Die Geschichte der Zukunft - Robert A. Heinlein - E-Book

Die Geschichte der Zukunft E-Book

Robert A. Heinlein

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Beschreibung

Aufbruch ins Morgen

Wie wird sich unsere Gesellschaft in den nächsten zweihundert Jahren entwickeln? Wird es eine christlich-fundamentalistische Diktatur in den USA geben? Ein neues Zeitalter der Sklaverei auf der Venus? Highspeed-Förderbänder statt Autobahnen? Gemeinsam mit dem Unsterblichen Lazarus Long schickt Robert A. Heinlein den Leser auf eine faszinierende Reise in die Zukunft und inszeniert dabei ebenso erschreckend wie unterhaltsam den Zusammenbruch der Welt, wie wir sie kennen …

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Seitenzahl: 1574

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DAS BUCH

Dies ist die Geschichte unserer Zukunft. Die Geschichte der kommenden Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Eine Geschichte menschlicher Träume, Triumphe und Katastrophen. Eine Geschichte, wie sie so noch nicht erzählt wurde und auch nicht mehr erzählt werden wird. Werden die Menschen sich einst auf der Venus niederlassen? Wird es in zweihundert Jahren Klavierkonzerte auf dem Mond geben? Gibt es dann überhaupt noch so etwas wie Autobahnen oder bewegen sich die Menschen dann auf Highspeed-Förderbändern fort?

Der große Visionär Robert A. Heinlein inszeniert ebenso erschreckend wie unterhaltsam den Zusammenbruch der Welt, wie wir sie kennen, und schickt den Leser dabei auf eine faszinierende Reise in die Zukunft. Eine Zukunft, die es so vielleicht einmal wirklich geben könnte …

DER AUTOR

Robert A. Heinlein wurde 1907 in Missouri geboren. Er studierte Mathematik und Physik und verlegte sich schon bald auf das Schreiben von Science-Fiction-Romanen. Neben Isaac Asimov und Arthur C. Clarke gilt Heinlein als einer der drei Gründerväter des Genres im 20. Jahrhundert. Sein umfangreiches Werk hat sich millionenfach verkauft, und seine Ideen und Figuren haben Eingang in die Weltliteratur gefunden. Die Romane Fremder in einer fremden Welt und Mondspuren gelten als seine absoluten Meisterwerke. Heinlein starb 1988.

Mehr über Robert A. Heinlein und seine Romane auf:

ROBERT A. HEINLEIN

DIE GESCHICHTEDER ZUKUNFT

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE PAST THROUGH TOMORROW

Deutsche Übersetzung von Rosemarie Hundertmarck

Überarbeitete Neuausgabe: 06/2015

Copyright © 1967 by Robert A. Heinlein

Copyright © 2015 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-15317-5

www.diezukunft.de

INHALT

Vorwort von Damon Knight

Zeittafel

Lebenslinie

Die Straßen müssen rollen

Katastrophen kommen vor

Der Mann, der den Mond verkaufte

Delila und der Raummonteur

Raum-Jockey

Requiem

Die lange Wache

Nehmen Sie Platz, meine Herren!

Die schwarzen Klüfte Lunas

»Wie schön, wieder zu Hause zu sein!«

»… Wir führen auch Hunde spazieren«

Suchscheinwerfer

Zerreißprobe im All

Die grünen Hügel der Erde

Imperialistische Logik

Das Ekel von der Erde

»Wenn das so weitergeht …«

Coventry

Außenseiter

Methusalems Kinder

VORWORT

von Damon Knight

Man schreibt das Jahr 1967, und in Carmel, Kalifornien, pflegt ein pensionierter Admiral namens Robert A. Heinlein seinen Garten. 1929 Offizier geworden, zeichnete er sich im Zweiten Weltkrieg aus, lehrte ein paar Jahre lang Flugzeugbau und wurde dann Teilhaber in einer mit bescheidenem Erfolg arbeitenden Elektronikfirma. Abgesehen von seinen Nachbarn, seinen Geschäftsfreunden und seinen Kameraden von der Navy hat nie jemand etwas von ihm gehört.

Das ist eine glaubwürdige Geschichte, aber keine wahre. Was wirklich geschah, ist viel weniger wahrscheinlich: Sechs Jahre nach dem Abschluss der Naval Academy zog sich Heinlein, während er auf einem Zerstörer diente, Tuberkulose zu. Er verbrachte zwei Jahre im Bett und wurde dann im Alter von 27 Jahren pensioniert.

Wie der schwindsüchtige Robert Louis Stevenson, wie Mark Twain, dessen Karriere als Flussboot-Lotse durch den Krieg zerstört wurde, begann Heinlein beinahe zufällig zu schreiben, weil er das aktivere Leben, das er vorgezogen hätte, nicht mehr führen konnte. Abgeschnitten von der Navy und der Lebenslinie, die ihn in jenen Rosengarten in Carmel geführt hätte, studierte er Physik und Mathematik. Er wollte seinen alten Traum, Astronom zu werden, verwirklichen, aber wieder zwang ihn sein schlechter Gesundheitszustand zur Aufgabe. Ohne besonderen Erfolg versuchte er sich im Silberbergbau, in der Politik, im Immobiliengeschäft.

1939 geriet ihm die Ankündigung eines Amateur-Wettbewerbs für Kurzgeschichten in der Zeitschrift Thrilling Wonder Stories in die Hände. Der Preis betrug fünfzig Dollar, kein Vermögen, andererseits auch nicht zu verachten. Heinlein schrieb eine Geschichte, nannte sie »Lebenslinie« und reichte sie ein, aber nicht dem Wettbewerbsredakteur, sondern John W. Campbell, dem Herausgeber von Astounding Science Fiction.Campbell kaufte sie, und die nächste, und die nächste. Heinleins Reaktion war: »Wie lange ist das so weitergegangen? Und warum hat es mir niemand gesagt?« Die Kriegsjahre ausgenommen, die er in der Naval Air Experimental Station in Philadelphia mit »der notwendigen Langeweile des Flugzeugbaus« verbrachte, hat er nie wieder etwas anderes getan, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen.

In der Astounding-Ausgabe vom Februar 1941, die zwei Heinlein-Geschichten brachte (eine unter dem Pseudonym Anson MacDonald) schrieb der Herausgeber:

»Robert A. Heinlein kommt nächsten Monat mit der Titelgeschichte ›Imperiumslogik‹ wieder. Wie bei Heinlein üblich, ist sie ebenso gewissenhaft ausgearbeitet wie spannend und durchaus fähig, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber in diesem Zusammenhang möchte ich auf etwas hinweisen, das die Astounding-Leser vielleicht noch gar nicht bemerkt haben: Alle Science-Fiction-Werke Heinleins spielen vor dem gemeinsamen Hintergrund einer angenommenen Zukunftsgeschichte der Welt und der Vereinigten Staaten. Mit jeder Story wird sie reicher an Einzelheiten. Heinlein hat Beschreibungen und grafische Darstellungen von Personen, Daten, wichtigen Entdeckungen usw. gemacht und bezieht sie in seine Erzählungen ein. Ich versuche, ihn zu überreden, dass er mir eine Fotokopie dieser Übersicht gibt. Sobald ich sie in Händen habe, werde ich sie veröffentlichen.«

Er veröffentlichte die Übersicht drei Monate später – die gleiche Tabelle, die mit einigen Änderungen und Ergänzungen in diesem Buch erscheint. Auch in diesem Heft war die Titelgeschichte »Das Universum« von Heinlein.

»Future History« ist ein von Campbell, nicht von Heinlein geprägter Ausdruck, der den Autor manchmal ein bisschen in Verlegenheit gebracht hat. Diese miteinander verknüpfte Folge von Erzählungen gibt nicht vor, prophetisch zu sein. Es wird darin nicht die Geschichte der Zukunft, sondern einer Zukunft geschildert – eine alternativ wahrscheinliche Welt (vielleicht dieselbe, in der der pensionierte Konteradmiral seine Rosen pflegt), die logisch in sich geschlossen, dramatisch und als Weiterentwicklung unserer eigenen Vergangenheit zu erkennen ist. Auch handelt es sich nicht um lineare Fortsetzungen. Heinleins Werke gleichen eher einer Pyramide, bei der die früheren eine solide Basis bilden, auf der die späteren ruhen.

Teils wegen dieses pyramidenartigen Aufbaus und teils wegen des umfangreichen Wissens, das der Autor besitzt – darüber gleich mehr –, finden sich Heinleins Leser in einer Welt wieder, die einwandfrei die unsere ist, nur ein paar Jahre oder Jahrzehnte in die Zukunft projiziert. Natürlich haben Veränderungen stattgefunden, aber es sind solche, bei denen man das Gefühl hat, sich ihnen ohne große Schwierigkeiten anpassen zu können. Die Menschen sind immer noch die Gleichen: Sie lesen die Time,machen sich Sorgen ums Geld, rauchen Luckies und streiten sich mit ihren Frauen.

Der ideale Science-Fiction-Autor ist leicht zu definieren. Er muss ein talentierter und einfallsreicher Schriftsteller sein, ausgebildet in den Natur-, Sozial- und technischen Wissenschaften, mit gründlicher und vielseitiger Menschenkenntnis, und zwar nicht nur über Wissenschaftler und Ingenieure, sondern auch Sekretärinnen, Rechtsanwälte, Gewerkschaftsführer, Werbeleute, Journalisten, Politiker, Geschäftsleute. Das Problem ist, dass niemand, der seinen Verstand beisammenhat, die Zeit aufbringen würde, all dies Wissen zu erwerben, nur um Science Fiction schreiben zu können. Aber Heinlein besitzt es. Viel mehr von Heinleins Werk, als die meisten Leute sich klarmachen, stammt aus seiner eigenen Erfahrung. Wenn er etwas nicht selbst weiß, ist er zu gewissenhaft, um zu raten: Er geht hin und findet es heraus. Seine Geschichten sind voll von präzisen, richtigen Einzelheiten, das Ergebnis mühevoller Nachforschungen. Aber vieles hat er seinem eigenen Leben entnommen, darunter einige Dinge, die seine Glaubwürdigkeit arg strapazieren. Ein paar Beispiele mögen genügen:

Die eingehende Diskussion über die Schwierigkeiten von Kopplungen bei der Konstruktion von Haushaltsrobotern in Tür in die Zukunft.Heinlein ist Ingenieur und Fachmann für Kopplungen.

Die Leistungen, die die Helden aus dem »Nova-Effekt« und der Straße des Ruhms im Nahkampf erbringen. Heinlein selbst ist ein ausgezeichneter Schütze und Schwertkämpfer und Experte im waffenlosen Kampf.

Die rothaarige und unwahrscheinlich vielseitig begabte Heldin aus Weltraummollusken erobern die Erde und anderen Heinlein-Geschichten. Heinleins rothaarige Frau Ginny ist Chemikerin, Biochemikerin, Flugtest-Ingenieurin und Experimentiergärtnerin; sie gehörte zu den Universitätsteams im Schwimmen, Turmspringen, Basketball und Hockey und hat nach dem Abschluss an der New York University als Eiskunstläuferin an Wettbewerben teilgenommen. Sie spricht bisher sieben Sprachen und lernt derzeit eine achte.

Die Langlebigkeit der »Familien« in Methusalems Kinder.Fünf von Heinleins sechs Geschwistern leben noch, ebenso seine Mutter. Sie ist 87, »zart, aber sehr lebendig und geistig aktiv«. Sicher wird sie noch oft Geburtstag feiern.

Sogar die unwahrscheinlich talentierten Familien, die in den Tramps von Luna und anderswo auftreten, sind keine freie Erfindung: Heinlein selbst spielte Schach, bevor er lesen konnte. Von seinen drei Brüdern ist einer Professor für Elektrotechnik, einer Professor für politische Wissenschaften, und der dritte ist ein pensionierter Generalmajor, der »von der Pike auf« gedient hat – das heißt, er stieg vom einfachen Soldaten durch sämtliche Ränge auf, ohne auch nur eine College-Ausbildung zu haben.

Wie Mark Twain stammt Heinlein aus Missouri. Das zeigt sich in seinem Skeptizismus, seinem gut entwickelten Sinn für menschliche Absurdität und gelegentlich in einer Redewendung – einer Vorliebe für breit ausgeschmückte Untertreibungen. Als Missourier bewundert er Kompetenz jeder Art und die Männer, die etwas zuwege bringen, auch wenn sie (oder vielleicht besonders wenn sie) dabei ein paar Gesetze übertreten. (Heinlein: »Ich stand in der Naval Academy gut da und hätte noch viel besser dagestanden, wäre da nicht meine Neigung gewesen, ›Schwarze N‹ – das sind grobe Verstöße gegen die militärische Disziplin – zu sammeln.«) Anders als die meisten modernen Romanschreiber hat er keine Geduld mit den Unwissenden und Unfähigen. Diejenigen, die am meisten zur Welt beitragen, meint Heinlein, sind auch diejenigen, die den größten Spaß haben. Diejenigen, die nichts beitragen, sind Gegenstand des Mitleids, und Mitleid mit solchen, die sich selbst bemitleiden, steht nicht sehr weit oben auf Heinleins Liste von Tugenden.

Diese Härte ist etwas ganz anderes als der Zynismus, den man bei manchen Schriftstellern findet. Heinlein ist Moralist bis ins Mark. Er glaubt fest an Mut, Ehre, Selbstbeherrschung, Selbstaufopferung aus Liebe oder aus Pflicht. Vor allem ist er Befürworter der individuellen Gedanken- und Handlungsfreiheit. »Wenn eine Regierung oder auch eine Kirche zu ihren Leuten sagt: ›Dies darfst du nicht lesen, dies darfst du nicht sehen, dies ist dir verboten zu wissen‹, ist das Endergebnis Tyrannei und Unterdrückung, ganz gleich, wie heilig die Motive sind. Sehr wenig Kraft ist notwendig, einen Menschen zu kontrollieren, dessen Geist Scheuklappen angelegt worden sind. Umgekehrt kann keine Macht der Welt einen freien Menschen kontrollieren, einen Menschen, dessen Geist frei ist. Nicht die Folter, nicht die Atombombe oder sonst etwas – man kann einen freien Menschen nicht besiegen, man kann ihn höchstens töten.«

Der Autor selbst hat oft abgestritten, die Geschichten in diesem Buch seien Prophezeiungen. Aber es steht fest, dass einige der Dinge, die Heinlein sich ausgemalt hat, bereits Wahrheit geworden sind – nicht buchstäblich, sondern symbolisch. »Die Straßen müssen rollen« sagt das Wuchern der Städte voraus und nimmt Jimmy Hoffas Drohung eines landesweiten Transportarbeiterstreiks vorweg. Die Zeitungsschlagzeilen in Methusalems Kinder klingen heute weniger fantastisch als 1941.

»Katastrophen kommen vor«, fünf Jahre vor dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki geschrieben und veröffentlicht, basiert auf einer Reihe von scharfsinnigen Mutmaßungen, die sich als falsch herausstellten. Das spezifische Dilemma dieser Story wurde niemals Wirklichkeit. Trotzdem spiegelt sie das reale, beängstigende Dilemma der Atomkraft, mit der wir seit 1945 leben.

Einige dieser Erzählungen dienen hauptsächlich der Unterhaltung, aber zumindest eine ist ein echtes Kunstwerk: »Der Mann, der den Mond verkaufte«. Täuschend leicht und einfach geschrieben, funktioniert sie brillant auf einem halben Dutzend Ebenen gleichzeitig. Sie ist ein Bericht über die Eroberung des Mondes durch den Menschen, ein tiefschürfender Essay über den Raubritter-Kapitalismus und ein zu Herzen gehendes, völlig überzeugendes und menschliches Porträt eines außergewöhnlichen Mannes.

Was die sich noch entfaltende Zukunft betrifft, gibt es hier Wegweiser und Warnungen. Heinlein mahnt uns ständig, dass Geschichte nicht tot und in Lehrbüchern einbalsamiert ist, sondern ein fortlaufender Prozess. Das Kernproblem ist die Kontrolle des Menschen über seine eigenen Erfindungen – nicht nur die kleineren wie die Armbrust und die Atombombe, sondern die großen: Sprache, Kultur und Technologie. Wir sind, alles in allem betrachtet, eine zähe und einfallsreiche Rasse; unsere Nachkommen werden noch zäher und einfallsreicher sein müssen.

Die Chancen stehen gegen sie. Die Sterne sind weit, das Leben ist kurz, und die Spielbank kassiert immer ihren Prozentsatz. Aber der Mensch selbst ist so unwahrscheinlich, dass, wenn er nicht existierte, die Möglichkeit seiner Existenz eine Diskussion nicht wert wäre. Heinlein setzt sein Geld auf den Menschen, und ich habe so eine Ahnung, dass das nächste Jahrhundert beweisen wird, wie recht er damit hat.

DIE GESCHICHTE DER ZUKUNFT

LEBENSLINIE

Mit lautem Hämmern verlangte der Vorsitzende Ruhe. Selbst ernannte Ordner brachten ein paar hitzköpfige Individuen dazu, sich hinzusetzen, und allmählich erstarben die Buh-Rufe und Pfiffe. Der Redner auf dem Podium neben dem Vorsitzenden schien sich des Tumults nicht bewusst zu sein. Sein kühles Gesicht mit dem leichten Anflug von Unverschämtheit blieb gelassen. Der Vorsitzende wandte sich dem Redner zu und sprach ihn mit einer Stimme an, in der Zorn und Verärgerung kaum noch maskiert wurden.

»Doktor Pinero …« – der Doktor wurde leicht betont –, »ich muss mich bei Ihnen für die ungehörigen Gefühlsausbrüche während Ihrer Ausführungen entschuldigen. Es überrascht mich, dass meine Kollegen ihre Würde als Wissenschaftler vergessen, um einen Redner zu unterbrechen, ganz gleich …« – er kniff kurz die Lippen zusammen – »wie groß die Provokation gewesen sein mag.« Pinero lächelte ihm ins Gesicht, und das Lächeln war in gewisser Beziehung eine unverblümte Beleidigung. Dem Vorsitzenden war anzumerken, dass er sein Temperament zügelte. Dann erklärte er: »Ich lege großen Wert darauf, dass das Programm ordnungsgemäß zu Ende geführt wird. Bitte, fahren Sie fort! Ich muss Sie jedoch bitten, keine weiteren Theorien vorzutragen, die jeder Gebildete sofort als irrig erkennt und die somit einen Affront gegen unsere Intelligenz darstellen. Bitte, beschränken Sie sich auf Ihre Entdeckung – falls Sie eine gemacht haben.«

Pinero spreizte seine fetten weißen Hände, die Handflächen nach unten. »Wie kann ich Ihnen eine neue Idee vermitteln, wenn ich nicht zuvor mit Ihren falschen Vorstellungen aufräume?«

Die Zuhörer rückten auf ihren Plätzen herum und murrten. Jemand rief aus dem Hintergrund des Saals: »Werft den Scharlatan hinaus! Wir haben genug von ihm!« Der Vorsitzende klopfte mit seinem Hammer.

»Meine Herren! Bitte!« Dann zu Pinero: »Muss ich Sie erinnern, dass Sie nicht Mitglied dieses Gremiums sind und dass wir Sie nicht eingeladen haben?«

Pinero hob die Augenbrauen. »So? Mir ist, als erinnerte ich mich an eine Einladung auf einem Bogen mit dem Kopf der Akademie.«

Der Vorsitzende kaute auf seiner Unterlippe, bevor er antwortete. »Es stimmt, ich habe diese Einladung selbst geschrieben. Aber es geschah auf Verlangen eines der Treuhänder – der ein edler Mann mit viel Bürgersinn, aber kein Wissenschaftler und kein Mitglied der Akademie ist.«

Pinero zeigte sein aufreizendes Lächeln. »So? Das hätte ich mir denken können. Nicht wahr, es war der alte Bidwell von der Amalgamated Lebensversicherung? Und er wollte, dass seine dressierten Seehunde mich als Betrüger entlarven, ja? Denn wenn ich einem Menschen den Tag seines Todes vorhersagen kann, wird ihm niemand mehr seine hübschen Policen abkaufen. Aber wie wollen Sie mich entlarven, wenn Sie mir nicht zuerst einmal zuhören – immer vorausgesetzt, dass Sie intelligent genug sind, um mich zu verstehen? Pah! Er hat Schakale ausgeschickt, einen Löwen zu reißen.« Demonstrativ kehrte er den Zuhörern den Rücken zu. Das Murren der Menge schwoll an und bekam einen bösartigen Unterton. Vergebens rief der Vorsitzende um Ruhe. In der vordersten Reihe stand jemand auf.

»Herr Vorsitzender!«

Der Vorsitzende ergriff die Gelegenheit und rief: »Gentlemen! Doktor van Rhein-Smitt hat das Wort.« Der Aufruhr erstarb.

Van Rhein-Smitt räusperte sich, glättete die Stirnlocke seines wunderschönen weißen Haars und schob eine Hand in die Seitentasche seiner eleganten Hose. Er nahm seine Frauenklub-Positur ein.

»Herr Vorsitzender, meine Herren Kollegen von der Akademie und der Wissenschaft, üben wir Toleranz! Sogar ein Mörder hat das Recht zu sagen, was er sagen will, bevor der Staat seinen Tribut fordert. Sollen wir weniger tun? Auch dann, wenn der Intellekt sich des Urteilsspruchs bereits sicher ist? Ich gewähre Dr. Pinero die ganze Rücksichtnahme, die dieses erhabene Gremium jedem ihm nicht zugehörigen Kollegen erweisen würde, obwohl uns …« – er verbeugte sich leicht in Pineros Richtung – »die Universität, die ihm seinen Grad verliehen hat, nicht bekannt ist. Wenn das, was er zu sagen hat, falsch ist, kann es uns nicht schaden. Wenn das, was er zu sagen hat, wahr ist, sollten wir es erfahren.« Seine wohllautende, kultivierte Stimme tönte beruhigend und beschwichtigend weiter. »Wenn die Manieren des ausgezeichneten Gelehrten für unseren Geschmack ein bisschen ungehobelt erscheinen, müssen wir daran denken, dass der Doktor von einem Ort oder aus einer Schicht stammen mag, die es mit solchen Kleinigkeiten nicht so peinlich genau nimmt. Nun hat uns unser guter Freund und Wohltäter gebeten, diesen Mann anzuhören und den Gehalt seiner Behauptungen sorgfältig abzuwägen. Lassen Sie uns das mit Würde und Anstand tun!«

Unter trommelndem Applaus nahm er Platz, sich zu seinem Vergnügen bewusst, dass er seinen Ruf als intellektueller Führer bekräftigt hatte. Morgen würden die Zeitungen wieder den gesunden Menschenverstand und die überzeugende Persönlichkeit von »Amerikas schönstem Universitätspräsidenten« erwähnen. Wer weiß? Vielleicht rückte der alte Bidwell mit dieser Stiftung für den Swimmingpool heraus.

Als der Applaus verstummt war, wandte sich der Vorsitzende der Stelle zu, wo das Zentrum der Störungen saß, die Hände über dem runden Bäuchlein gefaltet, das Gesicht voll heiterer Gelassenheit.

»Wollen Sie fortfahren, Dr. Pinero?«

»Warum sollte ich?«

Der Vorsitzende zuckte die Achseln. »Zu diesem Zweck sind Sie hergekommen.«

Pinero stand auf. »Wie wahr. Wie durch und durch wahr. Aber war es klug, dass ich gekommen bin? Ist hier ein einziger so aufgeschlossen, dass er einer nackten Tatsache ins Gesicht sehen kann, ohne zu erröten? Ich glaube nicht. Selbst dieser so schöne Herr, der Sie gebeten hat, mich zu Ende anzuhören, hat mich bereits verurteilt und verdammt. Er strebt nach Ordnung, nicht nach Wahrheit. Angenommen, die Wahrheit widersetzt sich der Ordnung, wird er sie akzeptieren? Werden Sie sie akzeptieren? Ich glaube nicht. Immerhin, wenn ich nicht weiterspreche, gewinnen Sie den Kampf durch mein Nichtantreten. Der kleine Mann auf der Straße wird meinen, Sie kleine Männer hätten mich, Pinero, als einen Schwindler, einen Betrüger entlarvt. Das passt mir nicht in meine Pläne. Ich werde sprechen.

Ich wiederhole, was ich über meine Entdeckung gesagt habe. Einfach ausgedrückt: Ich habe eine Technik erfunden, mit der ich vorhersagen kann, wie lange ein Mensch leben wird. Ich kann Ihnen den Todesengel ankündigen. Ich kann Ihnen mitteilen, wann das Schwarze Kamel vor Ihrer Tür knien wird. Mit meinem Apparat kann ich Ihnen in fünf Minuten sagen, wie viele Sandkörner in Ihrem Stundenglas noch übrig sind.« Er hielt inne und kreuzte die Arme über der Brust. Einen Augenblick lang sprach niemand. Die Zuhörer wurden unruhig. Schließlich griff der Vorsitzende ein.

»Sie sind doch noch nicht fertig, Dr. Pinero?«

»Was gibt es mehr zu sagen?«

»Sie haben uns nicht mitgeteilt, wie Ihre Erfindung funktioniert.«

Pinero hob die Augenbrauen. »Sie schlagen mir vor, ich solle die Früchte meiner Arbeit Kindern zum Spielen geben. Dies ist ein gefährliches Wissen, mein Freund. Ich behalte es für den Mann, der es versteht – mich selbst.« Er klopfte sich an die Brust.

»Woher sollen wir wissen, ob irgendetwas hinter Ihren wilden Behauptungen steckt?«

»Ganz einfach. Sie schicken mir ein Komitee, vor dem ich eine Demonstration veranstalte. Klappt es, fein, dann geben Sie es zu und informieren die Welt darüber. Klappt es nicht, bin ich blamiert und werde mich entschuldigen. Ja, ich, Pinero, werde mich entschuldigen.«

Ein schlanker Mann mit hängenden Schultern stand hinten im Saal auf. Der Vorsitzende erteilte ihm das Wort, und er fragte:

»Herr Vorsitzender, wie kann uns der ehrenwerte Gelehrte im Ernst so etwas zumuten? Erwartet er, dass wir zwanzig oder dreißig Jahre warten, bis jemand stirbt und seine Behauptung beweist?«

Pinero ignorierte den Vorsitzenden und antwortete direkt:

»Pfui! Solch ein Unsinn! Verstehen Sie nicht genug von der Statistik, um zu wissen, dass aus jeder großen Gruppe mindestens einer in unmittelbarer Zukunft sterben wird? Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Lassen Sie mich jeden einzelnen in diesem Raum testen, und ich nenne Ihnen den Mann, der innerhalb von vierzehn Tagen sterben wird, jawohl, mit Tag und Stunde seines Todes.« Er warf grimmige Blicke um sich. »Nehmen Sie an?«

Ein weiterer Zuhörer erhob sich, ein wohlbeleibter Mann, der in abgemessenen Silben sprach. »Ich für meine Person kann ein solches Experiment nicht befürworten. Als Mediziner habe ich mit Sorge die Zeichen ernsthafter Herzbeschwerden bei vielen unserer älteren Kollegen festgestellt. Wenn Dr. Pinero die Symptome kennt, was ja möglich ist, und einen von ihnen als sein Opfer auswählte, würde der so ausgewählte Mann wahrscheinlich innerhalb der festgesetzten Frist sterben, ob nun die mechanische Eieruhr des ehrenwerten Redners funktioniert oder nicht.«

Sofort kam ihm ein anderer Sprecher zu Hilfe. »Dr. Shepard hat recht. Warum sollen wir Zeit auf Voodoo-Tricks verschwenden? Meiner Meinung nach möchte dieser Mensch, der sich Doktor Pinero nennt, unsere Gesellschaft dazu benutzen, seinen Erklärungen Autorität zu verleihen. Wenn wir bei dieser Farce mitmachen, spielen wir ihm in die Hände. Ich weiß nicht, welchen Betrug er vorhat, aber Sie können darauf wetten, er hat sich einen Weg ausgedacht, uns als Reklame für seine Pläne einzusetzen. Ich beantrage, Herr Vorsitzender, dass wir mit unseren regulären Tagesordnungspunkten fortfahren.«

Der Antrag wurde durch Akklamation unterstützt, aber Pinero setzte sich nicht. Unter den Rufen: »Ruhe! Ruhe!«, schüttelte er seinen unordentlichen Kopf gegen die Zuhörer und erklärte:

»Barbaren! Dummköpfe! Tölpel! Vom Anbeginn der Zeit haben Leute wie Sie die Anerkennung jeder großen Entdeckung hintertrieben. Eine so ignorante Kanaille genügt, Galileo in seinem Grab rotieren zu lassen. Der fette Idiot da, der mit seinen Elchzahnanhängern spielt, nennt sich einen Mediziner. Hexendoktor wäre ein besserer Ausdruck! Der kahlköpfige Knirps dort – ja, Sie! Sie fühlen sich als Philosoph und faseln über Leben und Zeit in Ihren sauber angegrenzten Kategorien. Was wissen Sie von dem einen oder dem anderen? Wie können Sie je etwas darüber lernen, wenn Sie die Chance verschmähen, die Wahrheit zu prüfen? Pah!« Er spuckte auf die Bühne. »Sie nennen das hier eine Akademie der Wissenschaften. Ich nenne es eine Zusammenkunft von Leichenbestattern, die nur daran interessiert sind, die Ideen ihrer lebenssprühenden Vorgänger einzubalsamieren.«

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und wurde auf beiden Seiten von zwei Mitgliedern des Podium-Komitees gepackt, die ihn durch die Seitenkulissen hinausschafften. Mehrere Reporter erhoben sich hastig vom Pressetisch und folgten ihm. Der Vorsitzende erklärte die Sitzung für vertagt.

Die Zeitungsleute holten Pinero an der Bühnentür ein. Er ging mit leichten, federnden Schritten und pfiff sich ein Liedchen. Da war keine Spur von der Kampflust, die er eben noch gezeigt hatte. Sie umringten ihn. »Wie wäre es mit einem Interview, Doc?« – »Was halten Sie von dem modernen Bildungswesen?« – »Sie haben es denen aber gegeben! Was sind Ihre Ansichten über Leben und Tod?« – »Nehmen Sie den Hut ab, Doc, und passen Sie auf, wenn hier das Vögelchen rauskommt.«

Er grinste ihnen allen zu. »Einer nach dem anderen, Jungs, und nicht so schnell. Ich bin einmal selbst Zeitungsmann gewesen. Kommt doch mit zu mir; dort können wir darüber reden.«

Ein paar Minuten später versuchten sie, Sitzplätze in Pineros unordentlichem Wohnschlafzimmer zu finden, und zündeten sich seine Zigarren an. Pinero blickte ringsum und strahlte. »Was darf es sein, Jungs? Scotch oder Bourbon?« Als das besorgt war, kam er zur Sache. »Und jetzt, Jungs, was wollt ihr wissen?«

»Sagen Sie ehrlich, Doc: Haben Sie etwas, oder haben Sie nichts?«

»Und ob ich etwas habe, meine jungen Freunde!«

»Dann erzählen Sie uns, wie es funktioniert. Der Quatsch, den Sie den Professoren aufgetischt haben, zieht bei uns nicht.«

»Bitte, meine lieben Freunde. Es ist meine Erfindung. Ich erwarte, damit Geld zu verdienen. Verlangt ihr von mir, dass ich sie dem Ersten schenke, der danach fragt?«

»Hören Sie, Doc, Sie müssen uns etwas geben, wenn Sie in den Morgenzeitungen erwähnt werden wollen. Was benutzen Sie? Eine Kristallkugel?«

»Nein, nicht ganz. Möchtet ihr meinen Apparat gern sehen?«

»Klar. Langsam kommen wir irgendwohin.«

Er führte sie in einen Nebenraum und wedelte mit der Hand. »Da ist er, Jungs.« Das große Gerät, auf das ihre Blicke fielen, erinnerte schwach an einen Röntgenapparat in einer Arztpraxis. Abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass es elektrischen Strom brauchte und dass einige der Skalen in bekannten Maßeinheiten eingeteilt waren, gab eine flüchtige Betrachtung keinen Hinweis auf seinen eigentlichen Verwendungszweck.

»Was ist das für ein Prinzip, Doc?«

Pinero schürzte die Lippen und überlegte. »Zweifellos kennt ihr alle die Binsenwahrheit, das Leben sei elektrischer Natur? Nun, diese Binsenwahrheit ist keinen Pfifferling wert, aber sie hilft mir, euch einen Begriff von dem Prinzip zu geben. Ihr habt außerdem gelernt, die Zeit sei eine vierte Dimension. Vielleicht glaubt ihr das, vielleicht auch nicht. Es ist so oft gesagt worden, dass es aufgehört hat, irgendwelche Bedeutung zu haben. Es ist nichts als ein Klischee, das Schaumschläger benutzen, um Narren zu beeindrucken. Aber ich möchte, dass ihr jetzt versucht, es euch vorzustellen und zu fühlen.«

Er trat vor einen der Reporter. »Nehmen wir als Beispiel einmal Sie. Ihr Name ist Rogers, nicht wahr? Nun, Rogers, Sie sind ein Raum-Zeit-Ereignis, das auf vier Arten Dauer hat. Sie sind nicht ganz sechs Fuß groß, sie sind etwa zwanzig Zoll breit und vielleicht zehn Zoll dick. In der Zeit erstreckt sich mehr von diesem Raum-Zeit-Ereignis zurück bis schätzungsweise 1916, und davon sehen wir hier einen Querschnitt im rechten Winkel zur Zeitachse und so dick wie die Gegenwart. Am hinteren Ende ist ein Baby, das nach saurer Milch riecht und sein Frühstück auf sein Lätzchen sabbert. Am anderen Ende, vielleicht irgendwo in den Achtzigerjahren, ist ein alter Mann. Stellen Sie sich dieses Raum-Zeit-Ereignis, das wir Rogers nennen, als einen langen rosa Wurm vor, der sich durch die Jahre zieht, das eine Ende im Mutterleib, das andere Ende im Grab. Es geht weiter als nur bis zu uns hier und zu dem Querschnitt, den wir als Einzelkörper sehen. Der Einzelkörper ist eine Illusion. Der rosa Wurm hat eine physische Kontinuität durch die Jahre. Tatsächlich gilt diese physische Kontinuität für die ganze Rasse, denn diese rosa Würmer zweigen von anderen rosa Würmern ab. So gesehen ist die Rasse wie eine Schlingpflanze, deren Zweige sich verflechten und neue Triebe aussenden. Nur indem wir Querschnitte durch die Schlingpflanze machen, kommen wir zu der irrtümlichen Annahme, die kleinen Triebe seien Individuen.«

Er machte eine Pause und sah von einem Gesicht zum anderen. Einer der Reporter, ein halsstarriger, abgebrühter Typ, bemerkte:

»Das ist ja alles schön und gut, Pinero, aber wohin bringt Sie das?«

Pinero bedachte ihn mit einem Lächeln ohne Groll. »Geduld, mein Freund! Ich habe Sie gebeten, sich das Leben als ein elektrisches Phänomen vorzustellen. Jetzt denken Sie sich unseren langen rosa Wurm als Leiter der Elektrizität. Sie haben vielleicht davon gehört, dass Elektroingenieure die genaue Lage einer Bruchstelle in einem transatlantischen Kabel feststellen können, ohne die Küste zu verlassen. Ich tue dasselbe mit unseren rosa Würmern. Indem ich meine Instrumente an den Querschnitt hier in diesem Raum lege, kann ich sagen, wo der Bruch stattfindet, das heißt, wann der Tod eintritt. Wenn Sie möchten, kann ich die Richtung auch umkehren und Ihnen das Datum Ihrer Geburt nennen. Aber das ist uninteressant; Sie kennen es bereits.«

Das hartnäckige Individuum höhnte: »Jetzt habe ich Sie, Doc. Wenn es stimmt, dass die Rasse sozusagen ein Schlinggewächs aus rosa Würmern darstellt, wie Sie sagten, können Sie Geburtstage nicht erkennen, weil das Individuum über die Geburt hinaus mit der Rasse verbunden ist. Ihr elektrischer Leiter reicht durch die Mutter bis zu den entferntesten Vorfahren eines Menschen zurück.«

Pinero strahlte. »Eine richtige und sehr kluge Bemerkung, mein Freund. Aber Sie haben die Analogie zu weit getrieben. Es wird nicht auf genau dieselbe Art gemacht, wie man die Länge eines elektrischen Leiters misst. In mancher Beziehung ist es eher so, als messe man einen langen Korridor, indem man vom hinteren Ende ein Echo zurückschallen lässt. Bei der Geburt erfährt der Korridor so etwas wie eine Krümmung, und durch geeignete Kalibrierungen kann ich das von dieser Krümmung zurückgeworfene Echo entdecken. Es gibt nur einen Fall, in dem ich kein eindeutiges Ergebnis erhalte: Wenn eine Frau ein Kind erwartet, kann ich ihre Lebenslinie nicht von der des ungeborenen Kindes trennen.«

»Beweisen Sie es uns!«

»Gern, mein lieber Freund. Möchten Sie die Testperson sein?«

Einer der anderen rief dazwischen: »Du hast es herausgefordert, Luke. Mach jetzt mit, oder halt den Mund!«

»Ich bin einverstanden. Was soll ich tun?«

»Zuerst schreiben Sie Ihr Geburtsdatum auf ein Blatt Papier und geben es einem Ihrer Kollegen.«

Luke tat es. »Und nun?«

»Legen Sie Ihre Oberbekleidung ab, und treten Sie auf diese Waage. Sagen Sie mir, waren Sie jemals viel dünner oder viel dicker als heute? Nein? Was haben Sie bei Ihrer Geburt gewogen? Zehn Pfund? Ein strammer Junge! So groß sind die Babys heutzutage nicht mehr.«

»Was soll all dieser Unsinn?«

»Ich versuche, den durchschnittlichen Querschnitt Ihres langen rosa Stromleiters zu schätzen, mein lieber Luke. Setzen Sie sich hierhin! Nehmen Sie diese Elektrode in den Mund! Nein, es wird Ihnen nicht schaden, die Spannung ist ganz niedrig, weniger als ein Mikrovolt, aber ich muss eine gute Verbindung haben.« Der Doktor verließ ihn und ging hinter den Apparat, wo er eine Haube auf seinen Kopf niedersenkte und die Kontrollen berührte. Bald erwachten einige der sichtbaren Skalen zum Leben. Die Maschine gab ein leises Summen von sich. Das hörte auf, und der Doktor schoss aus seinem Versteck hervor.

»Ich bekomme einen Tag im Februar 1912. Wer hat das Blatt mit dem Datum?«

Es wurde hervorgeholt und entfaltet. Sein Hüter las: »22. Februar 1912.«

Die Stille, die dem folgte, wurde durch eine Stimme vom Rand der kleinen Gruppe gebrochen. »Doc, kann ich noch etwas zu trinken haben?«

Die Spannung ließ nach; mehrere sprachen gleichzeitig. »Versuchen Sie es bei mir, Doc!« – »Bei mir zuerst, Doc, ich bin Waise und wollte es schon immer wissen.« – »Wie ist es, Doc, können Sie uns nicht allen ein bisschen was prophezeien?«

Lächelnd erfüllte er diesen Wunsch, verschwand unter der Haube und tauchte wieder hervor wie ein Wiesel aus seinem Loch. Als jeder zwei Papierstreifen besaß, die die Fertigkeit des Doktors bewiesen, herrschte von Neuem lange Zeit Schweigen. Dann meinte Luke:

»Wollen Sie uns nun auch zeigen, wie Sie den Tod vorhersagen, Pinero?«

»Wenn Sie es wünschen. Wer meldet sich freiwillig?«

Niemand antwortete. Luke wurde nach vorn geschubst. »Mach schon, Schlaukopf! Du hast es ja wissen wollen.« Luke ließ es zu, dass man ihn auf den Stuhl setzte. Pinero änderte ein paar Einstellungen und verkroch sich unter die Haube. Als das Summen aufhörte, kam er heraus und rieb sich vergnügt die Hände.

»Nun, mehr gibt es nicht zu sehen, Jungs. Habt ihr genug für eine Story?«

»He, was ist mit der Vorhersage? Wann wird der Schlusspunkt für Luke gesetzt?«

Luke sah ihn an. »Ja, was ist damit? Wie lautet Ihre Antwort?«

Pinero verzog schmerzlich das Gesicht. »Gentlemen, ich wundere mich über Sie. Ich gebe diese Information gegen eine Gebühr. Außerdem ist sie vertraulich. Von mir erfährt sie nie jemand anders als der Klient, der mich konsultiert.«

»Mir macht das nichts. Los, sagen Sie es ihnen!«

»Ich bedauere außerordentlich. Ich muss mich weigern. Ich habe mich nur einverstanden erklärt, Ihnen zu zeigen, wie es geht, nicht, Ihnen die Resultate zu nennen.«

Luke trat seinen Zigarettenstummel auf dem Fußboden aus. »Es ist nichts als Schwindel, Jungs. Wahrscheinlich hat er das Alter von jedem Reporter der Stadt nachgeschlagen, um uns einseifen zu können. Darauf fallen wir nicht herein, Pinero.«

Pinero betrachtete ihn traurig. »Sind Sie verheiratet, mein Freund?«

»Nein.«

»Gibt es Menschen, die von Ihnen abhängig sind? Irgendwelche nahen Verwandten?«

»Nein. Warum? Wollen Sie mich adoptieren?«

Pinero schüttelte den Kopf. »Es tut mir sehr leid für Sie, mein lieber Luke. Sie werden noch vor morgen sterben.«

»WISSENSCHAFTLERTREFFEN ENDET MIT AUFSTAND«

»SEHER BEZEICHNET WISSENSCHAFTLER ALS EINFALTSPINSEL«

»DER TOD STICHT DIE KONTROLLUHR«

»REPORTER STIRBT, WIE VON DOC VORHERGESAGT«

»›SCHWINDEL‹ BESIEGT WISSENSCHAFT«

»… innerhalb von zwanzig Minuten nach Pineros seltsamer Prophezeiung wurde Timons von einem fallenden Schild erschlagen, als er den Broadway hinunter zur Redaktion des Daily Herald ging, wo er beschäftigt war.

Dr. Pinero lehnt einen Kommentar ab, bestätigt aber, er habe Timons seinen Tod mittels seines sogenannten Chronovitameters vorhergesagt. Polizeichef Roy …«

ERKLÄRUNG

Ich, John Cabot Winthrop III., von der Kanzlei Winthrop, Winthrop, Ditmars & Winthrop, Rechtsanwälte, bestätige hiermit, dass Hugo Pinero, hier ansässig, mir zehntausend Dollar in gültiger Währung der Vereinigten Staaten übergeben und mich beauftragt hat, diese Summe bei einer Bank meiner Wahl unter folgenden Bedingungen zu hinterlegen:

Die gesamte Summe soll dem ersten Klienten ausgezahlt werden und in sein Eigentum übergehen, der seine von Hugo Pinero und/oder Sand der Zeit, Inc. vorhergesagte Lebensspanne um ein Prozent überzieht, beziehungsweise dem Nachlass des ersten Klienten zugeschlagen werden, der das vorhergesagte Datum ebenfalls um ein Prozent nicht erreicht, je nachdem, welches Ereignis als Erstes stattfindet.

Ich bestätige ferner, dass ich diese Summe am heutigen Tag bei der First National Bank dieser Stadt mit den erwähnten Anweisungen hinterlegt habe.

Unterschrieben und beschworen:

John Cabot Winthrop III.

An diesem 2. Tag des April 1951

vor mir unterschrieben und beschworen.

                            Albert M. Swanson

öffentlicher Notar für dieses

County und diesen Staat

Meine Zulassung gilt bis 17. Juni 1951.

»Guten Abend, liebe Hörerinnen und Hörer, was gibt es Neues? Hugo Pinero, der Wundermann aus Nirgendwo, hat seine tausendste Todesvorhersage gemacht, ohne dass jemand auf die für den Fall eines Irrtums hinterlegte Summe hat Anspruch erheben können. Da dreizehn seiner Klienten bereits tot sind, besteht eine mathematische Sicherheit, dass er eine private Leitung zu dem alten Mann mit der Sense hat. Ich möchte das ja gar nicht wissen, bevor es geschieht. Ihr ›Korrespondent von Küste zu Küste‹ wird nie Klient von Prophet Pinero werden …«

Der wässerige Bariton des Richters durchschnitt die muffige Luft des Gerichtssaals. »Bitte, Mr. Weems, kommen wir zum Thema zurück. Dieses Gericht hat Ihrem Antrag auf eine einstweilige Verfügung stattgegeben, und jetzt wollen Sie, dass sie in ein dauerhaftes Verbot umgewandelt werde. Mr. Pinero macht dagegen geltend, Sie hätten keinen Anlass gehabt, und beantragt, dass die einstweilige Verfügung aufgehoben werde und ich Ihrem Mandanten weitere Versuche untersage, sich in das einzumischen, was Pinero als einen legalen Geschäftsbetrieb beschreibt. Da Sie sich nicht an eine Jury wenden, wollen Sie bitte die Rhetorik weglassen und mir in einfachen Worten mitteilen, warum ich seinem Antrag nicht stattgeben soll.«

Mr. Weems ruckte nervös mit seinem Kinn, sodass seine wabbelige graue Wamme sich über seinen hohen steifen Kragen schob, und setzte von Neuem an:

»Wenn es dem ehrenwerten Gericht genehm ist, ich vertrete die Öffentlichkeit …«

»Einen Augenblick. Ich dachte, Sie seien für die Amalgamated Lebensversicherung erschienen.«

»Das bin ich, Euer Ehren, im formalen Sinn. Im weiteren Sinn vertrete ich auch verschiedene andere große Versicherungen, Treuhandgesellschaften und finanzielle Institutionen, ihre Aktionäre und Policeninhaber, die eine Mehrheit der Bürgerschaft bilden. Außerdem sind wir der Meinung, dass wir die Interessen der gesamten Bevölkerung wahrnehmen, die ohne Organisation, ohne Stimme und deswegen ohne Schutz ist.«

»Ich habe geglaubt, dass ich die Öffentlichkeit vertrete«, bemerkte der Richter trocken. »Tut mir leid, ich kann Sie nur als Vertreter Ihrer in den Akten genannten Mandantin anerkennen. Aber fahren Sie fort! Wie lautet Ihr Postulat?«

Der ältere Rechtsanwalt versuchte, seinen Adamsapfel zu verschlucken, und begann von Neuem. »Euer Ehren, wir behaupten, dass es zwei voneinander getrennte Gründe dafür gibt, warum diese einstweilige Verfügung zu einem dauerhaften Verbot gemacht werden sollte, und dass jeder dieser beiden Gründe allein genügen würde. Erstens praktiziert dieser Mann Wahrsagerei, eine Beschäftigung, die das geschriebene wie das überlieferte Recht verbietet. Er ist nichts als ein vagabundierender Scharlatan, der sich die Leichtgläubigkeit der Leute zunutze macht. Schlauer als der gewöhnliche Zigeuner, der aus der Hand liest, der Astrologe oder Tischrücker, ist er umso gefährlicher. Er behauptet fälschlicherweise, moderne wissenschaftliche Methoden anzuwenden, um seiner Thaumaturgie eine unechte Würde zu verleihen. Wir haben hier im Gerichtssaal führende Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, die als Sachverständige die Absurdität seiner Ansprüche bezeugen können.

Zweitens, auch einmal angenommen, die Ansprüche dieses Mannes bestünden zu Recht …« – Mr. Weems gestattete sich ein schmallippiges Lächeln –, »behaupten wir, dass seine Tätigkeit dem öffentlichen Interesse im Allgemeinen oder meiner Mandantin im Besonderen schadet. Wir können zahlreiche Beweisstücke beibringen, dass dieser Mann Äußerungen veröffentlicht hat oder veröffentlichen hat lassen, in denen er die Bürger drängt, auf den unbezahlbaren Segen einer Lebensversicherung zu verzichten, was großen Nachteil für ihr Wohlergehen und finanziellen Schaden für meine Mandantin bedeutet.«

Pinero erhob sich von seinem Platz. »Euer Ehren, darf ich ein paar Worte sagen?«

»Um was geht es?«

»Ich glaube, es würde die Sache vereinfachen, wenn Sie mir eine kurze Analyse erlaubten.«

»Euer Ehren«, fiel Weems ein, »das ist höchst irregulär!«

»Geduld, Mr. Weems. Ihre Interessen werden geschützt werden. Mir scheint, dass wir in dieser Angelegenheit mehr Licht und weniger Lärm brauchen. Wenn Dr. Pinero fähig ist, die Verhandlung abzukürzen, indem er in diesem Augenblick spricht, bin ich geneigt, ihn sprechen zu lassen. Bitte, Dr. Pinero.«

»Ich danke Ihnen, Euer Ehren. Den von Mr. Weems zuletzt erwähnten Punkt als Ersten aufgreifend, gebe ich gern zu, dass ich derartige Äußerungen veröffentlicht habe …«

»Einen Augenblick, Doktor. Sie haben sich dafür entschieden, als Ihr eigener Anwalt aufzutreten. Sind Sie sicher, dass Sie kompetent sind, Ihre eigenen Interessen zu schützen?«

»Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen, Euer Ehren. Unsere Freunde hier können leicht beweisen, was ich sage.«

»Nun gut. Fahren Sie fort!«

»Ich räume ein, dass, als Folge davon, viele Personen Lebensversicherungen gekündigt haben, aber ich fordere sie auf zu bezeugen, ob irgendjemand dadurch einen Verlust oder Schaden erlitten hat. Es ist wahr, dass der Amalgamated Lebensversicherung durch meine Tätigkeit Geschäfte entgangen sind, aber das ist das natürliche Ergebnis meiner Entdeckung, durch die ihre Policen heute so überholt sind wie Pfeil und Bogen. Sollte ich auf dieser Grundlage Berufsverbot erhalten, werde ich eine Petroleumlampenfabrik gründen und dann Edison und General Electric verbieten lassen, Glühbirnen zu fabrizieren.

Ja, ich betreibe das Geschäft, den Tod vorherzusagen, aber ich leugne, dass ich Magie, sei es schwarze, weiße oder regenbogenfarbene, praktiziere. Wenn es illegal ist, Vorhersagen mit wissenschaftlich akkuraten Methoden zu treffen, dann machen sich die Versicherungsmathematiker der Amalgamated seit Jahren schuldig, indem sie den genauen Prozentsatz in jeder gegebenen großen Gruppe vorhersagen, der pro Jahr sterben wird. Ich sage den Tod en détail voraus, die Amalgamated sagt ihn en gros voraus. Wenn ihre Tätigkeit legal ist, wie kann dann meine illegal sein?

Sicher macht es einen Unterschied, ob ich tun kann, was ich behaupte, oder nicht, und die sogenannten Sachverständigen von der Akademie der Wissenschaften werden bezeugen, ich könne es nicht. Aber sie wissen nichts über meine Methoden und sind deshalb auch nicht imstande, sich sachverständig darüber zu äußern …«

»Einen Augenblick, Doktor! Mr. Weems, stimmt es, dass Ihre Sachverständigen mit Dr. Pineros Theorie und Methoden nicht vertraut sind?«

Mr. Weems blickte besorgt drein. Er trommelte auf der Tischplatte herum, dann antwortete er: »Gestattet das Gericht mir eine kurze Beratung?«

»Gewiss.«

Mr. Weems hielt im Flüsterton eine hastige Konferenz mit seinen Kohorten ab. Dann wandte er sich wieder dem Richter zu. »Wir möchten einen Vorschlag machen, Euer Ehren. Wenn Dr. Pinero den Zeugenstand betreten und die Theorie und Praxis seiner angeblichen Methoden darlegen will, werden diese ehrenwerten Wissenschaftler in der Lage sein, die Gültigkeit seiner Ansprüche zu bezeugen.«

Der Richter sah Pinero fragend an, der erwiderte: »Ich würde das nicht gern tun. Ob mein Verfahren richtig oder falsch ist – es wäre gefährlich, es in die Hände von Narren und Quacksalbern fallen zu lassen …« – er schwenkte die Hand in Richtung der Gruppe von Professoren, die in der ersten Reihe saßen, und lächelte maliziös –, »wie diese Herren recht gut wissen. Außerdem ist es nicht notwendig, das Verfahren zu kennen, um zu beweisen, dass es funktioniert. Ist es notwendig, das komplexe Wunder biologischer Reproduktion zu verstehen, um festzustellen, dass eine Henne Eier legt? Ist es notwendig, dass ich diese ganze Gesellschaft von selbst ernannten Hütern der Weisheit umerziehe – sie von ihrem eingewurzelten Aberglauben heile –, um zu beweisen, dass meine Vorhersagen korrekt sind? Es gibt nur zwei Wege, sich ein Urteil zu bilden, den wissenschaftlichen und den scholastischen. Man kann Schlüsse aus Experimenten ziehen, oder man kann blindlings die Meinung der Autoritäten übernehmen. Für den wissenschaftlichen Verstand ist der experimentelle Beweis von höchster Bedeutung und die Theorie nur eine aus Gründen der Bequemlichkeit aufgestellte Beschreibung, die man aufgibt, wenn sie nicht länger passt. Für den akademischen Verstand ist Autorität alles, und Fakten werden verbogen, wenn sie nicht in die Theorie der Autorität passen.

Die Tatsache, dass der akademische Verstand sich wie eine Auster an eine widerlegte Theorie klammert, hat jeden Fortschritt in der Geschichte blockiert. Ich bin bereit, meine Methode experimentell zu beweisen, und wie Galilei vor einem anderen Gericht bestehe ich darauf: ›Und sie bewegt sich doch!‹

Schon einmal habe ich dieser selben Gruppe von sogenannten Sachverständigen einen solchen Beweis angeboten, und sie haben ihn abgelehnt. Ich erneuere mein Angebot. Lassen Sie mich die Lebensspannen der Herren messen, die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sind. Lassen Sie sie ein Komitee bilden, das die Ergebnisse beurteilen soll. Ich werde die Daten, die ich feststelle, in zwei Reihen von Umschlägen einsiegeln. Bei der einen Reihe wird außen auf jedem Umschlag der Name eines Mitglieds stehen, innen das Datum seines Todes. Bei der zweiten Reihe werde ich Zettel mit den Namen in die Umschläge stecken und das Todesdatum auf den jeweiligen Umschlag schreiben. Das Komitee kann ja die Umschläge in einen Safe legen und sich von Zeit zu Zeit treffen, um die entsprechenden Umschläge zu öffnen. In einer so großen Gruppe sind einige Todesfälle zu erwarten – falls man den Statistikern der Amalgamated trauen kann, alle ein bis zwei Wochen einer. Auf diese Weise werden sich sehr schnell Daten anhäufen, die beweisen, ob Pinero ein Lügner ist oder nicht.«

Er hielt inne und drückte seine kleine Brust heraus, bis sie beinahe so weit vorstand wie sein rundes Bäuchlein. Mit funkelnden Blicken maß er die schwitzenden Gelehrten. »Nun?«

Der Richter hob die Augenbrauen und fing Mr. Weems’ Blick ein. »Nehmen Sie an?«

»Euer Ehren, ich halte diesen Vorschlag für höchst unschicklich …«

Der Richter schnitt ihm das Wort ab. »Ich warne Sie, dass ich gegen Sie entscheiden werde, wenn Sie den Vorschlag nicht akzeptieren oder eine ebenso vernünftige Methode, die Wahrheit zu finden, zur Wahl stellen.«

Weems öffnete den Mund, überlegte es sich anders, ließ seinen Blick von einem der gelehrten Zeugen zum anderen wandern und richtete ihn dann auf den Richter. »Wir akzeptieren, Euer Ehren.«

»Sehr gut. Machen Sie die Einzelheiten unter sich aus. Die einstweilige Verfügung ist aufgehoben, und Dr. Pinero darf in der Ausübung seines Berufes nicht belästigt werden. Die Entscheidung des Antrags auf ein Dauerverbot wird zurückgestellt, bis genügend Beweismaterial gesammelt worden ist. Bevor wir dieses Thema verlassen, möchte ich eine Bemerkung zu der Theorie machen, die Sie, Mr. Weems, aufstellten, als Sie behaupteten, Ihre Mandantin sei geschädigt worden. Bei bestimmten Gruppen in diesem Land hat sich die Vorstellung entwickelt, wenn ein Mann oder eine Firma für eine Reihe von Jahren Gewinn aus einem Geschäftsbetrieb gezogen habe, hätten die Regierung und die Gerichte die Pflicht, einen solchen Gewinn für die Zukunft zu garantieren, auch wenn sich die Umstände und das öffentliche Interesse ändern. Diese merkwürdige Doktrin wird weder vom geschriebenen noch vom überlieferten Recht gestützt. Weder Einzelpersonen noch Gesellschaften steht das Recht zu, vor Gericht zu gehen und zu verlangen, dass die Uhr der Geschichte zu ihrem privaten Nutzen angehalten oder zurückgestellt werde. Das ist alles.«

Bidwell grunzte verärgert. »Weems, wenn Sie nicht fähig sind, sich etwas Besseres als das einfallen zu lassen, braucht die Amalgamated einen neuen Anwalt. Jetzt ist es zehn Wochen her, dass die einstweilige Verfügung aufgehoben worden ist, und dieser kleine Pfannkuchen scheffelt das Geld nur so. In der Zwischenzeit steuert jede Versicherung des Landes dem Konkurs entgegen. Hoskins, wie hoch sind unsere Verlustquoten?«

»Das ist schwer zu sagen, Mr. Bidwell. Es wird jeden Tag schlimmer. Diese Woche haben wir dreizehn hohe Summen ausgezahlt, und die Policen sind alle erst ausgestellt worden, nachdem Pinero zu arbeiten begann.«

Ein mickriges Männchen ergriff das Wort. »Wir von United versichern niemanden mehr, solange wir uns nicht überzeugt haben, dass der Antragsteller Pinero nicht konsultiert hat. Können wir es uns nicht leisten zu warten, bis die Wissenschaftler ihn als Betrüger entlarven?«

Bidwell schnaubte. »Sie verdammter Optimist! Sie werden ihn nicht entlarven. Aldrich, können Sie einer Tatsache nicht ins Gesicht sehen? Der fette kleine Mops kann es tatsächlich, nur weiß ich nicht, wie er es macht. Das ist ein Kampf bis aufs Messer. Wenn wir warten, sind wir verloren.« Er warf seine Zigarre in einen Spucknapf und biss wild in eine neue. »Verschwinden Sie hier, Sie alle! Ich werde das auf meine Art erledigen. Sie auch, Aldrich. United mag bereit sein zu warten, die Amalgamated ist es nicht.«

Weems räusperte sich besorgt. »Mr. Bidwell, Sie werden mich doch sicher konsultieren, bevor Sie einen Kurswechsel in der Firmenpolitik vornehmen?«

Bidwell grunzte. Alle gingen. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, drückte Bidwell den Schalter der Gegensprechanlage. »Okay, schicken Sie ihn herein!«

Die äußere Tür öffnete sich. Eine schmächtige, elegante Gestalt blieb für einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Seine kleinen dunklen Augen fuhren rasch im Raum umher, bevor er ihn betrat. Mit schnellen, leisen Schritten ging er auf Bidwell zu. Er sprach mit einer flachen Stimme. Sein Gesicht blieb ausdruckslos bis auf die wachsamen Tieraugen. »Sie wollten mich sprechen?«

»Ja.«

»Wie lautet das Angebot?«

»Setzen Sie sich, dann werden wir darüber reden.«

Pinero nahm das junge Paar an der Tür seines Privatbüros in Empfang.

»Kommen Sie herein, meine Lieben, kommen Sie. Setzen Sie sich! Fühlen Sie sich wie zu Hause. Jetzt sagen Sie mir, was Sie von Pinero wollen. So junge Leute machen sich doch sicher noch keine Gedanken über den Letzten Aufruf?«

Das ehrliche Gesicht des jungen Mannes zeigte leichte Verwirrung. »Sehen Sie, Dr. Pinero, ich bin Ed Hartley, und das ist meine Frau Betty. Wir erwarten – das heißt, Betty erwartet ein Baby, und … nun …«

Pinero lächelte wohlwollend. »Ich verstehe. Sie möchten wissen, wie lange Sie leben werden, damit Sie die bestmögliche Vorsorge für den Nachwuchs treffen können. Sehr weise. Soll ich das Datum nur für Sie feststellen oder für Sie beide?«

Die junge Frau antwortete: »Für uns beide, meinen wir.«

Pinero strahlte sie an. »Recht so! Ich pflichte Ihnen bei. In Ihrem Fall bestehen zurzeit gewisse technische Schwierigkeiten, aber ich kann Ihnen ein paar Informationen jetzt geben und weitere, wenn das Kind da ist. Nun kommen Sie in mein Laboratorium, meine Lieben, und wir werden gleich anfangen.« Er ließ sich von seiner Sekretärin die Krankengeschichten bringen und führte das junge Paar dann in seine Räumlichkeiten. »Mrs. Hartley zuerst, bitte. Würden Sie hinter diesen Schirm treten und Ihre Schuhe und Ihre Oberbekleidung ablegen? Denken Sie daran, ich bin ein alter Mann, den Sie konsultieren, wie Sie es bei einem Arzt tun würden.«

Er wandte sich ab und nahm ein paar kleinere Einstellungsveränderungen an seinem Apparat vor. Ed nickte seiner Frau zu, die hinter den Schirm schlüpfte und fast sofort wieder erschien, gekleidet in zwei Streifchen Seide. Pinero blickte auf und sah, wie jung, frisch und hübsch sie war und so rührend in ihrer Schüchternheit.

»Hier entlang, meine Liebe! Zuerst müssen wir Sie wiegen. Da. Stellen Sie sich auf die Waage! Nehmen Sie die Elektrode in den Mund! Nein, Ed, Sie dürfen Ihre Frau nicht berühren, während sie an den Stromkreis angeschlossen ist. Es wird keine Minute dauern. Bleiben Sie ganz ruhig.«

Er tauchte unter die Haube der Maschine, und die Anzeigen erwachten zum Leben. Ganz kurz darauf kam er mit verwirrtem Gesichtsausdruck wieder hervor. »Ed, haben Sie sie berührt?«

»Nein, Doktor.« Pinero verschwand wieder und blieb ein bisschen länger. Dann sagte er der jungen Frau, sie solle von der Waage heruntersteigen und sich anziehen.

»Ed, machen Sie sich jetzt fertig«, sagte er zu ihrem Mann.

»Welches genaue Datum haben Sie bei Betty festgestellt, Doktor?«

»Es gibt da eine kleine Schwierigkeit. Ich möchte zuerst Sie noch testen.«

Er nahm die Messungen bei dem jungen Mann vor, und sein Gesicht wirkte noch beunruhigter als zuvor. Ed erkundigte sich, ob es Probleme gebe. Pinero zuckte die Achseln und zwang ein Lächeln auf seine Lippen.

»Es hat nichts mit Ihnen zu tun, mein Junge. Ich vermute, es ist ein kleiner mechanischer Fehler in der Einstellung. Aber ich kann Ihnen beiden Ihre Daten heute nicht mehr geben. Erst muss ich meine Maschine überholen. Können Sie morgen wiederkommen?«

»Ich denke doch. Das tut mir aber leid mit Ihrer Maschine. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«

»Bestimmt nicht. Haben Sie Lust, sich noch ein bisschen in meinem Büro mit mir zu unterhalten?«

»Danke, gern, Doktor. Sie sind sehr freundlich.«

»Aber Ed, ich habe mich mit Ellen verabredet«, wandte die junge Frau ein.

Pinero richtete die volle Gewalt seiner Persönlichkeit auf sie. »Wollen Sie mir nicht ein paar Augenblicke schenken, meine liebe junge Dame? Ich bin alt und liebe die anregende Gesellschaft junger Leute. Ich kann sie gar zu selten genießen. Bitte.« Er drängte sie sacht in sein Büro und bat sie, sich zu setzen. Dann ließ er Limonade und Kekse hereinbringen, bot ihnen Zigaretten an und entzündete für sich eine Zigarre.

Der Doktor begann von den Abenteuern zu erzählen, die er als junger Mann in Tierra del Fuego erlebt hatte. Vierzig Minuten später hörte Ed hingerissen zu, während Betty ganz offensichtlich auf Nadeln saß und gehen wollte. Als der Doktor eine Pause machte, um seine Zigarre wieder anzuzünden, stand sie auf.

»Doktor, wir müssen wirklich gehen. Können Sie uns den Rest nicht morgen erzählen?«

»Morgen? Morgen wird keine Zeit sein.«

»Aber Sie haben doch heute auch keine Zeit. Ihre Sekretärin hat schon fünfmal hereingesehen.«

»Können Sie nicht noch ein paar Minuten für mich erübrigen?«

»Es geht heute nicht, Doktor. Ich habe eine Verabredung. Es wartet jemand auf mich.«

»Gibt es keine Möglichkeit, Sie zu überreden?«

»Leider nein. Komm, Ed!«

Sie waren fort. Der Doktor ging ans Fenster und blickte über die Stadt hin. Er entdeckte zwei winzige Gestalten, die das Bürogebäude verließen. Sie eilten zur Ecke, warteten, dass die Ampel umsprang, und begannen, die Straße zu überqueren. Als sie ungefähr in der Mitte waren, hörte man das Gellen einer Sirene. Die beiden kleinen Gestalten zögerten, wichen zurück, blieben stehen, drehten sich um. Dann war der Wagen über ihnen. Er bremste scharf, und nun sah man sie wieder, keine zwei Gestalten mehr, sondern ein einziger schlaffer, formloser Kleiderhaufen.

Der Doktor wandte sich vom Fenster ab. Dann sagte er über die Gegensprechanlage zu seiner Sekretärin:

»Sagen Sie meine Termine für den Rest des Tages ab … Nein … Nicht eine … Das ist mir gleichgültig; sagen Sie sie ab.«

Er setzte sich auf seinen Stuhl. Seine Zigarre ging aus. Lange nach Dunkelwerden hielt er sie immer noch unangezündet in der Hand.

Pinero setzte sich an seinen Esstisch und betrachtete die vor ihm ausgebreitete Gourmet-Mahlzeit. Er hatte sie mit besonderer Sorgfalt bestellt und war ein bisschen früher nach Hause gekommen, um sie voll zu genießen.

Etwas später ließ er ein paar Tropfen Fiori d’Alpini um seine Zunge rollen und die Kehle hinunterrinnen. Der schwere, duftende Likör wärmte seinen Mund und erinnerte ihn an die kleinen Bergblumen, von denen er seinen Namen hatte. Er seufzte. Es war ein gutes Essen gewesen, ein exquisites Essen, und rechtfertigte das exotische Getränk. Sein Sinnen wurde von einer Störung an der Eingangstür unterbrochen. Die Stimme seiner Hausangestellten, einer älteren Frau, hob sich vorwurfsvoll. Eine kräftige Männerstimme unterbrach sie.

Der Aufruhr tobte den Flur hinunter. Die Tür des Speisezimmers flog auf.

»Madonna! Non si puo entrare! Der Meister speist!«

»Lassen Sie nur, Angela! Ich habe Zeit, die Herren zu empfangen. Sie können gehen.« Pinero richtete den Blick auf den grimmig wirkenden Sprecher der Eindringlinge. »Sie haben ein Geschäft mit mir, ja?«

»Darauf können Sie wetten. Anständige Leute haben mittlerweile genug von Ihrem verdammten Unsinn.«

»Und?«

Der Sprecher antwortete nicht sofort. Ein kleines, elegantes Individuum trat von hinten vor und stellte sich Pinero gegenüber.

»Wir könnten eigentlich anfangen.« Der Vorsitzende des Komitees steckte einen Schlüssel in die Kassette und öffnete sie »Wenzell, wollen Sie mir helfen, die Umschläge von heute herauszusuchen?« Er wurde unterbrochen. Jemand berührte seinen Arm.

»Dr. Baird, Sie werden am Telefon verlangt.«

»Gut. Bringen Sie den Apparat her!«

Der Apparat wurde gebracht, und Dr. Baird hielt den Hörer ans Ohr. »Hallo … Ja, am Apparat … Was … Nein, wir haben nichts gehört … Die Maschine vernichtet, sagen Sie … Tot! Wie? … Nein! Nein! Kein Kommentar … Rufen Sie mich später wieder an …«

Er knallte den Hörer hin und schob das Telefon von sich.

»Was ist los? – Wer ist gestorben?«

Baird hob die Hand. »Ruhe, meine Herren, bitte! Pinero ist vor ein paar Augenblicken in seiner Wohnung ermordet worden.«

»Ermordet?«

»Das ist noch nicht alles. Zur gleichen Zeit sind Vandalen in sein Büro eingebrochen und haben seine Apparatur zerschmettert.«

Die Komitee-Mitglieder sahen sich gegenseitig an. Keiner schien als Erster einen Kommentar abgeben zu wollen.

Schließlich sagte jemand: »Holen Sie ihn heraus!«

»Was denn?«

»Pineros Umschlag. Es ist auch für ihn einer dabei. Das habe ich gesehen.«

Baird fand ihn und riss ihn langsam auf. Er faltete das darin steckende Blatt Papier auseinander und las es.

»Nun? Reden Sie schon!«

»Dreizehn Uhr dreizehn – am heutigen Tag.«

Sie nahmen es mit Schweigen auf.

Die dynamische Stille wurde gebrochen, als ein Mitglied auf der anderen Seite des Tisches nach der Kassette fasste und Baird seine Hand zurückschob.

»Was wollen Sie?«, fragte Baird.

»Meine Vorhersage – sie ist da drin – von uns allen ist eine Vorhersage da drin.«

»Ja, ja. Von uns allen. Geben Sie sie uns!«, rief es durcheinander.

Baird legte beide Hände über die Kassette. Er hielt den Blick des Mannes ihm gegenüber fest, ohne etwas zu sagen. Er leckte sich die Lippen. Seine Mundwinkel zuckten. Seine Hände zitterten. Immer noch sagte er nichts. Der andere Mann entspannte sich.

»Natürlich haben Sie recht«, sagte er.

»Bringen Sie mir den Papierkorb da!« Bairds Stimme klang leise und angestrengt, aber fest.

Er nahm den Papierkorb und kippte seinen Inhalt auf den Teppich. Er stellte den Zinn-Eimer vor sich auf den Tisch. Er riss ein halbes Dutzend Umschläge in der Mitte durch, hielt ein Streichholz daran und ließ sie in den Eimer fallen. Danach zerriss er jeweils zwei Hände voll und nährte damit die Flammen. Von dem Rauch musste er husten, und Tränen liefen ihm aus den brennenden Augen. Jemand stand auf und öffnete ein Fenster. Als Baird fertig war, schob er den Eimer zurück, sah nach unten und bemerkte:

»Ich fürchte, ich habe diese Tischplatte ruiniert.«

DIE STRASSEN MÜSSEN ROLLEN

»Wer lässt die Straßen rollen?«

Der Sprecher auf dem Podium wartete auf die Antworten der Zuhörerschaft. Sie kamen in einzelnen Schreien, die das unheilverkündende, unzufriedene Murmeln der Menge durchschnitten.

»Wir!« – »Wir!« – »Verdammt richtig!«

»Wer tut die schmutzige Arbeit ›unten drin‹ – damit Herr Jedermann herumreisen kann, wie er Lust hat?«

Diesmal war es ein einziges Aufbrüllen. »Wir!«

Der Sprecher nutzte seinen Vorteil. Seine Worte überstürzten sich in einem rasselnden Strom. Er beugte sich zu der Menge vor, seine Augen sonderten Einzelpersonen aus, denen er seine Fragen und Antworten entgegenschleuderte. »Was hält Handel und Wandel in Gang? Die Straßen! Wie befördern sie die Lebensmittel, die sie essen? Auf den Straßen! Wie kommen sie zur Arbeit? Auf den Straßen! Wie kommen sie wieder nach Hause zu ihren Frauen? Auf den Straßen!« Er machte eine auf Wirkung berechnete Pause. Dann senkte er die Stimme. »Wo wären die Leute, wenn ihr die Straßen nicht am Rollen hieltet? – Sie säßen in der Klemme, und das wissen sie alle. Aber wissen sie uns Dank dafür? Pfui! Haben wir zu viel verlangt? Waren unsere Forderungen unvernünftig? ›Das Recht, zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu kündigen.‹ Das hat in anderen Branchen jeder Arbeitnehmer. ›Die gleiche Bezahlung wie die Ingenieure.‹ Warum nicht? Wer sind hier die eigentlichen Ingenieure? Muss man ein Kadett mit einem komischen Hütchen auf dem Kopf sein, bevor man lernen kann, wie man ein Lager reinigt oder einen Rotor abstellt? Wer verdient sein Geld auf ehrlichere Weise, die ›Gentlemen‹ in den Kontrollbüros oder die Männer ›unten drin‹? Was verlangen wir sonst noch? ›Das Recht, unsere Ingenieure selbst zu wählen.‹ Warum nicht, zum Teufel? Wer ist fähig, Ingenieure auszusuchen? Die Techniker – oder die Mitglieder irgendeines verdammten blöden Prüfungsausschusses, die niemals ›unten drin‹ gewesen sind und ein Rotorlager nicht von einer Feldspule unterscheiden können?«

Mit angeborenem Geschick wechselte er die Gangart und senkte die Stimme noch mehr. »Ich sage euch, Brüder, es ist Zeit, dass wir aufhören, mit Petitionen an die Transportkommission herumzuspielen. Stattdessen müssen wir Taten sprechen lassen. Sollen sie doch über Demokratie quatschen, das ist nichts als Augenwischerei – wir haben die Macht, und wir sind die Männer, auf die es ankommt!«

Inzwischen war ein Mann hinten im Saal aufgestanden. Als der Redner schwieg, fragte er: »Bruder Vorsitzender, darf ich ein paar Worte einflechten?«

»Du hast das Wort, Bruder Harvey.«

»Ich möchte fragen: Was soll die ganze Aufregung? Wir haben den höchsten Stundenlohn aller Mechanikergilden, umfassenden Versicherungsschutz, eine sichere Rente und eine ungefährliche Arbeit, ausgenommen die Möglichkeit, taub zu werden.« Er schob sich den Anti-Lärm-Helm weiter von den Ohren zurück. Offensichtlich kam er gerade von der Schicht, denn er trug noch seinen Arbeitsanzug. »Natürlich müssen wir eine Kündigungsfrist von neunzig Tagen einhalten, aber, Mann, das wussten wir, als wir den Vertrag unterschrieben. Die Straßen müssen rollen – sie können nicht jedes Mal anhalten, wenn irgendein fauler Knochen seinen Job satthat.

Und jetzt erzählt uns Soapy …«, der Hammer des Vorsitzenden unterbrach ihn, »Verzeihung, ich meine Bruder Soapy, wie mächtig wir seien und dass wir Taten sprechen lassen sollten. Quatsch! Sicher, wir könnten die Straßen stillstehen und die ganze Bevölkerung darunter leiden lassen – aber das könnte auch jeder Verrückte mit einer Dose Nitroglyzerin, und er brauchte dazu nicht einmal Techniker zu sein.

Wir sind nicht die einzigen Frösche im Teich. Unsere Aufgabe ist wichtig, klar, aber wo wären wir ohne die Farmer – oder die Stahlarbeiter – oder ein Dutzend andere Berufe und Geschäftszweige?«

Er wurde von einem blässlichen, kleinen Mann unterbrochen, dessen obere Zähne vorstanden. »Einen Augenblick, Bruder Vorsitzender. Ich möchte Bruder Harvey eine Frage stellen.« Dann wandte er sich Harvey zu und fragte mit hinterhältigem Unterton: »Sprichst du für die Gilde, Bruder – oder nur für dich selbst? Vielleicht glaubst du nicht an die Gilde? Du bist nicht etwa ein …« – er hielt inne und ließ seine Augen an Harveys schlankem Körper hinauf- und hinunterwandern – »ein Schnüffler?«

Harvey betrachtete den Fragesteller, als habe er etwas Widerliches in seinem Essen entdeckt. »Sikes«, versicherte er ihm, »wenn du keine halbe Portion wärest, würde ich dir die Zähne in den Hals rammen. Ich habe geholfen, diese Gilde zu gründen. Ich war bei dem Streik im Jahr sechsundsiebzig dabei. Wo warst du damals? Bei den Streikbrechern?«

Der Vorsitzende klopfte mit seinem Hammer. »Das reicht«, sagte er. »Niemand, der auch nur ein bisschen über die Geschichte dieser Gilde weiß, bezweifelt die Loyalität von Bruder Harvey. Wir wollen mit der Tagesordnung fortfahren.« Er räusperte sich. »Normalerweise lassen wir hier keine Außenseiter sprechen, und ein paar von euch haben sich abfällig über einige der Ingenieure geäußert, unter denen wir arbeiten. Aber es gibt einen Ingenieur, dem wir immer gern zuhören, wenn er sich einmal von seinen zeitraubenden Pflichten frei machen kann. Ich glaube, der Grund ist, dass er Dreck unter den Fingernägeln hat, genau wie wir. Wie dem auch sei, das Wort hat jetzt Mr. Shorty van Kleeck …«

Von unten wurde gerufen: »Bruder van Kleeck!«

»Okay, Bruder van Kleeck, stellvertretender Chefingenieur dieser Straßenstadt.«

»Danke, Bruder Vorsitzender.« Der Gastsprecher trat mit energischem Schritt vor. Er ließ die Menge in den ausgiebigen Genuss seines Grinsens kommen und schien unter ihrem Beifall anzuschwellen. »Danke, Brüder. Ich glaube, unser Vorsitzender hat recht. Hier in der Gildenhalle des Sacramento-Sektors – oder, was das betrifft, auch in jeder anderen Gildenhalle – fühle ich mich immer wohler als im Klubhaus der Ingenieure. Diese schnöseligen jungen Ingenieur-Kadetten gehen mir auf die Nerven. Vielleicht hätte ich eins dieser schicken technischen Institute besuchen sollen, um mir den richtigen Standpunkt zuzulegen, statt von ›unten drin‹ hochzukommen.

Nun zu euren Forderungen, die die Transportkommission abgelehnt hat. – Kann ich offen sprechen?«

»Na klar, Shorty!« – »Uns kannst du vertrauen!«