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Niri und ihre Freunde haben sich vor den Anschuldigungen der Malkariten in den Turm der Könige geflüchtet. Doch kaum hat das neue Akademiejahr begonnen, müssen sie erkennen, dass die Machtübernahme des Malkaritenordens bereits im vollen Gange ist. Rigorose Regeln werden erlassen, welche trotz aller Privilegien bis in den Turm der Könige hinein zu spüren sind und immer mehr Aeleven in die Arme der Malkaritenarmee treiben. Während die Bedrohung einer Schreckensherrschaft des Ordens immer greifbarer wird, finden sich Niri und ihre Freunde in einem Wettrennen gegen die Zeit wieder. Denn sie sind längst nicht mehr die Einzigen, die sich im Krater auf die Jagd nach den verschollenen Ankersteinen begeben haben …
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Seitenzahl: 789
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Torsten Weitze
Der Turm des Goldes
Sturmfels-AkademieBand III
IMPRESSUM
© Torsten Weitze, Krefeld 2024.
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Juli 2024
Lektorat/Korrektorat: Janina Klinck / www.lectoreena.de und Tatjana Weichel / www.wortfinesse.de
Coverdesign: Guter Punkt München unter Verwendung eines Motivs von Shen Fei
Kartenillustrationen: Markus Weber, Guter Punkt München
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Für alle, die mir beistehen, wenn meine Zweifel wieder einmal übermächtig werden …
Und denkt daran:
Es gibt nichts Schöneres für eine Geschichte, als zum ersten Mal erlebt zu werden …
Prolog
Das tiefe Brummen erfüllte die Halle derart plötzlich, dass Wianari unwillkürlich zusammenzuckte. Das Geräusch hallte von den irisierenden Wänden wider, prallte von der kristallenen Decke ab und drang einem überraschenden Sturmangriff gleich in das Gehör der Göttin des Lebens ein.
Es gab keinen Zweifel.
Malkar sang.
Sie drehte sich um und starrte den Gott an, der zusammengesunken auf seinem Stuhl saß und wie gebannt auf die Lange Tafel blickte, wo eine der vielen Fürsteninseln zu sehen war, die Malkars Gläubige in seinem Namen zu erobern versuchten. Triumph war deutlich in den Augen des Gottes, die so oft brütend dreinblickten, zu erkennen, und in seinem Gesang lag eine Leichtigkeit, die Wianari unwillkürlich an bessere Zeiten denken ließ. An hochtrabende Pläne, geschmiedet von Malkar, bevor er begonnen hatte, Zwang und Todesdrohungen als rechtmäßige Mittel zu verwenden, um seinen Willen durchzusetzen. Bevor Malkar begonnen hatte, die Sigillen der Schöpfung einzusperren und Deatril dem Siechtum des Stillstands auszusetzen. Der Unstete hatte Wianaris Bedenken geteilt, Malkar dagegen nichts davon hören wollen …
»Wir siegen«, flüsterte der Karmesinrote Gott zwischen zwei Strophen. »Endlich wendet sich das Blatt.«
Wianari war froh, dass Malkar noch immer auf die Lange Tafel hinabstarrte, denn sie benötigte einen Herzschlag, um ihre Züge unter Kontrolle zu bringen. Anscheinend hatte der Unstete Gott ihre Warnung ernst genommen und den Verlauf des Krieges zwischen den Splitterlanden und den Fürsteninseln zugunsten Malkars beeinflusst.
»Und du wolltest tatsächlich hinabsteigen und helfen«, erwiderte sie leichthin. Umgehend schalt sie sich für ihre Plumpheit, aber sie musste einfach wissen, wie es um Malkars Willen stand, wieder auf Deatril zu wandeln.
Der Gott des Feuers, der Herrschaft und des Krieges winkte ab. »Du hattest recht, meine Liebe. Es hat nur ein wenig Zeit und Vertrauen in meine Gläubigen benötigt.«
Wianari verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen. Malkar war besänftigt, sein Blick ruhte wieder verlässlich auf jenem Krieg, der einzig dazu diente, ihn abzulenken.
Die Göttin ertappte sich dabei, dass sie darüber nachgrübelte, wie der Unstete Gott den Konflikt zugunsten der Malkariten hatte kippen lassen. Dann beschloss sie, dass sie das gar nicht so genau wissen wollte.
Ihr Schlaf wurde ohnehin schon genug von dem Wissen darüber geplagt, was noch kommen würde.
Kapitel 1
Die Kälte klammerte sich an das Land gleich einer Geliebten, die geschworen hatte, nie wieder von der Seite ihres Erwählten zu weichen. Knietiefer Schnee verbarg die Einzelheiten der Ebenen, zeichnete die Umrisse der fernen Farmhäuser, kleinen Dörfer und der aus unzähligen Schornsteinen qualmenden Städte weich. Reisen per Kutsche oder Karren waren ein Ding der Unmöglichkeit, und so kam es, dass Niri wie eine Betrunkene schwankend im Sattel eines Pferdes saß.
»Hätte ich doch im letzten Jahr bloß Reitkunst als Lektion gewählt«, stöhnte sie und drückte den schmerzenden Rücken durch.
Jonah warf ihr einen Seitenblick zu, das rot gelockte Haar fiel ihm unter seiner Kapuze so weit in die Stirn, dass es seine schelmisch blitzenden Augen beinahe verbarg. »Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass dein Pferd sich ebenso wünscht, du könntest dich besser auf ihm halten. Schließlich muss sich das arme Tier durch den Schnee quälen und gleichzeitig eine wild hin und her wackelnde Last ausbalancieren.«
»Und an den Drachen, der die Schaukelei ebenfalls ertragen muss, denkt wieder keiner«, ertönte Grabbelschnacks Stimme aus den Tiefen von Niris Umhang. »Selbst bei meiner Überfahrt nach Kernheym wurde ich in meinem Käfig nicht so durchgeschüttelt.«
»Wir sollten dankbar für dieses Wetter sein«, erklärte Harduul mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. Der Wildling schwankte kaum weniger als Niri oder Apllut und Tullpa im Sattel, doch irgendwie wirkten seine Bewegungen in Niris Augen würdevoller. Ganz so, als verbot sich der Fahamehr, seine Schwäche überdeutlich zu zeigen. »Wenige Reisende verirren sich bei diesem Schnee auf die Handelswege der Splitterlande, und selbst die Malkariten hocken lieber in ihren Militärlagern vor einem warmen Feuer, das ihr Gott für sie schön hoch emporlodern lässt.«
»Was weniger Ärger für uns bedeutet«, fügte Apllut hinzu. Sein weiter Umhang verbarg seine Mimik vor Niri, aber der enttäuschte Unterton in des Pri-emdrals Stimme sprach Bände. Der Blutdurst ihres Freundes verbündete sich nur zu gerne mit dessen Langeweile, welche er schnell und ausgiebig empfand. Und wenn diese beiden Emotionen erst miteinander zu tanzen begannen, waren ein Kampf oder Streit nicht fern.
»Zügle dein Feuer, Bruderherz«, ermahnte Tullpa den vor ihr im Sattel hockenden Apllut.
»Ich habe doch gar nichts gesagt!«
»Und doch habe ich dich denken hören – allzu laut und allzu düster.«
»Spare deine Kampfeslust auf!«, befahl Harduul ihm mit einem strengen Schulterblick. »Am Ende unserer Reise wird Gewalt auf uns warten, da bin ich mir sicher.«
Niri erschauerte bei den orakelhaften Worten des Fahamehrs. Sie hoffte inständig, dass er sich irrte, da das, was sie vorhatten, hochgefährlich sein würde. Andere hatten es bereits als puren Irrsinn bezeichnet. Daekhan Caldenhus war eine jener Personen gewesen – oder auch sie selbst. In ein Gefängnis der Splitterlande einzubrechen und Jonahs dort eingekerkerten Vater zu befreien stellte ein Wagnis dar, das ihr noch immer den Atem raubte. Und doch waren sie und ihre Freunde nun seit einer Woche auf dem Weg in den Nordosten der Splitterlande zur einzigen Hafenstadt des Reiches unterwegs: Eynsiedlerhaaven. Denn dort befand sich ein Gefängnis, in dem angeblich Franbar von Lokenburg, Fürst des Hauses Lokenburg, weggesperrt worden war.
»Ich denke immer noch, dass wir einen Weg finden sollten, Jonahs Vater zu befreien, ohne dass es zu einem Kampf mit den Wachen kommt«, warf sie ein.
»Da stimmt dir jeder von uns zu«, erwiderte Harduul mit einem Nicken. »Aber realistisch betrachtet werden wir nicht darum herumkommen, der einen oder anderen Wache eins überzuziehen.«
»Oder sie auf nachdrücklichere Art und Weise zum Schweigen zu bringen«, fügte Apllut hinzu und drehte sich zu Niri, damit sie sehen konnte, wie er sich bedeutungsvoll mit einem Daumen über den Hals fuhr, ein dunkles Funkeln im Blick.
Jonah seufzte tief und überaus hörbar. »Da ich anscheinend wieder die Stimme der Vernunft spielen muss: Der Sündenfels war vielleicht mal ein verschlafener kleiner Kerker in den Klippen der Stadt, in dem Piraten und zwielichtiges Gesindel weggesperrt wurden, aber der Krieg zwischen den Splitterlanden und meiner Heimat hat ihn in ein Kriegsgefangenenlager verwandelt. Und das bedeutet, dass eine kleine Armee von Wachen vor Ort sein wird.«
Harduul brummte. »Klingt ja beinahe so, als wolltest du uns unser Vorhaben ausreden.«
»Ich will nur, dass wir gebotene Vorsicht walten lassen. Mein Vater hat nur diese eine Chance, wieder in Freiheit zu gelangen. Scheitern wir, landet er in Malkars Feuer, dafür werden die Zarmasuls schon sorgen.«
»Wenn er nicht schon längst verbrannt wurde«, murmelte Apllut und fing sich dafür eine Kopfnuss seiner Schwester ein.
»Ein waschechter Fürst ist zu kostbar, um ihn leichtfertig zu exekutieren«, erwiderte Jonah voller Eis in der Stimme, doch Niri konnte heraushören, wie brüchig dessen Oberfläche war, und dass darunter die tückische Strömung des Zweifels rauschte. »Sie werden meinem Vater erst etwas antun, wenn der Krieg gewonnen oder verloren wurde.«
Apllut kratzte sich am Kopf. Niri sah echte Neugier im Seitenblick des Pri-emdrals. »Das verstehe ich nicht.«
»Natürlich nicht«, antwortete Jonah gedankenverloren in jener Art beiläufigen Hochmuts, die Niri am Anfang ihrer Freundschaft mehr als einmal hatte mit ihren Zähnen knirschen lassen.
»Darf ich mich an einer Erklärung versuchen?«, fragte sie den Adligen, zum einen, um einen Streit zwischen ihm und Apllut im Keim zu ersticken, zum anderen, weil sie ihr Wissen testen wollte. »In Staatskunde wurde dieses Thema während einer Lektion angeschnitten.«
Jonah nickte, und irgendwie gelang es ihm, auch diese kleine Geste gönnerhaft wirken zu lassen. »Dann fahre du fort.«
Niri verbiss sich einen sarkastischen Kommentar zu seiner großherzigen Erlaubnis und sammelte ihre Gedanken. »Im Laufe der Jahrhunderte haben sich gewisse Verhaltensnormen durchgesetzt, wann immer zwei Reiche miteinander Krieg führen. Gegnerische Adlige werden häufiger gefangen genommen als getötet, für den Fall, dass sie als Faustpfand Verwendung finden. Manchmal können sie sogar freigekauft oder gegen gefangene Adlige der Gegenseite ausgetauscht werden. Erst wenn der Krieg vorbei ist, verlieren sie massiv an … Wert.« Sie sah zu Jonah hinüber. »Die Zarmasuls werden also erst dann den Tod von Jonahs Vater fordern, wenn seine Nützlichkeit als Geisel erloschen ist.«
»Was für eine barbarische Art, Krieg zu führen«, sagte Apllut kopfschüttelnd. »Den Feind wie ein atmendes Goldstück zu behandeln, anstatt ihn rundheraus zu töten.«
»Wo wir gerade von Gold reden …«, begann Grabbelschnack, aber da hatte Niri ihm bereits eine Münze zugesteckt. Ein zufriedenes Knirschen ertönte, als der Taschendrache seiner Leibspeise huldigte.
»Du verwöhnst ihn zu sehr«, tadelte Tullpa.
Niri lächelte. »Ich weiß. Aber wir verdanken dem kleinen Kerl jedes einzelne Gold, das wir besitzen. Ohne ihn und seine Karte des Kraters …« Sie ließ die Worte in der Luft hängen, und eine Weile sagte niemand etwas.
Die Sturmfels-Akademie war ein Ort, an dem Wohlstand Bildung bedeutete. Jene Aeleven ohne Reichtum waren gezwungen, ihn in den Ruinen Aelderheyms zu erlangen, die am Fuße der Sturmfelsen ruhten. Dank des kleinen Taschendrachen, der unermüdlich für sie den Kundschafter spielte, waren Niri und ihre Freunde in der Lage gewesen, sich ihren Traum von mundanem wie magischem Wissen zu erfüllen und sogar bis in den Turm der Könige aufzusteigen, auch wenn Letzteres nicht ganz freiwillig und nur dank der Hilfe anderer geschehen war.
Jonah räusperte sich, seine Miene strotzte vor hölzerner Reserviertheit. »Sollte noch irgendjemand Zweifel an der Notwendigkeit unseres Unterfangens hegen, möchte ich zu bedenken geben, dass wir das Vermögen meiner Familie benötigen, wollen wir uns länger als einige Tage im Turm der Könige halten. Die Kosten dort werden himmelschreiend hoch sein. Weit höher noch als die Schulden, die ich bei den Goldaeleven auf mich nehmen musste, damit wir unseren Tribut an die Akademie zusammenkratzen konnten.«
Tullpa griff von ihrem Pferd aus hinüber und tätschelte den Unterarm des Adligen. »Keine Sorge. Wir stehen dir zur Seite. Du musst uns nicht immer wieder überzeugen.«
»Eigentlich ging es in unserer Diskussion ursprünglich darum, Apllut davon abzuhalten, ein Blutbad anzurichten, sobald wir am Sündenfels ankommen«, erinnerte Niri.
»War ja klar«, maulte der Pri-emdral. »Meine Ideen werden verworfen, obwohl ihr sie noch nicht einmal im Detail kennt.«
Harduul lachte leise. »Weil wir dich besser kennen, als du wahrhaben möchtest.«
»Zumal du nicht unbedingt ein Ausbund an Komplexität darstellst«, fügte Jonah hinzu.
Niri rollte mit den Augen, und keine fünf Herzschläge später schossen Beleidigungen zwischen Apllut und Jonah gleich einem Schwarm zorniger Dolchhornissen durch die Luft. Sie wollte gerade wieder in Grübelei versinken, als sie Harduuls Blick aufschnappte. Der Wildling deutete mit dem Kinn neben sein Pferd und ließ es ein paar Schritte vor die Gruppe traben. Niri verstand und schloss zu dem Fahamehr auf, die Streithähne und Tullpa hinter sich lassend.
»Du übst?«, fragte er, kaum dass sie bei ihm war.
Niri brauchte nicht nachzufragen, was er meinte. Sie sprachen viel über ihre Fähigkeit, in den Fluss der Zeit einzutauchen, dort für den Rest der Welt wie erstarrt zu verweilen, um sich dann jene kostbaren Augenblicke, die sie geopfert hatte, während des Auftauchens zu Nutze zu machen.
»Jeden Morgen und jeden Abend«, beruhigte sie den Fahamehr.
Ein schwaches Lächeln stahl sich in die schieferfarbenen Züge des Wildlings. »Wir anderen bekommen davon nichts mehr mit, wie ich sehe.«
Jetzt war es an Niri, zu lächeln. »Ich bin mittlerweile diskret und verbleibe während des Auftauchens an Ort und Stelle. Zumal ich vermeiden möchte, jemanden zu erschrecken.« Sie sah zu Apllut hinüber, der mit tiefgrünem Gesicht und halb aufgestellten Schlappohren auf Jonah einschrie. »Unser Pri-emdral wird mit seinen Wurfmessern immer treffsicherer.« Die Halb-Aeldae verspürte keinerlei Interesse, sich von Apllut durchbohren zu lassen, nur weil dieser darüber erschrak, dass Niri wie aus dem Nichts vor seiner Nase auftauchte.
»Deine Gabe könnte der Schlüssel zu unserem Erfolg sein«, riss Harduul sie aus ihren Gedanken.
Niri schüttelte den Kopf. »Jonah und Tullpa sind ebenfalls Machtbeuger. Sicherlich wird uns auch ihre Magie nützlich sein. Dazu kommen Aplluts Talent im Schleichen und dein …« Sie zögerte.
Harduuls dumpfes Lachen erlöste sie aus ihrer Verlegenheit. »Ich bin der grobe Klotz, der nur dann nützlich wird, wenn ihr anderen versagt. Meine Axt und mein Schild sind zwar zuverlässige Verbündete, aber sie sind auch außerordentlich laut und direkt in ihrer Art.«
Niri griff zum Lederschlauch in ihrer Satteltasche und nahm einen Schluck der kalten Flüssigkeit, die dank der Temperatur glücklicherweise einen Teil ihres muffigen Geschmacks eingebüßt hatte. Sie verzog das Gesicht und hielt Harduul den Schlauch entgegen.
Der schüttelte nur den Kopf. »Du denkst zu sehr wie ein Stadtkind«, sagte er milde lächelnd und deutete auf die Winterlandschaft, die sie umgab. »Wenn ich frisches Wasser möchte, stecke ich mir eine Handvoll Schnee in den Mund.«
Winzige Krallen an Niris Hals kündigten von Grabbelschnacks Bemühen, unter dem Umhang hervor und auf ihre Schulter zu klettern. Kaum hatte ihr kleiner Freund den direkten Hautkontakt zu ihr unterbrochen, spürte Niri, wie der frostige Hauch des Winters jegliche Wärme vertrieb, die Grabbelschnacks Drachenglut bis vor wenigen Augenblicken in ihrem Herzen entzündet hatte.
»Ich kann euch im Sündenfels ebenfalls helfen«, verkündete der Taschendrache und warf sich in die geschuppte Brust. »Ich bin nämlich mittlerweile ein ganz passabler Spion.«
»Sich von den Aeleven der Akademie streicheln zu lassen und dabei den neuesten Klatsch und Tratsch aufzuschnappen, ist etwas anderes, als in einem Kerker herumzuschnüffeln«, gab Niri zu bedenken.
Der Taschendrache reckte seinen Kopf auf dem langen, biegsamen Hals empor. »Ich dachte auch eher an mein Vorgehen, wann immer ich den Krater auskundschafte.«
»Auch dort fällst du weniger auf als in einem Gefängnis«, warnte Harduul. »Doch gebe ich dir recht. Solange du vorsichtig bist, könntest du unsere Augen und Ohren sein, wenn wir erst dort sind.«
Niri gefiel nicht, wie bereitwillig Harduul die Unterstützung des kleinen Drachen annahm, und doch verstand sie die hinter dem Verhalten des Fahamehrs verborgene Wahrheit: Sie würden im Sündenfels alle Hilfe benötigen, derer sie habhaft werden konnten.
Die Tage vergingen, während denen der hartnäckige Winter andere Reisende in den sicheren Behausungen der Dörfer und Städte gefangen hielt. Niri und ihre Freunde kamen gut voran, schliefen in ihren Zelten, wenn nötig, oder fanden Unterschlupf in den Scheunen der Bauernhöfe. Meist reichte ein Blick der Besitzer auf die Wildlinge, und schon flohen sie in ihre Häuser, verrammelten die Türen und rührten sich nicht, bis ihre ungebetenen Gäste wieder verschwunden waren. In diesen Momenten fühlte Niri sich stets schlecht, fast schon innerlich unsauber, so als wäre sie eine Wegelagerin, die sich einfach nahm, wonach ihr der Sinn stand. Doch manchmal kam es auch zu einem Gespräch mit den Bauern, dann wurde warmes Essen geteilt, neuer Proviant in die Satteltaschen geladen und anschließend mit Silber für die Gastfreundschaft bezahlt.
Es war eine jener seltenen Gelegenheiten, bei denen Niri am Kamin eines Gutshofs saß, auf dem sie für die Nacht untergekommen waren, und gedankenverloren in die Flammen starrte. Sie befanden sich weit im Osten der Splitterlande, dicht an der Grenze des Klippbruchs, jener zerklüfteten Region voll unzähliger Hügel und kleiner Berge, die sich trotz ihrer geringen Größe bisher gegen jedwede Invasion hatte verteidigen können. Dies lag wohl zu gleichen Teilen daran, dass der Klippbruch ungemein zähe Krieger hervorbrachte, denn das Söldnerhandwerk war dort hoch angesehen, als auch an der Tatsache, dass die Anbetung Malkars nur allzu leicht in den Herzen dieses unbeugsamen Volkes hatte Fuß fassen können. Der Klippbruch und die Splitterlande waren seit dem Aufstieg des Karmesinroten Gottes Verbündete, und so herrschte ein tiefer Frieden zwischen den beiden Reichen. Ein Friede, den Niri und ihre Freunde auszunutzen gedachten, indem sie auf dem alten Grenzpfad entlangreisten, der seit Jahrhunderten nicht mehr bewacht wurde, sie aber schnellstens zum im Norden gelegenen Eynsiedlerhaaven bringen würde.
»Ein so schönes Gesicht, und doch blickt es derart finster drein. Was für eine Verschwendung.«
Niri schreckte hoch und sah zu dem Sprecher auf, der sich neben sie an den Kamin gestellt hatte. Es war ein junger Mann, breit gebaut, mit kantigem Gesicht und den schwieligen Händen eines Farmarbeiters. Er lächelte sie offen an und setzte sich dann dicht neben sie. Niri versteifte sich unmerklich und überlegte, was sie antworten sollte.
»Du scheinst nicht viel darauf zu geben, dass ich Aeldaeblut in mir trage«, erwiderte sie, ohne sein Lächeln zu spiegeln.
Der Farmarbeiter stutzte. Dann lachte er auf, ein kurzer, bellender Laut. »Bist von der direkten Sorte, was? Das gefällt mir.« Er deutete auf die lang gezogene Wohnstube, in der über ein Dutzend Männer und Frauen beisammensaßen und sich mit Jonah, Harduul, Apllut und Tullpa unterhielten. Ein kleiner Junge streichelte Grabbelschnack über Kopf und Rücken. »Hier ist jeder willkommen, der keinen Streit sucht, egal welches Blut durch seine Adern strömt. Der alte Barrk wollte es so und als er starb, führte seine Tochter diese Tradition fort.« Er sah sie herausfordernd an. »Wir hatten sogar einen von Altem Blut bei uns, so erzählt man sich. Das war aber lange vor meiner Zeit.«
Niri horchte auf. Aeldae waren selten anzutreffen, vor allem in den Splitterlanden. »Was wurde aus ihm?«, fragte sie leise.
Der Farmarbeiter rutschte auch noch die letzten Fingerbreit näher, die sie bisher getrennt hatten. Er lehnte seinen Kopf verschwörerisch in ihre Richtung, sodass sie den Erbseneintopf in seinem Atem roch, den es zum Abendessen gegeben hatte. »Er musste fort. Wegen der Malkariten, du verstehst schon. Angeblich hat er sich danach in den Hügeln des Klippbruchs versteckt.« Der junge Mann zuckte mit den Achseln. »Ich hoffe, er fand dort seinen Frieden.«
Niri bezweifelte das. In Kernheym gab es nur wenige Flecken Land, an denen Aeldae in Frieden leben konnten. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Malkar treu ergebene Klippbruch dazugehörte.
Harduul räusperte sich nachdrücklich, und Niri drehte sich zu ihm um. »Wir müssen morgen früh losreiten, goldene Schwester, und werden gleich schlafen gehen. Für den Fall, dass du dich uns anschließen möchtest.« Seine Stimme klang ungewohnt sanft, und in seinen Augen stand eine Frage, nein, mehr ein Angebot. Sie wusste, nur ein Wort von ihr würde genügen, und er stünde ihr bei. Sie lächelte ihm zu, dankbar, dass er sich nicht aufdrängte.
»Goldene Schwester?«, fragte der Farmarbeiter verdutzt und blickte von ihr zu Harduul und wieder zurück. Er wirkte dabei auf so unschuldige Art verwundert, dass Niri amüsiert auflachte.
»Eine lange Geschichte«, sagte sie und erhob sich. »Aber mein grauer Bruder hat recht. Ich sollte wirklich ins Bett.«
Enttäuschung flackerte über die Züge des jungen Mannes und er wandte den Kopf, um stumm ins Feuer zu starren.
»Jonah, kommst du?«, rief Apllut mit derart viel Schalk in der Stimme, dass Niri umgehend nach dem Adligen Ausschau hielt. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die die Aufmerksamkeit des Farmvolks auf sich gezogen hatte, denn der Machtbeuger stand im Durchgang zur Küche, belagert von einer drallen Magd und der Köchin des Anwesens, die schon vierzig Winter gesehen haben mochte. Beide warfen Jonah feurige Blicke zu, die dieser so geflissentlich wie möglich ignorierte.
»Aufbruch!«, grollte der Fahamehr daraufhin in seinem besten Befehlston, was der Adlige zum Anlass nahm, um sich unter einer wortreichen Entschuldigung zurückzuziehen.
»Danke, Harduul. Man kann es mit der Gastfreundschaft auch übertreiben«, murmelte Jonah und rückte sein Wams gerade, als er bei Niri und den Wildlingen eintraf.
»Ich bewundere deine Zurückhaltung«, neckte ihn Tullpa.
Niri bemerkte, wie die Ohren des Feuerbeugers glutrot wurden. »Selbstverständlich. Meine Mutter hat mich dazu erzogen, keinerlei bedeutungslosen Tändeleien nachzugeben«, erklärte er schmallippig.
»Gehen wir schlafen«, schmunzelte Niri, um ihren Freund zu erlösen, bevor der feixende Apllut sich mit einer Vielzahl Zoten auf ihn stürzen konnte. Schnell trat sie hinaus in die Kälte, und ihre Freunde folgten hinterdrein.
Tullpa tat einen tiefen Atemzug und stieß dann einen Schwall Dampf hervor. »Ah, das tut gut. Es gibt kaum etwas Erfrischenderes als klare Winterluft.«
Harduul deutete auf die Silhouette der mächtigen Scheune, die sich am Rande des verschneiten Ackers abzeichnete. »Viele unserer Hütten in Tausendgrab sind nicht halb so robust erbaut«, grübelte er.
Apllut schlug dem Fahamehr auf den Rücken. »Aber das wirst du bald ändern, nicht wahr? Schließlich wirst du in einigen Jahren als Baumeister in unsere Heimat zurückkehren. Und dann werden alle Wildlinge in schicken Steinhäusern wohnen.«
»Was du da beschreibst, ist eine Aufgabe für mehrere Leben«, erwiderte Harduul stirnrunzelnd. »Es reicht mir schon, wenn wir ein Dorf, nein, eine Stadt errichten, in der Wildlinge gut und sicher leben können. Das wäre ein echter Anfang.«
Jonah nickte dem Fahamehr anerkennend zu. »Es ist gut, Träume zu haben. Auch wenn ich nicht weiß, wo du all die Steinmetze, Schreiner, das Holz und den Fels für eine ganze Stadt hernehmen willst.«
»Ein Traum wäre kein Traum, wäre er leicht zu erfüllen«, ergriff Tullpa für ihren Fahamehr Partei. »Und ich für meinen Teil werde Harduul helfen. Einen besprochenen Stein nach dem anderen, wenn es sein muss.«
Apllut grinste breit. »Und während Tullpa und die anderen Erdflüsterer Tausendgrabs ihre Magie wirken lassen, um unsere Stadt aufzubauen, werde ich mich um all jene kümmern, die unserem Traum im Wege stehen oder ihn behindern wollen.«
Niri horchte auf. »Ihr rechnet mit Widerstand?«
»Du vergisst, dass es in unserer Heimat teils noch schlimmer aussieht als im Krater«, brummte Harduul. »Monstren, Plünderer und Wegelagerer gibt es zuhauf in Tausendgrab.«
»Und eine Wildlingsstadt wäre etwas Neues«, warf Tullpa ein. »Du hast ja bereits erfahren, wie unser Volk mit neuen Ideen umgeht.«
Niri nickte stumm. Einen Wildling von einem einmal gewählten Pfad abzubringen war kaum möglich. Harduuls Traum von einer Stadt würde sicher einige Fahamehrs und Fahamras gegen ihn aufbringen.
Apllut öffnete das knarzende Scheunentor und steckte den Kopf hinein. »Drinnen ist es gemütlicher, als es von draußen aussieht. Zumindest wenn man Stroh und den Geruch von Pferdedung mag.«
Niri nahm eine Nase voll des aus dem Inneren hervorquellenden Aromas und winkte ab. »Ich genieße noch ein wenig die Winterluft und komme später nach.«
»Bleib nicht zu lange hier draußen«, warnte Tullpa. »Schließlich ist Grabbelschnack nicht da, um dich zu wärmen, weil er sich lieber die Schuppen polieren lässt.«
»Ich leiste dir Gesellschaft«, erklärte Jonah und hob seine rechte Hand, deren Finger in einem sanften Rot zu glühen begannen, als ob die Glut eines Lagerfeuers unter seiner Haut gefangen wäre. »Ich muss meine heutige Feuerschuld noch loswerden, und es ist eine gute Übung, meine Magie langsam entweichen zu lassen.«
Niri spürte die Hitze, die von den Fingern des Feuerbeugers ausging, und sah ihn und Tullpa nacheinander fragend an. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Müsst ihr eure Magieschuld stets vor dem Schlafengehen abtragen, wenn ihr sie während des Tages nicht aufgebraucht habt?«
Tullpa schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber was denkst du, passiert wohl, wenn ein Machtbeuger oder gar ein Machtformer von einem Albtraum heimgesucht wird, während noch immer eine Magieschuld in seinem Inneren vorhanden ist, die einen Weg ins Freie sucht?«
Niri schauderte und nickte. Ein von bösen Träumen geplagter Jonah, der versehentlich im Schlaf einen Feuerfächer freisetzte, und das auch noch in einer strohgefüllten Scheune, gehörte sicher nicht zu ihren angenehmsten Vorstellungen. Sie streckte unbewusst ihre Hände in Richtung der glühenden Finger aus, verharrte aber eine halbe Armlänge entfernt.
»Puh, sind die heiß. Das muss dich doch zum Schwitzen bringen, oder nicht?«
Der Machtbeuger nickte verbissen und starrte konzentriert auf seine Hand hinab, während die drei Wildlinge in die Scheune gingen. Langsam nahm das kirschrote Glühen ab und wurde schließlich zu einem sanften Schimmern.
»Besser«, murmelte Jonah und hielt ihr die verzauberte Hand entgegen. »Die Wärme ist zwar nicht mit Grabbelschnacks Drachenglut zu vergleichen, sollte uns aber trotzdem gute Dienste leisten.«
Niri umschloss die Finger des jungen Mannes vorsichtig mit den ihren und hatte den Eindruck, als würde das Echo eines ersterbenden Feuers langsam ihre Adern hinaufkriechen und die Kälte abhalten.
»Eindrucksvoll«, lobte sie Jonah.
Der schnaubte. »So ein bisschen Wärme ist doch gar nichts.«
Niri sah ihm fest in die Augen. »Es muss dich ein hohes Maß an Kontrolle kosten, deine Feuerschuld derart langsam freizusetzen, richtig?«
Er nickte, und sie fuhr fort.
»Also beweist du gerade eine gewisse Meisterschaft im Umgang mit deiner Magie.« Bitterkeit floss in ihre Stimme. »Etwas, das ich von mir nicht gerade behaupten kann. Ich kann nur eine Woge im Fluss der Zeit erzeugen und mich dann stur auf ihr vorwärtstragen lassen.«
Jonah kicherte mit einem Kopfschütteln, und Niri sah ihn böse an, da er ihre Sorge anscheinend nicht ernst nahm. Der Adlige deutete auf eine Leiter, die zum Dach der Scheune führte. »Wollen wir dort hinaufklettern? Du liebst es doch, auf Dächern von Gebäuden herumzulungern.«
Niri entzog ihm ihre Hand. »Ich lungere nicht herum. Und erst recht nicht mit arroganten Machtbeugern, die mich auslachen.« Dann erschrak sie, als sie bemerkte, dass sie wieder jene Vorwürfe hervorbrachte, die sie und Jonah im letzten Jahr entzweit hatten.
Doch diesmal schien ihr Vorwurf an ihm abzuperlen. Er schenkte ihr ein halbes Lächeln, das nur seine rechte Gesichtshälfte verzog, und stieg die Leiter empor. »Es ist deine Entscheidung. Du kannst in den muffigen Stall gehen, dort unten stehen bleiben und frieren oder zu mir heraufklettern, dich an meiner Magie wärmen und von mir erfahren, warum ich dich auslache.«
Pure Sturheit ließ Niri dort verharren, wo sie stand. Dann siegte schließlich die Neugier, und einem verspielten Impuls nachgebend tauchte sie ein und verweilte gelassen in ihrer selbst gewählten Starre. Die beiden Monde standen lediglich als schmale Sicheln am Himmel, und das schwache, rötlich-weiße Licht, das sie verbreiteten, ließ die umliegende Winterlandschaft ungemein friedlich wirken. Ab und zu dröhnten fröhliche Stimmen aus dem Gutshaus hervor und schmale Lichtstreifen drangen durch die Ritzen der eichenen Tür und der aus aufgeschichteten Steinen bestehenden Wände. Hinter ihr redeten die Wildlinge leise in der Scheune miteinander, und auf dem Dach summte Jonah provokant vor sich hin.
Schließlich hatte sich ihre Magieschuld weit genug aufgetürmt, und als Niri aus dem Fluss der Zeit auftauchte und auf seiner Strömung ritt, folgte sie weiter der neckischen Eingebung in ihrem Inneren. Flugs kletterte sie die Leiter empor, weiter bis zum regungslos auf dem hölzernen Dachfirst hockenden Jonah. Dort ließ sie sich neben ihm nieder, spiegelte seine Pose der um die angezogenen Knie geschlungenen Arme und wartete darauf, dass ihre Magie abebbte. Gerade als sie spürte, wie die Welt um sie herum wieder zum Leben erwachte, seufzte sie laut. »Du hast recht. Schön ist es hier oben.«
Jonah stieß einen spitzen Schrei aus, doch seine Überraschung währte nur einen Moment, dann ließ der junge Mann ein triumphierendes Lachen ertönen. »Gut gespielt, meine Liebe. Und dein kleiner Streich zeigt deutlich, warum ich über dein Selbstmitleid lachen musste.«
Niris Triumph über ihr kleines Manöver verwandelte sich in Konsternation. »Selbstmitleid?«
Jonah nickte leidenschaftlich. »Du stehst da und beschwerst dich, dass du eine der seltensten Gaben, die Machtbeuger zuteilwerden können, nicht meisterlich beherrschst, und das, obwohl du doch schon vor ein paar Monden die Natur der Geistmagie begriffen hast und seitdem fleißig übst.«
Niri öffnete protestierend den Mund und schloss ihn dann wieder. »Ich … ich will eben mehr«, stieß sie schließlich hervor.
Wieder lachte Jonah, doch nun voller Wärme. Er griff nach ihrer Hand, sodass seine Magie ihren Dienst tun konnte. »Das wollen wir alle, die wir Machtbeuger sind. Selbst Tullpa greift nach jedem neuen Zauber, jedem Krümelchen Verständnis, Kontrolle und Macht über ihre Gabe. Dieser Hunger ist ein Preis, den jeder zahlen muss, der sich seiner Kräfte bewusst wird.«
Niri musste an den Hass des Blutzahns denken, der sie viel zu viele Monde in seinem Würgegriff gehalten hatte. Die Aussicht, sich einem neuen übermächtigen Gefühl erwehren zu müssen, schmeckte ihr gar nicht. »Und wenn ich diesen Hunger nicht verspüren will?«
Nun nahm Jonahs Lachen einen selbstironischen Unterton an. »Dann entscheide dich dagegen. Doch die wenigsten Machtbeuger können – oder wollen – der Verlockung ihrer Magie widerstehen. Die Streitenden Götter sind meine Zeugen, ich werde mich meiner Gabe nicht verschließen.« Er blickte sie an, und Niri glaubte, dass die kleinen Funken, die in seinen Augen tanzten und von seiner ersterbenden Magieschuld kündeten, ein geradezu hypnotisches Muster in die Iris des Adligen zeichneten. »Ich will das Potenzial meiner Gabe bis zum Äußersten ausreizen. Alles andere wäre eine Verschwendung. Willst du etwa als ein Schatten dessen leben, was du sein könntest?«
Niri schüttelte den Kopf, bevor sie auch nur richtig über die Frage des Machtbeugers nachgedacht hatte. Dann stutzte sie und lachte hilflos. »Solche Gedanken sind mir eigentlich fremd«, erwiderte sie schließlich. »Ich habe mich erst im letzten Jahr an den Gedanken gewöhnt, nie wieder als Kohlemädchen in Hellhall arbeiten zu müssen. Aber Träume an wahre Größe, an echte Macht, die waren nichts weiter als unerreichbare Hirngespinste, die hinter all unseren Sorgen rund um den Blutzahn, das Amulett und die allgegenwärtige Goldknappheit verblasst sind.«
Jonah ließ ihre Hand los und legte seine magiebeladenen Finger stattdessen auf ihre Schulter. »Dann ist es ja gut, dass ich dir diese Frage nun gestellt habe. Du hast im kommenden Akademiejahr mehr als genug Zeit, über deinen Umgang mit deiner Gabe nachzudenken. Schließlich wurde der Blutzahn von uns – nein, von dir – getötet, das Amulett aus dem Himmelstempel ist im Besitz von Caldenhus, und was unsere Goldsorgen angeht, so sind diese nach unserer Rückkehr an die Akademie hoffentlich für immer Geschichte.«
»Wenn es uns gelingt, deinen Vater zu befreien«, fügte Niri hinzu.
Jonah hob mahnend einen Finger. »Noch besser: Wir befreien so viele Gefangene, wie wir können. Je mehr Freunde wir uns machen, umso größer wird unser finanzieller Rückhalt sein.«
Niri verzog sorgenvoll ihr Gesicht und blickte hinauf zu Malkars Mond. Was würde der Karmesinrote Gott wohl dazu sagen, dass sie in ein Gefängnis voller Malkariten einbrechen würden, um einen Haufen wichtiger Gefangener zu befreien? Würde er eine solche Tat überhaupt bemerken? Und wenn er sie wahrnahm, würde er sich dazu herablassen, diese zu ahnden? Malkar war nicht mehr auf Deatril gewandelt, seit er dem Unsteten Gott das Herz des Chaos entwendet hatte …
»Bitte versprich mir, gut über meine Worte bezüglich deiner Gabe nachzudenken«, bat Jonah freundlich, beinahe verschwörerisch. »Willst du nicht deine volle Macht ausschöpfen? Deine Magie bis an ihre Grenzen bringen?«
Niri zögerte. Sie musste an ihr Treffen mit dem Jungen im Zimmer denken, jenen seltsamen Aeldae, den sie angetroffen hatte, als sie die Kontrolle über ihre Magie verloren und vom Fluss der Zeit fortgespült worden war. Sie wusste, wie gefährlich die Grenzen ihrer fremdartigen Magie waren, und war sich nicht sicher, wie sehr sie sich ihnen nähern wollte. Natürlich musste sie dazulernen, aber wollte sie wirklich riskieren, vom Fluss der Zeit verschlungen zu werden, weil ihr Ehrgeiz sie so tief in seine Strömungen hineintrieb, dass sie sich in ihnen verlor?
»Mir ist nur wichtig, anderen, die so hilflos sind, wie ich es einst war, beizustehen«, verkündete sie ausweichend. »Ob ich dieses Ziel nun durch meine Magie erreiche oder auf anderem Weg, ist mir herzlich egal.«
Jonah schürzte die Lippen. Offensichtlich war er unzufrieden über Niris Erwiderung. »Ich sage ja nur, dass es so wäre, als würdest du einen kostbaren Diamanten als Pergamentbeschwerer nutzen, solltest du deine Gabe nicht zur Gänze erkunden, sondern brach liegen lassen.«
Niri rollte mit den Augen, denn sie erkannte, dass der Adlige nicht lockerlassen würde. Auf seine Art konnte er ebenso stur sein wie Harduul – oder sie selbst. »Ich habe vor, auch in diesem Jahr eine Lektion zu wählen, die mich meine Gabe üben lässt. Bist du nun zufrieden?«
Jonah wirkte regelrecht erleichtert, während er zur Antwort nickte. Er schwieg einige Augenblicke, in denen Niri in die Nacht hinausstarrte, bevor er fortfuhr.
»Dann wäre jetzt wohl ein guter Zeitpunkt, um auf die Banditen hinzuweisen, die sich auf dem Grenzpfad herumtreiben sollen.«
Niris Kopf ruckte herum. »Banditen?« Sie unterdrückte ein Frösteln, unschlüssig, ob es der Winternacht oder jener am Horizont dräuenden Gefahr geschuldet war, die ihr Freund soeben angesprochen hatte.
Jonah zuckte mit den Achseln und nahm ihre Hand wieder in seine verzauberten Finger, um sie zu wärmen. »Viel weiß ich nicht über sie. Die Köchin hat mir davon berichtet, dass der strenge Winter einige verzweifelte Seelen in die Wegelagerei getrieben hat. Das war auch schon alles.« Er rutschte auf seinem Hintern herum. »Ich glaube, sie wollte mir Angst machen, damit ich hierbleibe …«
Niri musste trotz der schlechten Nachricht schmunzeln. »Ich weiß nicht, vielleicht würdest du dich ja ganz gut als Farmer machen.«
Jonah zog eine Augenbraue hoch, aber Niri konnte sehen, dass seine Mundwinkel kaum merklich zuckten. »Eigentlich wollte ich deinen Rat, wie wir Harduul diese Neuigkeit am besten beibringen. Ich habe Angst, dass er unser Vorhaben abbricht, wenn er von den Banditen hört.«
Niri legte den Kopf schief und dachte nach. »Wir sagen ihm rundheraus die Wahrheit. Harduul hat sich bereits auf einen Plan festgelegt und der lautet, den Grenzpfad bis nach Eynsiedlerhaaven entlangzureisen und deinen Vater aus dem Sündenfels zu befreien. Die paar Banditen werden einen sturen Wildling wie ihn kaum in seinem Entschluss wanken lassen.«
Jonah lachte leise, aber erleichtert auf. »Du hast natürlich recht. Manchmal unterschätze ich, wie festgefahren ihn sein Status als Fahamehr handeln lässt.«
Niri kniff ihre Augen zusammen und fing Jonahs Blick mit dem ihren ein. »Wir alle haben unsere Stärken und Schwächen. Einige von uns blicken aufgrund ihrer Erziehung beispielsweise aus größerer Höhe auf ihre Freunde herab, als ihnen guttut.«
Jonah hob ergeben die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich wollte damit nur sagen, dass ich mich selbst jetzt noch nicht an einige der Eigenheiten meiner Freunde gewöhnt habe.«
Niri stand auf und ging hinüber zur Leiter, während sie ein breites Lächeln verbarg. Nachdem die Ereignisse des letzten Jahres die Zimmergenossen beinahe voneinander entfremdet hatten und der Adlige die Wildlinge und Niri offiziell zu seinem Gefolge erklärt hatte, um sie allesamt im Turm der Könige unterzubringen, tat es gut, zu hören, wie selbstverständlich Jonah ihnen gegenüber das Wort »Freunde« benutzte.
»Lass uns hinuntergehen und die anderen informieren«, schlug sie vor. »Zumindest einen unserer Freunde wirst du mit deinen Neuigkeiten sehr glücklich machen.«
»Banditen?«, freute sich Apllut, dessen Schlappohren vor Aufregung beinahe aufrecht standen. »Wo? Wie viele? Können wir sie jagen?«
Tullpa verbarg mit einem Stöhnen ihr Gesicht in ihren Händen. »Wir wollten möglichst unauffällig reisen, Bruderherz. Banditen zu jagen wäre das genaue Gegenteil davon.«
Harduul deutete auf die dicke Lage aus Stroh, die die Wildlinge verteilt hatten, damit sämtliche Gefährten einen halbwegs anständigen Schlafplatz zur Verfügung hatten. »Setzen wir uns zusammen und besprechen, was diese Neuigkeit für uns bedeutet. Und zwar leise.«
Durch das schwache Licht der an einem Balken hängenden Laterne wirkte die Scheune anheimelnder, als Niri erwartet hätte. Die Pferde verhielten sich ruhig, nur hier und da vernahm sie ein Schnaufen, und an den intensiven Tiergeruch hatte sie sich nach wenigen Atemzügen gewöhnt. Niri ließ sich in dem Stroh nieder, den Rücken gegen den hölzernen, halbhohen Verschlag gelehnt, in dem eines ihrer Reisepferde untergebracht worden war. Kurze Zeit später saß die kleine Gruppe in einem engen Kreis, und Niris Blick wanderte über die Gesichter ihrer Freunde. Harduuls Miene wirkte gelassen, Jonahs Augen blickten angespannt, und Tullpa wisperte leise auf den fröhlich grinsenden Apllut ein.
»Die wichtigste Frage zuerst«, raunte Harduul. »Reisen wir weiter mit unseren Rüstungen und Waffen in den Satteltaschen? Oder legen wir sie an, um besser vorbereitet zu sein?«
»Wir hatten uns gegen ein martialisches Auftreten entschieden, damit sich die Bauern und Dörfler, die uns zu Gesicht bekommen, nicht so gut an uns erinnern«, wandte Jonah ein. »Wir fünf fallen schon genug auf, selbst wenn wir in dicke Wollmäntel gehüllt über Land reiten.«
»Sollten wir unsere Rüstungen und Waffen anlegen, müssten wir auch die Akademieumhänge tragen«, gab Niri zu bedenken. »Gerüstete Wildlinge und dazu noch eine Aeldae ohne sichtbare Zugehörigkeit zu einer Armee oder Institution … Die Leute würden uns für Banditen halten.«
»Und wir versprachen Caldenhus, dass wir die Akademie aus unserem Vorhaben raushalten«, erinnerte Tullpa. »Zumal er uns keine Aufgabe übertrug, die uns nach Eynsiedlerhaaven geführt hätte. Offiziell befinden wir uns auf dem Weg an die Grenze Aun-Mals und suchen für unseren Daekhan nach einem bestimmten Folianten.«
Harduul brummte zustimmend. »Dann ist es entschieden. Wir reiten weiter wie bisher und hoffen, dass diese Wegelagerer uns nicht behelligen.«
Ein Schaben erklang aus dem Gebälk der Scheune, und für einen erschrockenen Moment dachte Niri, sie wären belauscht worden, aber dann flatterte Grabbelschnack zu ihnen herab, der sich durch eines der Luftlöcher unter dem Dach der Scheune gezwängt hatte.
»Oh, ihr sitzt zusammen und tragt eure ernsten Gesichter. Was habe ich verpasst?«
»Banditen auf unserem Weg. Du musst in den nächsten Tagen für uns kundschaften«, erklärte Harduul. »Aber aus großer Höhe, damit man dich für eine Taube oder einen fetten Spatzen hält.«
Grabbelschnack schnappte hörbar nach Luft, als er auf Niris Schulter landete. »Ein fetter Spatz? Ich?«
Niri tröstete ihren Drachen mit einem Goldstück, an dem er mit bösen Blicken in Richtung Harduul zu knabbern begann. »Lasst uns schlafen. Ab morgen müssen wir besonders wachsam sein.«
Kapitel 2
Niri wachte stöhnend auf. Das Stroh stach ihr in die Haut, steckte in ihren Haaren, bohrte sich in ihre Nase. Dazu war der Geruch des Stalls über Nacht zu einem Mief verkommen, der die Ausdünstungen der Reisegruppe allzu dankbar aufgenommen und sich in etwas verwandelt hatte, das niemand jemals zu riechen verdammt sein sollte.
»Guten Morgen«, sagte Jonah geistesabwesend, beide Hände in die Flamme der Laterne geschoben, um seine Feuerschuld aufzuladen.
»An diesem Morgen ist gar nichts gut«, murrte Niri und setzte sich auf. »Ein Wunder, dass du die Laterne gefahrlos entzünden konntest. Ich hätte geschworen, die schwärende Luft hier drinnen hätte beim ersten Funken Feuer gefangen.«
Jonahs Kinn ruckte in Richtung der leeren Schlafstätten. »Sogar die Wildlinge haben das nicht länger ausgehalten. Sie frühstücken draußen und bereiten währenddessen die Pferde vor.«
Niri fragte gar nicht erst, warum sie nicht geweckt worden war. Ihr tiefer Schlaf war in der Gruppe wohlbekannt. Sie stand auf, streckte sich einmal und atmete dabei tief ein. Umgehend bereute sie diese Entscheidung und flüchtete aus der Scheune ins Freie.
Dort standen Harduul, Apllut und Tullpa reisefertig bereit, jeder von ihnen hielt ein Stück Hartkäse in der Hand. Die Pferde waren gesattelt, die Ausrüstung in den ledernen Taschen verstaut, die an den hinteren Flanken der Tiere hinabhingen.
»Hunger?«, fragte Tullpa statt einer Begrüßung und hielt Niri ein Stück Käse entgegen.
Die Halb-Aeldae schüttelte den Kopf. »Gib mir ein paar Atemzüge an der frischen Winterluft, bevor ich meine Nase und meinen Magen bitteren Käse zumute.« Sie schritt zu ihrem Pferd hinüber und besah sich Vasdram, der bei Weitem das sperrigste unter ihren Ausrüstungsgegenständen war. Die Klinge lag unter einer der Satteltaschen verborgen, und der lange Schaft der Kriegssichel führte, gesichert durch lederne Schlaufen, waagerecht am Körper des Pferdes entlang bis zu dessen Halsansatz. Ein beiläufiger Beobachter mochte in der Waffe lediglich einen ungewöhnlichen Wanderstab sehen, doch jeder allzu kritische Blick würde diese Illusion zerplatzen lassen wie eine Seifenblase.
»Wir haben die Schlaufen gelockert, damit du Vasdram leichter hervorziehen kannst«, nuschelte Apllut mit dem breiten Mund voller Käse. »Das Gleiche gilt für Harduuls Axt und Tullpas Blasrohr, die zu diesem Zweck ganz oben in den Bündeln zu finden sind.«
»Außerdem habe ich anderweitig vorgesorgt«, verkündete die Erdflüsterin, und nachdem Niri sich zu ihr umgedreht hatte, deutete die kleine Wildlingsfrau mit dem Kinn auf ihre Handrücken. Dort erkannte Niri haarfeine hellgrüne Adern unter der dunkelgrünen Haut ihrer Freundin.
Niri stutzte. »Was ist das?«
»Eine Erdschuld«, erklärte Tullpa voller Stolz. »Genug davon, dass sie sich ebenso körperlich manifestiert wie bei Jonah.«
»Das bedeutet, dass Tullpas Kräfte wachsen«, fügte Apllut überflüssigerweise hinzu, der dabei seine Schwester ansah, als würde sie im nächsten Moment ihren Platz unter den Göttern der Langen Tafel einnehmen und als grüner Mond an den Himmel emporsteigen.
Niri legte den Kopf schief. »Jetzt, da ihr das ansprecht: Hat jemals einer von euch gesehen, dass die Großdaekhanin eine Magieschuld mit sich herumträgt?«
Die Wildlinge starrten sie ratlos an, und auch Jonah, der in diesem Moment aus der Scheune trat und das Tor hinter sich zuzog, zuckte nur mit den Achseln. »Hier und da mal ein wallender Umhang, glaube ich. Vielleicht kennt sie eine Technik, um ihre Magieschuld zu verbergen«, mutmaßte er und deutete auf die in seinen Augen tanzenden Flammen. »Ich persönlich würde mich manchmal auch darüber freuen, meine Gabe nicht so offen zeigen zu müssen.«
»Hebt euch derartige Fragen für den Zeitpunkt auf, da wir wieder an der Sturmfels-Akademie sind«, mahnte Harduul und schwang sich in den Sattel. »Wir sollten zum Aufbruch bereit sein, sobald Grabbelschnack nach seinem Erkundungsflug Meldung macht.«
Niri wuchtete sich auf ihr Pferd und bereitete sich innerlich auf einen weiteren Tag im Sattel vor. Eine Lektion in Reitkunst lockte sie mit jeder qualvoll zurückgelegten Länge mehr. Auf ein Grummeln ihres Magens reagierend griff sie nach dem Stück Käse, das Tullpa ihr abermals hinhielt, und mümmelte an dem goldgelben Brocken herum, der nach ungewaschenem Wildlingsfuß roch, welchen man mit zu viel Thymian garniert hatte.
»Ich sehe ihn«, sagte Harduul nach einem langen Blick gen Norden. »Er fliegt zwei Kreise, also droht uns wohl keine Gefahr.«
»Kreise?«, fragte Niri irritiert, die keine Spur von Grabbelschnack entdecken konnte.
Harduul deutete auf Apllut. »Eine Idee aus der Jagdkunst, die Apllut heute früh kam. Es gibt im Leerland Gerüchten zufolge Jagdgeier, die darauf trainiert werden, bestimmte Muster zu fliegen, wenn sie beispielsweise Beute erblicken. Wir haben uns mit Grabbelschnack auf einige Zeichen geeinigt, mit denen er uns Nachrichten übermitteln kann, ohne dass er dafür zu uns zurückfliegen muss. Meine Fernsicht sorgt dafür, dass ich ihn auch über weite Entfernungen erkennen kann. So kann er sich Dutzende Längen Flug pro Tag sparen.«
»Und welche Muster nutzt er genau?«, fragte Niri schmallippig. Dass die Wildlinge ohne ihr Beisein eine Art Zeichensprache mit Grabbelschnack besprochen hatten, rief in ihr ein Gefühl des Neids hervor, das sie nur schwer zügeln konnte. Natürlich war der Taschendrache sein eigener Herr und hatte dies im letzten Akademiejahr auch sehr nachdrücklich eingefordert, aber trotzdem konnte Niri nicht umhin, an jeder noch so kleinen Veränderung teilhaben zu wollen, die ihren geschuppten Freund betraf.
»Nichts Kompliziertes, damit er sich auch alle Signale merken kann«, stichelte Apllut. »Ein Kreis bedeutet Ärger, zwei, die Luft ist rein.«
»Sollten sich diese Zeichen bewähren, könnte man noch weitere hinzufügen«, sagte Harduul. »Aber für den Moment bin ich damit zufrieden, wie es ist.« Dann schnalzte er seinem Pferd zu und das Tier setzte sich in Bewegung. »Reiten wir los und hoffen, dass unser Drache keine Banditen übersehen hat.«
Die nächsten drei Tage verliefen entgegen allen Erwartungen ereignislos. Schnell hatten sich Niri und ihre Freunde daran gewöhnt, auf Grabbelschnacks an den wolkenverhangenen Himmel gemaltes Urteil zu vertrauen, und bisher hatte der Drache sie nicht enttäuscht. Der Grenzpfad war wie leer gefegt, von vereinzelten Händlern abgesehen, die ihre Karren auf provisorischen Kufen von schnaufenden Ochsen durch den verharschten Schnee ziehen ließen. Keine der wortkargen Gestalten schenkte ihnen mehr als einen Seitenblick. Die dicke Winterkleidung und die weiten Fellumhänge mit den tiefen Kapuzen verbargen die Herkunft der Wildlinge und Niris gut genug, dass Jonah, der vorneweg ritt und die Reisenden mit einem offenen Lächeln und einem freundlichen Kopfnicken grüßte, jegliche Neugier an den Gefährten zerstreute.
Nur einmal wären sie beinahe näher beäugt worden, als eine ältliche Köhlerin mit einem gewaltigen Reisigbündel auf dem Rücken Jonah zugerufen hatte: »Malkar zum Gruße, edler Herr. Euch und Euren beiden Kindern eine gute Reise, und für die Gemahlin ebenso.«
Apllut war daraufhin in ein lautes Lachen verfallen, das jedoch schnell in einen Schmerzensschrei übergegangen war, als Tullpa ihm eine ihrer Kopfnüsse gab.
»Die Kleinen streiten gerne«, hatte Jonah verlegen hinzugefügt, und schnell waren die Gefährten weitergezogen, bevor die Frau Jonahs Kinder näher in Augenschein hatte nehmen können.
Nun rasteten sie auf einer Anhöhe, nachdem Grabbelschnack mit einem Kreis am Himmel auf nahe Gefahr hingewiesen hatte, und starrten unter einem bedeckten Nachmittagshimmel auf eine der vielen Erdspalten hinab, die den Splitterlanden ihren Namen gegeben hatten und sich teils Hunderte Längen weit erstreckten.
»Wisst ihr eigentlich, dass ich eine solche Kluft noch nie bewusst habe ansehen können?«, fragte Niri, während sie auf die Ankunft des Taschendrachen warteten.
»Dieser kleine Graben da drüben?«, schnaubte Apllut abfällig. »Da solltest du mal die Klüfte sehen, die Tausendgrab von deiner Heimat trennen. Das sind echte Schluchten.«
Niri blickte hinüber zu dem vielleicht ein Dutzend Schritt breiten Abgrund, der sich durch die Landschaft zog und von einer steinernen Brücke überspannt wurde, an deren Enden je ein kleines Wachhäuschen stand. Der aufklaffende Boden wirkte bedrohlich, wie er mit seiner Schwärze den hellen Schein des Schnees durchbrach.
»Ich sehe kein Licht bei den Wachhäusern«, bemerkte sie. »Ob sie verlassen sind? Dann könnte ich mir eine solche Spalte endlich einmal in Ruhe aus der Nähe ansehen, anstatt meinen Kopf zu Boden gerichtet lassen zu müssen, um meine Herkunft zu verschleiern.«
»Da kommt unser kleiner Goldverschlinger angesegelt«, meldete sich Apllut zu Wort und deutete gen Himmel. »Bestimmt kann er uns mehr dazu sagen.«
Niri sah, wie Grabbelschnack in großer Höhe bis über die Gruppe flog und dann zu einem Sturzflug ansetzte, den er erst knapp über Niris Schulter gekonnt abbremste.
»Nettes Manöver«, sagte sie und streichelte die keuchende Gestalt.
»Daran habe ich auch lange geübt, vor allem nach unserem Kampf mit dem Blutzahn, wo ich ja immer wieder auf deiner Schulter landen musste«, verkündete Grabbelschnack voller Stolz. »Mit meinen Flügeln ist so ein Sturzflug viel schwerer als für einen Falken, musst du wissen.«
»Das ist ja schön und gut, aber vielleicht reden wir erst einmal über die Gefahr, die du uns signalisiert hast«, mischte Harduul sich mit einem gereizten Stirnrunzeln ein.
Der Kopf des Drachen wippte zustimmend auf dessen schlankem Hals auf und ab. »Ich habe die Banditen entdeckt, vor denen wir gewarnt wurden, und die Malkariten, die die Brücke bewachen sollten.«
Etwas in der Art, wie Grabbelschnack die Worte betonte, ließ Niris Nackenhaare zu Berge stehen. »Was hast du gesehen, mein Lieber?«
»Zuerst wirkte alles ganz normal, wie ich da über die Brücke hinweggesegelt bin«, begann der Taschendrache und schnüffelte vielsagend in Richtung von Niris Goldbeutel.
»Erst wird geredet, dann gegessen«, sagte Harduul streng. »Wir schauen dir sicher nicht dabei zu, wie du vor lauter Gold im Mund keinen Ton rausbekommst.«
»Zumal der Anblick für mich auf ewig schwer zu ertragen sein wird«, fügte Apllut mit schmerzverzerrtem Gesicht hinzu. »Das schöne Gold!«
»Bitte rede weiter«, forderte Niri ihren geschuppten Freund auf, der bereits Luft holte, um auf den Kommentar des Pri-emdrals zu reagieren.
»Der Schnee vor den beiden Wachhäuschen war ungewöhnlich stark aufgewühlt, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich gefrorene Blutstropfen auf dem Boden und auf der Brücke. Also segelte ich tiefer über die Kluft hinweg und habe sechs Leichen am Grund der Schlucht entdeckt. Vier von ihnen sind wie Malkariten gekleidet, zwei scheinen Reisende gewesen zu sein.« Der Drache ließ seinen Kopf hängen. »Alle wurden von Klingen durchbohrt und dann hinuntergeworfen. Das war kein schöner Anblick.«
Niri rieb mit ihrem Zeigefinger an Grabbelschnacks Hals entlang, um ihn aufzumuntern. »Also zogen die Banditen hier durch und haben sich der Wachen entledigt?«
»Schlimmer«, erwiderte der Drache und hob seinen Kopf, sodass sie die Besorgnis im Blick seiner schwarz glänzenden Augen erkennen konnte. »Nachdem ich die Leichen entdeckt hatte, wollte ich mir die Wachhäuschen genauer ansehen und hörte Stimmen aus dem Inneren. Die Banditen verstecken sich dort und lauern den Reisenden auf. Sobald diese sich mitten auf der Brücke befinden, kommen die Wegelagerer von beiden Seiten hervor und pressen ihnen ihre Waren ab, vor allem Nahrung und Gold. Wer sich weigert …«
»… landet in der Schlucht«, beendete Niri den Satz ihres Freundes.
»Eine überaus kluge Strategie«, lobte Apllut das Vorgehen der Halsabschneider. »Die Häuschen bieten Tarnung und Schutz vor dem Wetter, die Brücke selbst wird zum Hinterhalt umfunktioniert.«
»Kluge Feinde sind gefährliche Gegner«, grübelte Harduul.
Jonah rieb sich unter seiner Kapuze über den Nacken. »So, wie ich das sehe, haben wir drei Möglichkeiten. Erstens, wir reiten querfeldein bis zum Ende der Kluft, was uns unter Umständen ganze Wochen an Reisezeit kosten wird.«
»Ausgeschlossen«, warf Tullpa ein. »Wir müssen vor Beginn des Akademiejahres zurück sein. Zudem hat Caldenhus uns vor unserer Abreise deutlich gemacht, nicht die gesamte Zeit des Wissens auf uns verzichten zu wollen.«
Jonah nickte. »Dann bleiben uns nur noch zwei Vorgehensweisen. Entweder so vorbereitet wie möglich in die Falle der Banditen hineinzutappen oder sie zu konfrontieren, bevor wir einen Fuß auf die Brücke setzen.«
»Wenn wir die Brücke im Zwielicht des Abends überqueren, könnten wir unsere Waffen und Rüstungen vielleicht gut genug verbergen, dass die Wegelagerer sie erst sehen, wenn es zu spät ist«, dachte Harduul laut nach.
Niri runzelte die Stirn. »Und doch wären wir auf der Brücke gefangen, und die Banditen könnten uns von vorne und hinten bedrängen.«
Apllut kicherte leise, ein Hauch von dunkler Freude schwang deutlich in dem Laut mit. »Nutzen wir diese kleine Herausforderung doch als Übung. Wir wollen Jonahs Vater doch so leise wie möglich aus dem Sündenfels herausholen. An den Banditen können wir testen, wie es uns gelingt, möglichst unauffällig Köpfe einzuschlagen und Kehlen aufzuschlitzen.«
»Was?«, fragte Grabbelschnack entsetzt und sah erst Apllut, dann Niri mit großen Augen an.
»Oder«, zischte Tullpa mit wütendem Blick in Richtung ihres Bruders, »wir denken uns etwas aus, wie wir die Banditen überrumpeln und außer Gefecht setzen, ohne ein Blutbad anzurichten, und nutzen in Eynsiedlerhaaven dann jene Manöver, die am besten funktioniert haben, für unseren Kerkereinbruch.«
»Das ginge auch«, sagte Apllut zögerlich. »Es wäre aber viel langweiliger als mein Vorschlag.«
Harduul sah in Richtung Himmel. »Die Sonne geht bald unter. Ich sage, wir versuchen es mit Tullpas Idee. Lasst uns von diesem Hügel verschwinden, damit wir nicht entdeckt werden, und darüber nachdenken, wie wir diese Banditen möglichst unauffällig – und unblutig – ausschalten können.«
Alle nickten, auch wenn Apllut bei den Worten des Fahamehrs hörbar schnaubte und seine Schlappohren mürrisch am breiten Schädel hinabsanken.
Niri wünschte, dass ihre Hände aufhörten zu zittern, doch ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Eigentlich war die bevorstehende Konfrontation nicht so viel anders als der geplante Angriff auf Monstren, die eine Ruine im Krater besetzt hielten, aber dennoch vibrierten ihre Nerven wie Lautensaiten, als sie und ihre Freunde langsam und gebückt durch den Schnee auf das gedrungene Steinhaus zumarschierten, in dem normalerweise zwei Malkariten den südlichen Zugang zur Brücke bewachten.
Grabbelschnack hatte bei seinem Erkundungsflug mindestens drei verschiedene Stimmen aus dem Gebäude hervorschallen gehört, aber die Gefährten waren sich darüber einig gewesen, dass sie besser mit vier oder gar fünf Banditen im Inneren rechnen sollten. Niri und ihre Freunde schlugen daher einen weitläufigen Bogen westwärts, um sich dem Häuschen von dessen fensterlosen Seite aus zu nähern. Die Götter meinten es zu gleichen Teilen gut wie schlecht mit ihnen, denn beide Monde standen in voller Pracht am Himmel, was zum einen bedeutete, dass es genug Licht gab, um ohne Fackel durch die Nacht marschieren zu können, zum anderen jedoch, dass auch ihre Gegner eine gute Chance haben würden, sie mit einem zufälligen Blick aus der Tür zu erspähen. Und dies wiederum bedeutete, dass der erste Teil ihres Plans möglichst reibungslos klappen musste. Der sah nämlich vor, die Banditen im südlichen Wachhaus auszuschalten, ohne dass jene im nördlichen durch Schreie oder Kampfgeräusche alarmiert wurden. Dafür hatten sie auf das Anlegen ihrer Rüstungen verzichtet, um weniger Lärm zu machen, und damit das Funkeln von poliertem Zwergenstahl sie nicht verriet.
»Grabbelschnack, Apllut: los!«, befahl Harduul leise, und Pri-emdral sowie Taschendrache machten sich auf den Weg.
Der kleine Wildling huschte durch den Schnee, seine Schritte kaum mehr als ein leises Knirschen, während Grabbelschnack lautlos durch die Luft glitt und auf dem Dach des steinernen Hauses landete. Während Apllut sich die Tür genauer ansah, legte der Drache prüfend sein Ohr auf das reetgedeckte Bauwerk. Dann kehrten beide zurück.
»Solide Tür, die Balken sind dick, die Scharniere sehen recht rostig aus«, berichtete Apllut flüsternd. »Außerdem gibt es kein Schloss, also schätze ich, dass sie im Inneren einen Riegel besitzen. Da komme ich nicht rein, ohne mich bemerkbar zu machen.«
Harduul nickte. »Und die Fenster?«
»Dicke Fensterläden, je ein Riegelchen hält sie verschlossen. Riskant, aber machbar.«
Der Fahamehr rieb sich über sein Kinn. »Grabbelschnack, was konntest du durch das Dach hören?«
»Geschnarche. Ich glaube, es sind vier Personen in dem Wachhäuschen.«
»Wie sicher bist du dir, mein Lieber?«, fragte Niri.
»Sehr sicher«, betonte der Taschendrache und tippte sich mit einer Kralle an seinen Schädel. »Meine Ohren funktionieren besser, als ihr Aussehen vermuten lässt.«
»Vier Banditen, die Fenster und Tür verschlossen«, fasste Tullpa zusammen. »Nicht gerade das, was wir uns erhofft hatten.«
Apllut zog einen seiner Dolche. »Die Fensterriegel bekomme ich auf, ohne dass jemand aufwacht«, versicherte er.
»Öffnest du einen der Holzläden, fällt Mondlicht ins Innere«, mahnte Niri an. »Das könnte die Wegelagerer alarmieren.«
»Wie ernst ist uns die Absicht, keinen Lärm zu machen?«, fragte Jonah. »Mir fallen auf Anhieb drei Möglichkeiten ein, wie Tullpa und ich diese Banditen überrumpeln könnten.« Seine flammengefüllten Augen blickten dabei zu dem Reetdach empor, und für einen Moment sah der Adlige aus wie ein Rachedaemon, den die in der Schlucht liegenden Toten gesandt hatten, um ihre Peiniger hinzurichten.
»Wie ernst ist es dir, dass wir möglichst unbemerkt in einen Kerker einbrechen?«, konterte Harduul mit unbewegter Miene. »Wenn wir nicht einmal mit ein paar Wegelagerern fertigwerden, ohne Aufsehen zu erregen, können wir ebenso gut hier und jetzt umkehren.«
Jonah kniff die Lippen zusammen und schwieg.
»Also locken wir sie heraus?«, schlug Niri die andere Variante des Plans vor. »Indem wir sie neugierig machen, ohne sie dazu zu bringen, ihre Kumpane zu rufen?«
»Als ob das weniger riskant wäre, als ein Fenster zu öffnen«, beschwerte sich Apllut.
Harduul grübelte eine Weile vor sich hin, dann straffte er seinen Rücken. »Wir locken sie ins Freie. Hier draußen haben wir mehr Handlungsspielraum und können unsere … jeweiligen Taktiken ausprobieren, die wir besprochen haben.«
»Dann gehe ich wohl besser in Position«, erklärte Jonah konsterniert und schlich hinüber auf den Weg, der zur Brücke führte.
»Jeder von euch weiß, was zu tun ist?«, raunte Harduul, und als alle ringsum nickten, pirschte die kleine Gruppe los, während Grabbelschnack hinüber zum nördlichen Wachhaus flog, um dort am Dach zu lauschen und sie zu warnen, sollten sie von den dortigen Banditen bemerkt werden.
»Haltet euch seitlich der Hütte, damit sie eure Fußspuren im Schnee nicht auf Anhieb erkennen«, wisperte Apllut letzte Instruktionen. »Und zögert nicht, Blut zu vergießen, sollte etwas schiefgehen.«
Da Harduul nicht widersprach, nahm sich Niri die Worte des kleinen Wildlings zu Herzen und huschte so leise wie möglich an die westliche Seite das Hauses, während Apllut katzengleich auf das Dach des Gebäudes kletterte, ohne mehr als ein leises Rascheln zu verursachen. Von dort half er seiner Schwester hinauf auf das Reet, wo sich beide Wildlinge platt auf den Bauch legten und ausharrten. Harduul hingegen umzirkelte das Haus auf dessen Rückseite, um östlich des Eingangs in Stellung zu gehen. Er und Niri sahen sich an, beide fast gänzlich hinter ihrer jeweiligen Hausecke verborgen, bereit, zuzuschlagen, sobald die Banditen zwischen ihnen aus dem Eingang treten würden …
»Hallo?«, fragte Jonah zögerlich. »Ist jemand da? Mir ist kalt, und ich friere.« Mit jedem Wort trat der Adlige näher an das Wachhaus heran, ganz in seiner Rolle des arglosen Reisenden aufgehend.
Niri hörte durch die Tür leises Murmeln und dann das Scharren von Stiefeln auf Holz. Der Riegel im Inneren wurde entfernt, und als die Tür aufschwang, presste sie sich mit klopfendem Herzen gegen die Westwand. Nun konnte sie zwar nicht sehen, was vor sich ging, aber auch nicht gesehen werden, solange niemand um das Haus herumtrat.
»Was haben wir denn hier, liebe Freunde?«, ertönte eine samtene Stimme, die überaus angenehm geklungen hätte, wäre sie nicht von einer Kälte durchsetzt, die Niri ein Frösteln den Rücken hinabsandte. »Kommt doch herein zu uns, guter Mann, und wärmt euch in unseren bescheidenen vier Wänden auf.«
»Äh.« Jonah taumelte zurück durch den Schnee und damit in Niris Blickfeld hinein. »Ihr … ihr seht gar nicht aus wie Malkariten!«
»Ach, wir haben nur unsere Uniformen für die Nacht abgelegt, nicht wahr, liebe Freunde?« Der Sprecher trat dabei ins Freie, Niri konnte den knirschenden Schnee unter seinen Stiefeln hören. Hinter dem Mann ertönte raues Lachen, und keine drei Herzschläge später gingen drei Männer und eine Frau auf den stocksteif dastehenden und vermeintlich furchtsamen Jonah zu. Einer der Männer, ein bulliger Kerl mit dem verschlungenen Muster einer Tätowierung aus dem Klippbruch über beiden Augenbrauen, hielt ein Schwert in der Faust. Die beiden anderen Kerle und die Frau waren jeweils mit kruden Speeren bewaffnet. Keine besonders raffinierten Waffen, aber wenn man damit Opfer auf einer schmalen Brücke bedrohte, waren sie durch ihre Reichweite so effektiv wie tödlich.
»Sollen wir die anderen wecken?«, fragte die Frau, deren weißblondes Haar im Licht der Monde schimmerte.
Der Tätowierte schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir nur unnötig teilen. Und unser Gast hier wird sich doch sicherlich bei uns für unsere Freundlichkeit erkenntlich zeigen wollen, liebe Freunde.«
Die ständige Wiederholung einer Wortfolge, die so typisch für Einwohner des Klippbruchs war, ließ Niri flüchtig an die tote Kiana denken, doch sie schüttelte die Erinnerung kurzerhand ab und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Kiana war Vergangenheit, ebenso wie der Blutzahn, der sie ermordet hatte.
»Ich denke, ich werde jetzt gehen«, brachte Jonah hervor, und Niri tauchte auf dieses Stichwort hin umgehend in den Fluss der Zeit ein.
»Du gehst nirgendwo hin, Bürschchen!«, grollte der Schwertträger und hob seine Waffe. »Außer in unser Haus oder auf den Grund der Kluft.«
»Vielleicht ja erst das eine, dann das andere«, fügte die Frau mit einem bösen Lächeln hinzu.
In der Starre ihrer Magie gefangen beobachtete Niri, wie echte Angst in Jonahs Blick glitt, als die Banditen ihm bedrohlich nahe kamen.
Plötzlich stutzte einer der beiden Banditen, die bisher stumm geblieben waren. »He, was ist denn mit seinen Augen …?«
Während Niri noch darauf wartete, dass sich die Welle in ihrem Inneren weit genug aufgebäumt hatte, um sie vorwärtszutragen, sprang Harduul bereits hinter seiner Hausecke hervor. Während Apllut sich von oben auf jenen Banditen warf, der Jonahs Magieschuld in seinem Blick erkannt hatte, hörte Niri das leise Zischen von Tullpas Blasrohr, und keinen Herzschlag später fasste die weißblonde Frau sich dort an die Schulter, wo der kleine Pfeil der Erdflüsterin Wollkleidung und Haut durchstoßen hatte. Als ihre zwei Kumpane herumwirbelten und der dritte in Aplluts geschicktem Würgegriff in die Knie ging, fiel die Frau bereits mit glasigem Blick zu Boden.
»Was …?«, fragte der Sprecher, als Harduul ihm im vollen Lauf das stumpfe Ende seines Axtkopfes gegen die Kinnspitze schmetterte.
Dies war der Moment, in dem Niri endlich genug Zeitschuld aufgebaut hatte, um sich vom Fluss der Zeit vorwärts tragen zu lassen. Sie tauchteauf und ritt auf seiner wild gischtenden Welle entlang. Federnd stieß sie sich von der Hauswand ab, sprang um die Ecke und stellte sich dem letzten noch stehenden Banditen gegenüber. Sie sah seine erstarrt aufgerissenen Augen, den zum Alarmschrei geöffneten Mund …
Wenn sie ihre Attacke mit Vasdram nicht perfekt auf das Ende des Auftauchens abstimmte, würde ihre Aufgabe scheitern und die Kumpane der Wegelagerer gewarnt werden.
Niri holte mit ihrer Waffe aus, spürte dem Fluss der Zeit nach, der sie an ihren angestammten Platz in der Gegenwart spülte, und hoffte, dass sie ihre Freunde nicht im Stich lassen würde. Die Sehnen am Hals des Banditen waren zum Bersten angespannt, binnen eines Herzschlags würde er losschreien …
Zweifel stiegen in ihr auf. Wie sollte sie ihren Schlag nur derart präzise ausführen?
Niri lockerte ihren Kragen, als ihr schlagartig heiß vor Anspannung wurde, doch dann durchzuckte sie eine Eingebung, die sie triumphierend auflachen ließ. Kurz bevor die Welle in sich zusammenfiel, stopfte Niri dem Banditen das Ende ihres Umhangs in den Rachen. Sofort brodelte der Fluss der Zeit ob ihrer Tat, doch da endete Niris Magie bereits. Ohne Hektik hob sie Vasdram und schlug mit dem stumpfen Ende des Waffenschafts nach der rechten Schläfe des verdutzten Mannes, als die Zeit wieder ihren normalen Verlauf nahm. Der Bandit stieß noch einen leisen, von dickem Stoff erstickten Schrei aus, bevor ihn Vasdram traf, dann fiel er zu Boden und rührte sich nicht mehr.