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Liebe wird aus Mut gemacht Innenarchitektin Victoria Hensley soll Christopher Bennetts neu erworbenes Apartment einrichten. Da sie seit dem Unfalltod ihrer Eltern alleine für ihre Geschwister sorgt, ist sie dankbar für den Auftrag und zeigt sich von ihrer besten Seite. Die Chemie zwischen ihnen stimmt sofort. Aber auch wenn Victoria der muskulöse Christopher imponiert, sie sich in seiner Nähe wohlfühlt und sich im Geheimen nach seinen heißen Küssen sehnt, sagt ihr der Verstand, dass eine Liaison sie den Auftrag kosten könnte. Nur wie lange kann sie die geradezu magische Anziehung zwischen ihnen ignorieren?
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Aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch
ISBN 978-3-492-99155-1© Layla Hagen 2017Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Your Tempting Love«, CreateSpace Independent Publishing Platform, 2017© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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Inhalt
1 Christopher
2 Victoria
3 Christopher
4 Victoria
5 Victoria
6 Christopher
7 Victoria
8 Christopher
9 Victoria
10 Victoria
11 Christopher
12 Victoria
13 Christopher
14 Victoria
15 Christopher
16 Victoria
17 Victoria
18 Christopher
19 Victoria
20 Christopher
21 Victoria
22 Christopher
23 Victoria
24 Christopher
25 Victoria
26 Christopher
27 Victoria
28 Christopher
29 Victoria
Epilog
1 Christopher
Plock. Plock. Plock.
Beim Durchqueren der Lobby des Bürogebäudes, in dem ich arbeite, stolpere ich fast über einen Tennisball. Ich hebe die neongelbe Kugel auf und sehe mich um, bis ich die Verantwortliche entdecke – ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Sie sitzt auf der Couch im Wartebereich und scheint ein ernsthaftes Problem zu haben, denn ihre Spielzeuge sind aus dem Rucksack gerutscht, und sie versucht, alles wieder einzusammeln.
Unsere Firma Bennett Enterprises ist so groß, dass wir schon vor einer Weile eine Kindertagesstätte eröffnet haben, aber es ist das erste Mal, dass ich über ein Spielzeug stolpere. Statt in mein Büro zu gehen, laufe ich in Richtung des Mädchens, um ihm den Ball zurückzugeben.
»Den hast du verloren.«
Das Mädchen reißt den Kopf herum. Ihre blauen Augen sind groß und voller Dankbarkeit. Sie sieht mich an, als hätte ich ihren Tag gerettet.
»Danke.« Sie schnappt sich den Ball und drückt ihn kurz an die Brust wie ihren kostbarsten Besitz, bevor sie ihn zurück in den Rucksack steckt. Sie wirkt unruhig und hüpft ständig von der Couch, um Spielzeug aufzusammeln. Dabei streicht sie sich immer wieder das dunkelbraune Haar aus dem Gesicht.
»Wie heißt du?«, frage ich sie.
»Chloe.«
»Ich bin Christopher.«
»Wow! Unsere Namen beginnen beide mit einem C.«
Ich gehe in die Hocke, bis sich unsere Augen fast auf einer Höhe befinden, dann lehne ich mich vor und flüstere verschwörerisch: »Weil wir cool sind.«
Ein breites Grinsen erscheint auf ihrem Gesicht, und für einen Moment scheint sie ihre Sorgen zu vergessen. Dann sieht sie Richtung Empfang. Ah, sie muss mit einem Besucher hier sein. Das erklärt, wieso sie im Wartebereich sitzt. Besucher müssen sich erst am Empfang anmelden, um dann in das richtige Stockwerk geschickt zu werden. Im Moment ist am Tresen die Hölle los, also muss Chloe vermutlich noch eine Weile warten.
»Ist das deiner?«, frage ich, als ich einen kleinen Zauberwürfel hochhebe, der unter die Couch gekullert ist.
Chloe nickt und hält den Rucksack auf, damit ich den Würfel hineinfallen lassen kann. Ich bin beeindruckt. Ich bin der Chief Operations Officer von Bennett Enterprises und Teilhaber der Firma. Ich kann sämtliche Probleme lösen, die sich Tag für Tag in der Firma auftun. Aber ein Zauberwürfel? Bei dem Ding bin ich hilflos.
»Chloe«, sagt eine Frauenstimme hinter mir, »wir können …«
Dann passiert alles gleichzeitig. Beim Klang der weiblichen Stimme stehe ich abrupt auf, drehe mich um, und bumm. Kollision. Als ich zurücktrete, wird mir klar, dass die Frau einen Becher gehalten … und den gesamten Inhalt auf meinem Hemd verteilt hat. Immerhin war das Getränk nur noch lauwarm, nicht mehr heiß. Aber mein Hemd sieht jetzt aus, als wäre ich über eine schlammige Straße gekrochen.
»Das … das tut mir unglaublich leid! Das war heiße Schokolade. Es lässt sich also rauswaschen«, sagt sie und zieht damit meine Aufmerksamkeit auf sich.
Oh Mann.
Sie ist groß, mit braunen Locken, die ihr bis auf die Schultern fallen. Ihre Augen sind von einem intensiven Grün. Die vollen Lippen könnten einen Heiligen zur Sünde überreden – und ich bin kein Heiliger. Eine schöne Frau zu treffen ist die beste Art, den Tag zu beginnen, selbst wenn die Begegnung heiße Schokolade auf meinem Hemd beinhaltet.
»Ich werde Ihnen die Reinigung bezahlen.« Ihre Haltung wirkt förmlich, als sie den Schaden an meinem Hemd begutachtet.
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, antworte ich, denn so wie es aussieht, hat sie schon genug andere Probleme. Als Chloe an ihrer Hand zieht, zähle ich eins und eins zusammen. Wenn die Kleine mit ihr hier ist, muss das bedeuten, dass sie ihre Mutter ist. Sofort suche ich an einem Finger nach einem Ring, weil ich nicht diese Art von Typ bin. Aber da ist keiner.
»Sein Name fängt mit C an«, erklärt ihr Chloe. »Wie meiner.«
»Oh! Sie sind Christopher Bennett, richtig?« Soweit das möglich ist, wird ihre gesamte Haltung noch steifer. So reagieren Frauen gewöhnlich nicht auf mich.
»Ja.«
»Ich bin Victoria Hensley. Wir haben in zehn Minuten einen Termin.«
Dieser Tag ist gerade um einiges schöner geworden. Victoria Hensley ist die Innenarchitektin, die meine Schwestern Pippa und Alice mir empfohlen haben, um meine neue Wohnung einzurichten. Sie haben mir versichert, dass sie sehr talentiert sei. Und da ich gesehen habe, was für gute Arbeit sie in Alice’ Restaurant und Pippas Haus geleistet hat, habe ich mich schließlich überzeugen lassen.
»Pippa hat mir gesagt, dass es eine Kindertagesstätte gibt und ich meine Schwester während unseres Termins dort hinbringen könnte«, fährt Victoria fort.
Ah, jetzt erinnere ich mich. Pippa hat mir erzählt, dass Victoria für ihre jüngeren Geschwister verantwortlich ist, seit ihre Eltern letztes Jahr bei einem Bootsunfall verunglückt sind. Ich bemerke, dass Victoria mir die Hand geben will, aber Chloe klammert sich stur an ihren Fingern fest.
»Natürlich«, antworte ich. »Bringen Sie Chloe dorthin. Ich warte oben in meinem Büro.«
»Glaubst du, den anderen Kindern werden meine Spielzeuge gefallen?«, fragt Chloe Victoria.
Victoria lächelt ihre kleine Schwester an. Ich will verdammt sein, wenn das nicht das süßeste Lächeln ist, das ich je gesehen habe.
»Aber natürlich.«
Anscheinend hat Victorias Lächeln nur auf mich diese Wirkung, da Chloe wenig überzeugt die Wangen aufbläst.
»Du hast so viele verschiedene Sachen«, sage ich und klopfe auf ihren Rucksack. »Ich bin mir sicher, dass ihnen irgendetwas davon gefällt. Und es ist wirklich nett von dir, dass du dein Spielzeug teilen willst. In deinem Alter war jeder mein Feind, der meine Sachen auch nur angefasst hat. Du bist cool.«
Ihr skeptischer Blick verschwindet und sie grinst breit. Auftrag ausgeführt.
Victoria löst ihre Hand aus Chloes Umklammerung. Als wir uns die Hände schütteln, mustert sie erneut den riesigen Fleck auf meinem Hemd. Ich wette, sie fragt sich gerade, wie nach diesem Zusammenstoß wohl ihre Chancen aussehen, den Auftrag tatsächlich zu bekommen.
Ich werde in meinem Büro so charmant sein müssen wie nur möglich … natürlich nur, um sie zu beruhigen.
2 Victoria
Was für ein erster Eindruck, Victoria! Nachdem ich Chloe abgesetzt habe, denke ich auf dem Weg zu Christopher Bennetts Büro über mein Missgeschick nach. Ich werde mich beweisen müssen. Seine Schwestern mögen mich empfohlen haben, aber das heißt noch nicht, dass ich den Auftrag automatisch kriege. Ich werde ihn vorher von meinen Fähigkeiten überzeugen müssen.
Kaum habe ich sein Büro betreten, entspanne ich mich ein wenig, da Christopher mich freundlich anlächelt. Ich sehe ihm in die Augen, um herauszufinden, ob es ein reines Höflichkeitslächeln ist, doch die Wärme in seinem Blick verrät mir, dass er es ernst meint. Christopher Bennett ist verdammt nett anzusehen. Er hat ein attraktives Gesicht mit perfekt gepflegtem Dreitagebart und breite Schultern, ist ein Meter achtzig groß und muskulös – ein Mann, der einen Raum mit seiner Anwesenheit dominieren kann, ohne es darauf anzulegen.
Als ich vor seinen Schreibtisch trete, kann ich nicht anders, als sein Hemd anzustarren. Was für ein Chaos habe ich nur angerichtet?
Er ertappt mich dabei, wie ich den Fleck mustere, und sein Lächeln wird breiter. Er deutet auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich doch.«
Genau das tue ich, dann schlage ich die Beine übereinander und überlege verzweifelt, wie wir noch mal von vorn anfangen können.
»Hat mit Chloe alles geklappt?«, fragt Christopher.
»Ja.«
»Wie viele Geschwister haben Sie? Pippa hat es mir wahrscheinlich erzählt, aber ich habe es vergessen.«
Gewöhnlich rede ich mit Kunden nicht über mein Privatleben, aber Christophers Interesse wirkt ehrlich.
»Drei. Chloe, Lucas – er ist neun – und Sienna. Sie ist siebzehn.«
Christopher nickt nachdenklich. »Das klingt nach einem vollen Haus.«
»Richtig.« Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken. »Manchmal ist es ziemlich chaotisch.«
»Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Stimmt. Pippa hat gesagt, dass Sie acht Geschwister haben. Dass muss eine interessante Kindheit gewesen sein.«
»Ja. Aber um ehrlich zu sein, ich denke, meine Eltern würden Sie besser verstehen, als ich es jemals vermag. Ich habe als hauptamtlicher Teufelsbraten das Chaos schließlich verursacht. Zumindest einen Teil davon.«
Sein lockeres Auftreten überrascht mich. Ich habe schon öfter für einflussreiche Männer gearbeitet, und die meisten waren sehr unterkühlt, fast arrogant. Christopher scheint sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, obwohl er in einem Eckbüro mit fantastischem Ausblick über San Francisco sitzt.
Wir werden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, dann betritt eine Assistentin den Raum. »Christopher, dein nächster Termin ist zu früh gekommen.«
Verdammt.
»Eine halbe Stunde zu früh?«, fragt er skeptisch. Seine Lippen werden zu dünnen Strichen, und ein Teil der Wärme verschwindet aus seinem Blick. Ah. Ich wette, in Business-Meetings ist er ein richtig harter Knochen.
Seine Assistentin zuckt mit den Achseln. »Ich kann ihnen sagen, dass sie warten sollen.«
»Niemand wartet gern. Wir werden das hier schnell zu Ende bringen«, erklärt er ihr, was mich schlagartig in Panik versetzt. Mit einem Nicken verschwindet seine Assistentin wieder. »Tut mir leid, dass ich unser Treffen abkürzen muss, aber es geht um Geschäftspartner, mit denen wir neue Verträge aushandeln wollen. Es gibt nichts Schlimmeres als Verhandlungen, wenn dein Gegenüber sauer ist, weil es warten musste … selbst wenn es seine eigene Schuld ist, weil es zu früh gekommen ist.«
»Ich verstehe.«
»Ich werde ehrlich sein, Victoria. Ich habe die Bilder aus Ihrem Portfolio gesehen, und Alice und Pippa haben Sie in den höchsten Tönen gelobt. Ich habe mich davon überzeugen können, was Sie im Restaurant und dem Haus geleistet haben, und ich glaube, Sie werden es schaffen, meine Wohnung in ein Zuhause zu verwandeln. Ich bin toll in meinem Job und besitze auch eine Reihe anderer Talente.« Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Aber alles, was mit Inneneinrichtung zu tun hat, ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln.«
Und da ist er wieder, dieser selbstironische Humor, gepaart mit einer unerwarteten Prise Großspurigkeit. Aber irgendetwas an der Art, wie er von einer »Reihe anderer Talente« gesprochen hat, sorgt dafür, dass ich mehr erfahren will, statt nur die Augen zu verdrehen.
»Was stellen Sie sich vor?«, frage ich.
»Tatsache ist, dass ich keine Ahnung habe.« Er lässt sich in seinen Stuhl zurücksinken und verschränkt die Hände hinter dem Kopf.
»Damit komme ich klar«, versichere ich ihm.
»Wirklich? Dann müssen Sie eine magische Gabe haben.«
»Fast. Ich bin seit acht Jahren im Geschäft. Ich habe für Leute mit verschiedenen Geschmäckern gearbeitet. Wieso zeigen Sie mir nicht den Grundriss Ihrer Wohnung und ich präsentiere Ihnen gleich ein paar Ideen?«
»Im Moment habe ich leider keine Zeit. Außerdem will ich nichts überstürzen. Ich bekomme die Schlüssel für die Wohnung in sechs Wochen, also haben wir noch Zeit.«
»Schicken Sie mir per E-Mail den Grundriss und alle Bilder, die es schon von der Wohnung gibt, und ich sende Ihnen ein paar Ideen zu. Meine Kontaktdaten haben Sie ja.«
»Habe ich.«
Wir erheben uns gleichzeitig von den Stühlen. Als er mich zur Tür führt, sage ich: »Und lassen Sie mich die Reinigung Ihres Hemdes bezahlen. Das ist mir wirklich unangenehm.«
»Soll ich Ihnen das Hemd gleich mitgeben?« In seiner Stimme schwingt eine Mischung aus jugendlicher Verspieltheit und Herausforderung mit. Ich öffne den Mund, fest entschlossen, die Frage einfach zu ignorieren, doch stattdessen dringt etwas ganz anderes über meine Lippen.
»Ziehen Sie sich oft vor Frauen aus, die Sie gerade erst kennengelernt haben?«
Verdammt, nein! Ich bin durchaus zu humorvollem Geplänkel fähig, wenn die Situation es erfordert, aber er ist ein potenzieller Kunde. Geplänkel hat hier nichts zu suchen. Seine dunklen Augen werden groß. Damit hat er offensichtlich nicht gerechnet.
»Schütten Sie häufiger heiße Schokolade über Männer, die Sie gerade erst kennengelernt haben?«
»Touché.«
»Nur zu Ihrer Beruhigung, ich habe immer saubere Hemden im Büro. Mir blieb nur keine Zeit, eines davon anzuziehen, weil Sie früher gekommen sind als erwartet. Wie die nächsten Besucher auch. Aber ich werde mich in dem Moment umziehen, in dem Sie den Raum verlassen haben. Außer, Sie wollen zuschauen.« Er zwinkert mir zu, und meine Gedanken rasen.
»Schicken Sie mir den Grundriss«, sage ich, stolz, dass ich so professionell bleibe.
»Werde ich machen.« Er wackelt mit den Augenbrauen und fügt hinzu: »Während ich mein Hemd wechsele. Multitasking ist eines meiner Talente.«
»Ich habe nie gefragt, um welche Talente es sich handelt.«
»Und einer meiner vielen Fehler ist es, zu viele Informationen preiszugeben. Aber man weiß nie, wann das mal von Vorteil sein kann.«
Ich schüttele den Kopf, kann aber ein Grinsen nicht zurückhalten. »Pippa sagte schon, dass Sie als Kind ein ziemlicher Teufelsbraten waren.«
»Und das stimmt auch heute noch. Der einzige Unterschied liegt darin, dass ich jetzt ein erwachsener Teufelsbraten bin.«
***
»Gute Nacht, Victoria«, sagt Chloe, den Teddybären im Arm, die braunen Locken auf dem Kissen aufgefächert, die Lider schwer vor Müdigkeit.
Ich drücke ihr sanft einen Kuss auf die Stirn, bevor ich flüstere: »Gute Nacht.«
»Bleibst du bei mir, bis ich einschlafe?«
»Aber sicher, Süße.«
Ich lege das Buch, aus dem ich ihr vorgelesen habe, auf den Nachttisch, schalte das Licht aus und strecke mich neben ihr auf dem Bett aus. Chloe kuschelt ihren kleinen Körper an meinen. Den Blick auf den Mond vor dem Fenster gerichtet, lausche ich ihrer Atmung, die immer ruhiger wird. Mom hat ihr manchmal vor dem Einschlafen vorgelesen, und jetzt tue ich das. So halten wir die Erinnerung an unsere Mutter lebendig.
Sobald ich absolut sicher bin, dass Chloe schläft, verlasse ich leise den Raum. Lucas’ und Siennas Zimmer liegen auf der anderen Seite des Flurs, und darin ist es wunderbar ruhig. Ich schleiche zur Treppe, aber natürlich knirscht der Boden trotzdem. Verdammt. Die Dielen in unserem alten Haus haben auch gequietscht, aber eher auf eine angenehme »Eltern-Annäherungswarnung«-Weise, während diese hier zur Kategorie »Erdbebenalarm« gehören.
Der Tod meiner Eltern hat viele Veränderungen nach sich gezogen. Eine davon war, dass wir zwei Monate nach ihrer Beerdigung den einzigen Ort verlassen mussten, an dem wir ihre Gegenwart immer spüren konnten: unser altes Haus. Unser neues Zuhause ist kleiner und weiter von der Schule der Kinder entfernt, als ich es mir gewünscht habe, aber wir leben in San Francisco und die Immobilienpreise sind astronomisch. Das hier war das Beste, was wir uns leisten konnten. Wir arbeiten noch daran, das Haus in ein Zuhause zu verwandeln. Unser gesamtes Mobiliar und ein Großteil der Deko stammen aus dem alten Haus, doch es ist mehr nötig als das, um ein Heim zu schaffen. Irgendwann werden wir es dennoch hinkriegen.
Mit einem Seufzen schüttele ich den Kopf. Der Gedanke an Mom und Dad erfüllt mich immer mit Trauer, aber ich will mich dem Schmerz heute Abend nicht hingeben. Ich habe so viel, für das ich dankbar sein kann – vor allem dafür, dass die Kleinen am Abend des Unfalls nicht mit unseren Eltern auf dem Boot waren. Sie alle zu verlieren … Bei dem Gedanken läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken.
Fast hätte mir das Sozialamt die Kleinen weggenommen. Die Behörde hat sich nach dem Tod meiner Eltern eingeschaltet, um sich davon zu überzeugen, ob ich ein angemessener Vormund bin. Zuerst dachte ich, es ginge darum, dass Lucas und Chloe von unseren Eltern adoptiert wurden – aber dann fand ich heraus, dass sich das Sozialamt immer einschaltet, wenn Minderjährige zu Waisen werden. Das Problem ist, dass sie nach wie vor nicht davon überzeugt sind, dass ich ein guter Vormund bin. Ich habe mit allem, was ich habe, darum gekämpft, dass wir zusammenbleiben können, aber das Sozialamt behält uns im Blick und schickt jeden Monat einen Betreuer vorbei.
Als ich das Wohnzimmer betrete, grinse ich breit, denn mein Blick fällt auf den riesigen Hut, der auf dem Couchtisch liegt und immer noch darauf wartet, »beglitzert« zu werden. Chloes Vorschule plant im Oktober ein Kostüm-Picknick. Auch wenn erst September ist, habe ich schon mit dem Basteln angefangen, um sicherzugehen, dass das Kostüm rechtzeitig fertig wird. Chloe geht als Verrückter Uhrmacher – in der Glitzerversion. Ich sinke neben dem Couchtisch auf die Knie. Mein Blick fällt auf mein Handy, und ich spüre den Drang, noch mal meine E-Mails zu checken. Doch dann beschließe ich, mich stattdessen dem Hut zu widmen.
Heute Abend bin ich angespannt, weil ich darauf warte, dass Christopher Bennett antwortet. Nachdem ich sein Büro verlassen hatte, erhielt ich eine E-Mail mit dem Grundriss seiner neuen Wohnung und schickte ihm schon zwei Stunden später ein paar Entwuürfe zu. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört … was vollkommen normal ist. Manchmal dauert es Tage, bis ein potenzieller Kunde sich wieder bei mir meldet, trotzdem bin ich angespannt. Ich brauche diesen Auftrag dringend, um den Kunden zu ersetzen, der letzte Woche unerwartet abgesprungen ist. Wenn ich ehrlich bin, fasziniert mich Christopher Bennett außerdem. Von der Freundlichkeit, die er Chloe gegenüber an den Tag gelegt hat, bis hin zu der schamlosen Art, wie er mit mir gescherzt hat, ist alles an ihm erfrischend und amüsant. Ich habe den Eindruck, dass es richtig Spaß machen könnte, für ihn zu arbeiten.
Da ich keine Heuchlerin bin, muss ich auch zugeben, dass der Mann wirklich ein Augenschmaus ist: breite Schultern, muskulöser Körperbau, Augen, in denen ich mich verlieren könnte – was natürlich absolut nicht infrage kommt. Irgendwann kann ich der Versuchung nicht mehr widerstehen, zum hundertsten Mal am heutigen Tag meine E-Mails zu checken. Zu meiner Überraschung wartet in meinem Posteingang eine Mail von Christopher.
Christopher
Ihre Vorschläge gefallen mir, und ich will definitiv mit Ihnen zusammenarbeiten. Wann könnten Sie mich anrufen, damit wir die nächsten Schritte planen können?
Die Antwort tippe ich so schnell, dass mir fast ein Fingernagel abbricht.
Victoria
Ich stehe jetzt zur Verfügung, wenn Ihnen das passt.
Als ich seine Nummer in der Signatur der E-Mail entdecke, füge ich hinzu: Ich kann Sie anrufen oder Sie mich?
Ich gebe ihm noch mal meine Nummer, obwohl er natürlich meine Visitenkarte hat. Als ich Senden drücke, lege ich ein kleines glückliches Tänzchen aufs Parkett, bei dem ich meine Hüften im Takt eines fröhlichen Liedes schwenke, das ich heute Morgen im Auto gehört habe. Wenige Minuten später klingelt mein Handy. Ich erkenne die Nummer und hebe sofort ab.
»Danke, dass Sie mich so schnell zurückrufen, Mr Bennett.«
»Ich denke, das Sie können wir uns sparen, Victoria.«
Die Art, wie er meinen Namen ausspricht, mit diesem tiefen Bariton … verdammt. Ich kann das Lächeln in seiner Stimme förmlich hören. Sofort erscheint vor meinem inneren Auge das Bild dieser sündhaften Lippen, die sich zu einem Lächeln verziehen und dabei zwei Grübchen auf seine Wangen zaubern. Himmel. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich daran erinnere. Zu meiner Verteidigung kann ich nur anführen, dass es ein tolles Lächeln ist und diese Grübchen selbst der stärksten Frau die Knie weich werden lassen würden.
»Danke, dass du mich so schnell zurückgerufen hast, Christopher.«
»Das klingt schon besser. Also, wie sehen die nächsten Schritte aus?«
»Als Erstes möchte ich sagen, dass ich mich jetzt schon in deine Wohnung verliebt habe. Ich freue mich darauf, sie für dich in ein Zuhause zu verwandeln.«
Sein Apartment, eine riesige Eigentumswohnung im obersten Stockwerk eines Hochhauses, ist der Traum jeder Innenarchitektin. Da Christopher sie noch in der Bauphase gekauft hat, durfte er eigene Wünsche äußern, sodass er sie von einer Wohnung mit fünf Schlafzimmern in eine mit zwei Schlafzimmern verwandelt hat. Das Resultat sind wunderbar große Räume.
»Danke. Bevor wir ins Detail gehen, habe ich eine Frage. Wieso hast du die Firma verlassen, für die du gearbeitet hast?«
Mist. Ich hatte gehofft, dieses Thema würde keine Rolle spielen. Ich habe natürlich eine Antwort auf die Frage, aber lieber wäre es mir gewesen, nicht darüber zu sprechen. Ich war acht Jahre lang bei meinem alten Arbeitgeber angestellt, schob viele Überstunden und steckte eine Menge Herzblut in meine Arbeit. Als meine Eltern starben, veränderte sich alles. Meine Geschwister rückten auf meiner Prioritätenliste ganz nach oben. Meine Chefin – eine Frau, die ich auf eine Art und Weise bewunderte, die schon an Anbetung grenzte –, beschloss, dass ich nicht länger »zur Firma passte«, und feuerte mich. Der Verlust meines Jobs war einer der Gründe, warum das Sozialamt meine Eignung als Vormund anzweifelte. Ich gründete mit neunundzwanzig Jahren meine eigene Firma, was aufregend und nervenaufreibend zugleich war.
»Ich musste flexibler werden, um mich um meine Geschwister kümmern zu können«, erkläre ich Christopher ehrlich.
»Nachvollziehbar. Also, wie geht es jetzt weiter?«
»Welcher meiner Vorschläge hat dir nicht gefallen?« Ich habe früh herausgefunden, dass es am einfachsten ist, zuerst einmal auszusortieren, was der Kunde nicht mag.
Er zögert nicht einen Moment. »Der dritte und vierte Entwurf.«
Interessant. Diese Entwürfe waren modern und minimalistisch, in ähnlichem Stil eingerichtet wie sein Büro. Es kann natürlich sein, dass er die Möbel für sein Büro nicht selbst ausgesucht hat. Das Bürogebäude strahlt Macht aus, aber nicht auf prahlerische Weise, sondern ist erfüllt von einer ruhigen, weitreichenden Stärke. Dank der glatten Oberflächen und dem minimalistischen Design spiegelt es auch Eleganz wider.
»Und welcher hat dir am besten gefallen?«
»Mich haben aus allen Entwürfen gewisse Elemente angesprochen, aber ich schaffe es nicht, mich für einen zu entscheiden.«
Kurz gesagt, er weiß immer noch nicht, was er will. Das ist in dieser Phase jedoch vollkommen normal. Ich lasse mich auf das Sofa vor dem Couchtisch sinken, während ich mir im Kopf Notizen mache. Meine Gedanken quellen bereits über vor Ideen für seine Wohnung.
»Der nächste Schritt wäre, dass wir uns zusammen Möbel- und Designkataloge anschauen«, erkläre ich ihm. »So bekommen wir beide eine bessere Vorstellung davon, was du willst. Ich kann ein paar Gegenstände markieren, von denen ich denke, dass sie dir gefallen könnten. Aber es wäre gut, wenn du ein oder zwei Stunden erübrigen könntest, um die Kataloge mit mir durchzugehen. Ich kann sie dir ins Büro bringen. Wann hättest du diese Woche Zeit?«
»Ich habe ununterbrochen Sitzungen, aber Donnerstag nach sieben Uhr könnte ich schaffen.«
Verdammt. Mein absolutes Alleinstellungsmerkmal ist, dass ich sehr flexibel bin und meinen Kunden so weit entgegenkomme, wie es mir möglich ist. Aber eine meiner Regeln lautet, dass ich keine Termine mehr nach sechs Uhr vereinbare. Die Kinder und ich essen immer zusammen zu Abend, wie eine Familie, und daran will ich auch nichts ändern.
»Wäre an irgendeinem Tag auch vier oder fünf Uhr möglich? Ich kann auch schon frühmorgens.«
»Ich fürchte, nein. Wie ich schon sagte, mein Terminkalender ist voll.«
Ich überlege mir die nächsten Worte genau. Ich wurde bereits zweimal unangenehm überrascht, als Kunden mich fallen ließen, sobald sie von meinen Geschwistern erfuhren. Sie waren der Meinung, ich könnte mich deswegen nicht hundertprozentig auf ihr Projekt konzentrieren. Doch ich habe so eine Ahnung, dass Christopher anders ist. Seine Schwestern waren auch nicht so. Ich habe es genossen, für Alice zu arbeiten, genauso wie für Pippa und ihren Ehemann Eric. Sie waren ein echtes Team und die Liebe zwischen ihnen ist so offensichtlich, dass ich mich öfter mal wie das fünfte Rad am Wagen fühlte.
Auf jeden Fall hat Christopher mich heute bereits mit Chloe gesehen. Wäre er der Meinung, dass die Kleinen meiner Professionalität im Weg stehen, würden wir jetzt gar nicht telefonieren. Also beschließe ich, das Risiko einzugehen und einfach ehrlich zu sein.
»Die Kinder und ich essen jeden Abend um halb sieben zu Abend und ich …«
»Jedes weitere Wort ist überflüssig«, unterbricht mich Christopher. »Als ich ein Kind war, hatten wir auch immer eine feste Abendessenszeit. Das hat sehr geholfen, alles unter Kontrolle zu halten. Wie wäre es damit? Ich könnte an einem Abend nach dem Essen bei dir vorbeischauen, wenn das für dich okay ist?«
Wow. Das hat noch kein Kunde angeboten. Wärme steigt in mir auf, und ich entspanne mich.
»Perfekt. Danke. Ich habe ein kleines Büro zu Hause. Aber um ehrlich zu sein, empfange ich hier selten Kunden. Die Kleinen haben das Konzept von Privatsphäre noch nicht ganz erfasst.«
»Es sind Kinder. Wenn sie still sind, stimmt irgendetwas nicht. Keine Sorge, ich kenne mich damit aus.« Christopher lacht und es ist ein wunderbares, melodisches Geräusch.
»Wann willst du vorbeikommen?«
»Ist Donnerstag okay?«
»Klar. Prima.« In meiner Begeisterung wedele ich ein wenig zu heftig mit der freien Hand herum und stoße gegen den Behälter mit dem Glitzer darin. Ich fange ihn gerade noch auf, bevor er auf den Teppich fallen kann. »Glitzerkatastrophe abgewendet.«
»Was?«
»Chloe geht als Verrückter Uhrmacher zu einer Veranstaltung der Vorschule, und ich bastele einen glitzernden Hut für sie und … Jetzt fange ich an, Unsinn zu reden. Tut mir leid.« Ich beiße mir auf die Unterlippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken. »Ich scheine die Tendenz zu haben, mich vor dir zum Idioten zu machen. Zuerst die heiße Schokolade und jetzt das. Aber ich verspreche, ich bin Profi.«
Christopher schweigt so lange, dass ich schon fürchte, er wird mir gleich einen Satz à la »Ich glaube, ich sollte eine andere Innenarchitektin finden« servieren, doch stattdessen fängt er an zu lachen. »Du bist echt eine Nummer, Victoria. Nur fürs Protokoll, der Verrückte Uhrmacher ist eine tolle Kostümidee. Mir ist selten etwas Besseres eingefallen als Zombie, Vampir oder Pirat.«
»Wirklich? Ich hatte immer vollkommen durchgeknallte Kostümideen. Aber gegen Ende der Highschool ließ meine Kreativität ein wenig nach. Um meine Eltern auf die Palme zu bringen, habe ich mich in einem Jahr an Halloween als Playboy-Bunny verkleidet.« Eine Sekunde zu spät wird mir klar, was ich gerade gesagt habe und dass das absolut nichts in einem geschäftlichen Gespräch zu suchen hat. Ich und meine große Klappe … »Okay, ich scheine heute Abend von einem Fettnäpfchen ins nächste zu springen. Wie wäre es, wenn wir das Telefonat an dieser Stelle beenden, damit ich wenigstens ein paar Reste meiner Professionalität bewahren kann?«
»Das ist eine schlechte Idee. Ich würde das Gespräch gern weiterführen. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr.«
»Mir geht es genauso«, antworte ich ehrlich. Irgendwie fühle ich mich ihm verbunden.
»Also warst du ein ziemlich wildes Kind?«, hakt er nach.
»Ja. Meine Eltern waren tolle Menschen, aber ich war trotzdem ein schreckliches Kind. Um ehrlich zu sein, hielt diese Wildheit bis zum College an. Dann musste ich sie einmotten, mich zusammenreißen und erwachsen werden. Ich habe meiner Mom und meinem Dad mehr als ein paar graue Haare verpasst. Ich meine … ich habe nichts wirklich Gefährliches getan. Ich war nur verrückt genug, um Sorgen zu bereiten.«
»Ah. Ein Mädchen nach meinem Geschmack.« Seine tiefe Stimme erzeugt eine Sehnsucht in mir, auch wenn ich sie so gut wie möglich ignoriere. »Was war das Verrückteste, was du je getan hast?«
»Einmal waren wir im Urlaub in Texas, und mein bester Freund war dabei. Eines Nachts haben wir uns aus dem Haus geschlichen, um schwimmen zu gehen. Mom hätte fast einen Herzinfarkt bekommen. Dabei wusste sie das Schlimmste gar nicht. Wir sind nackt geschwommen.«
Und schon wieder erzähle ich unangemessenes Zeug! Dieser Mann übt einen gefährlichen Einfluss auf mich aus.
»Gehst du immer noch nackt baden? Falls ja, brauche ich dringend Schwimmunterricht. Aber ich wäre auch zufrieden, wenn du beim Arbeiten für mich ein Bunny-Kostüm trägst.«
Ich schnappe hörbar nach Luft, weil mich bei dieser Gesprächswendung Hitze durchfährt. Sicher, ich habe schon in seinem Büro mitbekommen, dass sein Humor etwas Anzügliches an sich hat, aber anscheinend war das nur ein Vorgeschmack.
»Tut mir leid, das war unangebracht«, sagt er lachend.
»Ein bisschen, aber ich habe das Thema angeschnitten, also … haben wir uns beide unangebracht benommen. Dürfte ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Sicher.«
»Bitte erinnere dich an ein paar schreckliche Kindheitsgeschichten und erzähl sie mir am Donnerstag. Ich hab Angst, ins Hintertreffen zu geraten.«
Wieder erklingt dieses Lachen, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, grinse ich über beide Ohren.
»Geht klar«, meint Christopher. »Aber wie schrecklich sollen sie denn sein? Nur witzig, mit einer Tendenz zu grauen Haaren oder …?«
Er beendet den Satz nicht, aber es ist klar, was er sagen will. Ich fürchte, ich habe mit meiner Faselei seine unanständige Seite angesprochen.
»Witzig wird reichen«, sage ich, und meine Stimme klingt seltsam.
»Super. Dann sehen wir uns am Donnerstag. Und, nur um es mal gesagt zu haben, es würde mir absolut nichts ausmachen, irgendwann mal dein Playboy-Bunny-Outfit zu sehen, falls du es noch hast.«
»Du bist ein unmöglicher Mann, Christopher.«
»Ich nehme an, es wäre nicht schlau, hinzuzufügen, dass es mir auch nichts ausmachen würde, dich darin zu sehen?« Ich kann das anzügliche Grinsen geradezu hören und stelle mir vor, wie seine vollen Lippen sich zu einem schiefen Grinsen verziehen und sein Blick sich verdunkelt. Verdammt, verdammt, verdammt.
»Absolut nicht schlau, Mr Bennett.«
»Wir sind zurück bei Mr Bennett? Lass uns das Telefonat beenden, bevor ich mich so danebenbenehme, dass du mich mit einer lächerlichen Anrede wie Sir oder Eure Hoheit bedenkst.«
O Gott. Dieser Mann ist unglaublich unterhaltsam, und ich könnte Stunden mit ihm reden. Und genau das ist der Grund, warum wir dieses Telefonat tatsächlich beenden sollten.
»Wir sehen uns am Donnerstag, Christopher. Gute Nacht.«
»Wünsche ich dir auch.«
Sobald ich das Telefon zur Seite gelegt habe, konzentriere ich mich wieder auf den Hut. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal bei einem Gespräch so viel Spaß hatte. Gleichzeitig nagt der Gedanke an mir, dass ich mich professioneller verhalten sollte. Christopher Bennett ist kein Freund, er ist ein Kunde. Und ich habe auf die harte Tour gelernt, dass es schreckliche Konsequenzen haben kann, diese Grenze zu überschreiten.
Außerdem bin ich eine Frau mit einem Plan. So war es schon immer. Bevor meine Eltern starben, lautete der Plan, in der Innenarchitekturfirma, für die ich arbeitete, bis nach oben aufzusteigen und mich danach auf mein Privatleben zu konzentrieren. Jetzt lautet der Plan, Lucas und Chloe eine schöne Kindheit zu ermöglichen – wie die, die Sienna und ich hatten – und mich darauf zu konzentrieren, sie großzuziehen. Mein Privatleben wird warten müssen.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Hut, entschlossen, meiner Schwester ein tolles Kostüm zu basteln. Trotzdem grinse ich, als ich das Gespräch im Kopf noch einmal Revue passieren lasse. Dieser Mann hat definitiv einen wunderbaren Sinn für Humor und kann mit seiner Schlagfertigkeit meine Haut zum Brennen bringen.
In seinem Büro hat er erklärt, er sei der Teufelsbraten in der Familie. Ich fürchte, diese Umschreibung ist bei Weitem noch zu harmlos.
3 Christopher
»Hey, Brüderchen«, begrüßt mich Pippa, als sie die Eingangstür öffnet. »Komm rein.«
Ich folge ihr nach drinnen, ziehe die Jacke aus und hänge sie auf einen Bügel. Das Haus meiner Schwester ist ein richtiges Zuhause. Ich hoffe, Victoria gelingt dasselbe mit meiner Wohnung. Die Mietwohnung, in der ich momentan lebe, fühlt sich an wie ein Hotelzimmer. Ich kann es kaum erwarten, endlich auszuziehen. In Pippas Haus ist es erstaunlich still angesichts der Tatsache, dass ihre drei Monate alten Zwillinge, Pippas Ehemann und seine dreizehnjährige Tochter Julie hier leben. Von meinen bisherigen Besuchen weiß ich, dass wirklich selten alle gleichzeitig ruhig sind.
»Sind Julie und Eric da?«
»Nein, Eric holt Julie gerade bei einer Freundin ab. Sie dürften in einer Stunde zurück sein. Hast du Hunger?«
»Immer.«
»Dann hast du Glück. Ich habe zwar nichts gekocht, aber Alice hat ein paar Köstlichkeiten aus dem Restaurant vorbeigebracht.«
»Alice ist da?«
»Jepp, sie ist bei Mia und Elena im Zimmer. Sie sollte allerdings jede Sekunde kommen. Die Zwillinge haben schon fast geschlafen, als du geklingelt hast.«
Verdammt, ich hatte gehofft, meine beiden Nichten wach zu erwischen, weil ich die kleinen Monster seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Ich zähle die Monate – okay, Jahre –, bis sie endlich alt genug sind, um anderen Leuten Streiche zu spielen. Mein eineiiger Zwillingsbruder Max und ich waren als Kinder die Familienclowns. Ich muss diese Gabe an jemanden weitergeben. Meine zwei älteren Brüder, Sebastian und Logan, sind verheiratet, und Max ist verlobt, aber nur Pippa hat schon Kinder.
Kaum haben wir die Küche betreten, entdecke ich die Tüten aus Alice’ Restaurant und stürze mich auf die Aluschalen darin. Gebratene Ente ist mein Lieblingsgericht auf der Speisekarte. Jedes Mal, wenn ich es esse, danke ich meinem Glücksstern dafür, dass Alice beschlossen hat, ein Restaurant zu eröffnen, statt bei Bennett Enterprises einzusteigen.
Meine beiden ältesten Brüder und Pippa haben die Firma vor mehr als einem Jahrzehnt gegründet, und inzwischen ist Bennett Enterprises einer der Marktführer auf dem Schmuckmarkt. Max und ich sind vor einigen Jahren ebenfalls in die Firma eingestiegen, aber der Rest – Alice, das zweite Zwillingspärchen bestehend aus Blake und Daniel sowie das Nesthäkchen der Familie, Summer – hat andere Wege eingeschlagen. Summer ist Künstlerin, Blake hat eine Bar eröffnet und Daniel eine Firma, die ihren Kunden Abenteuer und Erlebnisse in verschiedenen Extremsportarten anbietet.
»Du hast mir gar nicht gesagt, was der Grund für deinen Besuch ist«, sagt Pippa, als sie sich ebenfalls einen Karton schnappt und an den Tisch setzt.
»Willst du damit andeuten, dass ich einen Grund brauche, um dich und die Mädchen zu besuchen?«
Vor ein paar Wochen hat Pippa mich und meine Brüder mit dem Vorschlag überrascht, unsere Angebotspalette um eine Kollektion von Verlobungs- und Eheringen zu erweitern. Sie ist die Schmuckdesignerin von Bennett Enterprises. Bisher beinhaltete jede Schmuckkollektion ein paar solcher Ringe, aber wir haben uns nie ausschließlich auf dieses Thema konzentriert. Rein geschäftlich gesehen gab es profitablere Bereiche, um die wir uns zuerst kümmern wollten. Obwohl immer weniger Leute heiraten und immer mehr sich scheiden lassen, hat Pippa jedoch behauptet, dass Liebe nie außer Mode komme und Bennett Enterprises sich auch in diesem Geschäftsfeld zum Marktführer aufschwingen solle. Die Begeisterung, mit der Pippa uns ihre Idee präsentiert hat, hat uns davon überzeugt, zumindest ein paar Recherchen anzustellen.
»Du hattest deine Geschäftsstimme drauf, als du erklärt hast, du würdest vorbeikommen«, erklärt sie. Die Fähigkeit meiner Schwester, jeden von uns perfekt zu deuten, wird mich immer mit Ehrfurcht erfüllen.
»Du hast recht. Es geht um deinen Vorschlag, eine Kollektion von Verlobungs- und Eheringen zu entwerfen.«
Pippa hört auf zu kauen. Gleichzeitig werden ihre Augen groß, als wollte sie fragen: Und?
»Wir haben den Markt analysiert, und die Zahlen sehen vielversprechend aus. Wir werden es machen.«
Pippa quietscht, springt auf und umarmt mich. Als sie sich wieder von mir löst, grinst sie breit.
»Aber ich habe eine Frage, und ich will, dass du sie ehrlich beantwortest. Bist du dir sicher, dass du das schaffst?« Meine Schwester hat seit der Geburt der Zwillinge von zu Hause aus gearbeitet und so viel Arbeit delegiert wie möglich, inklusive einiger Designaufträge an externe Agenturen. Ich fürchte trotzdem, dass sie sich mehr auflädt, als sie bewältigen kann.
»Ja. Ich freue mich schon darauf! Ich weiß, dass ich das hinkriege.«
»Falls du deine Meinung noch ändern solltest, sag uns Bescheid. Wir können es auch verschieben.«
Sie schüttelt heftig den Kopf. »Ich schaffe das.«
»Okay.«
»Christopher!«, ruft Alice, als sie in die Küche kommt und sich auf die Arbeitsfläche setzt. Meine Schwestern sehen sich überhaupt nicht ähnlich. Pippa ist groß und blond, während Alice Moms femininen Körperbau und das hellbraune Haar geerbt hat. »Wie läuft es mit deiner Wohnung?«
»Ich kriege in sechs Wochen die Schlüssel. Und ich habe mich zum ersten Mal mit der Innenarchitektin getroffen, die ihr mir empfohlen habt.«
»Und?«, fragen Pippa und Alice gleichzeitig.
»Sie scheint ihr Handwerk zu verstehen und hat mir bereits ein paar Entwürfe geschickt, die mir durchaus gefallen haben.«
»Man kann fantastisch mit ihr arbeiten«, erklärt Alice. »Sie ist supereffizient und sehr freundlich.«
»Und arbeitet hart«, fügt Pippa hinzu. »Ich liebe ihren Stil. Ich wünschte, ich könnte mich so bunt kleiden wie sie, ohne lächerlich auszusehen, aber dafür braucht man ein Händchen.«
Okay. Ich habe keine Ahnung, worüber sie reden, weil ich während Victorias Besuch bei mir zu sehr damit beschäftigt war, mir auszumalen, was sich unter der Kleidung versteckt. Männer bemerken Klamotten sowieso kaum. Ich will gerade auf diesen Punkt hinweisen, als ich meine Schwestern dabei erwische, wie sie einen Blick wechseln – einen Blick, der mich misstrauisch macht.
Als Pippa auch noch sagt: »Ich verstehe nicht, wieso diese Frau noch solo ist«, kapiere ich es endlich.
Ich stöhne. »Bitte, sagt mir, dass ihr sie mir nicht nur empfohlen habt, um mich zu verkuppeln.«
»Nicht nur um dich zu verkuppeln«, stellt Pippa klar. »Sie leistet wirklich gute Arbeit.«
»Ich dachte, du hättest nach deiner Eheschließung mit der Kuppelei aufgehört«, sage ich zu Pippa. Meine Schwester war schon einmal verheiratet, doch diese Ehe endete in einer hässlichen Scheidung. Danach hat sie meine älteren Brüder Sebastian und Logan verkuppelt. Wir dachten stets, ihre Kuppelei wäre eine Art Therapie für sie gewesen und sie würde jetzt, wo sie ihr Glück gefunden hat, damit aufhören. Anscheinend nicht.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragt Pippa, ehrlich schockiert. »Ich musste während der Schwangerschaft eine Pause einlegen, aber jetzt bin ich wieder da. Und Alice hilft mir.«
»Wann bist du zur dunklen Seite übergelaufen?«, frage ich meine andere Schwester.
Sie zuckt mit den Achseln. »Es macht halt Spaß.«
Ich stopfe mir noch ein wenig gebratene Ente in den Mund, verwundert, dass ich das nicht früher kapiert habe. Die Fähigkeit meiner Mutter, anderen Leuten in die Seele zu sehen, wurde leider nur an meine Schwestern vererbt.
»Mädels, bitte haltet euch da raus«, sage ich schließlich.
Alice neigt den Kopf zur Seite und sieht Pippa an. »Als er noch keine Ahnung hatte, hat mir das besser gefallen. Da war er leichtere Beute.«
»Aber du bist schon so lange Single!«, gibt Pippa zu bedenken.
»Das ist keine Krankheit, weißt du?«
»Du heulst nicht immer noch Felicity nach, oder?«, fragt Alice direkt. »Ihr beide wart sehr lange zusammen, und dann habt ihr euch plötzlich getrennt.«
Na ja, das ist nicht die ganze Geschichte. Felicity und ich sind im letzten Jahr des Colleges zum ersten Mal miteinander ausgegangen. Ein paar Jahre später war ich der Meinung, es wäre Zeit für einen Antrag. Ja, wir waren jung, aber ich konnte mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen. An unserem Jahrestag plante ich einen romantischen Abend, der auf der Golden-Gate-Brücke endete, wo ich auf ein Knie sank, die große Frage stellte und Felicity Nein sagte.
Ich war total vor den Kopf gestoßen. Sie murmelte etwas davon, dass die Ehe nur ein Gefängnis sei und sie das Gefühl habe, verheiratet ihre Träume nicht verwirklichen zu können. Als ich sie fragte, wie diese Träume denn aussähen, meinte sie, sie wisse es noch nicht, aber sie wolle es allein rausfinden.
Jedes Wort traf mich wie eine Ohrfeige. Sie hatte diese Gedanken kein einziges Mal mit mir geteilt. Sie war Lehrerin und wirkte mehr als glücklich in ihrem Job. Ich dachte damals, wir würden uns etwas zusammen aufbauen. Offensichtlich bildete ich mir das nur ein. Sie bedankte sich bei mir für den Heiratsantrag, weil ihr dadurch klar geworden sei, dass sie eine Weile allein sein müsse. In der Liste unserer unüberbrückbaren Differenzen zählte sie auch auf, dass ich bereits alles durchgeplant hätte, sie aber Zeit allein brauche, um sich über einiges klar zu werden. Sie betonte das Wort »allein« noch ein paarmal, als wäre sie der Meinung, ich wäre ein wenig dämlich und sie müsste ihre Zurückweisung wirklich überdeutlich machen, damit ich es auf jeden Fall kapierte.
Danach versuchte ich, aus alledem schlau zu werden – herauszufinden, ob es Hinweise gegeben hatte, die ich übersehen hatte. Doch mir fiel nichts ein. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass die Gedanken der Frauen auf die Liste der größten Mysterien der Menschheit gesetzt werden müssen.
Ich habe weder meinen Freunden noch meiner Familie je etwas von diesem Antrag erzählt, denn ehrlich: Mein Ego hätte die mitleidigen Blicke nicht ertragen.
Ein paar Monate später ergab sich die Chance, nach Hongkong zu gehen und von dort aus die Expansion von Bennett Enterprises voranzutreiben. Ich stürzte mich darauf wie ein Ertrinkender auf einen Rettungsring. Ein Tapetenwechsel war genau das, was ich brauchte. In Hongkong musste ich fast nonstop arbeiten, weil wir den asiatischen Markt gerade erst erschlossen, aber ich genoss jede Sekunde der Ablenkung. Denn damit blieb mir keine Zeit für ein Privatleben, sondern nur für belanglose Verabredungen, was genau das war, was ich gerade brauchte. Ich hatte eigentlich vorgehabt, nach meiner Rückkehr nach San Francisco genauso weiterzumachen. Belanglos heißt oberflächlich, und Oberflächlichkeit verhindert jede Art von Verletzung.
»Nein, ich heule Felicity nicht mehr nach«, erkläre ich meinen Schwestern. »Ich habe seit Jahren nicht mit ihr gesprochen.«
»Wunderbar.« Alice klatscht in die Hände. »Dann kannst du ja von vorn anfangen.«
»Wie stehen meine Chancen, euch davon zu überzeugen, dass ihr damit aufhört?«
»Bei null.« Pippa lächelt mich freundlich an. Ich habe gelernt, dieses Lächeln zu fürchten. Gewöhnlich bedeutet es, dass sie etwas plant. »Aber wir haben unseren Teil getan – abgesehen von gelegentlichen Hinweisen. Der Rest hängt von dir ab.«
Mann, das klingt sehr beruhigend. Ich mag Victoria wirklich, sie ist witzig und schlagfertig, selbst wenn sie sich bemüht, sich zurückzuhalten. Ganz zu schweigen davon, dass ihre perfekten Kurven sich in meine Netzhaut eingebrannt haben. Ich hatte bei dem Telefonat mit ihr mehr Spaß als seit Jahren beim Gespräch mit irgendeiner Frau. Aber ich habe weder Zeit noch spüre ich das Verlangen nach mehr als beiläufigen Dates. Und auch wenn ich Victoria erst einmal getroffen und zweimal mit ihr gesprochen habe, vermute ich doch, dass sie nichts von belanglosen Bettgeschichten hält. Das würde ich von einer Frau, die zwei Kinder und einen Teenager erzieht, auch niemals erwarten. Ich bin kein Arschloch.
Bevor eine meiner Schwestern auf weitere gefährliche Gedanken kommen kann, stelle ich die leere Aluschale auf den Tisch und sage: »Ich gehe dann mal.«
»Könntest du mich nach Hause bringen?«, fragt Alice und springt von der Arbeitsfläche. »Mein Auto ist in der Werkstatt und …«
»Du lässt dich gern von deinen Brüdern herumkutschieren?«
Alice grinst. »Nun, wofür soll denn eine Gazillion Brüder gut sein, wenn sie einen nicht mal chauffieren können?«
»Klar, ich kann dich absetzen.«
Wir verabschieden uns von Pippa und gehen.
Sobald ich hinter dem Steuer sitze, sagt Alice: »Hättest du Zeit, dich in nächster Zeit mal mit mir zusammenzusetzen? Ich würde gern deine Ideen zu gewissen betrieblichen Aspekten hören.«
»Sicher. Worum geht’s?«
»Als ich das zweite Restaurant eröffnet habe, war mir nicht klar, wie viel komplexer damit alles werden würde. Ich weiß, dass gewisse Abläufe optimiert werden können. Die Art, wie ich die Restaurants momentan führe, schlägt sich auf den Profit nieder.«
»Hast du Geldprobleme?«
»Nein, aber ich werfe auch nicht gern Geld aus dem Fenster. Ich wollte nur mal deine Ideen hören. Leider machst du in Bezug auf die Arbeitsstunden in der Firma dem Bennett-Namen alle Ehre. Hast du irgendwann mal Zeit?«
Ich bin stolz darauf, ein Workaholic zu sein. Bis zum College war ich ein ziemlicher Wildfang, ähnlich wie Victoria. Im Sommer vor meinem Abschluss absolvierte ich dann ein Berufspraktikum bei Bennett Enterprises. Ungefähr nach einer Woche im Job gelangte ich zu der verstörenden Erkenntnis: Wenn ich wollte, dass irgendwer mich ernst nahm, musste ich mich auch dementsprechend benehmen. Die Leute betrachteten mich immer als Sebastians und Logans kleinen Lausbuben-Bruder. Dass ich ständig Witze riss, half auch nicht.
Also zog ich einen Anzug an, scherzte im Büro weniger und fing an zu arbeiten. Langsam arbeitete ich mich innerhalb der Firma nach oben, bis ich zum Chief Operations Manager aufgestiegen war. Ich bilde mir gern ein, es hätte nur mit meiner harten Arbeit zu tun, doch die Wahrheit ist, dass mein Nachname natürlich half. Weswegen ich mich auch so richtig reinhängte. Wenn man schon Chancen serviert bekommt, sollte man sich ihrer auch würdig erweisen.
»Du trägst denselben Nachnamen wie ich«, ziehe ich Alice auf. »Das bedeutet, ich bin verpflichtet, Zeit für dich zu finden und dich herumzukutschieren.«
»Oh, jetzt fühle ich mich aber wie etwas Besonderes.«
»Wie wäre es außerdem damit? Ich bin dazu verpflichtet, jedem in den Hintern zu treten, der dir blöd kommt.«
Alice hebt den Zeigefinger, als ich an einer roten Ampel anhalte. »Das gehört zu den Pflichten der älteren Brüder. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, warst du jünger, also bist du in diesem Punkt aus der Pflicht genommen. Du darfst mich einfach nerven.«
»Natürlich finde ich Zeit für dich, Alice«, versichere ich ihr. Auf keinen Fall will ich, dass meine Schwester sich Sorgen um ihr Geschäft macht. »Wir können uns gern nächste Woche mal hinsetzen und reden. Diese Woche ist vollkommen zu, leider.«
»Okay, danke. Und jetzt mal Scherz beiseite. Es ist gut, dass Victoria dir bei der Einrichtung der Wohnung hilft. Sonst würde das unglaublich viel Zeit in Anspruch nehmen, glaub mir.«
»Dem stimme ich zu. Ich fahre Donnerstagabend zu ihr, um mit ihr ein paar Kataloge durchzuschauen.«
»Oooh, dann triffst du ihre Geschwister. Sie sind bezaubernd.«
»Chloe habe ich schon kennengelernt. Übrigens, wie kann eine Neunundzwanzigjährige eine vierjährige Schwester haben?«
»Chloe und Lucas sind adoptiert. Victoria hat mir einmal erzählt, dass ihre Eltern eigentlich mehr Kinder wollten, nach ihr aber kein Glück mehr hatten, bis zwölf Jahre später Sienna geboren wurde. Danach fühlten sie sich zu alt, um noch mehr eigene Kinder zu bekommen, aber Mrs Hensley war Krankenschwester auf der Entbindungsstation. Eine ihrer Patientinnen wollte ihren Sohn nach der Geburt zur Adoption freigeben, und die Hensleys adoptierten Lucas. Ein paar Jahre später hat dieselbe Frau ein kleines Mädchen auf die Welt gebracht und ebenfalls zur Adoption freigegeben. Die Hensleys haben auch sie aufgenommen.«
»Klingt, als wären Victorias Eltern tolle Leute gewesen. Irgendwelche Tipps für den Besuch in ihrem Haus? Victoria schien deswegen ein wenig nervös. Ich glaube, sie fürchtet, dass das Chaos der Kinder mich stören könnte. Ich habe ihr schon gesagt, dass mir das nichts ausmacht, aber …«
Ich halte vor Alice’ Wohnhaus an und drehe mich gerade rechtzeitig zu ihr um, um ihr Lächeln zu sehen.