Der Turm des Goldes - Torsten Weitze - E-Book
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Der Turm des Goldes E-Book

Torsten Weitze

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Beschreibung

Niri und ihre Gefährten haben dank der mysteriösen Gabe der Halb-Aeldae ein kleines Wunder vollbracht: den Aufstieg aus dem Turm der Bettler hinein in den Turm des Goldes. Jenes Bauwerk, das eine völlig neue Welt des Wissens und Lernens verspricht, und Heimstatt all jener Aeleven mit genug Wohlstand, um sich alle Annehmlichkeiten der Akademie leisten zu können. Doch kaum sind die Freunde aus dem fernen Xul-Baaril zurückgekehrt, um das neue Akademiejahr zu beginnen, müssen sie feststellen, dass man sich selbst mit Taschen voller Gold weder den Fluch eines Blutzahns noch die Intrigen einer mächtigen Adligen vom Hals halten kann.

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Torsten Weitze

Der Turm des Goldes

Sturmfels-AkademieBand II

IMPRESSUM

© Torsten Weitze, Krefeld 2023

Alle Rechte vorbehalten

Torsten Weitze c/o LAUSCH medien

Bramfelder Str. 102a

22305 Hamburg

1. Auflage Januar 2024

Lektorat/Korrektorat: Janina Klinck | www.lectoreena.deCover: Shen Fei, Agentur Guter Punkt

Buchsatz: Catrin Sommer | rausch-gold.com

www.tweitze.de | Facebook: t.weitze | Instagram: torsten_weitze

.

Für alle, die den schweren Weg gehen, damit der Pfad anderer leichter zu beschreiten ist.

Und denkt daran:

Es gibt nichts Schöneres für eine Geschichte, als zum ersten Mal erlebt zu werden …

PROLOG

Ich sollte bei ihnen sein. Bei ihnen stehen und mit ihnen kämpfen.« Die wütend hervorgeknurrten Worte schallten, erfüllt von mühsam gebändigtem Tatendrang und frustrierter Ohnmacht, durch die lange Halle, deren granitene Wände bereits seit der Schöpfung der Welt den Worten ihrer Bewohner lauschten.

Wianari musste trotz des Ernstes der Lage lächeln. Wenn die Sterblichen doch nur hören könnten, was ihre Götter an der Langen Tafel von sich gaben. Wie überaus verletzlich und gewöhnlich müssten sie den Völkern Deatrils vorkommen.

»Wenn es dich so sehr wurmt, untätig danebenzustehen, dann fahre herab und führe deine Anhänger in jenen Krieg, den sie in deinem Namen begonnen haben«, sagte sie voll geheucheltem Gleichmut. Sie kannte Malkar lange genug. Wenn sie sagte, dass er gehen sollte …

»Nein«, kam die erwartbare Antwort und die massige Gestalt des Kriegsgottes trat in Wianaris Sichtfeld. »Ich lasse dich hier oben nicht allein.« Seine getriebenen Augen hefteten sich erst auf sie und dann auf die metallene Tür, die wie ein Fremdkörper inmitten des in allen Farben der Schöpfung schillernden Granits der Halle wirkte. Malkar ging zu seiner größten Errungenschaft hinüber, seiner geliebten Siegelkammer, in der ein Großteil der Sigillen der Schöpfung ruhten. Eine Vielzahl der Bruchstücke der Macht der Acht Aeth, welche Deatril einst Leben eingehaucht hatten, lagen seit Jahrzehnten, ja, gar seit Jahrhunderten brach, und Malkar war ihr selbst ernannter Hüter.

Wie so oft musste Wianari bei dem Frieden, den er über die Götterwelt gebracht hatte, eher an eine Art Geiselhaft denken. Von sich selbst zumindest wusste sie, dass sie genau das war: eine als geschätzte Gefolgsfrau des Anführers der Langen Tafel getarnte Gefangene.

»Soll ich dich auf die Welt hinabbegleiten?«, bot sie dem nun unruhig auf und ab gehenden Gott an.

Malkar zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Wenn keiner von uns hier oben ist, schleicht sich am Ende noch er in die Siegelkammer.«

Wianari unterdrückte ein Schmunzeln. Obwohl Malkar glaubte, den Unsteten Gott einer Sigille beraubt zu haben, bereitete der Herr der List ihm noch immer schlaflose Nächte. Wenn Malkar nur wüsste, wie recht er damit hatte, den Unsteten Gott zu fürchten. Doch wie stets sah er am falschen Ort nach Spuren der Anwesenheit des Meisters der Tücke.

»Also bleibst du hier?«, hakte sie scheinbar gleichgültig nach.

Malkars Kopf ruckte mechanisch auf und ab, so als müsste er sich mit roher Gewalt zu dieser kleinen Bewegung zwingen. »Sie kämpfen auf dem Wasser. Dort hat ein Feuergott nichts verloren.«

Wianari nickte stumm und versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Sie drehte den Kopf von Malkar fort und ließ ihren Blick über jene Halle schweifen, die schon so lange ihr Zuhause war, dass die Faszination, die sie beim ersten Anblick vor Jahrhunderten empfunden hatte, vollkommen im Fluss der Zeit versunken war. Dieser Ort hieß zwar Die Lange Tafel, doch seine Wunder beschränkten sich nicht allein auf das langgezogene Rechteck aus einem unbekannten tiefbraunen Holz, an dem die Acht Aeth einst die gesamte Welt Deatrils geformt hatten. Die Kuppel aus undurchdringlichem Quarz zeigte einen unverstellten Blick auf den Himmel, über den mal Wolken, mal die Sonne oder die Sterne in scheinbar derart kurzer Distanz vorbeizogen, dass Wianari oft das trügende Gefühl ereilte, sie könnte nach all jenen flüchtigen Besuchern greifen. Es war, als würde die Kuppel den Göttern ihre Grenzen aufzeigen.

Doch noch mehr als die Decke gab die Lange Tafel selbst Wianari und Malkar seit Jahrhunderten Rätsel auf. So standen etwa stets so viele schwere basaltene Stühle an der Langen Tafel, wie sich Götter im Raum aufhielten, und seit der Zeit der Aeth war es keinem Gott mehr gelungen, die Gesetze der Schöpfung nachhaltig zu beeinflussen. Starb ein Gott, verblassten nach und nach all die kleinen Änderungen, die er im Rahmen seiner Herrschaft über seine Sigillen erschaffen hatte, fortgewischt wie ein Muster im Sand, welches die Flut mit sich ins Vergessen forttrug. Wianari war an jenen Grenzen ihrer Macht beinahe zerbrochen, als sie die Lange Tafel das erste Mal dazu zu nutzen gedacht hatte, die Vielzahl der Krankheiten einzudämmen, die die Sterblichen plagten …

Als hätten ihre Gedanken Malkar zum Handeln bewegt, setzte er sich an den Kopf der Tafel, und sofort erwachte der Stein des Stuhls ebenso zum Leben wie die Tafel selbst. Glut floss den Stuhl, auf dem er saß, herab, und der Geruch von vergossenem Blut lag in der Luft sowie das Echo von in der Ferne erklingenden Fanfaren. Malkar, der Gott des Feuers, des Krieges und der Herrschaft, legte seine Hände auf den Tisch, und einen Herzschlag später breitete sich Deatril in all seiner Pracht vor ihm auf der hölzernen Fläche aus. Gleich eines Ijunja-Spiels, nur unendlich detaillierter und farbenprächtiger, war die gesamte Welt zu sehen, die sie als Götter beherrschten – oder behüteten, je nachdem, mit welcher Motivation man auf die Sterblichen hinabblickte.

»Wenn ich schon nicht bei ihnen sein kann, so will ich wenigstens über sie wachen und ihnen meinen Segen schenken«, knurrte Malkar mit jenem dumpfen Ton brütender Entschlossenheit, der Wianari ein erleichtertes Seufzen entlockte.

Das Bild der Welt wuchs und veränderte sich, bis es Dutzende Schiffe auf See zeigte, die auf eine große, dicht bebaute Insel zuhielt. Malkar war beschäftigt, sein Blick in die Ferne schweifend, zu gebannt, um zu erkennen, was direkt vor seiner Nase vor sich ging.

Alles war, wie es sein sollte.

KAPITEL 1

Noch ein weiterer Tag in diesem Karren und ich schwöre dir, mir wird der Hintern abfallen«, stöhnte Niri, während sie sich auf das wunderbar weiche Strohbett des Herbergszimmers fallen ließ, in dem Caldenhus mit ihr und ihren Freunden abgestiegen war.

»Das hast du gestern auch schon gesagt«, flötete Grabbelschnack gut gelaunt und ließ schalkhaft seine gegabelte Zunge aus dem Drachenmaul hervorschnellen. »Und den Tag davor und den davor …«

Niri brummte und sah sich in dem Zimmer um, welches ihnen für die kommende Nacht Unterschlupf versprach. Solide, sorgfältig gepflegte Möbel aus Buchenholz verliehen dem Raum eine gemütliche, wenn auch bescheidene Atmosphäre. Das einzige Fenster besaß zwar kein Glas, aber dafür wenigstens robuste, gut eingepasste Läden. Sie zupfte an dem Leinen, der das Stroh in ihrem Bett gebändigt hielt. Es war weder verschlissen noch stachen die Halme hindurch. Zufrieden nickend unterzog sie das Zimmer einem letzten Test und sah unter dem Bett nach. Dort stand ein halbwegs sauberer Nachttopf, was sie vollends gnädig stimmte. Sie hatte in den letzten drei Wochen, in denen sie mit Caldenhus, Jonathan und den Wildlingen auf Reisen war, festgestellt, dass man die Qualität einer Unterkunft am schnellsten beurteilen konnte, indem man sich das unbeliebteste Utensil ansah, das die Besitzer eines Gasthauses pflegen mussten.

»Und? Bist du zufrieden?«, fragte Grabbelschnack.

»Mir reichen vier Wände und ein Dach, das weißt du ganz genau«, brummte sie zur Antwort. »Aber das heißt nicht, dass ich ein sauberes Gasthaus nicht zu schätzen weiß.«

»Gesprochen wie eine wahre Bewohnerin des Turms des Goldes«, ertönte vom Flur her eine Stimme, aus der Niri ein breites Lächeln heraushören konnte. Einen Herzschlag später reckte sich Jonahs rotgelockter Kopf hinter dem Türrahmen hervor. »Ein Einzelzimmer für die feine Dame«, zog er sie weiter auf. »Wie überaus elegant.«

Niri kniff die Lippen zusammen und ließ dem Adligen seinen Spaß. Sie kannte Jonathan von Lokenburg mittlerweile gut genug, um das kaum wahrnehmbare Beben der Nervosität herauszuhören, das jede seiner Silben durchzog. »Morgen ist es so weit«, sagte sie schlicht und nickte ihm zu.

Er sah ihr in die Augen und Niri spürte, wie er dieselbe Anspannung in ihren Augen erkannte, die auch ihn gefangen hielt. »Drei Wochen in einem holprigen Karren, nur um an einen Ort zu gelangen, den jedes Wesen mit halbwegs funktionierendem Freiheitsdrang meidet.«

Niri zuckte mit den Achseln, um sowohl sich selbst als auch Jonah zu beruhigen. »Caldenhus ist sich sicher, dass sie uns einreisen lassen werden.«

Jonah verzog das Gesicht, seine grünen Augen verrieten seinen inneren Konflikt, noch bevor er ihm mit Worten Ausdruck verlieh. »Ich weiß nicht, ob ich mich mehr davor fürchte, dass sich das Felsenmaul für uns öffnet, oder davor, dass wir abgewiesen werden.«

»Ich weiß, welches Ergebnis sich Caldenhus wünschen würde«, verkündete Grabbelschnack, der mit glänzenden Augen seine winzige Nase in die Luft hielt und schnüffelte. »Schließlich hat er einen Gutteil der Zeit des Wissens dafür aufgewandt, um uns alle herzubringen.«

»Inklusive unserer geplanten Zeit vor Ort und der Hin- und Rückreise sowie allen Vorbereitungen der Exkursion wird er die drei Monde, die wir ihm pro Akademiejahr uneingeschränkt zur Verfügung stehen müssen, aufgebraucht haben, sobald wir wieder hinter den Mauern der Sturmfels-Akademie stehen«, rechnete Niri zusammen. »Auch wenn ich nicht weniger nervös bin als du, so hoffe ich doch für Caldenhus, dass wir Erfolg haben werden. Zumal die Fragen, auf die er sich eine Antwort erhofft, auch für uns eine wichtige Rolle spielen.«

»Nicht für mich«, sagte Jonah und ein kampfeslustiges Feuer funkelte in seinem Blick. »Solange meine Heimat von den Splitterlanden angegriffen wird, habe ich andere Sorgen, als der Bedeutung eines mysteriösen Anhängers nachzuforschen, der in einem vergessenen Tempel Shalvinhurs von einem Blutzahn bewacht wird.«

»Sch!«, machte Niri alarmiert. »Wir sollen nicht darüber reden. Man könnte uns belauschen.«

Jonah vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Der erste Stock dieser Herberge hat nur vier Zimmer und die belegt unsere illustre kleine Runde. Hier ist niemand Fremdes in der Nähe, der zuhören könnte.«

»Vier Zimmer.« Niri schüttelte den Kopf. »Das kommt mir noch immer wie eine Verschwendung vor.«

»Genieße den Komfort, solange er anhält. Morgen ist es damit sicherlich ebenso vorbei wie mit geruhsamem Schlaf.« Jonah deutete auf das geschlossene Fenster. »Xul-Baarils Einfluss reicht auch bis zum letzten Fußbreit seiner irdenen Grenzen. Oder sollte ich besser sagen: Der Einfluss seines Gottkönigs.«

Niri stand von ihrem Bett auf, ging zu den Fensterläden hinüber und öffnete sie. Warme Frühlingsluft schlug ihr entgegen, die hier im Süden der Splitterlande so ganz anders roch, als sie es gewohnt war. Süßer, ja, wilder, und mit einem Hauch exotischer Fremdartigkeit, die ihre Nerven vor Neugier vibrieren ließen. Das Abendrot der untergehenden Sonne warf einen gleißenden Schimmer auf das im Osten aufragende Bergmassiv, welches sich keine zwei Längen entfernt in den Himmel erhob, und das jeder Betrachter instinktiv als nicht natürlichen Ursprungs erkannte. Zu glatt waren die Hänge der Felsen, zu gleichmäßig die graue Farbe des Gesteins und zu ebenmäßig der gewaltige Ring aus Stein, der links und rechts von Niris Blickfeld am Horizont verschwand, und von dem sie aus Erzählungen und durch Landkarten wusste, dass er das Reich Xul-Baars vollständig umschloss. Der Gottkönig schützte sein Volk vor dem Rest Deatrils – oder sperrte es ein, je nachdem, wie man die Motive des Gottes der Erde, der Ordnung und der Willenskraft betrachtete. »Ein Reich, in dem das Gesetz Malkars nicht gilt«, dachte Niri laut nach. »Keine Eidbrecher, keine Feuer, auf denen jene brennen, die die Eiferer erzürnt haben …«

»Dafür ein unausweichliches Schicksal, mit dem ein jeder dort geboren wird und in das er oder sie sich fügen muss«, erinnerte sie Jonah, der dabei neben sie trat und ebenfalls zu dem gewaltigen Felsmassiv hinübersah, das beinahe wirkte, als wolle es sich im nächsten Moment in Bewegung setzen und so lange ausdehnen, bis es ganz Kernheym umschlossen hielt.

»Ob es wirklich wahr ist, dass Xul-Baar persönlich über jeden seiner Untertanen in dem Moment, da dieser das Licht der Welt erblickt, ein Urteil spricht?«, sinnierte Niri. »Und dass er in den Seelen der Neugeborenen erkennt, für welches Los im Leben sie sich eignen?«

»Wärmt das Feuer Malkars stetig die Herzen seiner Anhänger?«, spöttelte Jonah. »Und bringt er Frieden für alle, die seine Gesetze umarmen?« Er entfernte sich von dem Fenster und damit auch von Niri. »Du solltest es besser wissen, als den Worten von Priestern allzu leicht Glauben zu schenken. Alles, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass kein Reich Deatrils mehr Regeln unterworfen ist als Xul-Baaril.«

»Seltsamer als die Regeln in diesem Gasthaus können sie nicht sein«, ertönte Tullpas leicht kratzige Stimme quer über den Flur, als die Erdflüsterin das gegenüberliegende Zimmer betrat und lautstark ihr Bündel auf die protestierend knarzenden Bodendielen fallen ließ. »Anscheinend sind wir unverheiratete Frauen derart kostbar, dass wir stets allein in einem Zimmer schlafen müssen.« Sie kicherte schalkhaft. »Wahrscheinlich, damit uns so langweilig wird, dass wir uns über jede Art der Gesellschaft freuen, und sei sie noch so farblos.«

»Ich frage mich, wie es wohl ist, sich den Regeln des Gottkönigs anstatt denen Malkars beugen zu müssen«, sinnierte Niri noch immer, ohne recht hinzuhören, und streckte dann routiniert einen Finger aus, der dicht vor Grabbelschnacks schnuffelnder Nase zum Stehen kam. »Nein«, sagte sie streng.

»Was denn?«, fragte der Taschendrache mit kugeeiunden, vor Unschuld geweiteten Augen, sodass sie aussahen wie zwei auf Hochglanz polierte schwarze Perlen. »Ich will mich nur ein bisschen strecken und durch die Gegend flattern. Das ganze Rumgesitze im Karren tut meinen Flügelmuskeln nicht gu–«

»Nein«, wiederholte Niri energisch. »Ich sehe doch deine Nase zucken. Du hast Gold gerochen.«

Die Unschuld in Grabbelschnacks Blick wich Trotz. »Na und? Ein Drache muss schließlich essen.«

»Aber nicht das Gold anderer Leute«, erwiderte Niri seufzend. »Wie oft müssen wir eigentlich noch darüber reden.« Schon zweimal hatten wohlhabende Reisende, die im selben Gasthaus wie Niri und ihre Freunde übernachtet hatten, am Morgen über fehlende Münzen geklagt und gar die Durchsuchung der Wildlinge und auch der Halb-Aeldae befohlen. Natürlich waren sie bei den vieren nie fündig geworden, denn ihr Gold war zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig im Bauch des zufrieden summenden Drachen verschwunden gewesen.

»Wieso denkst du immer nur das Schlechteste von mir?«, jammerte Grabbelschnack, der flugs seine Taktik wechselte, als er merkte, dass er mit seiner bisherigen Argumentation nicht weiterkam. Anscheinend entging dem Taschendrachen, dass er indirekt bereits zugegeben hatte, dass er einen weiteren Raubzug plante – oder es war ihm schlicht und ergreifend egal.

»Morgen wollen wir durch das Felsenmaul passieren«, erinnerte Niri ihren geschuppten Freund geduldig. »Es ist noch vollkommen unklar, ob Caldenhus überhaupt eine Erlaubnis erhält, Tauschbrück betreten zu dürfen, aber wenn einer der Gasthausbewohner morgen früh laut ‚Diebe, Diebe‘ schreit, dürfte dies nicht gerade hilfreich sein.«

Der Drache zog seinen noch immer schnüffelnd emporgereckten Kopf weit genug zurück, um Niri direkt anzusehen. »Irgendwer in diesem Gebäude hat mindestens fünfzig Goldstücke bei sich und ich darf nicht mal abbeißen? Du bist wirklich die gemeinste Halb-Aeldae, der ich je begegnet bin!« Dann strafte er seine harten Worte Lügen, indem er in Niris Kapuze hineinflatterte und sich dort zusammenrollte, um gepflegt zu schmollen.

Niri wusste, dass die schlechte Laune des Drachen so schnell verfliegen würde, wie sie über ihn gekommen war, und deutete daher auf den Platz vor dem Gasthaus hinab.

»Anscheinend bekommt nicht nur mein armer Drache nicht das, was er will«, kommentierte sie schmunzelnd.

Jonah trat wieder neben Niri und brach in leises Lachen aus, als er sah, was Niri amüsierte. Apllut stand vor dem Pferd, das ihren kleinen Karren in den letzten Wochen unermüdlich gezogen hatte, und versuchte das Tier mithilfe einer Karotte in die Stallungen zu locken, welche rechts des mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofes zu finden waren. Das Zugpferd lieferte sich mit dem zeternden Wildling jene Form des von besonderer Abneigung geprägten Kampfes, die die beiden seit dem ersten Tag ihrer Reise verband. Caldenhus hatte damals verkündet, dass einer der Aeleven den Karren lenken musste, und Harduul hatte in seiner Funktion als Fahamehr den kleinen, neunfingrigen Apllut zu dieser Aufgabe verdonnert. Angeblich weil Tullpas Zwillingsbruder bereits in Tausendgrab, der Heimat der Wildlinge, gut mit Pferden hatte umgehen können. Nur leider hatte sich diese Tatsache nicht bis zu dem kräftigen Schimmel herumgesprochen, der vor Caldenhus’ Karren gespannt worden war. Rund drei Wochen überdauerte nun schon ihre Fehde, die darin bestand, dass das Pferd Apllut mit tückischen Bissen traktierte, während der Wildling das Tier wiederum mit wüsten Beschimpfungen bedachte, die auf das Zugpferd und seine Ahnenreihe abzielten.

»Harduul sollte ihn endlich von dieser Pflicht entbinden«, murmelte Jonah kopfschüttelnd, während er und Niri dabei zusahen, wie der kleine Wildling das störrische Tier mühsam in Richtung Stall lockte.

»Dazu ist unser Fahamehr zu festgefahren in seiner wildlingtypischen Denkweise«, kommentierte Tullpa, die sich zu Niri und dem Adligen dazu gesellte. »Harduul hat entschieden, dass Apllut sich um das Pferd kümmert, und solange mein Bruder bei seiner Aufgabe nicht vollkommen versagt, wird unser Anführer nicht von seiner Entscheidung abrücken.«

Niri biss sich verstohlen auf die Unterlippe, um keinen Kommentar zu der ihrer Meinung nach mitunter schadhaften Geradlinigkeit aller Wildlinge abzugeben.

Nicht alle, korrigierte sich die Halb-Aeldae im Stillen. Tullpa sah durchaus die Schwächen, die eine derartige Fokussierung auf lediglich eine einzige Lösung zu einem beliebigen Problem mit sich brachte. Doch die Erdflüsterin fühlte sich anscheinend nicht dazu imstande, ihre Einwände dergestalt hervorzubringen, dass sie den Sturkopf Harduuls zu durchdringen vermochten. Also rackerte sich Apllut weiter Tag für Tag mit dem Pferd ab.

»Wo steckt Harduul überhaupt?«, fragte Jonah die Erdflüsterin und lehnte sich dabei aus dem Fenster, um die im Hof versammelten Händler zu mustern, die offensichtlich ebenfalls am Morgen durch das Felsenmaul reisen wollten, so es sich denn für sie öffnete.

»Er beschafft uns gemeinsam mit Caldenhus ein Abendessen sowie ‚angemessene‘ Kleidung für die morgige Weiterreise. Wir sollen hier oben auf sie warten.«

Niri verstand umgehend, was die junge Wildlingsfrau meinte. So viel Aufmerksamkeit die drei Bewohner Tausendgrabs auch erregten, es war die Halb-Aeldae, die inmitten ihrer kleinen Gruppe den meisten Argwohn unter den Bewohnern der Splitterlande erregte.

Gute drei Jahrhunderte war es nun schon her, dass die Aeldae besiegt und ihre Sklavenherrschaft über die Menschen Kernheyms gebrochen worden war, und doch brannte der Hass noch immer hell in den Herzen vieler Bewohner der Splitterlande, mit düsterer Freude am Leben gehalten von den Eiferern Malkars.

Niri hatte sich in der Sturmfels-Akademie derart schnell daran gewöhnt, dass sie ihre Herkunft nicht länger verbergen musste, weil dort ohnehin alle Aeleven wussten, was sie war, dass es ihr schwergefallen war, ihr metallisch goldenschimmerndes Haar, ihre großen Augen, ihr dreieckig anmutendes Gesicht sowie ihre auffallend blasse Haut auf dieser Reise wieder zu verbergen. Es war Niri wie ein gewaltiger Rückschritt erschienen, mit tief in die Stirn gezogener Kapuze auf der Ladefläche des Karrens zu sitzen und möglichst reglos dazuhocken, damit kein vorbeiziehender Reisender einen allzu genauen Blick auf sie warf. Selbst als sie einen der gewaltigen Risse überquert hatten, die den Splitterlanden ihren Namen gaben, war es Niri unmöglich gewesen, sich die von Malkariten bewachte Steinbrücke, die darüber hinweggeführt hatte, genauer anzusehen. Es war fast so gewesen, als wäre sie wieder das verängstigte Kohlemädchen, das sich im Inneren eines Gästewagens vor der Außenwelt versteckte, während ein Tross aus Wagensängern sie zur Akademie geleitete. Auch damals war es Niri verwehrt gewesen, sich die Brücken und Schluchten genauer anzusehen, die sich so markant durch ihr Heimatland zogen.

»Geht es dir gut?« Die leise Frage, dicht neben ihrem linken Ohr gehaucht, ließ Niri zusammenzucken. Sie wandte den Kopf und sah in Grabbelschnacks treue Augen, die nun nichts als Wärme und milde Sorge ausstrahlten. Sie kannte den Drachen recht gut, aber Grabbelschnack las in Niris Stimmungen wie in einem offenen Folianten. Auch wenn er manchmal die Sprache auf dessen Seiten nicht gänzlich verstand.

»Ich ziehe es vor, meine Kapuze nur bei Regen oder Kälte zu verwenden«, sagte Niri wehmütig. »Oder um dösende Taschendrachen in ihr herumzutragen. Aber nicht, um mich unter dem Stoff zu verstecken.«

Grabbelschnack nickte so heftig, dass sein langer Hals regelrecht Wellen schlug. »Ja, ich habe es auch immer gehasst, mich vor den großen Drachen verstecken zu müssen. Zur Strafe habe ich ihnen gerne mal das eine oder andere Goldstück aus ihrem Hort stibitzt.«

Niri lächelte. Bei ihrem kleinen Freund lief irgendwann jede seiner Anekdoten auf Gold hinaus. »Zur Strafe also, hm?«, fragte sie.

»Natürlich.« Der Drache streckte den Rücken durch, um sich so imposant wie möglich auf Niris Schulter emporzurecken. »Und ich bin bereit, diesen Händlern da unten dieselbe Lektion dafür zu erteilen, dass sie dich dazu zwingen, dich hier oben zu verstecken.«

Niri seufzte. »Nein, Grabbelschnack.«

»Wie unfair.« Einen Herzschlag später war er wieder in Niris Kapuze verschwunden.

»Kommt es mir nur so vor oder wird dein Drache immer raffinierter?«, fragte Jonah verschwörerisch.

»Er lernt«, stimmte Niri ihm zu. »So wie wir anderen auch.«

Ein höfliches Hüsteln erklang von der Tür her und Niri drehte sich um. Dort stand Daekhan Caldenhus in seiner verstaubten Reisekutte, ein hölzernes Tablett auf dem Arm, auf welchem ein halbes Dutzend Schüsseln voll dampfenden Inhalts platziert worden waren.

»Ich bringe euch euer Abendessen«, erklärte er das Offensichtliche mit einer Spur Unbehagen in der Stimme.

Niri eilte dem Mann entgegen, in dessen Diensten sie und ihre Freunde standen, und der ihnen nicht nur dabei half, ihren Unterhalt für die Sturmfels-Akademie zu bestreiten, sondern auch Informationen zu sammeln, die vor allem für Niri von großer Bedeutung waren.

»Lasst mich Euch helfen …«, begann sie, als sie den Gelehrten erreichte. Doch dann stieg ihr ein allzu bekannter Geruch in die Nase und Niri prallte zurück, als wäre sie vor eine unsichtbare Mauer gelaufen. Ein kritischer Blick bestätigte umgehend den finsteren Verdacht. »In der Schale …«, begann sie stöhnend und erinnerte sich umgehend an ihre Zeit im Turm der Bettler zurück. »Ist das etwa …?«

Caldenhus zuckte hilflos mit den Achseln. »Leider ja. An jedem siebten Abend servieren sie in der Gaststube Brotsuppe.«

»Wir reisen wochenlang bis an die Grenzen der Splitterlande und löffeln dann doch wieder Brotsuppe.« Aplluts Stimme triefte derart vor Abscheu, dass Niri den kleinen Wildling spontan fester in ihr Herz schloss. Sie selbst quälte nur widerwillig Löffel um Löffel der fasrig-wässrigen Speise hinunter, und allein ihr unumstößlicher Vorsatz, keine Nahrung zu verschwenden, ließ sie tapfer weiteressen.

»Also, ich finde den Geschmack abwechslungsreich«, tat Caldenhus kund und lächelte dabei aufmunternd in die Runde.

»Ihr habt dieses Zeug auch nicht mondelang essen müssen«, grollte Harduul. »Wir hingegen schon.«

Wie zur Bestätigung der Worte des Fahamehrs schnaubte ihr Zugpferd und versuchte sich an einem zaghaften Knabbern an Aplluts Ohrspitzen.

Der rückte von dem Tier weg und überzog es mit einer Reihe übler Flüche. »Warum genau essen wir noch gleich hier im Stall?«, fragte er missmutig.

»Weil wir im Schankraum nur missbilligende Blicke auf uns ziehen würden und in keinem der Zimmer genug Platz für uns alle ist«, erklärte Tullpa ihrem Bruder ein drittes Mal. »Und wir ein ruhiges Plätzchen brauchen, wo uns niemand belauschen kann.« Dabei rückte sie sich auf einem der Strohballen zurecht, die der kleinen Gruppe als Sitzgelegenheiten dienten.

»Niemand in Sicht«, rief Grabbelschnack pflichtbewusst vom Dach des Stalles herab. »Ihr könnt in Ruhe eure geheimen Pläne schmieden.«

»Danke, mein Guter«, rief Niri zurück. »Aber vielleicht solltest du unsere Absicht, hier vertraulich sprechen zu wollen, nicht über den halben Platz krakeelen.«

»Äh …« Der Drache blieb für einen kurzen Moment bemerkenswert stumm.

»Ein Fortschritt«, kommentierte Harduul. »Es scheint, als würde er dazulernen.«

»Hab ichs dir nicht gesagt?«, fragte Jonah mit einem Strahlen in Richtung Niri, so als hätte sie seinen Verdacht nicht selbst bestätigt.

»Daekhan, Ihr wolltet uns über das morgige Vorgehen unterrichten?«, fragte Niri leise, damit sie beim Thema blieben. Dabei rieb sie sich geistesabwesend über beide Unterarme, bis Harduul ihre Hände sanft, aber bestimmt mit einer seiner großen Pranken festhielt. Die Heilung ihrer zerschmetterten Knochen nach ihrem waghalsigen Manöver im Kampf gegen den Troll war langwierig gewesen, und mehr als einmal hatte Niri ihrem Genesungsprozess geschadet, indem sie sich und ihren Unterarmen zu viel zugetraut hatte. Seit jener Zeit strich sich Niri häufig über die Unterarme, um einem Heilungsverlauf nachzuspüren, der längst abgeschlossen war. Harduul hingegen hatte ihr wortlos dabei geholfen, diese Angewohnheit wieder loszuwerden, indem er ihre Hände festgehalten hatte, wann immer sie in ihr altes Muster zurückgefallen war. Die ledrige, raue Haut des Wildlings legte sich stets gerade fest genug um ihre Finger, um ihnen Halt zu geben, ohne sie zu fixieren.

»Bei Sonnenaufgang versammeln sich all jene, die um Einlass nach Xul-Baaril bitten, vor dem Felsenmaul, und zwar gewandet je nach Anlass ihres Besuches. Gelbe Trachten für Händler, rote Trachten für offizielle Gesandte, weiße Trachten für Konvertiten –«

»Moment«, unterbrach Apllut den Gelehrten. »Konvertiten bedeutet doch nicht etwa, dass Leute freiwillig darum bitten, in diesem riesigen steinernen Kerker unter dem kritischen Auge eines leibhaftig anwesenden Gottes leben zu wollen?«

»Genau das«, erwiderte Caldenhus und nickte dabei heftig, ein seltsames Funkeln in den Augen. »Für viele liegt ein Reiz darin, das Leben nach starren Regeln zu führen. Die Verlockung, die Verantwortung für die eigenen Taten einer höheren Macht anzuvertrauen, die bestimmt, was man tun darf und was nicht, wird wohl auf ewig ihre Anziehungskraft für jene behalten, denen das selbstständige Denken zu mühsam ist.«

»Ist das nicht etwas harsch formuliert?«, fragte Tullpa und sah den Daekhan nachdenklich an. »Oder spricht da der freigeistige Gelehrte aus Euch, der sich einfach nicht vorstellen kann, dass Regeln, vor allem in Zeiten des Konflikts, sowohl Trost als auch Sicherheit bedeuten können?«

»Ohne die Gebräuche der Stämme wären die Wildlinge Tausendgrabs längst ausgestorben«, sprang Harduul seiner Erdflüsterin bei.

Jonah lachte gutmütig auf. »Eure kleine Rede für die grenzenlose Entfaltung des eigenen Verstandes stößt in dieser Runde wohl auf so einige taube Ohren, werter Daekhan. Aber verzagt nicht, mich habt Ihr vollends auf Eurer Seite. Die Fürsteninseln beten keine Götter an. Wir erschaffen Wunder aus ihren Knochen!«

»Und eine solche Lebensweise ist erstrebenswerter?«, fragte Tullpa gelassen. »Ein Gott muss sterben, damit ihr mehr besprochenes Spielzeug herstellen könnt?«

Niri kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie wusste beim besten Willen nicht, auf wessen Seite sie sich schlagen sollte, und wie sie sich plötzlich in eine Diskussion über Sterbliche und Götter hatten verstricken lassen können. »Malkars Eiferer töteten meine Eltern, weil ihre Liebe nicht ihren fanatischen Regeln entsprach, die nicht mal der feurige Gott, sondern sie selbst mit Gewalt in Kraft gesetzt hatten.« Sie blickte in die Runde, ihre Freunde lauschten mit betretenen Gesichtern ihren Worten. »Und gleichzeitig würde es mir das Herz zerreißen, wenn die Herrin Wianari plötzlich ermordet vom Himmel stürzen würde und ihre Überreste geplündert würden, um daraus magische Dinge herzustellen.«

»Was für ein schönes Wort des Abschlusses«, verkündete Caldenhus mit einem dankbaren Nicken in ihre Richtung. »Jeder muss wohl für sich selbst den Stellenwert finden, den er oder sie den Göttern einräumt.«

»Ich glaube nicht, dass Niri genau das gesagt hat …«, begann Grabbelschnack zaghaft, aber Caldenhus redete bereits weiter, den Drachen absichtlich übertönend.

»Jedenfalls werden wir morgen rote Trachten anziehen, denn wir gelten als offizielle Gesandte der Sturmfels-Akademie, die von Xul-Baaril als neutraler Ort des Lernens anerkannt wird, auch wenn der Gottkönig seinen Untertanen nicht erlaubt, als Aeleven oder Daekhane zu uns zu kommen.«

»Klingt widersprüchlich«, brummte Harduul.

»Nicht aus Sicht der Xul-Baariten«, entgegnete Caldenhus. »Der zentrale Grundstein ihres Reiches, ja, ihrer gesamten Weltanschauung, ist die Tatsache, dass Xul-Baar über sie wacht und sie leitet.« Er deutete auf die unnatürliche Felswand, die im schwächer werdenden Licht des Abends geradezu übermächtig im Osten aufragte. »Die Grenzen Xul-Baarils zu verlassen bedeutet, Xul-Baars Weisheit und Führung hinter sich zu lassen. Und das ist für seine Anhänger undenkbar.«

Niri fröstelte. Für sie klangen die Ausführungen des Daekhans, als handelte es sich bei Xul-Baaril um ein Reich voller Fanatiker, die ihrem Gottkönig treu ergeben waren. Dies war beileibe kein Ort, den sie freiwillig aufgesucht hätte!

»Also ziehen wir morgen irgendwelche roten Fetzen an«, resümierte Apllut, der bereits hörbar das Interesse an dem Gespräch verloren hatte, und dessen Ungeduld ihm an den herabhängenden Schlappohren abzulesen war. »Und wie geht es dann weiter?«

»Das Felsenmaul wird sich öffnen, und die Grenzwahrer Xul-Baarils werden uns nach unserem Anliegen fragen.« Caldenhus richtete sich kerzengerade auf. »Das bedeutet, ich werde reden, ihr werdet schweigen. Das gilt auch für jene unter euch, die Schuppen tragen.«

»Oh, wie schade«, erklang Grabbelschnacks Antwort vom Stalldach aus. »Dabei hätte ich doch so viele Fragen. Haben die da auch Drachen? Und bezahlt man in Xul-Baaril ebenfalls mit Goldmünzen?« Niri hörte ihren winzigen Freund schwer an seinem Speichel schlucken. »Oder legen dessen Bewohner vielleicht keinen so übertriebenen Wert auf Gold und man kann es dort ungestraft fressen …«

»Ich nehme alles zurück«, mischte Jonah sich kopfschüttelnd ein. »Er lernt überhaupt nicht dazu.«

»Ich fürchte, das einzige Volk, das mir bekannt ist, welches Edel­metallen keinerlei Wert beimisst, ist das der Skit-Lear«, erklärte Caldenhus dem Taschendrachen mit aufrichtigem Bedauern. »Diese Wesen bemessen den Reichtum eines Individuums anhand der Größe seiner Herde.«

»Oh, das klingt doch nett«, rief der Drache hinab.

»Kommt drauf an«, warf Apllut ein und lachte meckernd.

Grabbelschnacks Kopf wurde am Rand des Stalldaches sichtbar, als er neugierig zum kleinen Wildling hinabsah. »Worauf denn?«

»Ob du etwas anderes als ein Mensch, Elf, Zwerg oder Wildling bist – denn aus denen bestehen die Herden der Skit-Lear.«

Grabbelschnack blinzelte verwirrt, und Niri hätte den kleinen Kerl für seine unschuldige Naivität am liebsten küssen können. »Ich verstehe nicht …«, begann er.

»Die Skit-Lear ernähren sich nicht von Tieren, sondern von den Angehörigen anderer Völker«, erklärte sie sanft, bevor Apllut drastischere Worte wählen und Grabbelschnack unnötig verängstigen würde.

Der Taschendrache zuckte zusammen. »Igitt«, war alles, was er sagte, bevor er sich wieder auf das Dach des Stalles zurückzog.

Niri sah Apllut an, dessen breites Grinsen von einem dunklen Vergnügen kündete. »Du wirst Grabbelschnack in Zukunft schonen«, befahl sie dem Wildling, der daraufhin seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. »Grausamkeit ist kein Wesenszug, den man kultivieren sollte«, fügte sie energisch hinzu.

»Als ob ich mir von dir den Mund verbieten lasse«, fauchte der Pri-emdral.

»Sie hat recht«, erklärte Harduul gelassen. »Grausamkeit ist der Weg der Uhlmahrii. Lass nicht zu, dass du einer von jenen wirst, die keinen Platz mehr im Stamm haben.«

Apllut ließ die Ohren sichtlich hängen und sah zu seiner Schwester hinüber.

Die zuckte mit den Achseln. »Dein Blutdurst ist eine Bürde, die dich schwer genug tragen lässt, auch ohne dass du weitere dunkle Laster an dich kettest. Höre auf die Weisheit deines Fahamehrs, wenn du schon die deiner Schwester ignorierst.«

Apllut spie aus und erhob sich. »Ich gehe das verdammte Pferd füttern.«

»Darf ich jetzt weitersprechen?«, fragte Caldenhus indigniert. »Oder wollt ihr euch in ein weiteres Thema hineinsteigern? Dann würde ich in der Zwischenzeit in der Gaststube ein Bier trinken gehen.«

Apllut hielt in der Bewegung inne. »Hier gibt es Bier?« Er leckte sich die Lippen.

Caldenhus nickte schroff. »Vielleicht hole ich später ein paar Krüge – sobald ich zu Ende gesprochen habe.«

Apllut setzte sich an Ort und Stelle auf den strohbedeckten Boden, faltete die Hände im Schoß und sah Caldenhus lammfromm an.

»Das müssen wir uns merken«, raunte Jonah augenzwinkernd in Richtung Niri. »Wenn Apllut im Turm des Goldes nicht spurt, stellen wir ihm einfach ein wenig Bier in Aussicht.«

Niri lächelte den Adligen an, und in dem Moment ließ Harduul ihre rastlosen Hände los. Plötzlich fühlten sich ihre Finger kalt und verloren an, jetzt, da die Wärme des Wildlings sie nicht mehr umschloss. Sie sah fragend zu dem Fahamehr hinüber, aber der konzentrierte sich mit verkniffenem Gesicht auf die Worte von Caldenhus.

»Ich bin zuversichtlich, dass unser Begehren uns Einlass nach Xul-Baaril gewährt, da die Bibliothek, in der ich nachzuforschen gedenke, sich in Tauschbrück selbst befindet. Das tiefere Eindringen in das Reich des Gottkönigs wird hingegen nur den wenigsten gestattet.«

»Und wie sicher seid Ihr Euch, dass Ihr dort jenes Wissen findet, nach dem Ihr sucht?«, fragte Tullpa kritisch nach.

Caldenhus zuckte mit den Achseln und räumte die leer gegessenen Schüsseln zu einem kleinen hölzernen Türmchen zusammen. »So sicher, dass ich darauf drei Monde meines Lebens sowie die gesamte unschätzbare Zeit meiner fünf Gehilfen verwettet habe.«

Niri zögerte. Es gab eine Frage, die ihr schon lange im Kopf herumspukte. »Wieso habt Ihr uns überhaupt mitgenommen?«, platzte es schließlich aus ihr heraus. »Wir sind allesamt keine Gelehrten.«

Caldenhus lächelte mild und stand mit den Schüsseln in der Hand auf. »Noch nicht«, sagte er schließlich. »Aber wenn ich euch nicht mitnehme, wie kann ich euch dann je die wundervoll aufregende Jagd nach Wissen vermitteln, die das Herz schneller schlagen lässt und den Verstand beflügelt?« Dann wandte er sich um und ging in Richtung Schankstube.

Tullpa deutete auf den noch immer artig dahockenden Apllut. »Er will meinem Bruder tatsächlich die Jagd nach Büchern schmackhaft machen? Dieser Daekhan ist noch weltfremder, als ich dachte.«

Niri biss auf ihrer Unterlippe herum und sah dem Gelehrten nach, wie er im dunkelbraun getünchten Gasthaus verschwand. Sie konnte nicht für ihre Freunde sprechen, aber sie selbst fand den Gedanken an wiederentdecktes Wissen und die Mehrung der eigenen Kenntnisse mehr als nur verlockend.

Ihr Blick wanderte zur unnatürlich glatten Bergkette hinüber, die Xul-Baar bei seiner Thronbesteigung des von ihm erschaffenen Reiches hatte aus dem Boden wachsen lassen. Plötzlich empfand sie ihr morgiges Vorhaben viel weniger absurd. Wenn sie auf der Jagd nach einer Goldmünze ihr Leben riskierte, indem sie sich mit den Bestien des Kraters anlegte, dann konnte sie auch auf der Suche nach Antworten das so machtvoll abgeriegelte Xul-Baaril betreten.

Die Sonne war nicht mehr als eine Ahnung, ein ferner Schein, der hinter dem kolossalen Felsring verborgen lag, als Caldenhus mitsamt Niri und ihren Freunden im Schlepptau über einen schlichten Lehmpfad in Richtung Felsenmaul spazierte. Sie alle waren in weite Trachtengewänder gehüllt, die aus grobem Leinen gefertigt und äußerst schlicht waren. Selbst die rote Färbung des Stoffes wirkte blass und zurückhaltend, es gab keine Schnürung, um das Wams oder die Hose an den eigenen Körper anzupassen, nur eine Art dünnen Strick, den man sich um die Taille wand. Das Schlimmste für Niri war jedoch das Fehlen von Schuhwerk. Anscheinend musste man sich dem Felsenmaul barfuß nähern und der Morgentau hatte den Lehm des Weges nass und kühl werden lassen, sodass ihre Zehen bereits jetzt, nach halbem Wege bis zur künstlichen Bergkette, Eisklumpen glichen.

»Woher weiß Caldenhus überhaupt, wohin er gehen muss?«, fragte Jonah flüsternd. »Für mich sieht dieses vermaledeite Gebirge auf jedem einzelnen Schritt seiner Oberfläche vollkommen identisch aus.«

»Ich folge dem Pfad«, erwiderte der Gelehrte lakonisch und bewies einmal mehr sein gutes Gehör. »Dies ist eine der ersten Botschaften Xul-Baars an Besucher seines Reiches: Wenn du nicht weiterweißt, dann schreite den Weg entlang, den ich dir vorgebe, und du gelangst an dein Ziel.«

»Und das müssen wir unbedingt barfuß tun?«, beschwerte sich Jonah.

»Wir sind Bittsteller unter den Augen Xul-Baars«, erinnerte Caldenhus den Adligen in strengem Ton. »Ihr tut gut daran, das nicht zu vergessen, Meister von Lokenburg.«

»Schon gut, schon gut.«

»Barfuß kann man schlechter kämpfen«, murrte Niri und machte den Fehler, ihre linke Fußsohle für einen Moment an ihrer rechten Wade zu wärmen. Klammer Lehm heftete sich dort an die Haut und kühlte ihre Beine so noch schneller aus.

Harduul lachte grimmig. »Das gilt nicht für Wildlinge.« Tullpa und Apllut stimmten in den freudigen Laut mit ein. Erst jetzt fiel Niri auf, dass die drei ohne jedes Unbehagen vorwärts marschierten.

»Wie macht ihr das?«, fragte sie neugierig.

»Gewohnheit«, erwiderte Apllut. »In Tausendgrab muss man sich sein Schuhwerk verdienen. Die ersten Jahre im Leben eines Wildlingskindes verbringt es barfuß.« Er grinste sein breites Raubtiergrinsen. »Das härtet ab und formt den Charakter.«

»Na, in deinem Fall ist dabei aber keine besonders schöne Form entstanden«, kommentierte Grabbelschnack aus luftiger Höhe. Das kleine Wesen flog über ihnen, sein neugieriger Blick huschte seit ihrem Abmarsch beständig hin und her, die Umgebung der Gruppe sorgfältig im Auge behaltend. Niri war sich nicht sicher, ob ihr geschuppter Freund sich dessen gewahr war, aber er verhielt sich, als wären sie im Feindesland des Kraters und könnten jederzeit angegriffen werden. Sie konnte ihm diese Gemütsregung nicht verdenken.

»So ist es recht, verspotte mich nur«, grollte Apllut. »Irgendwann musst du wieder landen und dann –«, er ballte seine knotigen Fäuste und tat so, als würde er jemandem den Hals umdrehen.

Tullpa sah ihren Bruder mahnend an. »Vergesst nicht euer Versprechen, das wir euch beiden vor Wochen abnahmen. Wenn ihr unbedingt miteinander kämpfen müsst, dann kämpft mit Worten.«

»Kein Problem«, krähte Grabbelschnack fröhlich. »Apllut darf seine hässlichen Ohren behalten, ohne dass ich sie ihm verkohle.«

Niri bemerkte eine pochende Ader am Hals des Wildlings, der zum Taschendrachen emporsah. »Natürlich freut der geflügelte Wurm sich über ein Wortgefecht! Wenn es um Faustkampf ginge, hätte er auch keine Chance.«

»Aber lieber Apllut«, sagte Caldenhus mit verschmitztem Grinsen. »Willst du damit etwa andeuten, dass du dem Verstand eines winzigen Taschendrachen unterlegen bist?«

Der Wildling stockte in seinem Schritt, den Mund zu einem wilden Protest geöffnet. Dann starrte er zu Boden, trottete weiter und brummelte unverständlich vor sich hin.

Niri hingegen suchte Augenkontakt mit Grabbelschnack und wedelte mahnend mit einem Finger. Zwischen Apllut und ihrem geschuppten Freund gab es seit dem Kampf mit dem Troll eine Art brüchigen Frieden, den es nach Möglichkeit zu wahren galt, vor allem jetzt. Nicht auszudenken, wie die Wachen in Xul-Baaril auf einen zeternden Wildling und einen spottenden Taschendrachen reagieren würden, die sich gegenseitig mit farbenfrohen Beleidigungen den Tod an den Hals wünschten.

»Voraus erkenne ich eine Art Platz«, berichtete Grabbelschnack und sauste in die entsprechende Richtung davon. Kurze Zeit später kehrte er zurück und ergänzte: »Eigentlich nur ein Rund aus festgestampftem Lehm direkt vor der Felswand.«

Harduul kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wieso sehe ich niemand anderen als uns hier?«

»Zuerst müssen sich Gesandte vor dem Felsenmaul präsentieren«, erklärte Caldenhus. »Dann folgen die Händler, am Schluss die Konvertiten. Jede Gruppe wird einzeln durch den Fels gebracht.«

Tullpa schauderte. »‚Durch den Fels‘ ist hoffentlich nicht wörtlich zu verstehen.« Sie deutete auf die steinerne Barriere, die mittlerweile keine hundert Schritt mehr entfernt lag. »Ich kann regelrecht hören, wie die Erde hier unter dem Willen Xul-Baarils stöhnt. Sie will ruhen, sich endlich wieder absenken, schlafen.« Abscheu schlich sich verstohlen in ihre Worte gleich einem Dieb in der Nacht. »Es ist, als würde dieser Gottkönig das Land dazu zwingen, seit Jahrhunderten mit emporgereckten Händen auf Zehenspitzen zu stehen. Es ist müde, verzweifelt und mittlerweile sehr, sehr zornig.«

Caldenhus rieb sich mit einer Hand über sein Kinn. »Das ist eine für mich recht überraschende Information. Xul-Baar ist unter anderem der Gott der Erde. Ich hätte angenommen, dass er die Berggrenze unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Landes erschaffen hat.«

Tullpa schüttelte stumm den Kopf, ihre Augen blickten gequält drein. Apllut trat an ihre Seite und stützte seine Schwester. »Vielleicht bleiben wir zwei lieber hier«, sagte er. Seine Worte klangen weniger nach einem Vorschlag als nach einem festen Entschluss.

»Es … es geht schon«, keuchte Tullpa. »Ich will mitkommen. Ich will die Erde trösten.«

»Kein Herumgepfusche an der Barriere des Gottkönigs!«, befahl Caldenhus erschrocken. »Genaugenommen ist Xul-Baar für dich als Erdflüsterin der Schirmherr deiner Magie. Du solltest dich ihm besser nicht widersetzen.«

»Kann ein Gott oder ein Aethrim, der über eines der vier Elemente herrscht, die Art und Weise, in der sich das Element innerhalb der Schöpfung verhält, wirklich verändern?«, fragte Niri.

Caldenhus schritt weiter auf die Felswand zu und wiegte dabei nachdenklich seinen Kopf hin und her. »Nur sehr eingeschränkt, und nur zu seinen Lebzeiten. Eine solche Veränderung aufrechtzuerhalten kostet viel Kraft und diese wollen die meisten Träger einer elementaren Sigille lieber anderweitig einsetzen. Malkar beispielsweise ließ die Schmiedefeuer der Stahlgipfel-Zwerge heißer brennen, als er noch einzig ihr Wohlergehen im Sinn hatte.« Dabei deutete er auf das glatte Steinmassiv, welches schier in den Himmel ragte. »Xul-Baar hat sich ebenfalls für eine örtlich begrenzte Manifestation seiner Macht entschieden.«

Harduul stieß einen missbilligenden Laut aus. »Das klingt nach Selbstsucht. Anstatt der Erde auf Deatril zu befehlen, fruchtbarer zu sein, um mehr Lebewesen zu ernähren, verschanzt sich der Gottkönig lieber hinter einem Ring aus Gestein.«

»Und quält damit jenes Element, das er ehren und beschützen sollte«, wisperte Tullpa mit trauerumflortem Blick.

Caldenhus räusperte sich. »Sei es, wie es sei, wir sollten dieses Gespräch nun beenden. Schließlich ändert es nichts daran, dass wir das Reich Xul-Baars betreten wollen.«

»Meinst du denn, dieser Gottkönig hat so gute Ohren?«, fragte Grabbelschnack, der über ihnen kreiste und sich noch immer sorgfältig umsah. »Denn außer uns ist niemand hier, der uns hören könnt–«

Ein Rumpeln setzte ein, unterbrach den flatternden Taschendrachen, vibrierte in Niris Knochen und brachte sie und ihre Freunde zum Wanken.

»Was –?«, begann sie, als sich plötzlich der Stein des Felsmassivs vor ihnen öffnete. Ungläubig sah Niri zu, wie sich knackend und krachend die Bergwand teilte, so als würde sich eine klaffende Wunde in vormals gesundem Fleisch bilden. Zacken aus groben Felssplittern ragten aus dem größer werdenden Loch gleich Zahnstümpfen in einem riesigen bestialischen Maul. Nun zumindest wusste Niri, woher das Felsenmaul seinen Namen hatte. Eingeschüchtert betrachtete sie, wie aus dem klaffenden Riss eine Art Tunnel wurde, der durch den Berg führte, und das Schauspiel schließlich zu einem Ende kam.

»Ich kann in weiter Ferne den schwachen Lichtschein eines Ausgangs erkennen sowie Silhouetten, die sich uns langsam nähern«, durchbrach Harduul die nachfolgende Stille.

Jonah beäugte den Wildling kritisch. »Also, ich sehe da nur Schwärze.«

»Du vergisst, dass unser Fahamehr durch sein Uhlmahr über Jägeraugen verfügt«, erinnerte Tullpa den Adligen. »Er sieht vieles in der Ferne und wenig, was direkt vor seiner Nasenspitze liegt.«

Harduul sah die Wildlingsfrau grimmig an, sagte aber nichts. Die kleine Gruppe wartete schweigend, und mit jedem Herzschlag stieg ihre Nervosität vor dem Unbekannten.

»Gehen wir den Leuten entgegen, die Harduul sieht, oder warten wir hier?«, fragte Jonah schließlich, und Niri war sich sicher, ein Zittern in der Stimme des Adligen zu hören. Auch ihr war mulmig bei dem Gedanken, einen Tunnel zu betreten, der bis vor wenigen Augenblicken nicht existiert hatte, und dessen Eingang an ein riesiges Maul erinnerte.

»Wir warten, bis wir eingeladen werden«, erklärte Caldenhus geduldig und verschränkte die Hände vor dem fülligen Bauch. »Und vergesst nicht: Ich übernehme das Reden.«

Niri fixierte wie gebannt den dunklen Tunnel und zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich ein Flattern neben ihrem Ohr vernahm, gefolgt von dem vertrauten Gewicht Grabbelschnacks, der sich auf ihrer linken Schulter niederließ.

»Bist du dir sicher, dass dieser Tunnel sich nicht voreilig schließt?«, fragte der Taschendrache und beäugte den Eingang. »Ich wäre ungern da drinnen, wenn der Stein plötzlich wieder in seine ursprüngliche Form zurückkehrt.«

»Vielen Dank, werter Grabbelschnack. Daran hat von uns bisher noch niemand gedacht«, sagte Jonah trocken und mit einem durchdringenden Blick auf Niris geschuppten Freund. »Wir können uns ja so glücklich schätzen, dich dabei zu haben.«

Grabbelschnack strahlte breit über sein echsenhaftes Gesicht. »Oh, vielen Dank! Endlich erwähnt das mal jemand.«

»Der Kleine ist dümmer als ein Sack voll Kiesel«, amüsierte sich Apllut feixend.

»Das sagt jemand, der mithilfe seiner Finger nicht mal bis zehn zählen kann.«

»Still«, zischte Caldenhus und beendete den aufflammenden Streit gerade noch rechtzeitig, bevor aus dem Dunkel des Tunnels vier Gestalten hervortraten, deren Erscheinungsbild Niri schaudern ließ.

Ein Teil ihres Verstandes freute sich darüber, dass ihr Körper nicht mehr auf jeden größeren Schreck mit dem Eintauchen reagierte. Tatsächlich war diese Starre nicht mehr aufgetreten, seit Niri ihre Furcht gemeistert hatte. Großdaekhanin Trielbeck hatte ihr offenbart, dass jenes seltsame Phänomen auf eine seltene Form der Niri innewohnenden Magie zurückzuführen war, an welche sich die Angst der Halb-Aeldae geklammert hatte.

Drei Frauen und ein Mann standen unmittelbar am Ende des Tunnels vor Niri und den anderen, ohne jedoch vollständig aus ihm herauszutreten. Alle vier waren in schlichte, erdbraune Kleidung gehüllt, der Tracht nicht unähnlich, die sie als angehende Besucher Xul-Baarils selbst tragen mussten. Hier und da bemerkte Niri kleine Unterschiede im Schnitt, dazu den einen oder anderen Knopf, aber der Gesamteindruck der Tracht blieb bescheiden, ja, zurückhaltend.

Nicht jedoch die Helme, die die vier Grenzwahrer trugen. Groß und klobig saßen sie auf den Schultern der Wachen, aus grauem Speckstein geschnitzt. Sie bedeckten den gesamten Kopf bis hinunter zur Kehle, und weder Mundschlitze noch Augenlöcher waren zu erkennen. Stattdessen prangte das eingravierte Antlitz eines kahlköpfigen Mannes mit buschigem Vollbart und wuchernden Augenbrauen dort, wo eigentlich die Gesichter der Träger hätten sein sollen, und starrte von dort mit strengem Blick in die Welt hinaus.

»Pfui, sind die hässlich«, tuschelte Grabbelschnack aus dem Schutz der Kapuze heraus, seinen Kopf dicht unterhalb Niris linkem Ohr vorwärts reckend.

»Still«, hauchte Niri, während sie sich selbst von dem Schock des Anblicks der Grenzwahrer Xul-Baarils erholte. Eine der vier Wachen drehte sich in Niris Richtung, woraufhin der Blick der Maske sich mit dem der Aeldae verschränkte. Sofort hatte die Aelevin das Gefühl, dass eine überwältigende Macht ihr Inneres erforschte, und hastig schlug sie mit klopfendem Herzen den Blick zu Boden. Ihre Hände zitterten und sie hatte den Eindruck, als hätte sie beiläufig der Geist eines Wesens berührt, das in ihr nicht mehr denn eine Eintagsfliege sah, der man beim ziellosen Umherirren in der heimischen Stube zusah, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den brummenden Störenfried zu erschlagen oder ihn gewähren zu lassen.

All die Geschichten an die Streitenden Götter wirbelten im Verstand der Halb-Aeldae umher, zu furchtbarem Leben erweckt von der federleichten Berührung durch eines jener Wesen, die drei Sigillen der Schöpfung gemeistert hatten. Plötzlich erschien Niri die Zerstörung und Machtfülle wieder beängstigend real, die jeder der Erzählungen innewohnten, die ihr verstorbener Oheim Vasdram so gern rezitiert hatte.

Und auch wenn es Niri widerstrebte, so verstand sie doch Malkar plötzlich ein wenig besser, der auf seine eigene eiserne Weise den Streit der Götter hatte enden lassen. Und ein weiterer Gedanke kam ihr: Wenn ein Wesen wie Xul-Baar sich vor dem Karmesinroten Gott hinter einem Ring aus Bergen versteckte, wie mächtig musste dann erst Malkar sein?

»Wer stellt sich dem Urteil des Ewigwährenden Vaters und wünscht Einlass in die Grenzen seines Reiches?«, intonierte eine der drei Frauen. Ihre Worte drangen seltsam verzerrt unter dem Helm hervor, so als würde das Echo einer dunkleren, männlichen Stimme erklingen, die in weiter Ferne simultan denselben Satz aussprach.

Niri erschauderte und wagte nicht, aufzublicken.

»Ich stelle mich Xul-Baars Urteil«, erwiderte Caldenhus, und Niri bewunderte die Gelassenheit, die seinen Worten innewohnte. »Ich bin Daekhan Caldenhus, ein Gesandter der Sturmfels-Akademie, und dies hier sind meine Gehilfen.« Niri sah aus den Augenwinkeln, wie der Gelehrte sich straffte. »Wir suchen Wissen in der Bibliothek von Tauschbrück.«

»Welches Wissen?« Nun sprach eine der anderen Frauen, und das ihren Worten innewohnende Echo klang intensiver. Neugieriger.

»Wissen über den Fall Aelderheyms«, erklärte Caldenhus.

Stille folgte, und Niri riskierte einen schnellen Blick auf die Grenzwahrer. Keiner von ihnen sah sie an, alle hielten das Antlitz Xul-Baars auf Caldenhus gerichtet. Das Schweigen der vier Wachen zog sich in die Länge, und sowohl Apllut als auch Jonah wurden neben ihr unruhig und traten von einem Bein auf das andere. Würden die Grenzwahrer Caldenhus den Eintritt in das Reich des Gottkönigs verweigern?

Anscheinend befürchtete der alte Mann dasselbe, denn plötzlich sprach er weiter. »Jenes Wissen könnte verhindern, dass das Ewige Biest neu entsteht.«

Niri erschrak heftig genug, dass sie für einen halben Herzschlag das Eintauchen in sich aufwallen spürte. Doch wie immer in den letzten Wochen konnte dieses eisige Gefühl sie nicht länger vereinnahmen, ihren Körper lähmen und sie unter Passivität und Selbstvorwürfen ersticken.

»Ihr dürft eintreten«, erklärte die erste Frau, die gesprochen hatte. Das darunterliegende Echo klang wieder ruhig und gleichmäßig wie ein Fels, der gemächlich einen Berghang hinabrollte. »Drei Nächte lang sollt ihr Unterschlupf in Xul-Baaril finden, danach müsst ihr seine Grenzen verlassen.«

Niris Anspannung zerbröselte schneller als eine Goldmünze in Grabbelschnacks gierigem Maul. Sie tauschte einen Seitenblick mit ihren Freunden, denen die Erleichterung ebenfalls in die Gesichter geschrieben stand.

Plötzlich sprach der männliche Grenzwahrer, seine Stimme und die des fernen Gottes überlagerten einander vollständig. »Als Preis für dieses Entgegenkommen wird die Sturmfels-Akademie jedwede Erkenntnis über ein Wiedererstarken des Ewigen Biestes mit dem Volk Xul-Baarils teilen.«

Caldenhus atmete hörbar durch. »Ich danke Euch für Eure Gast­freundschaft.«

Die Grenzwahrer traten beiseite, je zwei an die linke Tunnelwand und zwei an die rechte. Offensichtlich erwarteten sie, dass ihre Gäste an ihnen vorbeischritten, und nachdem Caldenhus mit einem aufmunternden Lächeln in die Runde den Anfang machte, folgten Niri und die anderen hinterdrein.

Ein leichtes Zögern konnte sich die Halb-Aeldae nicht verkneifen, als sie ihren ersten Schritt auf den Boden Xul-Baarils tun sollte. Die Vorstellung, sich der Macht des Gottkönigs auszuliefern, widerstrebte dem Kern ihres Seins. Am Ende brauchte es einen sanften Schubs Jonahs, damit sie ihr Zögern überwand und den Tunnel betrat.

»Wir sollten weder auf- noch zurückfallen«, raunte er ihr zu.

Zähneknirschend gab sie ihm recht und schloss gemeinsam mit dem Adligen zum Rest der Gruppe auf. Erst, als alle sechs Bittsteller an den Grenzwahrern vorbeigegangen waren, setzten auch diese sich in Bewegung und bildeten hinter den Besuchern eine Linie.

Niri sah sich unsicher zu den Fremden in ihrem Rücken um und fragte sich, warum sie sich wie ein Schaf fühlte, das zur Schlachtbank getrieben wurde. Doch alles, was ihr entgegensah, war der vierfach strenge Blick des Gottkönigs und so blieb Niri nur der Gang nach vorne, die Augen auf jenen fernen Lichtpunkt gerichtet, der das andere Ende des Tunnels und damit den Eintritt in das fremde Reich Xul-Baaril versprach.

KAPITEL 2

Also, das ist mal eine wirklich große Brücke!«

Grabbelschnacks Ausruf beschrieb zwar das Offensichtliche, wurde dem Anblick, der sich Niri und ihren Freunden am Ende ihrer Reise durch den Tunnel bot, jedoch nicht annähernd gerecht. Ein Felsbogen monumentalen Ausmaßes führte über eine tiefe Schlucht mit glatten Steilhängen hinweg und hinein in ein weiteres Felsmassiv. Auf seinem ausladenden Rücken trug die mehrere Steinwurf breite Brücke eine kleine Stadt mit schlichten ein- bis zweistöckigen Häusern, einem kleinen Marktplatz sowie einem hochaufragenden Turm, der in seiner Wehrhaftigkeit gut zu einer Trutzburg gepasst hätte.

»Ist das wirklich Xul-Baaril?«, fragte Harduul leise in Richtung Caldenhus.

Der Gelehrte nickte. »Tauschbrück liegt zwar innerhalb der Grenzen Xul-Baarils, genießt aber eine Sonderstellung, wie unschwer zu erkennen ist. Selbst sein Name ist eher unseren Gepflogenheiten als denen unserer Gastgeber angepasst. Dies ist der einzige Ort, an dem Außenstehende willkommen sind. Wer das eigentliche Herrschaftsgebiet des Gottkönigs sehen will, muss sich Xul-Baar verschreiben oder als Botschafter eines der Reiche Deatrils anerkannt werden. Darüber hinaus werden von jenen Gesandten magische Eide eingefordert, über das Gesehene vollkommene Verschwiegenheit zu wahren.« Caldenhus sah an Niri vorbei zu den noch immer hinter ihnen marschierenden Grenzwahrern. »Wir befinden uns auf einer Felsbrücke durch eine Klamm, beides vom Gottkönig einzig zu dem Zweck erschaffen, um Handel mit der Außenwelt zu treiben. Streng reguliert natürlich.«

»Es fällt mir schwer, daran zu glauben, dass es hier eine Bibliothek geben soll«, murmelte Jonah. Niri bemerkte sein langes Gesicht, offenkundig hatte er gehofft, mehr von Xul-Baaril erblicken zu können.

»Sie ist bescheiden, aber für unsere Zwecke ausreichend«, erklärte Caldenhus.

»Ihr klingt sehr zuversichtlich«, bemerkte Apllut argwöhnisch. »Wisst Ihr etwas, das Ihr uns noch nicht erzählt habt?«

Der Daekhan sah die grünhäutige kleine Gestalt neben sich mit einem verschmitzten Lächeln an. »Mit allem, was ich weiß und euch nicht erzählt habe, könnte man ganze Folianten füllen.«

Tullpa kicherte, und ihr Bruder zog ungehalten die Mundwinkel hinab. »So habe ich das nicht gemeint und das wisst Ihr auch.«

Jetzt hob Caldenhus mahnend einen Finger. »Eine Frage präzise zu stellen, ergo seine eigenen Worte mit Bedacht zu wählen, kann den Unterschied machen zwischen der Flamme der Erleuchtung und dem Zwielicht der Unwissenheit.«

»Das klingt zu geschwollen, sogar für Euch«, kommentierte Harduul trocken. »War das ein Zitat?«

Der Daekhan sah verdutzt zum Anführer der drei Wildlinge hinüber. »Allerdings. Sehr aufmerksam beobachtet.«

Niri hörte Jonah neben sich leise schnaufen. Der Blick, mit dem der Adlige Harduul betrachtete, war eigenartig … war das etwa Neid, den sie in seinen Augen sah?

»Der Tunnel war schon schlimm, aber jetzt stehen wir auf einer Brücke, die nur aufgrund der Laune eines Gottes existiert?«, meckerte Apllut mit einem respektlosen Unterton, der Niri nach Atem schnappen ließ. »Was ist, wenn Xul-Baar niesen muss? Stürzt hier dann alles in die Schlucht, und wir direkt mit?«

»Der Wille und die Macht des Ewigwährenden Vaters sind unfehlbar«, ertönte die Stimme des männlichen Grenzwahrers, noch bevor Niri oder einer der anderen Apllut für seine unbedachten Worte maßregeln konnte. »An Ihm zu zweifeln bedeutet, an der Ordnung aller Dinge zu zweifeln.«

Trotz der harten Worte atmete Niri verstohlen auf. Sie waren ohne jedwedes Echo gesprochen worden, also war die Präsenz Xul-Baars, die dem Grenzwahrer zuvor innegewohnt hatte, anscheinend fort. Aplluts Worte hatten lediglich sterbliche Ohren erreicht.

»Du bist nun still«, grollte Harduul den kleinen Wildling an, und der ließ seine Schlappohren hängen.

»Ja, Fahamehr.«

Zwei gewöhnliche Wachen in Kettenhemden und Wappenröcken, auf die das Gesicht des Gottkönigs gestickt worden war, traten der kleinen Reisegruppe entgegen und sahen an dem Gelehrten vorbei.

»Ein Gesandter der Sturmfels-Akademie nebst Gefolge«, ertönte es hinter Niri, knapp vonseiten des Grenzwahrers. »Zugang zur Bibliothek. Drei Nächte.«

Die Wachen in Niris Blickfeld nickten, und sofort vernahm die Aeldae, wie hinter ihr vier Paar Stiefel den Rückweg in Richtung Tunnel antraten.

»Willkommen in Tauschbrück«, sagte daraufhin eine der beiden Wachen, ein junger Mann mit freundlichen, grünbraunen Augen und einer leicht schiefen Nase, der immer wieder neugierig in Niris Richtung sah. »Am Marktplatz findet Ihr eine Herberge, in der Ihr als Gesandte Unterkunft und Verpflegung für die Dauer Eurer Anwesenheit erhaltet.« Er deutete auf ein lang gezogenes Gebäude direkt neben dem Turm. »Die Bibliothek befindet sich bei der Garnison. Ich werde Euren Besuch ankündigen, sodass Euch Einlass gewährt wird.«

Der andere Wächter, ein ältlicher Mann mit einem spärlichen Salz-und-Pfeffer-Vollbart knurrte gelangweilt hinterdrein: »Bitte bleibt auf der Brücke. Betretet Ihr ohne Eskorte einen der Tunnel, müssen wir Euch leider töten.«

Die leidenschaftslose Androhung ließ Niri ungläubig blinzeln. Der junge Wächter zuckte entschuldigend mit den Achseln, als er ihren Blick einfing, dann marschierten die beiden auch schon fort und ließen die Neuankömmlinge mit ihren Gedanken und ersten Eindrücken allein zurück.

»Netter Ort«, kommentierte Jonah schließlich, als die Wachen außer Hörweite waren. »Sie geben einem Besucher sehr viel Mühe, sich nicht willkommen zu fühlen.«

Caldenhus zuckte die Achseln und schritt langsam in Richtung Marktplatz. »Tauschbrück ist eine Notwendigkeit und genauso werden die Stadt sowie alle, die in ihr empfangen werden, auch behandelt.«

Niri sah sich bei den Worten des Gelehrten um und entdeckte eine Handvoll Händler auf den Straßen, die jene formellen Roben trugen, die sie als Besucher ausgaben. Fast immer hielt sich in unmittelbarer Nähe der Gäste eine Handvoll Tauschbrückler auf.

»Ich verstehe nicht, warum Xul-Baar diesen Handelsposten überhaupt zulässt«, grübelte Harduul und ließ seinen Blick dabei die gut zwei Längen breite Klamm entlangschweifen. »Offensichtlich hat er kein Interesse an der Außenwelt.«

»Ah, und hier täuschst du dich«, sagte Caldenhus mit gedämpfter Stimme. »Nur ein Gott, der an der Langen Tafel sitzt, kann sein Auge ungehindert über Deatril schweifen lassen. Xul-Baar ist daher auf sämtliche Neuigkeiten über die Außenwelt, welche die Händler mit ihren Waren an diesen Ort bringen, angewiesen.«

Niri trat einen kleinen Schritt vor, um sich besser an dem Gespräch beteiligen zu können. »Ach, wurde deswegen auch verlangt, dass wir unsere Erkenntnisse zum Ewigen Biest teilen?«

Caldenhus nickte.

»Und daher konnte es Xul-Baar sich nicht leisten, Euch abzuweisen«, fügte Tullpa hinzu. »Nicht wenn es bedeutet hätte, eine Entwicklung zu verpassen, die den Feind aller Götter betrifft.«

Wieder nickte Caldenhus, diesmal mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Tauschbrücks Existenz hat davon abgesehen aber auch ganz und gar weltliche Gründe«, fuhr er mit seinen Ausführungen fort, während sie allmählich den Marktplatz erreichten. »Jedes Reich braucht ein Mindestmaß an Austausch mit seinen Nachbarn.« Er deutete auf drei mit den Einheimischen feilschende Fremde. In einer von ihnen erkannte Niri eine Frau mit sonnengeküsster Haut, die aus den Wüsten Aun-Mals stammen musste. »Handel bedeutet neue Ideen, neue Waren und, in Xul-Baars Fall, neue Konvertiten«, fuhr Caldenhus fort. »Es heißt, dass der Gottkönig sein Reich mit nur zweitausend treuen Anhängern gründete. Auch wenn diese Zahl mittlerweile um ein Vielfaches angewachsen sein dürfte, ist neues Blut für ein derart kleines Volk nie schädlich.«

»Und jeder Konvertit bringt auch wieder neues Wissen ins Reich«, fügte Jonah eifrig hinzu und grinste, als Caldenhus ihn mit einem lobenden Seitenblick bedachte.

Niri runzelte die Stirn. Fand etwa zwischen ihnen gerade irgendein seltsamer Wettstreit um die Anerkennung des Daekhans statt? Und wenn ja, wie war er entstanden, und warum? Niri fragte sich einen Moment, ob sie sich daran beteiligen sollte, entschied sich aber dagegen. Sollten sich Tullpa, Jonah und Harduul doch um Caldenhus’ Aufmerksamkeit streiten. Sie war fest entschlossen, lieber möglichst viele Eindrücke dieses absonderlichen Ortes in sich aufzunehmen, bevor sie in drei Tagen wieder abreisen mussten.

Bereits aus der Ferne waren Niri die Häuser Tauschbrücks äußerst schlicht und fade vorgekommen. Es gab keinerlei Verzierungen an den aus groben Steinquadern erbauten Mauern, ebenso keine Blumen in den simplen Fenstern,die meist keine Läden aufwiesen. Die Dächer bestanden aus kruden Lehmziegeln, die krumm und schief aufeinanderlagen, und das ehemalige Kohlemädchen war sich sicher, dass wer auch immer im Winter an diesem Ort wohnte, mächtig zu frieren hatte.

»Selbst in den Rußgassen wirkten die Häuser wohnlicher als hier«, raunte Grabbelschnack ihr zu, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Ich habe schon Drachenhöhlen gesehen, die gemütlicher aussahen.«

Niri nahm das winzige Wesen aus ihrer Kapuze und streichelte es mit einem Finger zwischen seinen Augenwülsten. »Bedenkt man, was der Daekhan erzählt hat und was wir an diesem Ort sehen, ist Tauschbrück für seine Bewohner vermutlich keine rechte Heimat. Auf diese Art zu leben ist wohl eher eine Pflicht, der sie nachkommen, weil ihr Gottkönig dies so wünscht. Ich weiß nicht, wie es im Rest von Xul-Baaril aussieht, aber ein Bewohner dieser Felsbrücke zu sein erscheint mir nicht besonders erstrebenswert.«

»Die Leute lächeln nicht mal«, murrte Apllut leise.

»Na und? Das tust du doch auch nicht, es sei denn, du kannst gemein zu jemandem sein«, stichelte Grabbelschnack.

»Sei lieb«, ermahnte Niri den Taschendrachen und ermunterte Apllut mit einer Geste, weiterzureden.

»Schau dir die Gesichter der Xul-Baariten mal genauer an.« Der Wildling deutete auf die gut zwei Dutzend einheimischen Händler, die sich auf dem Marktplatz aufhielten und mit anderen Gästen Tauschbrücks feilschten. »Keinem von denen steht das Feuer der Gier in den Augen, nicht ein Wort wird mit Leidenschaft vorgetragen. Jeder von ihnen trägt seine Tracht, das Gesicht seines Gottes auf die Brust gestickt, und … spielt Händler, ohne einer zu sein.«

Niri erkannte sofort, was Apllut meinte. Alle waren ausnahmslos höflich, aber ohne jedes Leben in den Zügen. »Dieser Ort ist eine einzige Fassade«, murmelte sie leise.

Mittlerweile war die kleine Gruppe an der Herberge angekommen. Hinter der weit offen stehenden Tür war eine äußerst saubere Schankstube zu erkennen, gefüllt mit hölzernen Tischen und langen Bänken. Einheimische entdeckte Niri dort nicht, wenn man von der Schankmagd absah, die mit konzentriertem Blick und gespitzten Ohren zwischen den schwatzenden Besuchern auf und ab ging, die bei Bier und Eintopf miteinander tratschten. Niri kam die Frau vor wie eine aufmerksame Aelevin, die versuchte, einem Dutzend Daekhanen gleichzeitig zuzuhören. Dann erinnerte sie sich an den Anblick der sich in der Stadt aufhaltenden Gäste und erkannnte, dass diese niemals ganz ungestört waren, sondern sich auf die eine oder andere Weise immer in Hörweite von Einheimischen befunden hatten.

»Die Taverne ist das Herzstück der Stadt«, sinnierte sie. »Hier entspannen sich die Händler von außerhalb und erzählen einander Dinge, die bei einem gewöhnlichen Verkaufsabschluss nie zur Sprache kommen würden.«

Caldenhus horchte auf und sah zu Niri hinüber. »Was sagst du da?«

Die Halb-Aeldae fühlte sich für einen Moment regelrecht ertappt und deutete dann in Richtung des ersten Stocks, wo offenkundig die Gästezimmer zu finden waren. »Später«, sagte sie schmallippig, als ihr in diesem Moment klarwurde, dass wahrscheinlich jedes einzelne Wort, das sie und ihre Freunde seit Betreten der Stadt ausgesprochen hatten, auf die eine oder andere Weise im Ohr des Gottkönigs landen würde.