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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Henrik, kannst du nicht eine Minute still sitzen?« Es kam selten vor, daß Alexander von Schoenecker einmal die Geduld verlor. Diesmal war es sein neunjähriger Sohn, der ihn so weit gebracht hatte. Seit Beginn des Mittagessens rutschte Henrik auf der Sitzfläche seines Stuhls herum und scharrte mit den Füßen. »Immer auf die Kleinen«, maulte Henrik. Er warf seiner Mutter einen um Beistand bittenden Blick zu, aber Denise dachte nicht daran, ihrem Mann in den Rücken zu fallen. »Das hat damit nicht das geringste zu tun, Henrik«, sagte Denise streng. »Du bist alt genug, um dich bei Tisch gesittet zu benehmen. Wenn die kleine Heidi so herumwackelt, dann will ich nichts sagen, aber bei dir sollte man langsam erwarten können, daß du still sitzen kannst.« »Wenn das Essen auch wieder so lange dauert«, erwiderte Henrik aufsässig. »Ich wäre schon längst fertig, wenn ich allein essen würde, Nick...« »Möchtest du gern allein essen, Sohnemann?« fragte Alexander. »Wenn du es wünscht, so kannst du ab heute abend ganz allein auf deinem Zimmer essen. Allerdings kann ich mir vorstellen, daß du das sehr bald langweilig findest.« »Henrik hat es heute ziemlich eilig«, sprang nun der sechzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker seinem Bruder bei.
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Seitenzahl: 151
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»Henrik, kannst du nicht eine Minute still sitzen?« Es kam selten vor, daß Alexander von Schoenecker einmal die Geduld verlor. Diesmal war es sein neunjähriger Sohn, der ihn so weit gebracht hatte. Seit Beginn des Mittagessens rutschte Henrik auf der Sitzfläche seines Stuhls herum und scharrte mit den Füßen.
»Immer auf die Kleinen«, maulte Henrik. Er warf seiner Mutter einen um Beistand bittenden Blick zu, aber Denise dachte nicht daran, ihrem Mann in den Rücken zu fallen.
»Das hat damit nicht das geringste zu tun, Henrik«, sagte Denise streng. »Du bist alt genug, um dich bei Tisch gesittet zu benehmen. Wenn die kleine Heidi so herumwackelt, dann will ich nichts sagen, aber bei dir sollte man langsam erwarten können, daß du still sitzen kannst.«
»Wenn das Essen auch wieder so lange dauert«, erwiderte Henrik aufsässig. »Ich wäre schon längst fertig, wenn ich allein essen würde, Nick...«
»Möchtest du gern allein essen, Sohnemann?« fragte Alexander. »Wenn du es wünscht, so kannst du ab heute abend ganz allein auf deinem Zimmer essen. Allerdings kann ich mir vorstellen, daß du das sehr bald langweilig findest.«
»Henrik hat es heute ziemlich eilig«, sprang nun der sechzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker seinem Bruder bei. »Er hat noch ein Rendezvous.«
»Genau«, sagte Henrik gedehnt. »Es ist wichtig.«
»Was für ein Rendezvous?« fragte sein Vater belustigt.
Henrik wollte nicht mit der Sprache heraus. »Ah, da kommt endlich der Nachtisch!« Er blickte zur Tür, durch die Gusti, das langjährige Hausmädchen der Familie von Schoenecker, eben mit einem Tablett gekommen war. »Pfirsiche mit Sahne!« Begeistert leckte er sich die Lippen.
»Ich denke, du hast es so eilig?« scherzte Denise. »Wenn du willst, dann kannst du gehen, ohne deinen Nachtisch zu essen.« Sie dankte Gusti mit einem Nicken, als diese eine Schale mit Pfirsichen für sie auf den Tisch stellte.
»Auf die paar Minuten kommt es auch nicht mehr an«, meinte Henrik großmütig und streckte die Hand nach einer Kompottschale aus. »Danke, Gusti!«
»Bitte, der Herr!« scherzte Gusti. »Martha läßt dir ausrichten, es sei noch genügend Nachschub in der Küche.«
»Wie ich Henrik kenne, wird er die Küche bestimmt heimsuchen.« Alexander von Schoenecker lachte. Er wartete, bis Gusti das Zimmer verlassen hatte, dann fragte er: »Also, Henrik, wolltest du uns nicht sagen, warum du es so eilig hast?«
»Ich möchte zum Campingplatz radeln«, antwortete Henrik und fügte wie zur Entschuldigung hinzu; »Pünktchen, Angelika, Vicky, Fabian und all die andern radeln auch immer zum Campingplatz. Dort ist es einfach toll!«
»Dieser Campingplatz scheint eine enorme Anziehungskraft zu haben«, meinte Alexander.
In diesem Sommer war auf einem Stück Land zwischen Sophienlust und Schoeneich ein Campingplatz angelegt worden. Alexander von Schoenecker hatte lange gezögert, bevor er seine Genehmigung dazu gegeben hatte, doch der erwartete Ärger mit den Campern war bis jetzt ausgeblieben. Es handelte sich bei ihnen durchwegs um nette Leute, die für die wenigen Urlaubswochen der Stadt entflohen waren. Es spielten weder die Transistorradios bis tief in die Nacht hinein, noch waren Rowdys angezogen worden.
»Es gibt da eine gewisse Susanne«, bemerkte Nick zwischen zwei Löffeln Kompott. Er zwinkerte seinen Eltern dabei zu.
Henrik hob drohend seine Hand. »Was ist denn schon dabei, wenn ich einmal mit der Susi spreche?« fragte er ganz herausfordernd. »Du steckst ja auch immer mit Pünktchen zusammen.«
Sieh an, nun auch Henrik, dachte Denise von Schoenecker erheitert. Laut sagte sie: »Bringe doch die Susi einmal nach Schoeneich mit, Henrik.«
»Nach Sophienlust habe ich sie schon einmal mitgenommen«, erzählte Henrik jetzt bereitwillig. »Sie ist wirklich nett. Das netteste Mädchen, das ich kenne.«
»Und ich dachte immer, du schwärmst für Vicky«, stichelte Nick.
»Ist ja gar nicht wahr!« protestierte Henrik. »Außerdem geht Vicky mit dem Harald.«
Nick wollte antworten, doch seine Mutter gebot ihm mit einem Handzeichen zu schweigen. »Es reicht«, meinte sie. »Wenn ihr noch lange so weitermacht, arten eure Sticheleien bestimmt in einen Streit aus.« Sie blickte auf Henriks leere Kompottschale. »Ich habe nichts dagegen, wenn du jetzt aufstehst.«
»Danke, Mutti!« Erleichtert sprang Henrik auf und rannte zur Tür. »Wiedersehen, bis heute abend!«
»Halt!« rief Alexander von Schoenecker.
»Was ist denn, Vati?« kam es gedehnt von Henrik.
»Was heißt bis heute abend?« fragte sein Vater. »Ich kann mich erinnern, daß du mir gestern noch hoch und heilig versprochen hast, heute um fünf Uhr Rechenübungen zu machen.«
»Das kann ich auch noch morgen vormittag machen, Vati. Es sind doch Ferien!« Ungeduldig trat Henrik von einem Fuß auf den anderen.
»Ach, und morgen vormittag heißt es dann wieder, das kann ich auch morgen machen, und so weiter und so weiter!«
»Ganz bestimmt nicht«, versprach Henrik. Er hob jetzt seine Schwurhand. »Morgen vormittag werde ich üben.«
»Ab mit dir!« sagte Alexander resignierend. Mit einem hilflosen Schulterzucken sah er seine Frau an.
»Sagtest du nicht erst gestern zu mir, wir sollten Henrik gegenüber konsequenter sein?« meinte Denise scherzend. »Du warst eben sehr konsequent.«
»Sei einmal konsequent bei dem Lausebengel!« Alexander aß den letzten Rest seines Kompotts. »Ich weiß nicht, wie er es anstellt, jedenfalls gelingt es dem Burschen immer, uns um den kleinen Finger zu wickeln.«
»Als ich neun war, habe ich euch genauso um den Finger wickeln können«, warf Nick lachend ein. »Es gibt da so verschiedene Tricks, bei denen jede Mutter und jeder Vater schwach werden.«
»Willst du sie uns nicht verraten, Nick?« fragte Alexander seinen Stiefsohn.
»Das kommt gar nicht in Frage«, erklärte Nick kategorisch und schob seine leere Kompottschale beiseite. »Habt ihr etwas dagegen, daß ich schon aufstehe? Ich bin mit Pünktchen verabredet. Wir wollen Andrea und Hans-Joachim im Tierheim helfen. Der streunende Collie, den Hans-Joachim vor drei Tagen eingefangen hat, hat sich übrigens wieder halbwegs erholt. Ich war heute morgen kurz im Tierheim Waldi & Co. Der Collie scheint sich in seiner Box wohl zu fühlen.«
»Kein Wunder! Wer weiß, wie lange er sich schon herumgetrieben hat«, sagte Alexander. »Es wird mir stets unbegreiflich bleiben, daß man sich ein Tier anschaffen kann, um es dann später auszusetzen.«
»Hans-Joachim meint, daß der Collie ein typischer Ferienhund ist. Vermutlich hat man ihn zu Weihnachten gekauft und jetzt festgestellt, daß er auf der Urlaubsreise hinderlich ist.« Nick spürte eine heftige Wut in sich. Wie seine Eltern und seine Geschwister war er sehr tierliebend. Er hatte noch nie verstehen können, daß jemand es fertigbringen konnte, ein wehrloses Tier auszusetzen.
»Das kommt ja leider immer wieder vor«, sagte Denise. Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Den Kaffee trinken wir in der Bibliothek.« Sie sah ihren Mann an. »Oder hast du heute keine Zeit, noch etwas auszuspannen?«
»Die Zeit werde ich mir schon nehmen.« Alexander von Schoenecker erhob sich ebenfalls. »Ich bin sicher, daß mir die Arbeit nicht davonläuft. Also kann sie ruhig noch etwas warten.«
*
»Mann, kann dein Vati spannend erzählen, Susi!« schwärmte Henrik begeistert. »Auf so eine Safari würde ich auch gern einmal gehen. Ich würde auf einem riesigen Elefanten sitzen und alles, was ich sehe, fotografieren.«
»Wir haben zu Hause jede Menge Fotos und Dias«, erzählte Susanne Cronauer, ein zehnjähriges, dunkelhaariges Mädchen mit rehbraunen Augen. »Das heißt, zu Hause eigentlich nicht«, setzte sie zögernd hinzu. »Ich habe dir ja gesagt, daß meine Eltern geschieden sind. Schon seit zwei Jahren. Als meine Mutter mit mir auszog, hat sie nur unsere Sachen mitgenommen.«
»Und du siehst deinen Vati wirklich nur in den Sommerferien?« fragte Henrik interessiert.
Susanne nickte. »Meine Mutter sagt, selbst das wäre noch zuviel. Vati würde mir nichts Rechtes beibringen. Sie schimpft jedesmal, wenn Vati mich von Frankfurt abholt. Letztes Jahr hat sie mich nicht mit ihm mitgehen lassen wollen, und da ist mein Vati zum Jugendamt gegangen.«
»In Sophienlust sind viele Kinder, deren Eltern geschieden sind.« Henrik schwang sich auf einen Zaun und ließ die Beine baumeln.
Mit einem Schwung saß Susanne neben ihm. »Ich weiß«, sagte sie. Sie seufzte auf. »Es ist richtig blöd, wenn sich Eltern scheiden lassen. Ich hätte es viel lieber, wenn meine Eltern wieder beisammen wohnen würden. Früher war es viel schöner, auch wenn die beiden immerzu stritten. Einmal war meine Mutter so wütend, daß sie das ganze Kaffeegeschirr auf den Boden geworfen hat.«
»Und was hat dein Vati getan?«
»Der war noch wütender«, erwiderte Susanne.
»Er hat drei Tage lang nicht mit meiner Mutter gesprochen. Das Kaffeegeschirr hat nämlich früher einmal meiner Omi gehört. Als sie starb, hat mein Vati es geerbt.«
»Dann war aber das, was deine Mutter getan hat, mehr als gemein«, meinte Henrik entrüstet.
»Sie war eben wütend.« Susanne zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter wirft oft etwas gegen die Wand, wenn sie wütend ist. Danach ist sie dann immer wieder in Ordnung. Ich habe meine Mutter wirklich sehr lieb, auch wenn sie so schnell wütend wird, aber meinen Vati habe ich auch lieb.«
Henrik spürte, daß Susanne traurig war. Er überlegte, wie er sie aufheitern konnte. »Sollen wir reiten gehen?« fragte er.
»Ich kann nicht reiten.«
»Das macht nichts. Du lernst es bestimmt schnell. Und Angst brauchst du auch nicht zu haben. Ich bin doch bei dir. Und dann gibt es noch den Justus. Der Justus paßt schon auf, daß du nicht vom Pony fällst.«
Die Idee war gar nicht so schlecht. Susanne sah sich schon als stolze Reiterin auf einem edlen Rappen. Daß Henrik von einem Pony gesprochen hatte, tat dem keinen Abbruch.
»Gut, gehen wir reiten!« Susanne sprang vom Zaun.
»Aber du mußt etwas anderes anziehen«, sagte Henrik. »Am besten
Jeans.«
Dann müssen wir noch einmal zu unserem Wohnwagen laufen«, rief Susanne. »Mein Vati wird sich bestimmt wundern, wenn wir schon zurückkommen.«
»Vielleicht kommt er mit zu den Koppeln?«
»Bestimmt nicht«, meinte Susanne. Während des Laufens strich sie sich ihre dunklen Haare zurück. »Der ist froh, wenn er einmal etwas Ruhe zum Lesen hat.«
Der Campingplatz lag nur fünf Minuten entfernt. Die Kinder passierten das weite Tor. Henrik blickte zu den Fähnchen empor, die den Torbogen krönten.
»Da sind neue Gäste gekommen!« Susanne blieb kurz vor dem Wohnwagen ihres Vaters stehen. Auf dem Platz gegenüber wurde gerade ein Zelt aufgebaut. Es war ein ziemlich großes Zelt mit einer langen Veranda. Schade, daß ihr Vati einen Wohnwagen besaß. In einem Zelt zu wohnen, war bestimmt viel romantischer.
»Schau, dein Vati hilft beim Aufbauen.« Henrik zeigte auf den dunkelhaarigen jungen Mann, der jetzt im offenen Zelteingang auftauchte.
»Vati!« Susanne winkte.
»Hallo, ihr beiden, schon zurück?« Jürgen Cronauer kontrollierte noch einmal die Stangen, die die Hauptlast des Zeltes tragen mußten, dann ging er schon den Kindern entgegen. »Wir haben Nachbarn bekommen, Susi«, sagte er.
»Ich sehe nur dich.«
»Frau Ellmer ist hinter dem Zelt«, erwiderte Jürgen Cronauer. Er ergriff die Hand seiner Tochter. »Ich werde dich ihr vorstellen. Sie wird dir gefallen.«
»Wer ist Frau Ellmer?« fragte Susanne mißtrauisch.
»Eine junge Frau, die vor knapp einer Stunde mit ihren beiden Kindern angekommen ist.« Jürgen wandte sich an Henrik. »Kommst du mit?« Als der Junge nickte, sagte er kurz: »Also dann!« und legte seinen Arm um die Schultern des Neunjährigen.
Gabriele Ellmer war gerade dabei, noch zwei Heringe in den Boden einzuschlagen. Sie war Jürgen Cronauer dankbar, daß er ihr beim Zeltaufbau geholfen hatte. Sie besaß das Zelt erst seit einigen Tagen und hatte angenommen, daß es sich relativ leicht aufbauen lasse. Wie gut, daß sie gleich einen Helfer gefunden hatte.
»Frau Ellmer, darf ich Ihnen meine Tochter Susanne vorstellen?« fragte Jürgen neben ihr.
Gabriele hob den Kopf.
Was für wunderschöne Augen sie hat, durchzuckte es Jürgen. Er fand, überhaupt war diese Gabriele Ellmer eine sehr hübsche Frau. Er schätzte sie auf Mitte Zwanzig. Sie hatte kurze, seidenweiche blonde Haare, blaue Augen und ein kleines Grübchen am Kinn. Sie trug blaue Jeans und einen kurzärmeligen Sommerpullover. Den einzigen Schmuck bildete ein schmaler goldener Ring am Mittelfinger ihrer rechten Hand. Sicher ein Trauring! Warum mußten die Frauen, die er sympathisch fand, immer verheiratet sein? Trotz ihrer saloppen Kleidung wirkte Gabriele Ellmer ausgesprochen elegant. Er hielt sie für die Frau eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Wo mochte ihr Mann stecken?
Gabriele Ellmer ahnte nichts von den Gedanken, die Jürgen Cronauer durch den Kopf gingen. Sie hielt ihn ebenfalls für ausgesprochen sympathisch. Wie spontan er ihr angeboten hatte, beim Aufbau des Zeltes zu helfen! Ohne ihn wäre sie niemals mit all den Zeltbahnen, Heringen und Stangen fertig geworden.«
»Guten Tag, Susanne«, sagte Gabriele. Sie stand auf und streckte der Zehnjährigen die Hand zum Gruß entgegen, aber Susanne dachte nicht daran, sie zu ergreifen.
Gabriele spürte die Abneigung des Mädchens. Sie mußte nicht lange rätseln, um zu wissen, daß Susanne eifersüchtig war. Vermutlich war sie auf jede Frau eifersüchtig, die sich ihrem Vater näherte. Sie hatte schon oft gehört, daß es solche Töchter gab. Dann eben nicht, dachte sie, und ließ die Hand sinken.
»Ich bin Henrik«, stellte Henrik sich selbst vor. »Meinem Vater gehört Gut Schoeneich.« Er zeigte in die Richtung des Gutes.
»Nehmen Sie Haltung an, Frau Ellmer. Sie sprechen mit dem jungen Herrn von Schoenecker«, scherzte Jürgen. Er war froh, daß Henrik die Initiative ergriffen hatte. Vielleicht würde Frau Ellmer darüber Susannes Unfreundlichkeit vergessen. Es war nicht das erste Mal, daß seine Tochter ihn derart brüskierte. Es wurde Zeit, daß er einmal ein ernstes Wörtchen mit ihr sprach. Er durfte nicht dulden, daß sie jede Frau, die sich in seine Nähe wagte, mit Blicken zu erdolchen versuchte.
»Oh, das konnte ich natürlich nicht wissen«, ging Gabriele auf seinen Scherz ein. Sie reichte Henrik die Hand. »Herr von Schoenecker, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen!«
Henrik sah sie zuerst verblüfft an, dann lachte er. »Mich hat bisher nie jemand mit Sie angesprochen«, bekannte er. »Zu meinem Bruder Nick sagen die Leute jetzt manchmal Sie, aber er ist auch schon sechzehn. Nick mag das gar nicht.«
»Warte noch zwei Jahre, dann ist er beleidigt, wenn es jemand wagen sollte, ihn zu duzen«, vermutete Jürgen. Er sah sich um. »Wohin sind Ihre Sprößlinge eigentlich gelaufen, Frau Ellmer? Sollten sie nicht in der Nähe bleiben?«
Gabriele schaute sich ebenfalls um. Wo stecken die Racker nur wieder? Sie hatte Sarah doch extra gesagt, daß sie und Tobias nicht zu weit fortlaufen sollten.
»Sie werden auf dem Spielplatz sein«, vermutete Henrik. »Sollen wir nachschauen?«
»Ich gehe mit«, sagte Gabriele.
»Darf ich mich anschließen?« fragte Jürgen.
»Gern!«
»Henrik, wir wollten doch reiten!« erinnerte Susanne ihren Freund.
»Das können wir später immer noch.« Henrik war stets darauf aus, andere Kinder kennenzulernen. Er konnte gar nicht genug Freunde haben. Aufgeschlossen, wie er war, fiel es ihm leicht, Kontakt zu finden.
»Ich laufe nicht zum Spielplatz mit«, sagte Susanne böse. »Ich ziehe mich inzwischen um.«
»Gut, ich bin bald wieder zurück.« Ohne sich weiter um Susanne zu kümmern, liefen Henrik, Gabriele und Jürgen voraus zum Spielplatz, der zwischen den Waschräumen und dem Kiosk angelegt worden war.
»Ein netter kleiner Kerl«, meinte Gabriele zu Jürgen.
»Lassen Sie das nur nicht Henrik hören«, erwiderte Jürgen. »Er mag es gar nicht, wenn man ihn klein nennt. Aber davon abgesehen gefällt er mir auch. Schade, daß Susanne nicht so aufgeschlossen ist.« Er blickte Gabriele von der Seite an. »Bitte, nehmen Sie es ihr nicht übel, daß sie sich so ablehnend verhalten hat. Susi hat es nicht gerade leicht. Ich habe mich vor zwei Jahren scheiden lassen. Susi ist nur während der Sommerferien bei mir.«
»Ich nehme es Susanne nicht übel«, versicherte die junge Frau. »Es ist für ein Kind immer schwer, ein Elternteil zu verlieren. Ich habe es an meinen beiden Kindern gesehen.«
»Sind Sie auch geschieden?« fragte Jürgen überrascht.
»Nein, ich bin Witwe«, antwortete Gabriele.
»Mein Mann verunglückte vor zwei Jahren tödlich. Tobias war damals noch ein Baby, erst eineinhalb, aber Sarah war fast drei. Sie hat der Verlust des Vaters besonders hart getroffen. Auch heute spricht sie noch oft von ihrem Papa. Sarah hat einen Plüschbären, der sie überallhin begleitet. Sie weiß noch genau, daß der Papa ihn ihr geschenkt hat.«
»Es tut mir leid, das mit Ihrem Mann«, sagte Jürgen betroffen.
»Danke!«
Henrik war am Rand des Spielplatzes stehengeblieben. Die wenigsten Kinder, die im Sandkasten, auf dem Karussell und auf den Schaukeln spielten und turnten, kannte er. Er drehte sich um. »Sind Ihre Kinder hier, Frau Ellmer?«
»Ja!« Die junge Frau zeigte auf einen kleinen dunkelblonden Jungen, der neben einem etwas älteren Mädchen im Sandkasten spielte. Das Mädchen hatte lange schwarze Haare, die in der Mitte gescheitelt waren. In langen Locken fielen sie bis weit über die Schultern herab.
»Sarah, Tobias!« rief Gabriele.
Sarah Ellmer hob den Kopf. »Da ist Mama, Tobi!« Sie sprang auf und ergriff die Hand ihres Brüderchens. Hand in Hand liefen die beiden der Mutter entgegen.
»Habe ich euch nicht gesagt, daß ihr in der Nähe bleiben sollt, Sarah?« fragte Gabriele und bemühte sich vergeblich um einen strengen Tonfall.
»Hier ist es doch nicht weit, Mama«, sagte Sarah. »Hier ist es schön, richtig schön!«
»Das also ist meine Rasselbande, Herr Cronauer«, stellte Gabriele ihre Kinder vor. »Sarah ist jetzt fast fünf, Tobias dreieinhalb.«
»Ich habe auch eine Tochter. Sie heißt Susanne«, sagte Jürgen zu den Kindern. Er ergriff Sarahs Hand. »Vielleicht freundet ihr euch an.«
»Wie alt ist sie denn?« erkundigte sich Sarah und machte zur Begrüßung einen Knicks.
»Zehn.«
»Oh, das ist schon alt!«
Jürgen und Gabriele lachten gleichzeitig. Nur wenn man noch so klein wie Sarah war, konnte man zehn Jahre als alt empfinden.
»Ich bin erst neun«, meldete sich Henrik zu Wort. »Susi und ich gehen reiten. Wollt ihr mitkommen?«
Sarah nickte heftig. »Ich mag Pferde.«
»Henrik, bitte, sei mir nicht böse, aber ich meine, daß Sarah und Tobias noch etwas klein zum Reiten sind. Außerdem haben sie noch nie auf einem Pferd gesessen.« Gabriele bückte sich und nahm Tobias auf den Arm. Der kleine Junge legte seine Ärmchen um ihren Hals.
»Es sind nur Ponys«, sagte Henrik.
»Wie wär’s, wenn wir alle Henrik und Susi begleiten würden?« schlug Jürgen vor. Er wandte sich an Henrik. »Oder hast du etwas dagegen, daß wir mitkommen?«
Entrüstet über diese Frage schüttelte Henrik den Kopf. »Nein, habe ich nicht!« Er streckte seine Hand nach Sarah aus, die das Mädchen vertrauensvoll ergriff. »Reiten ist überhaupt nicht schwer«, erklärte er. »Und außerdem passe ich auf dich auf.«