichkeit (der Sünde und des Todes), wie sie auf Erden herrschen, regieren dort nicht das Geschehen, sondern die Gesetze des Geistes des Lebens (vgl. Röm 8,2). Der Tod hat keinen Zutritt und die Zeit läuft anders als hier. Auch sie ist lebendig.
In meinem inneren Garten gibt es ein großartiges Schloss. In einem weitläufigen Park gelegen, mit Türmen und Fahnen darauf, steht es prunkvoll und majestätisch als zentraler Ort meines „Reiches“, das aber auch Gottes Reich ist. Es existiert dort, in meinem Herzen, kein Unterschied: Sein Reich ist meines und meines seines. Gott wohnt in mir und ich in ihm – in Christus kommt alles zusammen zu einer seligen Einheit.
In diesem inneren Schloss gibt es einen Schlüsselraum. Als ich diesen Raum das erste Mal betrat, fand ich dort tausende von Schlüsseln aufbewahrt. Zu jedem einzelnen gab es eine Dokumentenrolle, die darüber Aufschluss gab, wo sich das entsprechende Schloss für den Schlüssel befindet und was geschieht, wenn er benutzt wird.
Ich war damals, vor vielen Jahren, von alledem sehr berührt – und doch ist die Erinnerung daran verblasst. Ich glaube nicht, dass sie ein für alle Mal „fort“ ist, aber der Zugriff darauf fällt mir heute schwer. Immer wieder finde ich es erschreckend, wie viel und wie schnell ich selbst wesentliche Dinge vergesse. Wie komme ich nur an die „innere Ablage“ bzw. die Seelen-Archive heran, wo das alles abgespeichert ist? Ich werde mich einfach aufmachen, den Schlüsselraum noch einmal aufzusuchen! Ich werde in meine „blassen“ Erinnerungen gehen und schauen, ob sie wieder aktiviert werden können …
Ich winke Leon, meinem Engel, den ich, ehrlich gesagt, auch schon lange nicht mehr gesprochen habe, zu und bitte ihn, mit mir zu kommen, um den Schlüsselraum noch einmal aufzusuchen. Beim ersten Besuch dort war Leon dabei gewesen und hatte mir eine Menge zu all den Schlüsseln und Texten erklärt. Ich will nun auffrischen, was mir in jenem Raum alles geschehen ist und mitgeteilt worden war. Was wird der Himmel mir darüber in Erinnerung rufen und zeigen?
Im letzten Gebetstreffen, in einem langen, durchdringenden Gesang, hatte ich den Eindruck, dass wir in diesem Gesang geformt wurden. In gewisser Weise werden wir selbst zu lebendigen Schlüsseln. Dann können von uns Räume betreten und erschlossen werden, die vorher unzugänglich waren. In einem veränderten Zustand kann man Türen durchschreiten, die man zuvor nicht einmal gesehen hat.
Auf den Stufen des Eingangs zu meinem Schloss sitzt meine Zwillingsschwester, die sagt: „Na endlich kommst du, ich warte schon eine Ewigkeit hier auf dich!“ Fröhlich wie ein Kind springt sie auf, um mit uns das Schloss zu betreten. Ich habe keine Ahnung, was sie hierhergebracht hat und zu einem Teil dieser Geschichte macht, aber da ist sie. Ob sie wirklich schon lange gewartet hat? Wie gesagt, das Wort „lange“ ist ein Zeitbegriff, der an innerseelischen oder interdimensionalen Orten wie diesem Garten nicht so gebraucht werden kann wie „draußen“ in der physischen Welt.
Wie auch immer, ich freue mich, dass Isabella, so heißt meine Schwester, dabei ist. Zu dritt nehmen wir die Stufen der mächtigen Eingangstreppe und drehen uns vor dem Eintritt noch einmal kurz zu der wunderschönen Landschaft um, in der das Schloss liegt. Es sieht „frisch“ aus, wie an einem neuen Morgen nach dem Regen.
Auf einer Außenterrasse links von uns gibt es Aktivitäten. Bedienstete stellen Stühle auf und legen einer Gruppe von runden Tischen neue Decken auf. Sehr einladend sieht das aus – für einen großartigen Tag im Schloss. Ein irdischer Tag kann ja sehr kurz und sehr lang sein, leer und erfüllt. Die Zeit kann zäh dahinrinnen oder lebendig dahinplätschern. Aber hier? Hier ist alles lebendig und dient den Absichten des Hauses.
„Es geht immer um das Leben“, denke ich bei mir. Wie können wir besser mit dem Leben fließen und mit ihm kooperieren, frage ich mich? Wach sein für den Augenblick, ja, das ist sicher ein wichtiger Aspekt, dem Leben trauen, ein weiterer. Aber auch dieser lange, wohltuende und gemeinsame Blick ins Land hat es in sich. Die Augen saugen die belebende Schönheit in sich auf.
Meine Schwester und ich sind schon in vielen Geschichten bzw. Visionen zusammen unterwegs gewesen. Schließlich sind wir Zwillinge. In der irdischen Realität bin ich wenig in Kontakt mit ihr und weiß die Verbindung nicht zu pflegen. „Wie können wir so wie hier in der anderen Realität verbunden sein?“, frage ich Isabella, während wir nach dem wohltuenden Blick in die weite Gartenlandschaft das Schloss betreten. Schon der Eingangsbereich ist wunderschön, großzügig und edel. Alles atmet überirdische Beständigkeit und Pracht.
„Du musst wissen, wer du bist und entsprechend handeln, das ist alles“, sagt meine Schwester wissend. „Trennung ist eine Fiktion, ein Relikt aus dem Trauma des Rauswurfs aus dem Garten. Ich glaube, wir sind hier, um das besser zu verstehen.“ Isabella wirkt hier „verjüngt“ und strotzt vor kindlicher Energie und Neugierde. Selbst die Kleidung ist die eines jungen Mädchens, sie trägt einen halblangen braunen Strickrock und weiße Strumpfhosen darunter!
Gute Antwort, denke ich, sie scheint der Schlüssel für eine Menge von Fragen zu sein. Der Schlüsselraum wird mir sicher noch mehr über dieses Geheimnis der Identität und die ihr entsprechende Lebensweise offenbaren.
Ich erinnere mich jetzt, dass der gesuchte Raum links vom Eingang lag, in einem seitlichen Abschnitt des Schlosses, wo sich die Arbeits- und Versorgungsräume befinden. Nur langsam und schemenhaft kommen die Bilder des Inneren des Schlosses wieder hoch. Alles hat sich seit dem letzten Mal verändert. Ich stelle fest, es wird in mir gearbeitet, ohne dass es mir bewusst ist. In meinem Schloss herrscht eine Mischung aus Lärm und Ruhe, Arbeit und Vergnügen. Emsiges Personal läuft geschäftig hin und her, und dennoch gibt es überall ruhige Plätze und Nischen.
Ein Bediensteter begrüßt uns mit angedeuteter Verneigung und geleitet uns mit schnellem Schritt, ohne etwas zu sagen, in Richtung Schlüsselraum, ganz so, als wären wir dafür angemeldet. „Oh, heute wird unser Schloss vergrößert!“, meint der perfekt gekleidete Page, der offenbar meine Gedanken lesen kann, entschuldigend über sein Tempo und sichtbar erfreut über unser Ansinnen, den Schlüsselraum zu besuchen. Aber ich weiß nicht, was er mit dieser Aussage meint. „Wenn ich fragen darf, was hat denn das zu bedeuten? Diese ganzen Arbeiter hier … wer sind sie und was genau tun sie hier?“
„Das wissen Sie nicht?“, fragt der Bedienstete irritiert zurück, bleibt stehen und wirft einen fragenden Blick auf uns drei. Meine Schwester zuckt wortlos mit den Schultern und ich fühle mich peinlich berührt, als wäre das eine wirklich dumme Frage. Leon übernimmt das Antworten: „Der Herr des Hauses ist ein Mensch“, meint er entschuldigend, „und Menschen wissen nicht, wer sie sind und was sie haben, auch nicht, was sie können und zu bewirken in der Lage sind. Das alles hier ist „neu“ für den Besitzer, auch wenn es das an sich keineswegs ist. Die Welt lässt ihn rasch alles vergessen.“
„Das ist ja ein Dilemma …“, stößt der Bedienstete mit einer Mischung aus Besorgnis und Unglauben in der Stimme hervor. In einer Nische rückt er uns behände die Stühle einer kleinen Sitzgruppe zurecht. Anscheinend können wir ohne Klärung dieses „Dilemmas“ nicht weitergehen.
„Oh ja, das ist zwar wirklich ein Problem“, nickt der Engel dem Bediensteten zu, „aber ich bin hier, um diesen Prozess der Erweckung und Erinnerung zu begleiten, soweit dieser Mensch das zulässt.“ Leon blickt auf mich, als wolle er meine Genehmigung einholen, diese Geschichte fortzusetzen. Isabella zupft mir am Ärmel, ich soll etwas sagen.
„Na gut“, meine ich, „ja, es stimmt, ich bin der Mensch, der keine Ahnung hat, der ‚Herr des Hauses‘, der nicht weiß, dass er es ist. Warum ich das alles nicht weiß, das versteh ich auch nicht, und es ist mir jetzt gerade ziemlich peinlich. Aber niemand hat mir je etwas über dieses Schloss gesagt. Dieses ganze „innere Leben“ war kein Fach in der Schule, wisst ihr. Es wurde schlichtweg ignoriert, übergangen und als irreal abgetan. Alles ging um Äußerlichkeiten. Darum bitte ich um Nachsicht und sehr herzlich um die Fortsetzung der Reise. Für jede Hilfe, mich zu erinnern und neu zu entdecken, bin ich dankbar.“
„Das hast du gut gesagt, Bruder“, flüstert mir meine Schwester zu und auch Leon nickt anerkennend. „Also gut, setzen wir die Innenwelt-Erforschung fort!“, nickt der Diener und erklärt nach einer nachdenklichen Pause meiner Schwester und mir Folgendes: „Wann immer ihr eure Innenwelt betretet, und erst recht, wenn ihr nach den Schlüsseln fragt, verändert sie sich. Sie ist nicht statisch und in Beton gegossen, wie die physische Außenwelt. Alles hier ist prinzipiell beweglich und lebendig. Dieses Schloss wächst, weil der „Herr des Hauses“ gerade einen Wachstumsschub hat. Durch seine Beschäftigung mit der geistigen und seelischen Welt, die viele Schnittpunkte haben, erschließt sie sich ihm neu oder weiter. Wer sucht, der findet …“
„… und wer anklopft, dem wird aufgetan“, führen meine Schwester und ich den Satz wie aus einem Munde fort. Da zeigt es sich, dass wir Zwillinge sind! Wir müssen lachen, was nach der Verlegenheit eine Entspannung mit sich bringt und uns den Weg zum Schlüsselraum fröhlich gestimmt fortsetzen lässt.
Nach einer etwas verwirrenden Strecke durch verschiedene Gänge und um mehrere Ecken gelangen wir auf einen runden Innenhof, von dem Türen und Tore in alle Richtungen abgehen. Nichts davon kommt mir bekannt vor. Erneut bin ich betreten darüber, wie wenig ich über meine eigene Innenwelt weiß. Wie ist das nur möglich? Und was mag sich wohl hinter all diesen Türen verbergen?
Leon hat offenbar meine Gedanken „gehört“ und meint begütigend: „Wenn wir erst einmal die Schlüssel zu diesen Türen geholt haben, werden wir eine große Entdeckungstour durch die dahinterliegenden Räume machen! Ich bin mir sicher, dass wir wahre Schätze finden werden und dass hinter manchen dieser Türen noch weitere Türen liegen. Es ist einfach so, dass jede Entdeckung zu weiteren führt. Das soll dich jedoch nicht stressen, sondern freuen.
Je mehr Bereiche dieser inneren Welt du aufschließt und als zu dir gehörig annimmst und integrierst, desto reicher ist in der Folge der Ausdruck deines Wesens auf der äußeren (irdischen und materiellen) Seite. Im Außen reich zu sein, ohne es im Inneren zu sein, beißt sich. Es ist ein ‚gelogener‘ Reichtum, ein künstlicher, der keine Wurzeln hat und darum vom Wind zerstreut wird. Wenig, das echt ist, ist besser als viel, das unecht ist. Das eine hat Bestand, das andere verrinnt zwischen den Fingern wie Sand.
Der innere Reichtum ist ‚ewig‘, er war und ist und wird sein, er kann nicht verrosten, gestohlen werden und an Wert verlieren. Also wohl dem, der seinen Herzensreichtum entdeckt und unabhängig wird von dem äußeren Mammon, der die Welt beherrscht. So hat es der große König (Jesus) gesagt.“
„Das hat er“, entgegne ich Leon. Seine Kommentare sind mir wie immer erhellend und sehr hilfreich, mich vor diesem allem hier, was zwar unfassbarerweise zu mir gehört und in mir existiert, aber doch so unbekannt erscheint, nicht zu fürchten, sondern Mut dafür aufzubringen. Ich weiß, das klingt sonderbar, denn meine eigene Fülle zu entdecken und sie dann in der Welt auch kreativ und konstruktiv nutzen zu können, ist doch pure Glückseligkeit. Dieses Paradox erinnert mich an jenen berühmten Text von Marianne Williamson, der fälschlicherweise Nelson Mandela zugesprochen wird.
Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind.Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich mächtig sind. Es ist unser Licht, das wir fürchten, nicht unsere Dunkelheit.Wir fragen uns: Wer bin ich eigentlich, dass ich leuchtend,hinreißend, talentiert und fantastisch sein darf?Wer bist du denn, es nicht zu sein?Du bist ein Kind Gottes.Dich selbst klein zu halten, dient der Welt nicht.Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun,wenn du dich kleiner machst,damit andere um dich herum sich nicht verunsichert fühlen.Wir sollen alle strahlen wie die Kinder.Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gotteszum Ausdruck zu bringen, die in uns ist.Sie ist nicht nur in einigen von uns; sie ist in jedem.Und wenn wir unser eigenes Licht erstrahlen lassen,geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis,dasselbe zu tun.Je mehr wir von unserer eigenen Angst frei werden,befreit unsere Gegenwart andere ganz von selbst.2
Wir rasten für einen Moment in diesem Hof, dessen Anblick mich tief anrührt. Ein solcher Ort – welch Potenzial und Möglichkeit er in sich birgt! Aber das Schloss ist weit größer als dieser Hof … und „wächst“, wie der Diener uns mitgeteilt hat. Es steht in einem weiten Gartenland … Wie kann man hoffen, solch eine Fülle in seinem kurzen Leben auch nur im Ansatz zu ergründen? Wie reich ist ein Mensch in seinem Inneren und kann aus Quellen schöpfen, die unermesslich sind?
Bekümmert schaue ich Leon an, der stets meine Gedanken kennt. „Das ist das Sünden-Paradox“, meint er. „Viele Menschen – auch Christen – sind arm, obwohl sie reich sind; verlöschen, obwohl sie das Licht der Welt sind; vergehen, obwohl sie die Ewigkeit im Herzen tragen. Ihr Sinn wurde verblendet, dass sie stets im Außen suchen, was es nur im Inneren zu finden gibt. Sie leben ein ganz verdrehtes Lebenskonzept – von außen nach innen, anstatt umgekehrt von innen nach außen –, das man nur als teuflisch bezeichnen kann.
Obwohl nur Wenige es zu äußerem Wohlstand bringen, der aber vergänglich ist und mit unentwegten Sorgen einhergeht, ihn zu erhalten und zu mehren, zu schützen und zu verwalten, sind doch alle diesem hinterher und meinen, darin lägen der Erfolg und das Glück des Lebens.“
Mit einer Geste lenkt Leon meine Aufmerksamkeit auf die Türen rund um uns her: „Wenn einer auch nur einen einzigen Schlüssel in seinem Herzen findet, der eine einzige dieser Türen öffnet, wird er glücklich sein über das, was er findet, denn es ist sein eigentliches Wesen, seine innere Fülle, die ihm gegeben ist und die ihm seine wahre Bedeutung verleiht. Er trägt ein Geheimnis in sich, eine göttliche Perle, einzigartig und von unbezahlbarem Wert. Aber er hat keine Zeit, sie zu finden und zu verstehen, weil er ja rund um die Uhr für den äußeren Reichtum arbeiten muss, der ihm weder wahre Bedeutung noch wirklichen Wert gibt und so rasch vergeht, wie der Mensch dahinstirbt …“
Ich weiß genau, worauf Leon anspielt: das Gleichnis von der kostbaren Perle im Matthäusevangelium:
Wiederum gleicht das Reich der Himmel einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er aber (die) eine sehr kostbare Perle gefunden hatte, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte und kaufte sie (Mt 13,45-46).
„Hast du das gehört?“, frage ich meine Schwester.
„Es erklärt mir, warum die äußere Welt so anstrengend ist“, seufzt sie. „Hier ist gar nichts anstrengend, es muss nichts verdient werden, die Fülle ist schon gegeben. Dieses Schloss hier – es ist eine Perle –, du musstest es nicht kaufen, sondern in dir finden … und es hat auch noch Personal! Von dieser Fülle zu nehmen und das äußere Leben genau dieser inneren Fülle anzugleichen, ist das nicht die eigentliche Aufgabe für uns Menschen? Vielleicht ginge es dann ebenfalls im äußeren Leben müheloser zu und wäre so überfließend wie hier?“
„Aber auch diesen Weg zu gehen und hier alles zu erforschen, ist eine Mühe, oder nicht?“, werfe ich ein. „Es kostet Aufmerksamkeit und braucht Hingabe. Für mich erfordert es auch Mut, mich auf das hier alles einzulassen.“
Nachdenklich nickt meine Schwester. „Aber es ist doch eine ganze andere Mühe als in der äußeren Welt. Dort bringst du dein ganzes Leben damit zu, eine Hütte zu bauen und sie den Rest deines Lebens abzubezahlen. Von einem Schloss kann nicht die Rede sein. Alles, was ich hier sehe, ist in Geld gar nicht auszudrücken. Und es ist lediglich der Rahmen für diesen Weg der Entdeckung und Erforschung innerer Reichtümer. Alles ist schon da, selbst ein Engel, der uns begleitet – kostenlos!“ Isabella strahlt mit diesen Worten Leon an, der ihr Lächeln noch strahlender erwidert.
1 Die TARDIS ist eine fiktive Raum-Zeit-Maschine aus der britischen Science-Fiction-Fernsehserie Doctor Who. […] Neben der Fähigkeit durch Zeit und Raum zu reisen (und gelegentlich in andere Dimensionen) ist das bemerkenswerteste Merkmal an der TARDIS, dass ihr Inneres viel größer ist, als es von außen wirkt (Wikipedia, 6.9.2023).
2 Marianne Williamson, Rückkehr zur Liebe, Goldmann Verlag, Neuveröffentlichung 2016. Das Original: „Our deepest fear is not that we are inadequate. Our deepest fear is that we are powerful beyond measure. It is our light, not our darkness, that most frightens us. We ask ourselves, who am I to be brilliant, gorgeous, talented, fabulous? Actually, who are you not to be? You are a child of God. Your playing small does not save the world. There is nothing enlightened about shrinking so that other people won´t feel insecure around you. We are all meant to shine, as children do. We were born to make manifest the glory of God that is within us. It´s not just in some of us; it´s in everyone. And as we let our own light shine, we unconsciously give other people permission to do the same. As we are liberated from our own fear, our presence automatically liberates others.“ (Marianne Williamson, A Return To Love, Harper Collins, 1992).
Ich gebe dir verborgene Schätze und versteckte Vorräte,damit du erkennst, dass ich der Herr bin,der dich bei deinem Namen ruft.
Jesaja 45,3
Der Bedienstete bittet mich, an eine einfache Holztür zu klopfen, die etwas niedriger ist als die anderen Pforten des Hofes. Kaum, dass ich die Tür berühre, springt sie wie von Geisterhand auf. Wir müssen uns ein wenig bücken, um eintreten zu können. Seltsam. Dass gerade hier die ganzen Schlüssel aufbewahrt sein sollen, die all die Türen öffnen können – es sieht wirklich nicht danach aus.
Hinter der unscheinbaren Tür geht es ein paar Stufen hinab und der Blick öffnet sich auf einen großen Werkstattraum. Allerlei Tische und Werkbänke stehen herum. Und überall sind Schlüssel. Sie hängen an den Wänden und liegen in Vitrinen. Alle Tische sind von ihnen bedeckt und selbst auf dem Boden liegen welche.
Anscheinend werden hier ständig weitere Schlüssel produziert, obwohl der Raum bereits übervoll von ihnen ist. An Werkzeug mangelt es nicht. Fräsen und Feilen, Zangen und Hämmer liegen zwischen den Schlüsseln. Einen Ofen gibt es auch. Ich nehme an, dort können Schlüssel gegossen werden.
Meine Schwester tritt sogleich an den nächsten Tisch heran und nimmt verschiedene Schlüssel zur Hand und untersucht, wie schwer sie sind und wie unterschiedlich die Schnörkel an ihren Griffen aussehen.
Intuitiv weiß ich, dass sich diesem Raum noch ein weiterer oder sogar mehrere anschließen, denn es gibt noch andere Arten von Schlüsseln als diese „alten“ Modelle.
Mir ist, als schauten bei unserem Erscheinen in der Werkstatt alle Schlüssel zu mir hin. Sind sie lebendig? Befangen bleibe ich im Eingang stehen, aber Leon schiebt mich weiter. „Schluss mit der Zauderei!“
Bei diesem forschen Benehmen des Engels fällt mir auf, wie geneigt ich im Allgemeinen bin, Räume zwar einen Schritt weit zu betreten, aber nicht hineinzugehen, sondern in der Art eines Beobachters im Eingangsbereich stehen zu bleiben. Ich lasse mich nicht weiter auf die Möglichkeiten ein, die der Raum zu bieten hat. Aber warum nicht? Habe ich Angst, überfordert zu werden oder mich ungeschickt zu benehmen? Will ich erst alles über den Inhalt des jeweiligen Raumes wissen, ehe ich es wage, mich darauf einzulassen?
Meine Schwester ist schon bei einer der Vitrinen angelangt, während ich noch zögere, an den ersten Tisch, der mir am nächsten steht, heranzutreten. „Schau dir das an!“, ruft sie mir zu, und Leon schiebt mich an den Werkbänken vorbei zu ihr hin. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich einige Schlüssel zu mir hindrehen. Aber das kann ja gar nicht sein …
In der Vitrine liegen auf samtenen Tüchern in edlen Schatullen goldene Schlüssel. Einige sind sehr klein, andere dagegen überaus groß, bestimmt einen halben Meter lang. Es gibt eine Reihe von gleichartigen, immer größer werdenden Schlüsseln, was mich wieder an die Worte des Portiers denken lässt, dass das Schloss „wächst“. Wo ist er überhaupt? Erst jetzt merke ich, dass er nicht mit in den Schlüsselraum gekommen ist. Offenbar wird seine Begleitung nicht mehr gebraucht, da wir unser Ziel erreicht haben.
„Was sind das alles für Schlüssel?“, frage ich Leon.
„Sag du es mir“, antwortet er, „sie gehören ja alle dir.“
„Hier sind Tausende von Schlüsseln – und ich nehme an, es ist nicht der einzige Raum mit Schlüsseln? Wie kann das sein, dass es „meine“ sind? Ich kenne keinen einzigen.“
„Das ist die Frage“, meint Leon betont und zieht dabei eine Augenbraue hoch. „Wieso ist deine Aufmerksamkeit dermaßen mit anderen Dingen beschäftigt, sodass du meinst, diesen Raum noch nie gesehen zu haben? Obwohl er mitsamt diesem Schloss in dir ist – schon immer. Ehrlich gesagt, hast du es nur wieder vergessen, bereits hier gewesen zu sein. Viele Schlüssel wollten von hier aus schon herausgegeben und in die Welt verteilt werden, aber das ist nur eingeschränkt geschehen. Eine Menge Schlüssel liegen hier schon lange sinnlos herum. Stell dir vor, wie viele Türen geschlossen geblieben sind, weil du nicht erkannt hast, wer du bist, was du in dir trägst und wie du es herausgibst! Meinst du, es ginge in dieser Geschichte nur um dich? Und diese Schlüssel, denkst du, sie seien alle nur für persönliche Zwecke da? Nein, jeder Mensch trägt in sich Schätze für die ganze Schöpfung bzw. das ‚größere Ganze‘. Er kann ein Segen für seine Zeit und Welt sein. Nur, dass es ihm niemand gesagt hat …“
Erneut werfe ich Leon einen bekümmerten Blick zu, denn ich weiß, wie recht er hat und wie entfremdet wir Menschen uns selbst sind. Heute, viele Jahre nach dieser Vision mit ihrer Offenbarung der Schlüssel, habe ich eine Reihe von Büchern geschrieben, in denen, so glaube ich, eine Menge dieser Schlüssel stecken. Durch sie gelangen sie zu vielen Menschen und legen sich in ihre Hände, um durch Türen zu kommen, die ihnen bislang verschlossen waren. Immer weiter schreiben sich die Texte aus meinem Herzen heraus, sie wollen gar nicht aufhören, denn viele Schlüssel drängen darauf, endlich ans Licht zu kommen und benutzt zu werden.
Ich denke, man kann die von Gott abgekoppelte und verwaiste Welt mit einem Gefängnis oder Waisenhaus vergleichen, in dem viele Menschen hinter zahllosen Türen weggeschlossen sind. Es reicht nicht, ihnen nur einen Schlüssel zu geben, um eine Tür zu öffnen. Hinter der Tür ihrer Zelle wartet die nächste auf dem Flur, dann noch eine zum Trakt und noch eine zur Etage usw. Bis ein Mensch wirklich die „Anstalt“ durch das Haupttor verlassen kann, braucht er eine Menge Schlüssel, um durch ebenso viele Türen nach draußen zu gelangen. Sein Wunsch nach Freiheit muss groß sein, denn nicht nur Türen sind zu durchschreiten, sondern auch Wachen zu überwinden.
Ein Ausbruch aus der Welt der Illusionen und Ideologien hinaus in die Wirklichkeit jenseits ihrer Mauern ist nicht leicht. Aber ich glaube, der Himmel schickt jedem Menschen, der hinaus will, einen Engel, der ihm hilft. So wie er mir Leon an die Seite gestellt hat.
Jesus Christus hat die Herren, die das Gefängnis erbaut haben und betreiben, entmachtet. Aber damit ist das Gefängnis nicht einfach „weg“. Alles sieht nach der vollbrachten Erlösung, die einen Schlüsselwechsel zur Folge hatte (vgl. Offb 1,18), noch so aus wie vorher, obwohl sich „politisch“ alles verändert hat. Die Diktatur ist vorbei, die Zeiten haben sich gewendet. Der Vorhang im Tempel ist zerrissen. Gott wurde befreit …
Leon greift den Gedanken der Anstalt namens „Welt“, in der wir interniert sind, auf: „Befreiung ist ein nicht endender Prozess. Er braucht Reife und Bewusstheit. Zu Anfang sind diese Qualitäten noch gar nicht gegeben. Jesus sperrt eine Tür auf und ruft den Inhaftierten zu, herauszukommen. Viele wollen allerdings nicht aufstehen und herausgehen, sie sind zu sehr in ihrer kleinen Gefängniswelt zu Hause, als das sie der Stimme glauben und gehen wollen. Die Sicherheit des Gefängnisses gegen eine unberechenbare „Freiheit“ einzutauschen, das kommt ihnen doch zu risikoreich vor. Einige aber stehen auf und finden ihre Zellentür tatsächlich geöffnet. Sie gehen auf den Flur, wo der Herr sie zu sich winkt und mit sehr viel Fürsorge und Trost dazu bringt, an seiner Hand eine weitere Tür zu durchschreiten.
Dann aber ändert sich die Strategie. Der Herr öffnet den Fliehenden nicht weiter die Türen, sondern drückt ihnen den Schlüsselbund in die Hand und fordert sie auf, nun selbst die kommenden Türen zu öffnen. Ja, er hilft ihnen dabei, bis sie gelernt haben, wie es geht; dann liegt es jedoch in ihrer Hand, wie weit sie gehen und wie frei sie werden wollen. Der Schlüsselbund bedeutet potenziell die „ganze Freiheit“, aber von Tür zu Tür wächst die damit einhergehende Verantwortung. Wie viel Freiheit kann man jemandem zumuten?
„Stell dir ein Kind vor“, fährt Leon mit seiner Lektion in Sachen Freiheit fort, „ein kleines Kind, dem noch viele Grenzen gesetzt sind und dem man die Schlüssel nicht gibt – weder die von der Haustür noch die zum Süßigkeitenschrank und keinesfalls die Autoschlüssel! Freiheit braucht Reife.
Um im Bild der Anstalt zu bleiben, reicht vielen die Eroberung der Küche oder der Aufenthaltsräume oder des Hofes aus. Alles das befindet sich jedoch noch innerhalb der Gefängnismauern, von denen die Menschen gelernt haben, dass dort die Welt zu Ende sei.“
„Und ich dachte: ‚Wen der Sohn frei macht, der ist wirklich frei‘ (vgl. Joh 8,36)“, erwidere ich. „Jetzt höre ich, dass dem nicht so ist?“
„Du hörst, was du hören willst“, ermahnt mich Leon, während Isabella die Vitrine mit den Schlüsseln öffnet und ihre Finger über einen der goldenen Schlüssel gleiten lässt. Aber Leon nimmt ihre Hand weg. „Vorsichtig!“, mahnt er und drückt die Türen der Vitrine vorsichtig wieder zu. Dann setzt er seinen Vortrag über die Freiheit fort:
„Du möchtest es leicht haben. Aber Freiheit ist nicht einfach, sie ist die größte Herausforderung an euch überhaupt. Ja, der Sohn hat euch frei gemacht (vgl. Gal 5,1), das ist eine Tatsache, aber den Weg der Freiheit zu gehen und die Schlüssel der Freiheit auch anzuwenden, das ist mehr, als nur zu ‚glauben und zu bekennen‘, dass ihr in Christus frei seid. Wen kennst du denn, den du als ‚wirklich frei‘ bezeichnen würdest? Und was bedeutet Freiheit für dich ganz persönlich? Dass es dir soweit ‚gut geht‘ und du mit Gottes Hilfe im Gefängnis einigermaßen klarkommst? Wie viele Kompromisse hast du eigentlich mit der Unfreiheit geschlossen, um dir nicht die Mühe machen zu müssen, sie zu überwinden?“
Eine sehr unbequeme Frage, die Leon mir da stellt! Angesichts der vielen herumliegenden Schlüssel ist es mal wieder äußerst peinlich, zugeben zu müssen, wie nachlässig ich darin bin, den Weg der Freiheit konsequent zu gehen. Warum nur gebe ich mich so schnell mit so wenig zufrieden?