Der Turm des Blutes - Torsten Weitze - E-Book

Der Turm des Blutes E-Book

Torsten Weitze

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Beschreibung

Niris viertes Jahr an der Sturmfels-Akademie beginnt turbulent. Bei ihrer Rückkehr findet sie sich inmitten von Konflikten wieder: Ihre Gemeinschaft ist zerrüttet, und sie selbst wird in den Turm des Blutes berufen. Die Suche nach den Ankersteinen drängt, doch liebgewonnene Freundschaften und einst sichere Bande drohen zu zerbrechen. Während nicht nur Niri mit den Grenzen ihrer magischen Fähigkeiten ringt, gerät die Welt um sie herum in Aufruhr, denn unerklärliche Morde erschüttern die Akademie. Niri und ihre Gefährten stehen vor einer der schwersten Herausforderungen ihres bisherigen Lebens: Gelingt es ihnen, ihre Kräfte zu vereinen, um das drohende Chaos aufzuhalten, oder wird jeder für sich allein untergehen?

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Torsten Weitze

Der Turm des Blutes

Sturmfels-AkademieBand IV

Impressum

© Torsten Weitze, Krefeld 2024.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Januar 2025

Lektorat/Korrektorat: Janina Klinck / www.lectoreena.de und Tatjana Weichel / www.wortfinesse.de

Coverdesign: Guter Punkt München unter Verwendung eines Motivs von Shen Fei

Kartenillustrationen: Markus Weber, Guter Punkt München

www.tweitze.de | Facebook: t.weitze | Instagram: torsten_weitze

.

Für alle, die mit sich ringen.

Schenkt euch selbst Zeit, Geduld und Liebe.

Und denkt daran:

Es gibt nichts Schöneres für eine Geschichte, als zum ersten Mal erlebt zu werden …

Prolog

Wianaris Augen fühlten sich an, als hätte ihr jemand Sandkörner hineingerieben und sauren Wein hinterhergekippt. Die aus irisierendem Stein bestehenden Wände, die kristalline Decke, ja selbst die Lange Tafel, an der sie mit Malkar saß – all diese Dinge waren kaum mehr als verschwommene Schemen am Rande ihrer Wahrnehmung. Selbst das blau schimmernde Feld des Ijunja sah sie seit geraumer Zeit doppelt, und so hätte sie allein für das Wissen, wie lange genau sie bereits mit Malkar vor jenem verzauberten Brett saß, das ihn jegliche anderen Belange vergessen ließ, eine ihrer Sigillen hergegeben. Alles in ihr schrie danach, aufzugeben, und doch konnte sie es nicht. Die Leben unzähliger Unschuldiger hingen davon ab, dass sie durchhielt.

Wianari war sich dessen, was sich auf Deatril abspielte, nur vage bewusst. Lediglich als fernes Echo vernahm sie die Gebete, die ihre Gläubigen an sie richteten, während sie hier an der Langen Tafel saß und Malkar in seinem Zeitvertreib gefangen hielt. Auch wenn die Göttin des Lebens, des Lichtes und des Wissens nur halbherzig den Worten lauschen konnte, die sie erreichten, ergaben sie doch ein zugleich erschütterndes wie mutmachendes Bild. Einerseits begrüßte sie das Zerbrechen des weltlichen Einflusses der Malkariten, schließlich handelte es sich dabei um ein Schlüsselelement jenes Plans, der Malkars Geiselhaft über die Sigillen der Schöpfung, welche er in seiner Siegelkammer eingeschlossen hatte, beenden sollte. Andererseits jedoch riefen Wianaris Gläubigen sie um Beistand und Führung an, die sie nicht bieten konnte. Und ihre Gebete mehrten sich, denn die Splitterlande, das Herzstück Kernheyms, drohte ohne die strenge Hand der Malkariten einmal mehr zu einem Schmelztiegel politischer Intrigen und selbst ernannter Kleinstherrscher zu verkommen.

Während sie also mit Malkar an der Langen Tafel in ihrem selbst gewählten Kerker des Geistes hockte, würde das Heimatland der Sturmfels-Akademie schon bald um einiges gefährlicher werden, als es unter der stabilisierenden, wenn auch harten Hand der Malkariten in den letzten Jahrzehnten gewesen war.

Und inmitten dieses wachsenden Chaos lebte eine Aelevin hinter den Mauern der Akademie, auf deren unwissenden Schultern sämtliche Hoffnungen Wianaris und des Unsteten Gottes ruhten. Eine Aelevin, deren Stimme Wianari beängstigend lange nicht mehr vernommen hatte …

»Beginne das Spiel.«

Malkars Worte hallten leise von den Wänden wider und rissen sie aus ihren Gedanken. Seine Augen waren feuerrot, als er aufblickte, und seine Mundwinkel zuckten ungeduldig abwärts. Nicht nur Erschöpfung lag in seinem Blick, sondern auch das ihm stets innewohnende Feuer, der Drang des Eroberers, der mit jeder Partie auf dem verzauberten Ijunja-Brett mehr und mehr zum Leben erweckt wurde.

Mittlerweile war Wianari sich nicht mehr sicher, ob die vergiftete Trophäe des Unsteten Gottes wirklich eine gute Idee gewesen war. Ihr Gebrauch schien jenen unbarmherzigen, gewalttätigen Malkar, den es zu fürchten galt, regelrecht aus seiner sonst so nachdenklichen Hülle herauszumeißeln. Daher glaubte Wianari fest daran, dass, sobald der Gott des Feuers, des Krieges und der Herrschaft den Bann des Ijunja abstreifen würde, ihre kleine Scharade vorbei sein würde. Dann gab es nichts mehr, was zwischen ihm und Deatril stand.

Sie riss sich zusammen, bemühte sich um ein Lächeln. »Versuchen wir doch mal eine Partie in einem Bergpass.« Ihrer Stimme fehlte es an jeglicher Begeisterung, als sie präzise erdachte Formen und Konturen auf dem hölzernen Brett erschuf.

Malkar bemerkte den Tonfall nicht. Seine fiebrigen Augen starrten wie gebannt auf das Ijunja. Erleichtert atmete Wianari auf. Deatril würde einen weiteren Aufschub erhalten. Sie konnte nur hoffen, dass Niri ihn zu nutzen wusste.

Was immer sie auch gerade tat.

Kapitel 1

Niris Dasein war erfüllt von rauschender Kühle. Der Fluss der Zeit glitt über sie hinweg, während sie auf dem Boden seines Flussbettes festsaß. Sich dort festkrallte. Um ihr Überleben rang.

Niemals hätte sie sich diese kostbaren Momente borgen dürfen, die ihr nach der Beendigung des Auftauchens nicht zugestanden hatten, das wusste sie jetzt. Doch auf anderem Wege hätte sie Kommandant Aschenmoor in jenem ungleichen Zweikampf nicht besiegen können, dessen Siegestrophäe die Erstürmung oder eben Verschonung der Sturmfels-Akademie gewesen war. Niri hatte ein Blutbad verhindert, sich dadurch jedoch selbst an den Grund des Flusses der Zeit verbannt. Hätte sie im Vorfeld von jenem Preis gewusst, den sie würde zahlen müssen … wäre sie mutig genug gewesen, ihn zu entrichten?

Diese eine Frage hatte sie unzählige Male gewälzt, seit ihr Bewusstsein wieder zu zusammenhängenden Gedanken fähig war. Egegmon, der oberste Daekhan des Turms des Blutes, hatte es Niri in ihrem Zustand der Starre erträglich gemacht, indem er ihrem Verstand wieder und wieder befohlen hatte, zu schlafen. Doch anscheinend nutzte sich seine Magie an ihrem Geist ab. Anders konnte sich Niri die Tatsache nicht erklären, dass der ledergesichtige Zwerg ihr nun bereits mehrfach den Befehl gegeben hatte, einzuschlafen, nur um dann mit einem Kopfschütteln und einem leisen Brummen den Raum zu verlassen, während Niri höchstens eine leichte, geistige Trägheit verspürte.

Ihr selbst wäre es nur allzu recht gewesen, unwissend in tiefem Schlaf zu verweilen, denn langsam wurde ihr Verstand sich des grausamen Kerkers gewahr, in dem ihr Körper gefangen gehalten wurde. Niri glich einer Statue, aufgestellt in einem dunklen Raum, der nur dann von Fackeln erleuchtet wurde, wenn sie Besuch bekam. Jeder ihrer Freunde sprach ab und an zu ihr, doch ergaben ihre Worte wenig Sinn. Es war, als würden sie voraussetzen, dass Niri bestimmte Dinge wusste. Dinge, die sie ihr während ihrer Starre erzählt hatten. Niri war sich unsicher, was ihren Geist schneller zerrütten würde: dass sie in ihrem Körper gefangen saß oder dass sie in mühsamer Gedankenarbeit die wenigen Gesprächsfetzen zusammenfügen musste, an die sie sich noch erinnern konnte.

Sie wusste, dass irgendetwas mit dem Ankerstein in ihrer Hand passiert sein musste. Nachdem sie Aschenmoor besiegt hatte, hatte sie besagtes Amulett von seiner Brust gerissen, doch nun waren ihre Finger zwar gekrümmt, als sollten sie etwas halten, doch wann immer Licht in den Raum schien, erkannte Niri, dass ihr kostbares Beutestück fort war. Ein nagendes Gefühl plagte sie, dass sie wissen müsste, wer es genommen hatte, aber sie konnte sich einfach nicht erinnern. Der Fluss der Zeit schien sie gleich einem Felsen, der im Flussbett ruht, langsam, aber sicher abzutragen. Erst wurden die Kanten runder, dann verschwanden sie ganz. Danach schrumpfte der Stein, wurde immer weniger, bis er vollends zu Sand zerrieben war …

Niri.

Sie hörte ihren Namen, jedoch nicht mit den Ohren. Der Ruf war mehr ein Echo in ihrem Kopf.

Niri.

Erleichterung durchflutete sie. Das war der Junge! Der Junge im Zimmer!

Ich höre dich! Sie dachte die Worte so intensiv sie nur konnte.

Das ist schön, aber kein Grund, gleich so zu schreien. Ein gewisses Amüsement lag in der Stimme des jungen Aeldae und nahm Niri ein Stück der Panik, die in ihr aufzukommen drohte.

Kannst du mir helfen?

Das versuche ich seit … Er brach ab.

Niri lachte bitter in den Tiefen ihres Verstandes auf. Der Junge im Zimmer erlebte die Zeit auf eine andere Weise als sie. Er beobachtete die Zukunft mit all ihren Möglichkeiten und sprach oft von ihr, als läge sie in seiner Vergangenheit.

Und was haben deine Versuche ergeben?, fragte Niri den Jungen. Plötzlich verspürte sie nichts mehr als den Wunsch, den Brustkorb heben und senken zu können. Sie musste in ihrem Zustand offenkundig nicht atmen, aber diese einfache Tätigkeit hätte ihr zumindest das Gefühl gegeben, noch zu den Lebenden zu gehören.

Nun … Er zögerte wieder. Dies ist das erste Mal, dass du auf mich reagierst, seit der Fluss der Zeit seinen Griff um dich gelockert hat.

Gelockert? Niri horchte auf. Für mich rauscht er genauso wild und wütend um mich herum wie seit dem Moment, als ich mir zwei Herzschläge borgte.

Du bist sehr tief eingetaucht. Dort unten hat ein lebendes Wesen nichts verloren.

Ich bin nicht eingetaucht, korrigierte Niri verschnupft. Ich bin versunken. Darin liegt ein großer Unterschied.

Niri … warum streitest du mit mir? Der Junge klang äußerst verwirrt.

Gerne hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Mein Verstand ist wach, mein Körper jedoch gelähmt, erwiderte sie deutlich zurückhaltender. Ich fürchte, dass eine gewisse Gereiztheit erst der Anfang von Schlimmerem darstellt, was mir widerfährt, wenn ich noch länger hier gefangen bin.

Ich verstehe … glaube ich.

Der Junge schwieg, und in Niri stieg die Furcht auf, dass er fort war, und sie wieder allein mit dem Rauschen der Strömung, die mehr und mehr von ihr abtrug …

Bist du noch da?, flehte sie regelrecht.

Ich bin hier. Und ich glaube, es wäre am besten, wenn du es auch wärst. Aber dafür musst du loslassen.

Niri verstand nicht. Loslassen?

Du krallst dich im Flussbett fest, so wie ich es dir geraten habe. Aber nun musst du wieder loslassen.

Sie konzentrierte sich auf jenen Teil ihres Verstandes, der mit dem Fluss der Zeit verbunden war und entdeckte einen kleinen … Ball … aus erhärteter Willenskraft, der sich am Grund des Flusses festkrallte. Es fühlte sich für Niri an, als hätte sie eine Leitersprosse so lange und krampfhaft umschlossen, dass ihre Finger sich jeglichen Versuchen widersetzten, ihren Griff auch nur einen Hauch zu lockern. Ich glaube, ich hänge fest …

Hm. Verständlich. Wieder schwieg der Junge eine quälend lange Zeit. Dann änderte sich plötzlich das Rauschen des Flusses. Es wurde unruhiger.

Wütender.

Niris Verstand watete regelrecht durch einen Morast aus Furcht, und sie festigte ihren Griff um das Flussbett instinktiv.

Niri. Die Stimme des Jungen klang nun näher, hatte einen Teil seines fernen Echos verloren. Niri, du musst meine Hand packen.

Verwirrt spürte sie in sich hinein, konzentrierte sich vollends auf den Fluss, der ihr so viel Angst einjagte. Da war etwas, weit voraus. Gleich einem Stofffetzen, der an einem Felsen inmitten wilder Stromschnellen hängen geblieben war. Die Präsenz schien sich zu strecken, ihr ein Stück weit entgegenzukommen.

Bist … bist du das etwa?

Mach schnell, drängte er. Ich lehne mich bereits so weit aus meinem Zimmer, wie ich nur kann. Wenn der Fluss mich gänzlich zu packen bekommt …

Er musste nicht weiterreden. Niri wollte sich bewegen, sich ihm in irgendeiner Form nähern, doch die Angst vor dem Fluss hielt sie an Ort und Stelle.

Ich kann nicht!, rief sie voller Verzweiflung.

Du musst! Wenn du deiner Furcht nachgibst, wirst du die Macht des Flusses nie mehr zu nutzen wagen – und schlimmstenfalls seinen Tiefen nie wieder entkommen.

Niri wusste, dass er recht hatte. Schon jetzt betrachtete sie den Fluss der Zeit mehr als eine Bedrohung denn eine Naturgewalt. Wenn sie diese Sichtweise nicht änderte, würde er sie zerreiben. Zu einem Nichts pulverisieren. Alles auslöschen, was sie in ihrem Leben noch hätte erreichen können.

Niri dachte an ihre Freunde. An die Aeleven aus dem Turm der Bettler, die in ihr eine ungekrönte Königin sahen. An die verschmähte Sigille im versiegelten Palast Aelderheyms, die nach einem neuen Träger rief, um mit seiner Hilfe höchstwahrscheinlich den Grundstein für eine neue Inkarnation des Ewigen Biestes zu erschaffen.

Sie wurde gebraucht. Und sie wusste, sie wurde vermisst … Von Apllut, Jonah, Tullpa, Tarikh.

Und von Harduul.

Als hätte sich eine Tür in ihrem Inneren geöffnet, erstrahlte das Gesicht des immer so ernsten Wildlings in ihrem Verstand. Seine treuen Augen, die geerdete Art, mit der er ein Problem nach dem anderen aus dem Weg räumte, das zwischen ihm und seinen Zielen stand. Seine Hände auf ihrem Rücken, als er sie das letzte Mal umarmt hatte. Wann war das gewesen? Sie erinnerte sich nicht. Und wenn der Fluss die Oberhand gewann, würde es auch keine weitere Umarmung mehr geben. Nicht einmal mehr die Erinnerung an den Fahamehr, der damals in einer regnerischen Nacht einer Halb-Aeldae Schutz vor einem Haufen Schläger gewährt hatte …

Niri! Verzweiflung durchdrang den Schrei des Jungen im Zimmer.

In einem Akt purer Willenskraft zwang sie sich, ihren Verstand vom Flussbett zu lösen, der Furcht in ihrem Inneren ebenso zu trotzen wie der reißenden Strömung, die sie umgehend um ihre Kontrolle ringen ließ. Mit einem Ruck kam sie frei, und sofort wurde Niri fortgespült, sie trudelte, wusste nicht, wo oben und unten, Vergangenheit und Zukunft lag! Der Fluss war wie ein vielklauiges Monster, das sie zu zerreißen drohte. Panik stieg in Niri auf, ließ sie hilflos mit den Armen um sich greifen, in der vergeblichen Hoffnung, irgendwo Halt zu finden.

Etwas packte sie. Eine kindliche Hand, auf eine surreale, aber herrlich stoffliche Art greifbar.

Niri klammerte sich daran fest. Dann ertönte ein angestrengtes Grunzen, gefolgt von einem weiteren Ruck, und im nächsten Moment flog Niri im hohen Bogen in das Zimmer hinein, das dem Aeldaejungen, der sie gerettet hatte, eine Heimstatt bot.

Niri schlug auf dem Boden auf, rollte sich ab und kam erleichtert lachend auf dem dicken Teppich zur Ruhe. Das altertümliche Zimmer kam ihr plötzlich ungemein heimelig vor.

»Und ich hatte bei meinem letzten Besuch die Hoffnung gehegt, in Zukunft würdevoller eintreten zu können.«

Ein sanftes Rumsen ertönte, als der Junge die Tür des Zimmers schloss. »Du bist gerade der völligen Auslöschung entronnen, und das ist das Erste, was dir einfällt?«

Niri stützte sich auf die Ellenbogen, zog tief die etwas muffige Luft in ihre Lungen. Auch wenn sie wusste, dass ihr Körper auf Deatril noch immer in einem dunklen Zimmer erstarrt dastand, so fühlte sie sich doch lebendig, so herrlich lebendig!

»Danke!«, rief sie und sprang auf die Beine. Sie packte den verlegen grinsenden Jungen und wirbelte ihn herum. »Danke, mein lieber Freund!«

Er legte seine Arme um ihren Hals und drückte sich an sie. Plötzlich erschien er wieder mehr wie ein kleiner Junge statt wie ein mysteriöses Wesen, das am Rande der Zeit lebte.

»Sehr gerne geschehen«, murmelte er. Dann wand er sich aus ihrer Umarmung und musterte sie eingehend. »Du hast deine goldene Rüstung gefunden!«

Niri sah an sich herab. Welche Gesetze auch an diesem Ort hier galten, sie hatten Niri genauso im Zimmer erscheinen lassen, wie sie ausgesehen hatte, nachdem ihr Zweikampf mit Aschenmoor geendet hatte. Sie steckte in einer Rüstung, deren goldener Schimmer durch den Ruß von Aschenmoors Magie hindurch noch immer zu erahnen war. Selbst der Geruch angeschmorten Haares stieg ihr nun in die Nase. Ihres Haares, um genau zu sein.

»Du erkennst diese Rüstung wieder?«, fragte sie neugierig, da ihr Gegenüber mehr in der Zukunft denn in der Gegenwart lebte. »Habe ich sie bei unseren Gesprächen getragen, die da noch kommen werden?«

Der Junge biss sich auf die Lippe wie ein Achtjähriger, der versehentlich verraten hatte, was mit dem leckeren Apfelkuchen passiert war, den die Großmutter zum Abkühlen auf die Fensterbank gestellt hatte. »Ich meinte, du hast eine goldene Rüstung gefunden«, nuschelte er und setzte sich an den einzigen Tisch im Raum.

Niri schmunzelte und nahm dem Jungen gegenüber Platz, dort, wo sie immer saß, wenn sie herkam. Das riesige, wie im Moment des Zerberstens eingefrorene Fenster befand sich in ihrem Rücken, die seltsamen Spielklötzchen, mit denen der Junge stets neue, komplexe Muster anordnete, lagen in der Mitte des Tisches. Eines von ihnen glänzte golden. Kaum bemerkte der Junge ihren Blick, als er auch schon eine Hand ausstreckte und jenen Klotz zwischen seinen Fingern zu verbergen versuchte.

»Das bin ich, nicht wahr?« Niri deutete auf das Klötzchen. »Irgendwie spielst du mit diesen Würfeln durch, was passiert, wenn ich mich auf eine bestimmte Art und Weise verhalte.« Dabei deutete sie auf die übrigen Klötze, die außer ihrer Form und Größe nichts gemeinsam hatten. Da waren ein eiserner, ein glühender, ein frostig weißer, einer, der zu schweben schien, und …

Der Junge griff sich all sein Spielzeug und verbarg es zwischen seinen Armen. Dann sah er an ihr vorbei aus dem Fenster. Es musste gerade eine neue Art von Zukunft anzeigen, denn plötzlich drang nur noch ein Hauch von Licht ins Innere des Zimmers.

»Bitte frag nicht weiter«, bat der Junge sie leise.

Niri nickte, und der Aeldae entspannte sich etwas, auch wenn seine Arme weiter die Klötzchen umschlossen.

»Du weißt, dass Aschenmoor tot ist?«, fragte Niri, um ihm den Gefallen zu tun und das Thema zu wechseln. Zu ihrer Überraschung schüttelte der Junge den Kopf.

»Ich habe mich um wenig anderes kümmern können als darum, dass du frei kommst.« Er schloss die Augen für einen Moment, als ihn ein sichtbarer Schauer überlief. »Du bist nicht die Einzige, die dem Fluss der Zeit … Respekt entgegenbringt. Mich so weit aus dem Zimmer zu lehnen, erforderte viel Überwindung meinerseits.«

Das Fenster wechselte wieder den Ausblick. Es blieb düster im Zimmer, lediglich ein ungesunder Grünstich färbte nun die Wände und auch die Züge des Jungen.

Niri runzelte die Stirn. »Kommt es mir nur so vor oder zeigt das Fenster keinerlei verbesserte Zukunft, obwohl wir Aschenmoor davon abhalten konnten, einen der Ankersteine an sich zu reißen?«

Der Junge sah auf die Klötze in seinen Armen hinab und ließ sie dann auf seinen Schoß plumpsen. »Die Ankersteine sind nicht sicher«, sagte er schmallippig. »Und du warst lange fort.«

Ein Frösteln lief Niri über den Rücken. »Wie lange?«

»Zu lange, als dass dein Fernbleiben ohne Auswirkungen geblieben wäre.« Der Junge im Zimmer seufzte.

Niri spürte den bekannten Kopfschmerz in sich aufwallen, der ihr Anzeichen dafür war, dass ihre Zeit an diesem Ort zu einem Ende kommen musste.

»Was kannst du mir sagen?«, bohrte sie nach. »Wir haben vereinbart, dass ich dir helfe, eine bessere Zukunft für Deatril zu erschaffen. Doch dafür muss ich irgendetwas wissen, nach dem ich mich richten kann.«

»Finde die Ankersteine!«, sagte ihr Gegenüber nachdrücklich. »Daran hat sich nichts geändert.« Er sah auf seinen Schoß hinab und biss sich auf die Lippe.

Niri spürte das innere Ringen des Jungen. »Wenn es wichtig ist, dann sag es mir«, bat sie leise. »Ich verspreche auch, dass ich mir deine Worte mit Bedacht zu Herzen nehmen werde.«

Im letzten Jahr hatte sie das Reiten als eine Lektion ausgewählt, weil der Junge im Zimmer ihr anhand eines Beispiels klargemacht hatte, dass sie vielleicht in Zukunft sterben könnte, weil sie sich nicht im Sattel eines Pferdes halten konnte. Doch genau dieser Unterricht hätte sie beinahe das Leben gekostet, als Fiandra die arme Mesinka, Niris treues Pferd, während eines Ausritts vergiftet hatte. Der nachfolgende Zorn Niris hatte Fiandra beinahe das Leben gekostet und Niris Vertrauen zum Jungen im Zimmer für eine Weile zutiefst erschüttert. Sie wusste nun, dass all seine Worte über die Zukunft wie ein zweischneidiges Schwert zu behandeln waren.

Endlich rang sich der Junge durch und nickte sanft. »Finde die Anker­steine«, wiederholte er. »Und sorge dafür, dass der, den du den Prinzen von Staub und Schatten nennst, nicht zu Tode kommt.«

Niri riss die Augen auf. »Tarikh«, keuchte sie. »Er ist in Gefahr?«

Jetzt sah der Junge wieder aus dem Fenster. »Wir alle sind in Gefahr.«

»Ist gut«, seufzte sie ergeben und gab es auf, dem Jungen weitere Details entlocken zu wollen. Sie erhob sich, und der Aeldae stand ebenfalls auf, dabei seine Klötze auf dem Tisch arrangierend.

Niri riskierte einen verstohlenen Blick und sah, dass er den goldenen Würfel direkt neben einem platzierte, der regelrecht aus Rauch zu bestehen schien. Schnell wandte sie den Kopf in Richtung Tür, als der Schmerz zwischen ihren Schläfen mit einem Schlag schlimmer wurde. Anscheinend wehrte sich selbst das Zimmer gegen ihre überbordende Neugier und versuchte, sie zu vertreiben.

»Ich habe noch eine Warnung für dich.« Der Junge trat neben sie und legte eine Hand auf den Türgriff, um Niri den Weg nach draußen zu öffnen. »Dir läuft die Zeit davon. Wenn Malkar herabfährt und du nicht auf seine Ankunft vorbereitet bist, wirst du sterben.«

Niri sah ihn bestürzt an, als er die Tür mit einem Ruck aufriss. Das Röhren des Flusses der Zeit klang gierig, und ihre Verwirrung über die Worte des Jungen vermischte sich mit der Angst vor den Fluten zu einem paralysierenden Mahlstrom. »Malkar …? Herabfahren …?«, stammelte sie.

Der Junge gab ihr einen sanften Stoß, und sie stolperte durch die Tür. Die Fluten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlugen über ihr zusammen, und einen Moment später war Niri fort. Sie rang darum, nicht unterzugehen, sondern an der Oberfläche des Flusses zu bleiben, während dieser sie mit sich trug. Prustend und schnaubend kämpfte sie gegen den Sog an, der sie abwärts ziehen und wieder an den Grund ketten wollte. Ihre Kraft erlahmte, ihr Kopf tauchte in die eisigen Wasser …

Sie spürte einen wilden Ruck, als ihre Sinne in die wirkliche Welt zurückkehrten. Gerade noch rechtzeitig hatte sie ihren Platz im Gefüge der Zeit erreicht, der Fluss verblasste, seine Strömungen verstummten.

Niri stolperte im Dunkeln vorwärts, als ihr Körper jene Bewegung bis zu dessen Ende vollführte, in deren Ausführung sie vor Monden nach dem Duell mit Aschenmoor erstarrt war. Vasdram fiel ihr aus der Hand und scheppernd zu Boden. Düsternis umfing sie, und eine derart klamme Steife hatte ihre Glieder durchdrungen, dass Niri fürchtete, dass ihr niemals wieder warm werden würde.

»Hallo?«, fragte sie unsicher ins Schwarz hinein.

Zwei Herzschläge später öffnete sich rechter Hand eine Tür und ließ gleißendes Licht in den Raum. Niri blinzelte geblendet und hob eine Hand vor die Augen.

»Sie ist wach!«, hörte sie den Ausruf einer jungen Stimme vom Korridor her. »Ruft den Turmdaekhan! Bei den Streitenden Göttern, sie ist endlich erwacht!«

Kapitel 2

Isenbachs Atmung beschleunigte sich, als er den neuesten Klatsch hörte, der sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Die Aelevin, die von weiten Teilen der Aelevenschaft als die Bettlerkönigin bezeichnet wurde und mit ihrem Zweikampf gegen Aschenmoor den Angriffswillen der malkaritischen Armee vor den Toren der Akademie zerschmettert hatte, war soeben erwacht!

Isenbach verkniff sich ein Fluchen und senkte im Reflex den Kopf unter seiner Kapuze, damit niemand die aufkommende Angst in seinen Augen erkennen konnte. Niri war also ihrer Starre entkommen – und das ausgerechnet jetzt, da er endlich damit begonnen hatte, seine Pläne voranzutreiben. Gelang es ihm, die Sturmfels-Akademie zu Fall oder gar unter seine Kontrolle zu bringen, stünden ihm und Aschenmoors bisher noch nicht eingetroffenen Verbündeten der Zugang zum Krater offen! Doch aufgrund von Niris Erwachen drohten Monde der Täuschung und des mühsamen Anpassens seiner Erscheinung umsonst gewesen zu sein. Isenbachs umherhuschender Blick fiel auf ein langes Kochmesser, das direkt vor ihm auf dem Holztisch lag.

Er griff zu, ohne weiter nachzudenken.

Vielleicht könnte er die Aeldae verstummen lassen, noch bevor sie sich von ihrer Zeit in der Starre erholt hatte.

***

Niri saß in einer schwach beleuchteten Kammer, keine zehn Schritt von dem Ort entfernt, an dem sie wer weiß wie lange regungslos dagestanden hatte, und an dem Vasdram noch immer auf dem Boden lag. Die vier Blutaeleven, die den Gang vor dem Raum bewacht hatten, waren emsigen Bienen gleich um sie herumgeschwirrt und mit ihr in dieses nahe gelegene Kellerzimmer marschiert, in dem lediglich ein Tisch und zwei Stühle bereitstanden, dazu eine Laterne unter der Decke, die ein diffuses Licht spendete. Hätte Niri sich einen Raum vorstellen sollen, in dem man Gefangene befragte, sie hätte eben jenes Bild vor Augen gehabt, das sich ihr nun bot. Während sie noch darüber grübelte, ob sie etwas falsch gemacht hatte, betrat Egegmon auch schon den Raum.

»Ihr könnt gehen.« Die drei von seiner tiefen Stimme ausgesprochenen Worte fegten die Aeleven regelrecht aus dem Zimmer. Egegmon schloss die Tür hinter sich und trat energischen Schrittes an den Tisch. Dann setzte er sich Niri gegenüber, faltete seine Hände unter seinem Kinn und starrte sie durchdringend an. Seine forschenden Augen glitten über jeden Fingerbreit ihres Gesichts, und plötzlich ahnte Niri, wie sich der Junge im Zimmer fühlen musste, wenn sie auf jede seiner Handlungen achtete, um diese zu deuten.

Die Stille im Raum zog sich in die Länge.

»Bin ich eine Gefangene?«, platzte Niri mit der Frage heraus, die sie nicht länger zurückhalten konnte.

Egegmons Augenbrauen hoben sich. »Wie kommst du darauf?«

Ein wenig ungelenk deutete Niri auf ihre Umgebung. »Wir sind in einem Keller, es stehen Wachen auf dem Gang …«

Das leise Lachen Egegmons überrumpelte sie. Der Zwerg erschien ihr derart streng, ja beinahe herrisch, dass jeglicher Humor an ihm so unangebracht wirkte wie ein Wagensänger, welcher vergnügt um ein Feuer Malkars herumtanzte. »Wir haben dich in einem Keller untergebracht, weil es so leichter war, dich zu beschützen. Es starben Menschen – Hüter, um genauer zu sein –, als die Großdaekhanin dich im Turm des Wissens aufbewahrte.«

Niri kniff die Lippen zusammen. Zum einen weil der Tod anderer schwer auf ihrem Gewissen lastete, zum anderen weil Egegmon über sie redete, als wäre sie ein ungeliebtes Möbelstück, das man im Keller verstaute. Und ihre Unwissenheit trug auch nicht dazu bei, dass sie gelassener wurde. »Könntet Ihr dies vielleicht genauer ausführen?«

»Was?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln.

Niri warf die Hände empor. »Na, alles, was passiert ist, nachdem ich Aschenmoor besiegt habe.«

Egegmon schüttelte den Kopf. »Das würde viel zu viel meiner Zeit beanspruchen. Ich bin sicher, deine Freunde werden dir mit Freude dabei behilflich sein, dein Wissen über die letzten Monde aufzufrischen.«

»Monde?«, keuchte Niri.

Der Turmdaekhan nickte. »Du hast die gesamte Zeit des Wissens im Griff deiner Magie verbracht. Es bleiben lediglich fünf Tage, bis das neue Akademiejahr beginnt.«

Niri schloss die Augen. Der Winter war zum Zeitpunkt, da die Malkariten angegriffen hatten, noch nicht einmal beendet gewesen. Annähernd vier Monde ihres Lebens waren fort! Verschlungen vom Fluss der Zeit wegen zweier geborgter Herzschläge.

»Ich werde mir nie wieder eine Magieschuld borgen!«, stieß sie hervor.

»Unsinn!« Egegmons Widerspruch hallte gleich einem Peitschenknall durch die Kammer, woraufhin Niri überrascht die Augen aufriss und schockiert in sein nun wie aus Stein gemeißelt wirkendes Gesicht starrte. Jeglicher Humor war aus den Zügen des Zwerges gewichen; die mit komplizierten Mustern tätowierte Stirn des Daekhans lag in Falten. Er strich sich über den weißen Bart, und die darin eingeflochtenen Steine klickten leise, als sie aneinanderstießen.

»Du bist nun eine Blutaelevin«, fuhr er brüsk fort. »Und die reden sicher nicht über das Vermeiden einer fundamentalen Technik eines jeden ernst zu nehmenden Machtbeugers.«

Niri wusste nicht, was sie sagen sollte. Egegmon wirkte beinahe, als habe sie ihn mit ihren Worten persönlich beleidigt. »Aber … der Fluss der Zeit …«

Er hob die Hand. »Genug. Wir reden über deine Magie, sobald das Jahr begonnen hat. Dann werden ich und die anderen Daekhane dieses Turms herauszufinden versuchen, wie stark dein Verständnis deiner Gabe durch diesen Stümper Fanzwirt und Aschenmoors plumpen Unterricht verkrüppelt wurde.«

Niri biss sich auf die Lippen. Der Turm des Blutes stand im Ruf, ein Ort zu sein, an dem die Magie einer Person alles war, was zählte. Offensichtlich übertrieben die Gerüchte keineswegs.

»Ihr sagtet, es wären Hüter gestorben?«, fragte sie, da es ihr besser erschien, Egegmons Aufmerksamkeit in andere Bahnen zu lenken.

Der Zwerg nickte. »Trielbeck wollte den Ankerstein bewachen lassen, der sich in deinem Griff befand – leider hat sie bei diesem Ansinnen vollkommen versagt. Man fand jene Hüter, die dich und den Anhänger bewachen sollten, mit aufgeschnittenen Kehlen vor. Von dem Ankerstein fehlt seitdem jede Spur.« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich schätze, wenn dein Körper nicht hart wie Granit gewesen wäre, hättest du den Diebstahl ebenfalls nicht überlebt.«

Niri sah wie gebannt auf ihre linke Hand hinab. Sie erinnerte sich verschwommen an einen scharfen Schmerz während ihrer Starre. Jemand war bei ihr gewesen und hatte krampfhaft an ihren Fingern herumgezerrt, bis diese kaum merklich nachgegeben hatten. Gerade genug, damit ihr der Ankerstein entwunden werden konnte. Niri kniff die Augen zusammen.

»Ich erinnere mich, wenn auch nur vage«, flüsterte sie. »Da war ein Gesicht, dazu eine vertraute Stimme, doch die Einzelheiten sind wie ausgelöscht.«

Egegmon brummte unwirsch. »Eine bedauerliche Nebenwirkung all der Schlafmagie, die ich anwenden musste, um deinen Geist vor dem Wahnsinn zu schützen. Ich fürchte, einige Erinnerungen an deine Zeit in der Starre sind für immer verloren.«

Abwesend nickend versuchte Niri, den Schleier in ihrem Verstand zu durchdringen. Die Identität des Diebes zu ergründen könnte ihr dabei helfen, den so hart erkämpften Ankerstein zurückzugewinnen, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos.

»Ich nehme an, der Ankerstein wurde nicht wiedergefunden?«, fragte sie tonlos.

Egegmon schüttelte den Kopf. »Es wurde eine ausgesprochen gründliche Suche durchgeführt, jeder Raum der Akademie, seien es die Aelevenzimmer, die Kammern der Daekhane, ja selbst die Gemächer der Hüter wurden inspiziert, doch ohne Ergebnis. Wir nehmen an, dass der Mörder mit seiner Beute geflohen ist …«

Niri hörte dem Zwerg nur noch mit einem Ohr zu, denn ein seltsames Geräusch lenkte sie ab. Es klang wie ein lang gezogenes Iii. Sie legte den Kopf schief. »Hört Ihr das?«

Egegmon stand alarmiert auf und lauschte ebenfalls.

»… iiiriii …!«

Der Zwerg schob sich zwischen sie und die geschlossene Tür. »Vielleicht ein neuerlicher Anschlag auf dein Leben, nun da du erwacht bist«, brummte er düster.

Niri stand auf, ein breites Grinsen im Gesicht. »Ein Anschlag vielleicht, aber keiner, wie Ihr ihn erwartet, Turmdaekhan.« Sie trat zur Tür, die Warnungen des Mannes ignorierend, und öffnete sie.

»Niiiriii!«, erklang Grabbelschnacks frohes Rufen den Gang entlang. Die Stimme des Taschendrachen kam schnell näher, er musste im Flug und aus voller Kehle nach ihr rufen. »Niiiriii!«

»Ich bin hier«, stieß sie lachend hervor. Tränen brannten ihr in den Augen. Es war, als würde sie ihr Leben herbeirufen, das sich danach sehnte, sie nach all den langen Monden wieder in seine Arme zu schließen. »Grabbelschnack, ich bin hier unten!«

»Niiiriii!« Der Ruf schraubte sich in ungeahnte Höhen, dann schoss flatternd die kleine Gestalt des Drachen um die Ecke des langen Korridors. »Oh, wie schön! Du bist wirklich aufgewacht!«

Gleich einem schuppigen Geschoss flog er auf sie zu, die kleinen schwarzen Augen voller Wärme und Hingabe.

»Langsam«, mahnte sie und hob die Hände. »Bevor du mich noch umwirfst.«

Da prallte er schon schwungvoll gegen ihre Brustplatte, alle vier Beine voraus, und hielt sich am Kragen ihrer Halsberge fest. Niri spürte seinen Kopf, wie er sich an die Unterseite ihres Kinns schmiegte, und die Wärme seiner Drachenglut, die durch ihren Körper direkt in ihr Herz floss. »Oh, Niri, ich habe dich so vermisst!«

»Du hast mir auch gefehlt«, erwiderte sie mit erstickter Stimme und nahm das kleine Geschöpf in ihre Hände. Sie neigte den Kopf und drückte ihre Stirn gegen die seine. Genoss das Gefühl, ihren treuen Freund bei sich zu wissen.

»Ich habe ja anfangs so oft mit dir geredet«, plapperte Grabbelschnack drauflos. »Aber dann sagte Daekhan Egegmon, dass du mich vielleicht nicht mal hörst oder alles wieder vergisst, was ich dir erzähle, und dann wurden diese Hüter getötet und der Ankerstein gestohlen! Die ganze Akademie war in Aufruhr, alle liefen durcheinander und du wurdest in den Turm des Blutes gebracht und ich durfte dich nicht mehr besuchen, was ich fies und total unnötig fand –«

»Langsam«, bat Niri lachend. »Ich bin erst vor Kurzem aus der Starre erwacht und habe soeben erfahren, dass mir fast ganze vier Monde fehlen.«

Der Drache schmiegte sich weiter an sie. »Ich kann dir alles erzählen. Kaum haben die Malkariten das Weite gesucht, nachdem du das Duell gegen Aschenmoor gewonnen hattest –«

Ein Räuspern hinter Niri ließ sie herumfahren. Egegmon stand mit verschränkten Armen da, dumpfe Wut loderte in seinen Augen.

»Wir reden später«, sagte er eisig. »Ich habe noch zu tun, und gegen deinen Freund anzureden ist mühsam, wie ich in den letzten vier Monden erfahren musste.« Er sah Niri fest in die Augen. »Bis zum Akademie­jahresbeginn bist du streng genommen noch keine Blutaelevin, daher entlasse ich dich nun aus unserem Gespräch.« Er senkte seine Stimme, sie wurde dunkel und unheilvoll. »Aber sobald du den blutroten Umhang anlegst, wird mein Wort dein Gesetz sein, oder, bei den Streitenden Göttern, ich werde dich schon an deinem ersten Tag wieder aus dem Turm werfen.« Er deutete bei diesen Worten vage den Korridor entlang, an dessen Ende sich die Treppe befand, die Grabbelschnack hinabgeflogen war. »Um dir klarzumachen, wie ernst ich es damit meine, dass du wiederkehren wirst, bleibt deine Waffe hier, bis du den Turm des Blutes bezogen hast.« Dann schritt Egegmon energisch davon, ohne sie oder Grabbelschnack eines weiteren Blickes zu würdigen.

»Du bist also kaum wach und fängst schon wieder an, Daekhanen auf die Füße zu treten?«, wisperte Grabbelschnack ihr verschwörerisch zu. Seine geschuppte Stirn rieb sich an ihrer Nase.

»Und du setzt die Tradition fort, mich in Schwierigkeiten zu bringen, wo immer du auftauchst«, flüsterte sie verschmitzt zurück.

Egegmon war zwar ehrfurchtgebietend und dass er ihr mit einem Ausschluss aus dem Turm des Blutes drohte, bevor sie überhaupt in ihm aufgenommen worden war, hielt sie für einen denkbar ungünstigen Beginn ihrer bevorstehenden Zeit im Turm des Blutes, aber Niri hatte in den letzten Jahren einfach zu viele Gefahren durchgestanden, um sich von der schlechten Laune eines Daekhans einschüchtern zu lassen.

Grabbelschnack flatterte auf ihre Schulter und setzte von dort seine Liebkosungen ihrer Wange fort. »Oh, Niri, es gibt ja so viel zu erzählen!«

Sie schüttelte sacht den Kopf. »Erst will ich aus diesem Turm heraus und ans Licht …« Sie stockte. »Es ist doch Tag?« Grabbelschnack nickte und ein selbstironisches Lachen entrang sich Niris Kehle. »Nicht einmal das weiß ich. Es gibt wirklich viel nachzuholen.«

Schnellen Schrittes bewegte sie sich auf die aufwärtsführende Treppe zu, begierig darauf, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren und in ihr altes Leben zurückzukehren.

»Herrlich!« Niri sog die Luft des späten Frühlings tief in ihre Lungen, den Kopf mit geschlossenen Augen der Sonne zugewandt, die aus einem nur von wenigen Federwolken geschmückten Himmel herabschien. Vögel zwitscherten ringsum in den Zierbäumen und akkurat gestutzten Buchsbaumsträuchern, sie hörte das ferne Lachen der Aeleven, die sich in den Grünanlagen der Akademie tummelten, und ein angenehmer Wind spielte mit ihren Haaren. Erst jetzt, da sie im An- und Abschwellen der Brise den Unterschied zwischen frischer Luft und strengem, beißendem Geruch bemerken konnte, stellte sie eines sehr schnell fest: Sie stank erbärmlich! Ruß, alter Schweiß und getrocknetes Blut vermischten sich zu einem wahrlich üblen Miasma.

»Uh, wie konnte nur jemand in den letzten vier Monden meine Nähe ertragen?« Sie wedelte mit einer Hand vor ihrer Nase und sah dabei Grabbelschnack an. Dessen Blick jedoch ruhte auf den hinter ihnen verschlossenen Toren des Turms des Blutes.

»Fandest du diese tiefroten Vorhänge nicht auch unheimlich?«, fragte der Taschendrache nachdenklich.

Niri nickte. Am oberen Ende der Kellertreppe hatte sie ein dichtes Gewirr aus herabhängendem, blutroten Tuch erwartet, durch das sie sich einen Weg ins Freie hatten bahnen müssen. Ohne die rechter Hand offenstehenden Tore des Turms wäre es stockfinster gewesen, und kein Laut war aus der linker Hand liegenden Waffenhalle zu ihnen durchgedrungen – sofern der Turm des Blutes überhaupt eine eigene Waffenhalle besaß. Kaum waren Niri und Grabbelschnack ins Freie getreten, war das Tor aus dunklem Holz hinter ihnen zugefallen, was bedeutete, dass sich jemand – oder etwas – gemeinsam mit ihnen inmitten der Vorhänge befunden haben musste.

Lautlos wartend.

Lauernd.

Niri schüttelte sich und zwang ihre Gedanken fort vom Turm des Blutes hin zu ihren Freunden.

»Wo sind die anderen?«

Grabbelschnack zuckte merklich zusammen. »Ah. Die sind … ähm … bei Caldenhus.« Die rechte Vorderklaue des Drachen zuckte vage in Richtung des Turms des Wissens. »Warum gehst du nicht erst einmal baden und reinigst deine Rüstung? Bis dahin sind die anderen bestimmt zurück in unserem Zimmer.«

Niri legte einen Finger an ihr Kinn, als würde sie nachdenken. »Das könnte ich wirklich tun«, Grabbelschnack reagierte mit einem erleichterten Seufzen, »oder ich gehe zu Caldenhus und finde heraus, warum du mich unbedingt von diesem Treffen fernhalten willst.«

»Äh. Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, protestierte der Taschendrache. »Ich dachte nur, du möchtest vielleicht dafür sorgen, dass du nicht mehr so stinkst, und deine Freunde ohne Blut am Leib wiedersehen.«

Niri glaubte dem kleinen Kerl kein Wort. »Grabbelschnack …«

»Es ist besser so, Niri. Glaub mir.«

Die Dringlichkeit in seinen Worten ließ ihren Widerstand schmelzen. Anscheinend war irgendetwas mit ihren Freunden geschehen, während der Fluss der Zeit sie in seinem zornigen Griff gehalten hatte. Etwas, auf das Grabbelschnack sie erst vorbereiten wollte.

Also machte sich Niri auf den Weg zum Turm der Könige, der im Sonnenschein genauso strahlend und erhaben aussah, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Die marmorne Fassade des Bauwerks schimmerte hell, und die Balustrade, die sich um seine Mitte zog, erinnerte an eine majestätische Krone. Ein luxuriöses Zimmer und eine Vielzahl anderer Annehml­ichkeiten erwarteten sie im Inneren des Turms.

Doch bevor Niri eintrat, konnte sie sich eines raschen Schulterblicks nicht erwehren. Der Turm des Blutes ragte mit seiner monolithischen Bauweise im Gegensatz zum Turm der Könige eher schlicht in den Himmel. Die in seine Fassade hineingemeißelten Zeichen ließen ihn fremdartig, ja abweisend wirken. Bei Tag verhüllte der Turm des Blutes sein wahres Gesicht, doch sobald die Nacht hereinbrach, offenbarte das Mondlicht seine wahre Pracht. Dann leuchteten die verschnörkelten Zeichen auf und verliehen dem Bauwerk ein ehrfurchtgebietendes Aussehen.

»Niri?« Grabbelschnack sah sie ob ihres Stockens fragend an.

»Glaubst du, dass man mich dazu zwingen kann, in den Turm des Blutes zu wechseln?«, fragte sie nachdenklich. Sie war zu diesem Wechsel nie befragt worden. Die Erinnerung daran, wie Egegmon sie nach ihrem Duell mit Aschenmoor gleich einer seltenen Trophäe von Trielbeck eingefordert hatte, war klar und präzise in ihrem Gedächtnis verhaftet. Die Großdaekhanin hatte zugestimmt, und der Handel um ihre Zukunft war geschlossen worden, ohne dass Niri sich dazu hätte äußern können. Dann hatte Egegmon sie mit seiner Magie in Schlaf versetzt, damit sie ihre Zeit in der Starre überstand, ohne in den Wahnsinn abzugleiten, und nun stand sie hier. Eine angehende Blutaelevin wider Willen.

»Was ich so gehört habe, möchte jeder Aeleve, der magisch begabt ist, in diesem Turm unterkommen«, antwortete Grabbelschnack leise. »Und Turmdaekhan Egegmon wirkt auf seine Art genauso unnachgiebig wie Großdaekhanin Trielbeck. Wenn beide sich einig sind, dass du im Turm des Blutes besser aufgehoben bist, glaube ich kaum, dass du eine echte Wahl hast. Es sei denn, Egegmon wirft dich hinaus, aber irgendwie glaube ich, dass du dann die Akademie zur Gänze verlassen müsstest.«

Niri seufzte, dann nickte sie. Dies war nicht das erste Mal, dass die offiziellen oder inoffiziellen Regeln der Akademie ihr Leben an diesem Ort bestimmten. Und nach dem, was der Fluss der Zeit ihr angetan hatte, wäre es vielleicht besser, wenn sie von den besten Daekhanen lernte, welche die Sturmfels-Akademie zu bieten hatte, damit sie in der Lage sein würde, dem Fluss beim nächsten Konflikt die Stirn zu bieten.

Der sanfte Wind, der durch die Grünanlagen wehte, wechselte die Richtung, und Niri rümpfte die Nase.

»Gehen wir in den Turm der Könige. Ich kann wirklich ein Bad gebrauchen.«

Manchmal war es sinnvoll, einfach nachzugeben und sich treiben zu lassen.

***

Isenbach konnte sein Glück kaum fassen. Er starrte der jungen Frau und ihrem nervtötenden Drachen hinterher, die sich allen Ernstes über das Baden unterhalten hatten. Kein Alarm war ertönt, niemand hatte jenen alten Namen gerufen, den Isenbach nur noch in der Stille seines Geistes verwendete. Er war nun ein anderer, zumindest äußerlich.

Seine simple, aber effektive Verwandlung hatte er genau genommen Niri zu verdanken. Aus den Erzählungen über ihre Vergangenheit hatte er gelernt, wie schnell es gelingen konnte, sein wahres Wesen zu verhüllen. Niri hatte ihr Erbe unter einer deutlich zur Schau gestellten Demut, einer weiten Kapuze und Schmutz im Gesicht verborgen, und auch für ihn funktionierten diese einfachen Hilfsmittel hervorragend. Er hatte sich noch dazu einen struppigen Vollbart und lange, ungewaschene Haare, die ihm tief in die Stirn hingen, wachsen lassen. Schon war er in seiner neuen Rolle aufgegangen und dank eines neuen Namens nicht mehr zu erkennen gewesen. Die zusätzlichen Pfunde auf seinen Rippen hatten ihm ebenfalls dabei geholfen, ein neues Bild von sich selbst zu erschaffen, das selbst ehemalige Kollegen zu täuschen vermochte.

Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Eigentlich war er auch innerlich ein anderer, weil er durch das Ewige Biest erkannt hatte, dass er alles werden, alles erreichen konnte, wenn er nur jene Fesseln abstreifte, die ihn ängstlich und schwach hatten sein lassen.

Isenbach spürte dem Messer nach, das er unter seiner schlichten Robe verbarg und dort fürs Erste verweilen würde. Niri war zwar eine Gefahr, aber offensichtlich keine, die es heute auszulöschen galt, noch dazu keine, wegen der Isenbach mit einem plumpen Messerstoß seine Entdeckung riskieren würde. Er warf das Messer verstohlen in einen der Zierbüsche.

Nein, es gab da andere, diskretere Methoden und während er sich abwandte, begann er bereits damit, seine Pläne an die arglose kleine Aeldae anzupassen …

***

Der aromatische Dampf des Duftöls stieg in dünnen Schwaden vom heißen Wasser empor und liebkoste Niris Sinne. Sie rekelte sich träge in ihrer marmornen Wanne, und das Plätschern des Wassers hallte verspielt von den Wänden. Obwohl der Laut harmlos war, sandte er doch einen leisen Schauer über ihren Rücken. Sie vermeinte darin ein Echo der zornigen Strömungen zu hören, die sie Monde lang gefangen gehalten hatten.

»Ist alles in Ordnung?« Grabbelschnack hatte es sich auf einem Stapel Badetücher bequem gemacht. Nun hob er den Kopf und sah zu ihr herüber.

Niri nickte zögerlich. »Die Fluten des Flusses der Zeit sind vor allem ein Konzept in meinem Kopf, um meine Magie zu verstehen, und dennoch …« Sie wedelte mit der Hand durch das Badewasser und lächelte gequält. »Es wird eine Weile brauchen, bis ich das hier wieder vollends genießen kann.« Sie griff zu Seife und Bürste, entschlossen, der Patina auf ihrer Haut zu Leibe zu rücken. »Warum erzählst du nicht in der Zwischenzeit, was in den letzten vier Monden alles passiert ist?«

Grabbelschnack setzte sich auf, die schwarzen Augen glänzten vor Enthusiasmus. »Das Ende des Winters und die Zeit des Wissens waren keineswegs langweilig«, begann er lebhaft. »Nachdem du Aschenmoor besiegt hattest, zogen die Malkariten sich zurück. Erst dachten alle, dass sie an die Front zurückkehren würden, aber im Laufe der nächsten Tage trafen zwei bedeutende Nachrichten in der Akademie ein. Zum einen hatten die Fürsteninseln einen schweren Schlag gegen eine Flotte Malkaritenschiffe, die in einer Bucht überwintert hatte, ausgeführt, bei dem diese samt und sonders versenkt worden war, und zum anderen hatte die Hälfte aller Adelshäuser der Splitterlande ihre Unterstützung des Ordens als beendet erklärt, bis – wie war der Wortlaut noch gleich – ‚die geflüsterten Gerüchte über eine in naher Zukunft stattfindende Thronbesteigung Aelderheyms eingehend überprüft wurden‘.«

Niri pfiff durch die Zähne. »Also hat unsere Suche nach den Ankersteinen nun auch die Aufmerksamkeit des Adels erregt.« Sie seifte ihre Arme ein und ließ die Bürste über ihre verdreckte Haut tanzen. »Jonah hat diese Entwicklung schon länger prophezeit. Nun ist sie also eingetroffen.«

»Kurze Zeit später habe ich bei meinen Flügen über den Krater erste Spähtrupps gesichtet, die den Rand der Sturmklippen nach möglichen Schleichwegen hinab absuchten.« Stolz schwang in seiner Stimme. »Ich war derjenige, der Trielbeck darüber informierte.«

Niri runzelte die Stirn. Hatte sie nicht einige dieser Neuigkeiten bereits gehört? Vielleicht von Egegmon? Sie zermarterte sich das Hirn, ob der strenge Zwerg von Spähtrupps am Kraterrand berichtet hatte, doch konnte sich nicht an ein solches Gespräch erinnern. »Mir ist, als müsste ich das alles bereits wissen«, murmelte sie.

»Wir alle haben dich abwechselnd besucht und mit dir geredet«, erklärte Grabbelschnack nickend. »Vielleicht ist mehr zu dir durchgedrungen, als du annimmst.«

Niri biss sich skeptisch auf die Unterlippe. »Ich habe vieles vergessen. Egegmons Schlafzauber hat meine Erinnerung löchrig werden lassen.«

»Na ja, unsere Besuche wurden weniger, nachdem die Hüter getötet und der Ankerstein aus deiner Hand gestohlen worden war.« Grabbel­schnack trippelte nun nervös auf dem Badetuch umher. »Es war danach wirklich nicht leicht, zu dir zu gelangen. Egegmon lässt eigentlich nur die Blutaeleven und Daekhane in seinen Turm. Unter den Geistern der Akademie heißt es, dass nicht einmal sie Einlass in den Turm des Blutes erhalten. Anscheinend hat Egegmon eigene Bedienstete.«

Niri zog die Augenbrauen hoch. Selbst im Turm der Bettler gab es Diener, die den Aeleven beim Allernötigsten halfen, wie beispielsweise die Köchin Tamri. Wer also ging den Bewohnern des Turms des Blutes zur Hand? Sie dachte an die plötzlich hinter ihr zufallende Tür, als sie vorhin ins Freie getreten waren. An ihren Verdacht, dass da noch ein Wesen mit ihnen inmitten der Vorhänge gewesen sein musste. Sie schauderte trotz des heißen Badewassers. Ob die Diener im Turm des Blutes vielleicht mehr mit echten Geistern als mit ihren menschlichen Namensvettern gemeinsam hatten?

»Was gibt es noch für Neuigkeiten aus dem Rest Deatrils?«, fragte Niri, um sich selbst von ihren düsteren Gedanken abzulenken.

Grabbelschnack blickte nachdenklich zur Decke. »Seit geraumer Zeit schweigen die Götter – zumindest jene, die an der Langen Tafel sitzen. Wianari und Malkar haben auf kein einziges Gebet mehr reagiert. Kein Zeichen, kein Auflodern der Gebetsflammen nach einem Flehen um Malkars Führung, gar nichts. Würden des Nachts nicht ihre beiden Monde unverwandt am Himmel ihre Bahnen ziehen, es gäbe wahrscheinlich bereits Gerüchte über ihr Ableben oder ein Verlassen der Langen Tafel.«

Niris Finger krampften sich um den Rand der Wanne. Jegliche Verän­derungen im Verhalten der Streitenden Götter war Anlass zu äußerster Beunruhigung.

»Ich bin gespannt, was Daekhan Waendran zu dieser Entwicklung sagen wird«, dachte sie laut. »Vielleicht weiß er ja eine Erklärung.«

»Na ja, jedenfalls waren das Schweigen Malkars, der Verlust der Unterstützung durch Dutzende Adelshäuser und die von den Fürsteninseln versenkten Schiffe zu viel für den Kampfgeist der Malkariten«, fuhr Grabbelschnack mit konzentriert zusammengekniffenen Augen fort. »Sie erklärten den Krieg so lange für beendet, bis ihnen ihr Gott etwas anderes befehlen würde. Jonah sagt, dass die Wellenzähmer ihre Drachenschiffe nun wieder zwischen den Kontinenten Deatrils reisen lassen und der Seehandel erneut floriert.«

Niri grübelte für einen Moment, warum ihr adliger Freund diese Details derart interessierten, bis ihr einfiel, dass seine Familie vom Seehandel lebte. Dieser Frühling hatte wahrlich ausgesprochen gute Nachrichten für das Fürstenhaus der von Lokenburgs mit sich gebracht. Dann traf Niri eine Erkenntnis wie ein Blitzschlag, der ihre Finger kribbeln ließ.

»Ist dir klar, dass wir Anteil an diesen Ereignissen hatten?«, fragte sie im Flüsterton, als wäre sie eine Verschwörerin, die ein vertrauliches Geheimnis aussprach. »Mein Kampf mit Aschenmoor, die Befreiung von Jonahs Vater und des Admirals Sueishil aus dem Sündenfels … Beides hat den Kriegsausgang empfindlich beeinflusst. Die Malkariten haben aufgrund des von mir angeführten Widerstands keine Rekruten aus der Sturmfels-Akademie erhalten, und der Admiral hat die Flotten der Ordenskrieger dezimiert.« Ihr schwindelte bei dem Gedanken, dass ihre Taten und die ihrer Freunde derart weitreichenden Einfluss gehabt hatten.

Grabbelschnack hingegen grinste. »Natürlich ist mir das bewusst. Jonah und die anderen haben oft darüber gesprochen, bevor –« Ein Schatten der Betrübnis fiel über die Züge des Taschendrachen, und er verstummte. Anscheinend war er noch immer nicht bereit, jenes unbequeme Wissen preiszugeben, das ihre Freunde betraf.

»Es sind aber alle wohlauf?«, hakte Niri nach, die ihr Bad nun deutlich hastiger fortsetzte. Sie wollte hoch auf ihr Zimmer und nach ihren Freunden sehen.

»Allen geht es gut«, versicherte der Taschendrache ihr. »Es ist nur so, dass sie sich momentan nicht besonders gut vertragen.« Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln, das in Niris Augen gründlich misslang. »Du hast uns in mehr als einer Hinsicht gefehlt.«

Niri stand auf und griff nach einem Badetuch, auf dem kein Taschen­drache Platz genommen hatte. »Das waren jetzt genug Andeutungen. Entweder du erzählst mir, was passiert ist, oder ich frage die anderen selbst.«

Grabbelschnack öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Er nickte ergeben und ließ dabei die Flügel hängen. »Vielleicht ist es besser, wenn du dir ein eigenes Bild machst.«

Niri war hin- und hergerissen zwischen brennender Neugier und wachsender Unruhe, als sie im runden Gemeinschaftsraum auf die Rückkehr ihrer Freunde wartete. Sie ließ ihren Blick über die einzelnen Schlafkammern schweifen, die eine Art Ring um die zentrale Kammer bildeten. Nichts im lichtdurchfluteten Raum deutete auf eine wesentliche Veränderung innerhalb der letzten vier Monde hin. Noch immer prangte ein angeknabbertes Goldstück an Grabbelschnacks Tür, und es herrschte eine allgemeine Ordentlichkeit in den Kammern – zweifelsohne das Werk von Horelius, dem Geist, der sich um ihre weltlichen Belange kümmerte. Ja, selbst Niris Zimmer war zwar vom Staub der Wochen befreit worden, jedoch ansonsten unangetastet geblieben. »Als wäre ich nicht fort gewesen«, murmelte sie.

»Oh, du wurdest mehr als vermisst«, beteuerte Grabbelschnack ein weiteres Mal. Er hatte sich auf dem großen Holztisch niedergelassen, an dem die Gruppe stets aß und ihre Gespräche zu führen pflegte. »Aber …«

Aufgeregte Stimmen schallten die Wendeltreppe empor, und Niri wirbelte zu dem Torbogen herum, durch den ihre Freunde eintreten würden.

»… muss ich gestehen, dass du dich hervorragend geschlagen hast, Erdruferin.«

Niri atmete scharf ein und unterdrückte ein Flattern in ihrer Brust. Das war Harduul, der da sprach. Er klang wohlauf, ja sogar regelrecht fröhlich. Ein Ding der Seltenheit beim sonst so ernsten Wildling.

»Danke, Fahamehr. Zu gütig, dass du dies erwähnst.« Tullpas Stimme hatte einen unterwürfigen Tonfall, und Niri runzelte unwillkürlich die Stirn. Eine derart devote Haltung passte eigentlich nicht zu der Machtformerin.

»Wir haben erreicht, weswegen wir in den Krater zogen«, murrte Apllut. »Belassen wir es dabei.« Das Eis in seinen Worten war nicht zu überhören.

Niri wandte ihren Kopf in Richtung Grabbelschnack, doch der zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, du hast unserer kleinen Gruppe sehr gefehlt«, flüsterte er.

»Da ist sie ja! Hallo, Niri!« Jonah von Lokenburg tauchte als Erstes auf der Treppe auf und winkte ihr lebhaft zu. Sein rotgelocktes Haar war schlammverkrustet, ebenso wie seine Rüstung und Kleidung, doch sein nonchalantes Lächeln hätte ebenso gut in einen Ballsaal gepasst. Selbstzufriedenheit brannte in seinen Augen, beinahe so hell wie die tanzenden Funken seiner Magieschuld.

Niri winkte zurück, erleichtert, dass Jonah vollkommen unverändert wirkte. »Ein Mädchen braucht nach einem Duell auf Leben und Tod eben seinen Schlaf«, versuchte sie sich an einem lahmen Scherz. »In meinem Fall dauerte er halt vier Monde.«

»Wie schön, dass du darüber scherzen kannst, liebe Niri.« Prinz Tarikh al Sal-ka-Nar schritt dicht hinter Jonah, und im Gegensatz zu dem Adligen von den Fürsteninseln hatten Tarikhs Schultern einiges an Breite gewonnen. Eine Hand ruhte auf dem Knauf seines Säbels, und zwar mit der Selbstsicherheit einer Person, die sich ausgiebig im Umgang mit der Waffe geübt hatte. Als die beiden Adligen ins Zimmer traten, sah Niri, dass Tarikh eine ihr unbekannte, verbeulte Stahlrüstung trug, wegen der der Prinz sich aber nicht weniger grazil bewegte.

»Ja, du siehst richtig«, feixte Jonah mit einem wissenden Funkeln in den Augen. »Unser Prinz hat dem Lockruf der Folianten widerstanden und beinahe die gesamte Zeit des Wissens in der Waffenhalle verbracht.«

Tarikhs Miene verfinsterte sich. »Ein notwendiges Opfer. Was bringt mir die Weisheit von tausend Folianten, wenn mich aufgrund meines mangelnden Kampfgeschicks ein einziger Cruh-emdral mit seinem Dolch niederstrecken kann?«

Nervosität stieg in Niri auf, als die Worte des Prinzen von Staub und Schatten sie unweigerlich an das denken ließen, was der Junge im Zimmer geäußert hatte: Tarikh musste überleben. Dies war neben der Sicherung der Ankersteine von nun an ihre dringlichste Aufgabe.

»Macht mal Platz.« Apllut zwängte sich zwischen den beiden Adligen durch und Niri zog scharf den Atem ein. Der Pri-emdral war von oben bis unten mit getrocknetem Blut besudelt, das auch den neuen Wolfspelz beschmutzte, der auf den Arm- und Beinschienen des Wildlings angebracht worden war. Apllut zeigte sein breites, zahnbewehrtes Grinsen, als er Niris Reaktion bemerkte. »Ist alles Dornhirsch-Blut. Zu schade, dass keine Zeit war, ein Geweih abzuschneiden, um damit mein Gewanden zu vervollständigen.«

»Die Blutwölfe, die wir am südlichen Himmelstempel besiegt haben, hast du jedenfalls geschmackvoll zur Geltung gebracht«, erwiderte Niri mit einem fahrigen Lächeln.

»Findest du?«, fragte Tullpa, die zusammen mit Harduul den Raum betrat. »Ich bin der Meinung, er hätte ruhig die Idee unseres Fahamehrs aufgreifen können.« Dabei strich sie über ihren weißen Schulumhang, den sie aus Wolfsfell hatte anfertigen lassen.

Harduul trug ebenfalls ein Fell um die Schultern, doch während das Kleidungsstück an der Erdruferin mystisch wirkte, denn sie hatte einige verschlungene Zeichen ins Fell gebrannt, betonte die Trophäe im Falle des Wildlings seine überaus kräftige Statur. Niri ertappte sich dabei, dass sie ihm tief in die Augen sah, bevor Apllut ein bissiges Lachen ausstieß.

»Ach, Schwesterherz, es reicht doch, wenn einer von uns beiden den Boden anbetet, auf dem Harduul umherschreitet.«

»Das ist genug.« Die Stimme des Fahamehrs klang wie ein Peitschen­knall und ließ Niri zusammenfahren, während ihre Freunde lediglich wissende Blicke austauschten. Niris Augen zuckten von einem zum anderen, doch sie konnte nicht ergründen, was genau hier gerade vor sich ging.

»Ich gehe an die frische Luft«, sagte Apllut und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schwesterherz, kommst du mit?«

Tullpa sah beinahe bittend zu Harduul auf und der nickte brüsk.

Apllut schnaubte ob des stummen Austauschs und riss eines der bodentiefen Fenster auf, die zu dem um die Turmspitze laufenden Balkon führten. Tullpa folgte ihm mit hängenden Schultern, und kaum waren die beiden im Freien, als bereits eine lebhaft geflüsterte Diskussion zwischen ihnen einsetzte.

Tarikh schloss diskret das Fenster und sperrte so den Disput aus. »Es ist schön, dich wieder unter den Lebenden zu wissen«, wandte er sich mit einem herzlichen Lächeln an Niri und zog sie in eine enge Umarmung.

»Na ja, tot war ich jetzt auch nicht.« Sie genoss das Gefühl menschlichen Kontakts, und als hätte Tarikhs Geste eine Art Damm gebrochen, wurde sie nun auch von Jonah und Harduul umringt. Erst löste der Fürstensohn den Prinzen ab, dann war der Fahamehr mit einer Umarmung an der Reihe.

»Niri«, sagte er schlicht, die von ihr so schmerzlich vermisste Ruhe im Blick. »Willkommen zurück, goldene Schwester.«

Als sich seine Arme um sie schlossen, musste Niri sich auf die Lippe beißen, um nicht vor Rührung zu weinen. Was war nur los mit ihr?

»Und?«, fragte Jonah breit grinsend. »Hat dir Grabbelschnack schon von unseren Erfolgen berichtet?«

»Äh, nein«, antwortete der Taschendrache hastig. »Es ist einfach zu viel passiert, und es war nicht genug Zeit.«

Harduul gab Niri frei und sofort vermisste sie seine Nähe. Um ihre Gefühle zu überspielen, sah sie zwischen den Gefährten hin und her. »Welche Erfolge?«

Harduul räusperte sich und seine Mundwinkel zuckten zu einem Ausdruck der Zufriedenheit empor. »Wir haben den Weg zum nördlichen Ankerstein vorbereitet. Mit der heute beendeten Expedition sind die letzten Menag-Hrur fertiggestellt worden, die wir benötigen, um sicher bis zum nördlichsten Teil des Kraters zu gelangen.«

Jonah ließ sich schwer auf einen der Stühle plumpsen. Nun, da Niri ihn von der Seite betrachten konnte, waren die Biss- und Kratzspuren im Stahl der Rüstung gut zu erkennen. Irgendetwas hatte sich in Höhe der Nierengegend durch die Panzerung des Machtbeugers zu wühlen versucht.

»Eigentlich wollten wir den Ankerstein noch vor Beginn des neuen Schuljahres bergen, aber jemand«, er sah zu Harduul hinüber, »entschied, dass wir uns das Eindringen in den Himmelstempel für den nächsten Ausflug aufheben sollten.«

Harduul wirkte wie ein Berg, den ein nervöser Pinscher ankläffte. »Wir alle waren erschöpft, unsere Vorräte aufgebraucht und Grabbelschnack noch immer ratlos, was dort für eine Kreatur hausen mag. Es war die richtige Entscheidung, vor allem wenn man bedenkt, dass der Rückweg alles andere als beschaulich war. Oder hättest du dich etwa mit knurrendem Magen und mehreren schlecht verheilten Wunden durch die Herde Dornhirsche kämpfen wollen, die uns heute Morgen überrascht hat?«

Jonah hob seufzend die Hände. »Schon gut, oh großmächtiger Fahamehr. Wie konnte ich nur deine Weisheit infrage stellen?« Der Machtbeuger stand auf und deutete in Richtung Treppe. »Ich suche die Baderäume auf und wasche mir den Krater vom Leib. Will irgendwer mitkommen?« Er schnüffelte demonstrativ in Richtung Tarikh und Harduul. Die beiden nickten, und keine zwanzig Herzschläge später trotteten sie den Turm hinab.

Niri blieb mit Grabbelschnack allein im Gemeinschaftsraum zurück.

»Erzähle es mir«, forderte sie den Taschendrachen auf und deutete dabei auf Apllut und Tullpa, die sich noch immer auf dem Balkon ein Wortgefecht lieferten.

»Jaaa«, machte Grabbelschnack langgezogen. »Wo fange ich an?« Er flatterte zu ihr herüber und wartete, bis sie ihre Hände gefaltet hatte, sodass er sich dort hineinsetzen konnte. Seine Drachenglut wärmte Niri umgehend das Herz. »Du weißt ja noch, dass Tullpas Magie sie seit vergangenem Jahr auch dazu befähigt, die Luft zu beherrschen, richtig?«

Niri seufzte. »Ich habe nur die Dinge vergessen, die während meiner Starre geschahen«, erklärte sie ungeduldig.

»Ich will nur gründlich sein«, schmollte der Drache und verschränkte die Vorderklauen vor dem Körper. »Tullpas Angst davor, eine Erdruferin zu werden, die der Verlockung ihrer eigenen Magie erliegt, ist schließlich die Ursache des Schlammloches, in dem wir allesamt feststecken.«

Niri nickte. Im letzten Jahr hatte sich diese Krise bereits angedeutet. Damals war Tullpa nach einer Prüfung ihrer magischen Veranlagungen mitgeteilt worden, dass sie nicht nur das Element Erde, sondern auch das der Luft manipulieren könnte. Doch dieser speziellen Art der Machtformerei wurde durch die Wildlinge Kernheyms ausgesprochen großes Misstrauen entgegengebracht. Erdrufer, wie jene Individuen genannt wurden, hatten in der Vergangenheit zu oft die Macht an sich gerissen und blutige Stammesfehden losgetreten. Harduul hatte Tullpas Selbstzweifel damals beschwichtigt, indem er ihr eine Zeit der Bewährung auferlegt hatte, in der sie beweisen sollte, dass sie noch immer würdig war, ihn zu beraten und in Angelegenheiten magischer Natur gar zu leiten.

»Hat Tullpa etwa versagt?«, fragte Niri leise. »Ist sie deswegen so unter­würfig?«

Grabbelschnack schüttelte den Kopf. »Ihre ausgesprochen demütige Haltung hat sie während der Zeit des Wissens entwickelt. Ich denke, das liegt daran, dass ihre Handlungen seit Monden genauestens beäugt werden. Sie will um keinen Preis einen Fehler machen und hängt an jedem Wort Harduuls.« Er trippelte einen Moment auf Niris Handflächen umher und sah sich nervös um, als ob der Fahamehr jeden Augenblick hinter ihm auftauchen könnte. »Selbst wenn er mal falschliegt, antwortet sie nur mit einem ergebenen Nicken.«

Niri blickte aus einem der Fenster. Apllut und Tullpa schrien einander nun beinahe an. »Unseren Pri-emdral muss das furchtbar aufregen«, sinnierte sie. »Er will Tullpa vor allem Übel dieser Welt beschützen und gleichzeitig folgt er treu seinem Fahamehr. Zu sehen, wie seine Schwester, die nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, zu einer devoten Dienerin verkommt, muss ihn regelrecht zerreißen.«

»Du hast es erfasst«, brummte Grabbelschnack leise. »Apllut übernimmt es nun vollkommen allein, die Gedanken Harduuls herauszufordern – eine Aufgabe, die Tullpa sonst immer erfüllt hat, und zwar mit mehr Geschick und Erfolg als ihr Bruder.«

»Und was ist mit Jonah und Tarikh?«, fragte Niri ungehalten. »Konnten die nicht eingreifen?«

Grabbelschnack schnaubte, zwei winzige Funken schossen dabei aus seinen Nüstern hervor und verglühten, bevor sie Niris Finger erreichten. »Tarikh ist zu unerfahren, was Expeditionen in den Krater angeht, um sich in die verschiedenen Vorgehens­weisen einzumischen. Und Jonah …« Der Drache brach ab und rang sichtlich nach Worten. »Harduuls Sturheit und der Hang Jonahs, die Geduld zu verlieren, wenn man ihm nicht recht gibt, sind eine furchtbare Mischung.« Der Drache zuckte mit den Achseln. »Ich konnte ab und an zu Harduul durchdringen, aber nur, wenn es um so etwas wie die Frage ging, welchen Weg wir durch den Krater wählen. Du weißt ja, im Großen und Ganzen hört Harduul nur auf Tullpa oder auf dich.«

Niri sah zur Decke und atmete langsam aus. »Tullpa hat ihren Mut verloren und ich war nicht da.« Sie schloss kurz die Augen und fixierte dann wieder ihren geschuppten Freund. »Wie schlimm ist es?«

»Sehr schlimm.« Er ließ die Flügelspitzen und seinen Kopf hängen. »Am Anfang deiner Starre wurde nur über Kleinigkeiten gestritten, aber während unserer letzten Expedition mussten wir zweimal unnötig kämpfen. Einmal, weil wir Harduul nicht von seinem festgelegten Pfad abbringen konnten, obwohl ich Dornhirschspuren in der Nähe entdeckt hatte, ein weiteres Mal, weil uns sechs Cruh-emdrals bemerkten, als Harduul und Apllut sich gegenseitig anschrien.«

Niri zuckte erschrocken zusammen. »Mitten im Krater?«

Grabbelschnack nickte. »Mitten im Krater.«

»Hätte ich mir doch nur nicht diese zwei Herzschläge geborgt«, murmelte Niri verdrossen.

Grabbelschnack schmiegte seinen Kopf an ihre Finger. »Wusstest du eigentlich vorher, welchen Preis du für das Borgen bezahlen würdest?«

»Nein«, versicherte sie ihm mit einem trockenen Lachen. »Ich hätte den Fluss der Zeit niemals für derart unnachgiebig gehalten.«

»Wie … wie war es denn? Für vier Monde in einem einzigen Augen­blick eingefroren zu sein?« Seine schwarzen Augen blickten mitfühlend zu ihr auf.

Niri rang einen Kloß im Hals nieder, bevor sie antwortete. »Ich habe sehr wenig davon mitbekommen. Egegmon mag ein strenger Zwerg sein, aber dank seiner Magie konnte ich die letzten Monde überstehen, ohne wahnsinnig zu werden.«

»Na, wenigstens hat dich der Fluss der Zeit irgendwann gehen lassen und dir deine Tat verziehen.«